Spiel mit dem Risiko - Alia Cruz - E-Book

Spiel mit dem Risiko E-Book

Alia Cruz

4,9

Beschreibung

Lily Blue, Krankenschwester aus New Orleans, hat sich für die Special Agents of Justice verpflichten lassen. Ihr Auftrag ist es, Informationen zu beschaffen. In wie weit sind die in Las Vegas ansässigen Mafia-Familien in die Politik in Washington verstrickt? Insgeheim hofft Lily jedoch nicht nur, ihren Auftrag zu erledigen, sondern auch ihre einst große Liebe Ramon zu überzeugen, seinen Posten in einer der Verbrecherfamilien aufzugeben. Doch in Vegas trifft sie auf den undurchsichtigen und verschlossenen Taylor Crow, der sie vom ersten Augenblick an fasziniert. Hin und her gerissen zwischen einer alten und einer neuen Liebe, gerät sie immer mehr in die Fänge der Mafia. Plötzlich geht es nicht mehr nur um Informationsbeschaffung, sondern auch um Mord und die Existenz der Spezialeinheit SAJ. Lily muss sich entscheiden, welchen Weg sie gehen und für welchen Mann sie kämpfen will, um sich, ihre Liebe, und die Special Agents of Justice-Agentur zu retten.

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Spiel mit dem Risiko

SAJ - Special Agents of Justice 3

Alia Cruz

©2015 Sieben Verlag, 64354 Reinheim Umschlaggestaltung © Andrea Gunschera

ISBN-Buch: 9783864435300 ISBN-ebook-PDF: 9783864435317 ISBN-ebook-Epub: 9783864435324

www.sieben-verlag.de

Prolog

New Orleans Sommer 2004

Lily schmiegte sich enger in seine Armbeuge. Sie genoss die leichte Brise. Die letzten Tage war es unerträglich drückend gewesen. Das gestrige Gewitter hatte zwar keine Abkühlung gebracht, aber es war jetzt erträglicher. Ramon hatte seine Finger tief in ihre Locken vergraben und spielte mit ihren Haaren. Seine andere Hand streichelte ihren Rippenbogen. Die mächtigen Pecanbäume spendeten ihnen Schatten, doch zwischen den Blättern schien die Sonne hindurch. Lily blinzelte und schloss wieder die Augen. Das Picknick war eine wunderbare Idee gewesen. Ihr Magen war mehr als voll, aber nach den letzten Schichten im Krankenhaus, in denen sie kaum etwas gegessen hatte, konnte sie sich die Völlerei erlauben. Ramon hatte immer gute Ideen. Das liebte sie so an ihm. Immer wieder war er für eine Überraschung gut. Er war zärtlich, einfühlsam, unternehmungslustig und gut im Bett. Bei dem letzten Gedanken musste sie lächeln. So träge sie sich auch gerade fühlte, seine Hand war zu ihren Brüsten gewandert und weckte das Verlangen nach ihm in ihr.

„Ich liebe dich.“

Er sagte es ihr einmal täglich. Sie hörte es gern, denn sie liebte ihn auch.

„Ich liebe dich auch, Ramon. Sehr.“

„Ich würde dich gern als Dessert vernaschen.“

Sie richtete sich ein wenig auf. „Aber du musst langsam los.“

Bedauernd nickte er. Sein erster Gig stand am späten Nachmittag an. Auch das liebte sie an ihm. Sein unglaubliches Talent. Er war ein begnadeter Jazzmusiker, spielte Klavier und konnte wahnsinnig gut singen. Seine Stimme war unglaublich. Eines Tages würde er großen Erfolg haben, da war sie sich hundertprozentig sicher. Gedankenverloren betrachtete sie ihn. Sie konnte sich nie an ihm sattsehen. Wie sie war er dunkelhäutig, auch seine Vorfahren waren aus der Karibik nach New Orleans gekommen. Dunkelbraune Locken, die er militärisch kurz hielt, betonten einen kräftig geformten Schädel. Volle Lippen und große, blau-grüne Augen strahlten eine intensive Sinnlichkeit aus. Es waren seine Augen, in dieser für einen Afroamerikaner so ungewöhnlichen Farbe, die ihn exotisch und extrem gut aussehen ließen. Er war zwar groß, mit schlanken Gliedern, kämpfte aber immer mit seinem kleinen Bauchansatz. Er liebte gutes Essen. Lily störte es nicht. Sie aß genau so gern wie er, aber ihr Leben war hektischer, vielleicht lag es daran, dass sie eher aufpassen musste, nicht abzunehmen, anstatt zuzunehmen. Doch der größte Unterschied zwischen ihnen war, dass Ramon keine Familie mehr hatte. Sie selbst hatte zwar ihren Vater an einen Hirntumor verloren, aber ihre Mutter lebte noch und war nicht in der Lage, die Familie zu versorgen. Sie hatte Diabetes und war Alkoholikerin. Ihr Leben bestand darin, fernzusehen und zu nörgeln. Lily und ihre Geschwister lebten alle mit ihr zusammen in dem kleinen Haus, das ihr Vater, der ebenfalls Musiker gewesen war, von seinen Vorfahren geerbt hatte. Im Armenviertel in den Sümpfen von New Orleans.

Ramon riss sie aus ihren Gedanken, als er sie küsste. Leider war der Kuss viel zu schnell vorbei. Es war Zeit um zusammenzupacken. Nicht nur Ramon würde bis in die Nacht arbeiten, auch Lily musste heute zu einer Nachtschicht im Charity Hospital antreten. Ramon träumte von einer großen Zukunft als Musiker. Wovon träumte sie? Von einem Leben an seiner Seite, aber manchmal hatte sie Angst. Angst, dass er fortgehen würde und sie nicht mitkommen konnte, weil da noch ihre Mutter war. Nicht nur ihre Mutter. Ihre kleine Schwester Faith war gerade erst in die Schule gekommen und ihr Bruder Devon würde die Schule vielleicht nicht beenden, wenn niemand auf ihn achtete. Carla, Ruby, Lola und Zara hätten sich vielleicht kümmern können, aber einen guten Job hatte bisher keine von ihren Schwestern gefunden.

„Du bist so nachdenklich.“

Kaum hatte Ramon das Geschirr in den Picknickkorb gestellt, sah er sie an.

„Ich habe nur bedauert, dass ich wegen der ständigen Nachtschichten in letzter Zeit, deine Auftritte verpasse.“

Er nahm sie in die Arme und küsste sie erneut. „Eines Tages musst du nicht mehr arbeiten. Dann wirst du immer hinter der Bühne stehen und mit Argusaugen über mich wachen, damit keiner meiner zahlreichen weiblichen Fans an mich herankommt.“

„Du bist verrückt.“

„Nein, ich liebe dich über alles.“

Das war das zweite Mal an diesem Tag, dass er die magischen drei Worte zu ihr sagte. Das genügte, um sämtliche Ängste und Zweifel für den Moment zu vergessen.

Drei Wochen später …

Es war Lilys freie Nacht. Sie hatte Ramon nichts davon gesagt. Es sollte eine Überraschung werden. Durch die schlichte Holztür betrat sie das Blue Nile. Es war ziemlich voll, dennoch gelang es ihr, einen Sitzplatz an der Bar zu ergattern. Sie bestellte ein Bier und schon begann Ramons Auftritt. Die meisten Gäste achteten nicht sehr auf ihn. In Gespräche vertieft, waren sie hier um das Nachtleben zu genießen und zu feiern. Ramon war noch nicht so weit, die Leute kamen nicht wegen ihm in die Bar. Aber das Blue Nile war ein gutes Sprungbrett. Es war bekannt dafür, dass aufstrebende Talente hier einen Job bekamen. Sie sah sich um. Tatsächlich entdeckte sie einige Männer in der Menge, die sich auf Ramon konzentrierten. Die Talentsucher, die Agenten. Sie hoffte es zumindest für ihn. Ramon hatte bisher zwei CDs aufgenommen, aber er hatte mehr Geld rein gesteckt, als er daran verdient hatte. Lily genoss ihr Bier und seine Stimme. Sie war unglaublich stolz auf ihn und das würde sie auch sein, wenn er ewig nur in kleinen Clubs singen würde. Er entdeckte sie. Sein Blick blieb einige Zeit an ihr hängen, und obwohl er ein sehr trauriges Lied sang, lächelte er kurz. Ihr fiel auf, dass er öfter auf einen der Männer sah, von dem sie vermutete, dass er ein Agent war. Der beleibte Mann saß ganz vorn am Tisch und beobachtete Ramon genau. Ramon sang noch zwei weitere Songs, alle selbst komponiert, und hatte dann Pause. Statt Kurs auf die Bar zu nehmen, um sie zu begrüßen, ging er zu dem weißen, beleibten Mann. Lily konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, aber Ramon setzte sich so hin, dass er ihr kurz entschuldigend zunicken konnte. Es machte ihr nichts aus. Sie hatte Zeit. Sie bestellte noch ein Bier und genoss dann den zweiten Teil von Ramons Auftritt. Der Agent, oder was auch immer er war, war nicht mehr da. Ramon würde sie sicher gleich aufklären. Bei ihrem vierten Bier angelangt, kam er zu ihr an die Bar und setzte sich neben sie.

„Guten Abend schöne Frau, sind Sie noch zu haben?“

Sie musste lachen. „Ich bin vergeben, an einen begnadeten Jazzmusiker.“

Ramon bestellte sich auch ein Bier und dann küsste er sie lang und ausgiebig. „Ja, das bist du. Lass uns hier raus und ein wenig spazieren.“

Er nahm sein Bier mit und sie folgte ihm. Die Straßen waren wie immer voller Touristen. Dazu gesellten sich Einheimische, die ihren freien Abend mit einem Bad im Nachtleben feiern wollten.

„Ich habe es geschafft, Lily.“ Nach ein paar Schritten war er stehen geblieben und hatte sich ihr in den Weg gestellt. Er stellte seine Bierflasche auf den Bürgersteig, und sie schrie einmal kurz auf, als er sie plötzlich hochstemmte und sich mit ihr im Kreis drehte. Dann hatte er einen bedeutenden Gig in New Orleans bekommen? Lily wurde von unglaublicher Freude erfüllt.

„Der Typ eben, der ist der Manager des Lucky Diamonds. Er will eine ganze Show mit mir machen.“

Er hatte sie wieder auf den Boden abgesetzt. Der Name Lucky Diamonds sagte ihr nichts. Verständnislos blinzelte sie ihn an.

„Verstehst du denn nicht, Lily? Ich bekomme eine Show in Las Vegas!“ Er sah ihr in die Augen. Lily hatte das Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie konnte nichts sagen. „Du kommst doch mit mir, oder? Wir könnten in Vegas heiraten.“

Er kniete sich vor sie. „Ich habe es dir immer versprochen, jetzt wird es dir an nichts mehr mangeln, also: Lily Blue, willst du meine Frau werden?“

Alles in ihr schrie danach Ja zu sagen. „Ich kann nicht. Ich kann meine Familie nicht verlassen.“

Sommer 2005, einige Tage bevor Hurrikan Katrina auf New Orleans trifft

Wieder hatte sie eine Nachtschicht hinter sich gebracht. Noch mehr Patienten mit Kreislaufproblemen waren heute Nacht eingeliefert worden. Die meisten konnten kurze Zeit später das Charity Hospital wieder verlassen. Aber die Älteren oder die mit Herzproblemen würden sie dabehalten. Lily strich sich die Locken aus dem Gesicht. Der Wind war stärker geworden. Ob sich doch ein Hurrikan zusammenbraute? Aber dann hätte man längst Evakuierungsmaßnahmen getroffen. Wenn der Sturm von Florida tatsächlich rüber kam, müsste er morgen, spätestens Montag auf New Orleans treffen.

Sie fühlte sich elend, nicht wegen der anstrengenden Nachtschicht. Da war etwas anderes in ihr. Dieses Gefühl hatte sie schon einmal gehabt. Damals, als ihr Vater die Diagnose Hirntumor bekommen hatte, und dann noch einmal kurz vor dem Moment seines Todes. Sollte tatsächlich etwas Schlimmes passieren? Wenn doch nur dieses verdammte Gefühl verschwinden würde.

Sie blieb vor ihrem Elternhaus stehen und starrte auf den Pecanbaum, der seit hunderten von Jahren hier stehen musste. Er hatte allen Stürmen getrotzt. Ihre Familie hatte allen Stürmen getrotzt. Sie lebten seit über einem Jahrhundert hier. Sie hatten Betsy und all die anderen verheerenden Stürme überlebt. Dann würden sie auch diesen überleben. Lily konnte den Blick nicht von dem Baum abwenden. Die Erinnerung an ihren Vater setzte sich in ihrem Kopf fest. Ihr Vater war ein wundervoller, sanfter Mann gewesen. Einer der Musiker in New Orleans, die es trotz Talentes zu nichts brachten, weil es einfach zu viele von ihnen gab. Sie vermisste ihn so sehr. Da war noch ein Mann, den sie vermisste. Ramon. Tief durchatmend wappnete sie sich für das, was sie im Inneren des Hauses erwartete. Ihre Mutter schlief ihren Rausch aus. Trotz Diabetes und Sauferei würde sie wahrscheinlich hundert werden. Während sie sich um ihre Mutter kümmerte, ihr die nötige Dosis Insulin verabreichte, dachte sie an Ramon. Ihre Trennung war nicht gut gelaufen damals. Er hatte nie verstanden, warum sie bei ihrer Familie geblieben und nicht mit ihm nach Las Vegas gegangen war.

Langsam ging sie nach oben in ihr Zimmer. Sie starrte aus dem Fenster. Der Anblick des Pecanbaums zog sie schon wieder magisch an. So viele Dramen in diesem Haus hatte er bezeugt. Wenn der Baum hätte sprechen können, was für Geschichten würde er erzählen? Hätte er auch ihre Geschichte erzählt? Die Geschichte ihrer einzigen und großen Liebe? Die Liebe, die sie für immer verloren hatte? Sie hatte kein Date mehr gehabt, seit Ramon gegangen war. Nicht, dass es keine Angebote gegeben hätte. Was ihr Vater ihr wohl vor mehr als einem Jahr geraten hätte? Er hatte ihr Ramon vorgestellt, kurz bevor er so krank geworden war. Ramon war immer da gewesen, während der gesamten Zeit, als ihr Vater im Sterben lag. Er war einer der wundervollsten Menschen gewesen, die sie je getroffen hatte. Aber wie hätte sie mit Ramon gehen sollen? Die Familie war alles, was zählte. Aber diese Familie war jetzt auseinandergerissen. Ihr Vater war gegangen. Unfreiwillig. Carla hatte das Weite gesucht, um Model in Kalifornien zu werden. Zara wollte sich mit den anderen in Sicherheit bringen. Würde wirklich ein Sturm kommen? Sie würde mit ihrer Mutter in New Orleans in diesem Haus bleiben. Ihr blieb nichts anderes übrig. Ihre Mutter war nicht dazu zu bewegen es zu verlassen.

Für einen Moment hatte sie das Bedürfnis laut aufzuschreien. Vor lauter Familie hatte sie sich selbst vergessen. Sie hatte vergessen, dass sie selbst noch lebte. Dass sie ein eigenes Leben hätte führen müssen.

Sie ging zu ihrem Nachttisch, schob ihn von der Wand und griff in das Loch, das sich dahinter befand, und angelte ein Foto daraus hervor. Eine Zeit lang schaute sie auf die Aufnahme. Ein lächelnder Ramon. Immer wieder strich sie mit dem Zeigefinger über das wunderschöne Gesicht des Mannes. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer, die sich auf der Rückseite des Fotos befand. Nie hatte sie ihn angerufen, hatte sich nie bei ihm gemeldet und hatte seine Anrufe ignoriert. Es war einfacher für sie gewesen. Heute musste sie seine Stimme hören. Es klingelte ein paar Mal. Dann endlich nahm jemand den Hörer ab.

„Ja.“

Lilys Herz setzte aus. Eine Frauenstimme!

„Ich hätte gern Ramon gesprochen.“

„Der ist nicht da. Mit wem spreche ich?“

„Ich … mit wem spreche ich?“

„Ich bin seine Frau.“

Sie schaffte es noch aufzulegen, bevor ihr der Hörer aus der Hand glitt. Was hatte sie denn erwartet? Dass er sein Leben allein verbringen würde? Dass er niemals wieder eine andere Frau ansehen würde? Wie dumm sie gewesen war. Denn sie hatte es getan. Für sie hatte es keinen anderen gegeben. Sie hatte in einer verdammten Traumwelt gelebt. Hatte sich hinter ihrer Mutter versteckt. War zu feige gewesen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und für sich zu kämpfen.

Fast acht Jahre später …

Lily wunderte sich über die Einladung ihrer besten Freundin Scarlett. Na ja, sie besuchten sich oft, aber heute würde es eine Familienzusammenführung geben. Scarletts Mann Aidan erwartete seinen Bruder. Aidan hatte seinen Bruder Barrett über sieben Jahre lang nicht gesehen. Scarlett und Aidan hatten sich während Hurrikan Katrina kennengelernt. Aidan war Special Agent of Justice gewesen. Ein Spezialagent der Regierung. Sein Bruder Barrett war es auch heute noch und nachdem, was Scarlett gesagt hatte, war Barrett es gewesen, der auf Lilys Anwesenheit bestand.

Nachdem sie Aidan und Scarlett Zeit gelassen hatte, Barrett und dessen Verlobte Rachel zu begrüßen, trat sie von der Küche ins Wohnzimmer.

„Danke, dass du gekommen bist.“ Barrett lächelte sie aufmunternd an, was sie nicht beruhigen konnte. Sie hatte ein ungutes Gefühl.

Aidan verteilte Eistee. Während er die Gläser herumreichte, sprach er das aus, was Lily die ganze Zeit dachte.

„Wir haben uns gewundert, warum du in deiner Nachricht darauf gepocht hast, dass Lily herkommen soll.“

Barrett sah in die Runde. Danach ruhte sein Blick auf ihr.

„Ich denke, dass Scarlett dir irgendwann mal erzählt hat, dass Aidan ein Special Agent of Justice war und auch ich einer bin.“

Lily bejahte die Frage mit einem Nicken.

„Du hast die Chance eine von uns zu werden.“

Sie selbst? Eine Spezialagentin? Sie war Krankenschwester, sie sorgte für andere. Zumindest hatte sie das vor kurzem noch getan, aber ihre Geschwister waren alle flügge geworden. Selbst Faith, die jetzt sechzehn war und zu Carla nach Kalifornien gezogen war, unterlag nicht mehr ihrer Obhut. Und ihre Mutter? Sie hatte Katrina überlebt, war aber zwei Jahre später an Leberzirrhose gestorben.

„Ich? Warum?“

Aidan und Scarlett schienen genauso erstaunt.

„Mein Boss Corey hat mich mit einem Angebot zu dir geschickt, dass du wahrscheinlich nicht ablehnen wirst.“

Es war totenstill im Raum. Barrett reichte ihr ein Foto. Sie erkannte den Mann darauf sofort. Er war älter geworden, aber bis auf ein paar Falten um die Augen hatte sich Ramon nicht verändert.

„Ramon“, ihre Stimme war nur ein Flüstern. Barrett trat einen Schritt auf sie zu. „Es sieht so aus, als seiest du die Einzige, die ihn retten kann. Nur du kannst uns und ihm helfen. Nur dazu musst du offiziell erstmal eine von uns werden.“

Sie hatte sich für ihre Familie aufgeopfert, hatte sich auch im Krankenhaus für andere aufgeopfert. Jetzt würde sie es wohl auch für Ramon tun, der schon längst mit einer anderen Frau zusammen war. Sie konnte einfach nicht anders. „Was auch immer nötig ist, ich mache es.“

1

Shreveport, Louisiana – in einer der Zentralen der Special Agents of Justice

Lily saß auf einem Besucherstuhl in einem Flur, der sie ein wenig an den Flur des Charity Hospitals erinnerte. Ihre beiden Koffer hatte sie neben sich abgestellt. Vielleicht hätte sie Furcht vor dem Unbekannten verspüren müssen, aber sie war einfach nur aufgeregt und gespannt. Barrett hatte ihr an dem Nachmittag bei Scarlett nur diese Adresse sowie Datum und Uhrzeit genannt, wann sie sich dort einfinden sollte. Mehr nicht. Den Rest würde sie heute hoffentlich erfahren. Sie hatte es sich verkniffen, Barrett mit Fragen über Ramon zu löchern. Vielleicht hatte er auch wirklich nicht mehr gewusst. Das alles war vor drei Tagen gewesen. Drei Tage lang hatte sie überlegt, in welchen Schwierigkeiten Ramon steckte, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Vielleicht überstieg das auch ihre Fantasie als Krankenschwester. Was wusste sie schon von Geheimdiensten, Agenten und deren Aufgaben? Nichts. Sie hatte noch nicht einmal James-Bond-Filme gesehen, wobei die wohl ohnehin nicht der Realität entsprachen, oder doch? Wäre sie überhaupt geeignet für so eine Aufgabe? Sie hatte Barretts Freundin Rachel an dem Nachmittag ausgiebig beobachtet. Sie war wohl auch eine Agentin. Es war ihr anzusehen, wie sportlich und durchtrainiert sie war. Rachel hatte so eine selbstbewusste Ausstrahlung, sie war ihr so stark erschienen. Konnte sie selbst da mithalten? Wohl eher nicht. Sie war zwar schlank und auch im Krankenhaus wurde einiges von ihr abverlangt, wenn sie Patienten umbetten musste, aber das war wohl nicht mit dem Training eines Spezialagenten zu vergleichen. Das Krankenhaus. Lily schüttelte den Kopf. Sie hatte sich einfach auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen. Ohne Bezahlung. Das war das Verrückteste, was sie bisher in ihrem Leben getan hatte. Barrett hatte ihr allerdings versichert, dass sie gut bezahlt werden würde. Aber Geld war ihr noch nie wichtig gewesen. Die Familie war das Wichtigste. So war es in den Südstaaten, vor allem in den Armenvierteln. Ramon gehörte dazu. Er hatte ihr beigestanden, als ihr Vater gestorben war. Er hatte sie geliebt und sie ihn. Selbst wenn er jetzt mit einer anderen verheiratet war, wenn sie ihm helfen konnte, würde sie es tun. Ob sie eine Waffe bekäme? Das war nun doch ein Punkt, der ihr Angst einjagte. In den Südstaaten hatte so gut wie jeder mindestens ein Gewehr oder eine Handfeuerwaffe und konnte damit umgehen. Sie bildete da eine Ausnahme. Am Ende des Flures glitt die Automatiktür auseinander und jemand kam auf sie zu. Lily hielt den Atem an. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Sie sprang von ihrem Stuhl auf.

Der Mann lächelte sie an. „Hi, Lily.“

„Dr. Del Monte?“

Lance Del Monte war vor mehr als acht Jahren der Chef auf ihrer Station gewesen. Ein begnadeter Hirnchirurg. Eines Tages war er einfach verschwunden. Kurz vor Katrina, angeblich auf Weltreise.

„Du bist überrascht, mich hier zu sehen?“

„Wie …?“

„Dann haben Aidan und Scarlett es dir nie erzählt?“

Verdammt, wie wenig wusste sie eigentlich über diese ganze Welt? „Nein.“

„Cameron Evans hat mich damals entführt. Er hatte einen Hirntumor und ich sollte ihn operieren. Ich habe in seinem Haus herumgeschnüffelt und Barrett Manor entdeckt, der ja ebenfalls bei diesem Wahnsinnigen gefangen war. Aidan hat uns alle gerettet. Tja, und dann wurde ich hierher gebracht. Als man mich fragte, ob ich ein Special Agent of Justice werden will, habe ich ja gesagt.“

Lily konnte es nicht fassen. Zum einen, weil Scarlett es geschafft hatte das alles vor ihr geheim zu halten und zum anderen, weil sie sich so gar nicht vorstellen konnte, dass der Arzt, den sie so bewundert hatte, jetzt ein Agent war. Sie betrachtete ihn. Er hatte immer gut ausgesehen, war immer sportlich gewesen, aber er hatte sich verändert. Da war mehr Leben in den braunen Augen. Glück und Zufriedenheit strahlten aus seinem Blick.

„Was genau machst du bei den SAJs? Arbeitest du noch als Arzt?“

„Ja, hier und da schon, aber auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, ich bin ein echter Agent mit Außenaufträgen.“

Soweit sie von Scarlett erfahren hatte, waren diese Außenaufträge gefährlich und tödlich. Da er wahrscheinlich ohnehin nicht darüber reden durfte, was genau das bedeutete, fragte sie nicht nach.

Er nahm ihre Koffer. „Dir ist hier ein Zimmer zugewiesen worden. Du bleibst ein paar Tage hier. Corey erwartet dich in Texas, nachdem ich dich ein wenig auf Vordermann gebracht habe. Corey meinte, es tut dir vielleicht gut, erstmal mit einem Menschen zu arbeiten, den du kennst.“

Sie folgte ihm in einen anderen Flügel des Gebäudes. Als sie in ihrem Zimmer angekommen waren, das nur mit einem Bett, Tisch und zwei Stühlen sehr schlicht eingerichtet war, wagte sie endlich wieder eine Frage.

„Was genau ist mit ‘auf Vordermann‘ bringen gemeint?“

Lance lachte. Obwohl er natürlich älter geworden war und mittlerweile Mitte bis Ende vierzig sein musste, sah er noch verdammt gut aus. Alle Schwestern hatten ihn angeschmachtet.

„Wir machen einen Schnellkurs auf dem Schießstand in den nächsten Tagen.“

Genau davor hatte sie sich gefürchtet. Sie biss die Zähne zusammen.

„Bevor du fragst, Lily, ich weiß auch nicht mehr über deinen Auftrag oder warum Corey meint, du müsstest, zumindest vorübergehend, eine von uns werden. Richte dich ein bisschen hier ein. Ich lade dich nachher zum Essen ein. So gegen 19:00 Uhr?“

Sie nickte heftig und versuchte, damit alle Zweifel und Gedanken aus ihrem Kopf zu fegen.

*

Drei Tage später landete sie endlich die ersten Treffer und hatte nicht mehr solch eine Riesenangst mit Handfeuerwaffen umzugehen. Selbst laden und säubern konnte sie die Dinger jetzt. Keine große Sache, normalerweise. Für sie schon. Lance war unglaublich geduldig mit ihr. Bewundernd sah sie zu, als er ihr zeigte, wie man ein Gewehr richtig handhabte. Jeder Schuss bei ihm saß.

„Jetzt versuch du es mal.“

„Glaubst du wirklich, ich muss so ein Ding benutzen? Reicht es nicht, wenn ich eine der kleineren Pistolen mitnehme?“

Lächelnd stellte er das Gewehr beiseite. „Ja, ich werde Corey sagen, dass du soweit bist. Welche liegt dir am besten?“

Lily betrachtete, die säuberlich aufgereihten Hand- und Faustfeuerwaffen. „Ich glaube, mit der bin ich am besten klargekommen.“

Er nickte. „Eine Browning, Halbautomatik, neun Millimeter. Wird dir mit Munition ausgehändigt, sobald du nach Texas aufbrichst.“

„Du musst mich doch für unfähig halten.“ So kam sie sich zumindest vor.

Überrascht sah er sie an. „Wie kommst du darauf? Du bist Krankenschwester. Es ist auch nichts Schlechtes, wenn man sich mit Waffen nicht auskennt. Soll ja auch nur zu deiner eigenen Sicherheit dienen.“

„Ich soll also niemanden umnieten.“

Die kahlen Wände des Schießstandes warfen sein Lachen zurück. „Nein, ich denke nicht, dass Corey das von dir erwartet.“

Auch ihre Untersuchungsergebnisse waren vollständig. Sie war kerngesund und relativ fit. „Begleitest du mich nach Texas?“

Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid, jemand Anderes wird sich dort um dich kümmern. Du sollst noch in Selbstverteidigung geschult werden. Ich habe einen Auftrag.“ „

Danke, dass du dich hier so gut um mich gekümmert hast.“

„Habe ich gern getan.“

Sie umarmten sich spontan. „Wir werden uns wohl nicht wieder sehen. Pass auf dich auf, Lily.“

„Ja und du auf dich.“

Er zwinkerte ihr zu. „Tue ich immer.“

Dr. Lance Del Monte hatte sich sehr verändert. Er war immer noch der attraktive Mann, den sie aus der Zeit im Krankenhaus kannte, aber er schien gelöster und glücklicher. Sie freute sich für ihn und bedauerte es aufrichtig, dass sich ihre Wege trennten. Aber jeder von ihnen hatte seine eigene Mission.

Zwei Tage später in Austin, Texas

Wieder hatte man ihr ein Zimmer in einem der SAJStützpunkte zugewiesen. Allerdings war dieser Stützpunkt größer, und auch ihr Zimmer war es. Zeit um auszupacken hatte Lily nicht gehabt. Corey Snyder, der große Boss, hatte sie zu sich bestellt. Mit feuchten Händen saß sie in seinem Büro und wartete auf ihn. Hoffentlich würde sie endlich erfahren, worum es ging. Jemand kam herein und setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch. Er sah genauso aus, wie Lance ihn ihr beschrieben hatte. Groß, Ende fünfzig oder Anfang sechzig. Gekleidet in einem Anzug, Cowboystiefeln und einem Stetson, den er auf die Fensterbank hinter sich legte. Nur die Augenfarbe stimmte nicht. Lance hatte von grünen Augen gesprochen, aber sie waren grau. Vermutlich Kontaktlinsen.

„Miss Blue, es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen.“

„Kein Problem.“

Er schlug die Akte auf, die vor ihm auf dem Tisch lag. „Sie haben den Vertrag noch nicht unterzeichnen können.“

Er breitete die Papiere vor ihr aus. Sie unterschrieb einfach.

„Sie wollen sich all das nicht erst durchlesen?“

„Das kann ich doch auch später noch, oder? Ich erhalte doch sicher ein Duplikat?“

Sein Lächeln entblößte eine Reihe weißer Zähne. „Natürlich. Sie müssen diesen Ramon sehr lieben, wenn Sie ohne Genaueres zu wissen, so einen Vertrag unterschreiben.“

Lily blieb ihm eine Antwort schuldig. Corey lehnte sich zurück und betrachtete sie einen Moment. Er schien sie förmlich einzuscannen. Sie war versucht ihren Blick abzuwenden, hielt aber stand.

„Sie müssen doch tausend Fragen haben?“ Er ließ ihr keine Zeit auch nur eine einzige zu stellen und fuhr sofort fort: „Sicherlich interessiert es Sie, wie wir auf Sie aufmerksam geworden sind.“

„Ich vermute durch Aidan und Scarlett.“

„Nein. Aidan ist kein SAJ mehr, er hat keine Ahnung, was vor sich geht. Wir haben Ramon Yves Lafalle schon lange auf unserem Schirm. Wir haben ihn gründlich durchleuchtet, und da kam Ihre Liebesaffäre mit ihm zutage.“

Hätte es sie jetzt erschrecken sollen, wie durchsichtig das Leben der Menschen für die Geheimdienste war? Konnte man in den Vereinigten Staaten überhaupt etwas tun, ohne dass gleich der Staatsapparat davon erfuhr? Das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten. Lächerlich.

„Diese Affäre ist lange vorbei. Er ist verheiratet.“

„Nicht mehr.“

Lilys Herz setzte für einen Moment aus. Sie konnte nichts sagen.

„Hat sich vor einem Jahr scheiden lassen. Seine Ex-Frau hat Las Vegas verlassen. Zumindest konnten wir sie nicht finden.“

„Haben Sie es denn versucht?“

„Ja, denn sie war unsere erste Wahl.“

Na toll, dann war sie als Geheimagentin also nur zweite Wahl. Sollte sie das jetzt ärgern? Lily wusste immer weniger, was sie von der Sache halten sollte.

„Aber wie kann sie denn einfach verschwinden?“ Konnten diese Geheimdienste doch nicht alles und jeden überwachen? Irgendwie freute sie das. Andererseits hatte sie gerade einen Vertrag unterschrieben. Selbst in Gedanken sollte sie Loyalität zeigen, schließlich gehörte sie jetzt auch zu so einem Verein.

„Vielleicht tot, beseitigt worden.“

Sie wollte aufbegehren. Ramon hätte so etwas sicher nicht getan, aber kannte sie ihn überhaupt noch? Sie musste endlich erfahren, worum es hier ging. „Was wollen Sie von mir?“

Er dachte einen Moment nach. Musste er immer noch abwägen, wie viel er ihr erzählen wollte? Aber wenn sie den SAJs helfen sollte, dann musste er doch wohl alle Karten auf den Tisch legen. Sie hoffte es zumindest.

„Sie wissen, was wir tun?“

„Sie haben hier so eine Art Geheimdienst.“

Er lachte wieder. „Was ich hier habe, ist etwas, das es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Zumindest nicht, was die Qualität meiner Mitarbeiter und unsere Ausrüstung angeht. Es ist eine Truppe aus den besten Männern und Frauen in allen Bereichen. Tödliche Killer, Wissenschaftler, Ärzte, Techniker, Datenanalysten.“ Er beugte sich vor und sah ihr lange in die Augen. „Lily, du bist jetzt eine von uns. Nur vorübergehend, aber du hast gerade eine Klausel unterschrieben. Über all das hier musst du Stillschweigen bewahren.“ Er machte eine Pause. Lily fragte sich, wo diese Erklärung hinführen sollte. Würde man sie töten, wenn sie jemals etwas sagte? Aber was wusste sie schon von den SAJs? Wahrscheinlich würde sie gleich mehr erfahren, als ihr lieb war.

„Diese Organisation wurde einst gegründet um Männer zu haben, die in der Lage sind, den amerikanischen Präsidenten zu eliminieren, sollte dies nötig sein. Daher weiß noch nicht einmal der Präsident von ihr. Wir haben unsere Tätigkeit ausgeweitet. Sind freiwillig dem Dachverband NSA beigetreten, aber selbst die glauben, wir arbeiten nur um Informationen zu beschaffen, Terroranschläge zu verhindern und so weiter.“

Lily versuchte zu begreifen, was er ihr da gerade erzählte. „Aber was haben Ramon und ich damit zu tun?“

„Das ist eine berechtigte Frage. Ich habe lange überlegt, wie viel ich dir erzählen soll. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dich nicht im Dunkeln über uns lassen kann, weil es wichtig für deine Aufgabe ist.“

Wieder machte er eine längere Pause. Lily wartete gespannt. „Ramon ist in Las Vegas, er arbeitet im Lucky Diamonds.“

Das war nichts Neues für sie. Also nickte sie.

„Das Lucky Diamonds ist nur eines von vielen Casinos der Spinelli-Familie. Ihnen gehört halb Las Vegas. Sie sind in den 1920ern aus Sizilien nach Nevada gekommen. Mit der Legalisierung des Glücksspiels 1931 begann ihr Aufstieg. Laut den Papieren hat fast jedes Casino einen anderen Besitzer. Die Zeiten des organisierten Verbrechens sind vorbei. Offiziell. Die Wahrheit ist, dass die andere Hälfte im Besitz des Howard-Clanes ist. Die eine Seite mit Mafia-Vergangenheit, die andere Seite eine Mischung aus englischen und schottischen Einwanderern, die den italienischen Einwanderern in nichts nachstehen, was die illegalen Aktivitäten angeht. Das alles sollte uns nicht sonderlich interessieren, aber es hat uns zu interessieren. Womit wir wieder bei der Gründung der Special Agents of Justice wären.“

Er war aufgestanden und hatte ihnen Kaffee eingegossen. Die Kanne war von einer Frau hereingebracht worden, die Lily fast gar nicht bemerkt hatte. Wahrscheinlich seine Sekretärin.

Er fragte sie nach ihren Wünschen und Lily nahm ein Stück Zucker für ihren Kaffee, dann fuhr er fort. „Die SAJs wurden in den fünfziger Jahren von meinem Vater und dem Verteidigungsminister gegründet. Mein Vater war gerade bei der CIA ausgeschieden. Einige Jahre später haben sie den Vizepräsidenten eingeweiht. Es wird immer so gehandhabt. Bei der Amtsübergabe werden der Vize und der Verteidigungsminister darüber informiert, dass es uns gibt. Wir haben seit einigen Monaten eine neue Regierung und das ist das große Problem. Der derzeitige Vize steht der Spinelli-Familie sehr nahe und unser Verteidigungsminister ist ein Freund der Howard-Familie. Dumm gelaufen. Sehr dumm, denn beide Familien scheinen Ambitionen zu haben, die Dinge im Weißen Haus und im Kongress zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“

Lily war klar, dass das sicher nicht gut war, aber was hatte Ramon damit zu tun? „Ramon ist nur ein Musiker, warum steckt er in Schwierigkeiten?“

„Er steckt noch nicht in Schwierigkeiten. Ich weiß, ich habe dich mit dem Argument hergelockt, dass du die Einzige bist, die ihn retten kann. Lass es mich erklären. Ramon ist längst nicht mehr als Musiker tätig. Er ist einer der engsten Vertrauten von Frank Spinelli, dem Kopf und Familienoberhaupt. Wir brauchen Informationen. Darüber, inwieweit die Familien Einfluss in Washington haben, ob sie eventuell von uns wissen, ob sie planen den Vize als Präsidenten einzusetzen. Es gibt viele mögliche Szenarien. Denn die beiden Familien haben seit ein paar Monaten wieder begonnen, sich zu bekämpfen. Lange Zeit herrschte Ruhe in Las Vegas. Meine größte Sorge ist, dass man uns missbrauchen könnte, um den Präsidenten zu ermorden. Ich kann keinen meiner Leute schicken. Der Vize und der Verteidigungsminister müssten informiert werden. Also mache ich es heimlich. Mit einer Agentin, die eigentlich keine ist. Mit dir. Zumal du auch noch in Verbindung zu Ramon stehst, der ziemlich weit oben in der Hierarchie der Spinellis steht. Er kann die nötigen Informationen haben oder beschaffen, und du gibst sie an uns weiter. Das ist es, was ich von dir will. Vielleicht kannst du ihn tatsächlich retten, denn sollten wir sie hochgehen lassen müssen, aus welchen Gründen auch immer, ist Ramon mit dran. Er gehört zum organisierten Verbrechen von Las Vegas.“

Sie konnte es nicht glauben. Ihr Ramon, der sanfte, sensible Musiker ein Verbrecher? „Er würde dann Straffreiheit bekommen?“

„Das kann ich nicht versprechen, je nachdem wie es läuft. Glaubst du, du bist in der Lage diese Aufgabe auszuführen? Du gehst hin, weil du Ramon vermisst hast. Niemand darf erfahren, weshalb du wirklich in Las Vegas bist.“

War sie dazu in der Lage? Nein sagen konnte sie nicht mehr. Sie hatte unterschrieben. Coreys leichtes Lächeln flößte ihr Vertrauen ein.

Er stand auf und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich kann dich nicht in ein paar Tagen zu einer Superagentin machen, aber das musst du auch nicht sein. Ich vertraue darauf, dass du die richtigen Entscheidungen treffen wirst.“

Der große Boss der SAJs vertraute ihr also. Aber traute sie sich auch selbst? Was würde passieren, wenn sie Ramon nach so vielen Jahren wieder begegnete? Nicht mehr lange und sie würde es wissen.

*

Lily strich sich die Locke aus der Stirn, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Sie war nass geschwitzt, hatte sich aber nie besser gefühlt. Seit zwei Wochen trainierte sie wie eine Besessene. Nach den ersten zwei Tagen, an denen sie sich abends kaum noch bewegen konnte, hatte es sogar angefangen Spaß zu machen. Einen großen Anteil daran, dass sie sich wohl fühlte, hatte auch Rachel, die ihr Selbstverteidigungstraining leitete. Sie hatte die ehemalige MI 6 Agentin bei Scarlett kennengelernt. Rachel lebte seit kurzer Zeit mit Barrett Manor in Austin. Während Barrett hier im Stützpunkt ein Büro unterhielt, war Rachel für die Ausbildung der Rekruten zuständig. Vor ein paar Tagen hatten die beiden Lily sogar zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen. Dank Rachel und Barrett war ihr der Beginn ihres Lebens auf dem Stützpunkt leichter gefallen. Da Barrett während ihres Einsatzes ihr Ansprechpartner sein würde, hatte man ihn eingeweiht. Einige Ängste hatte er ihr nehmen können. Dennoch war Lily sich immer noch nicht sicher, ob sie solch eine Aufgabe bewältigen konnte.

Rachel hob die Hand und bedeutete Lily somit, dass sie das Laufband stoppen konnte. Normalerweise lief Rachel mit, heute hatte sie es sich auf einem Stuhl bequem gemacht. Irgendetwas schien heute an der Agentin anders zu sein. Sie lächelte immer wieder verträumt vor sich hin und das Training war nicht so hart wie sonst.

„Du hast große Fortschritte gemacht. Du bist langsam soweit.“

Vielleicht, was das Thema Selbstverteidigung und Kondition anging, aber sicher nicht in psychischer Hinsicht. Allerdings bezweifelte Lily, dass sie, was das betraf, jemals soweit sein würde.

Rachel strich ihr über den Arm. Die Geste überraschte Lily. Rachel schien sonst ein toughe Frau zu sein, die körperliche Nähe wohl nur mit Barrett austauschte.

„Wirst du eigentlich wieder Außeneinsätze übernehmen?“ Lily wusste, dass Barrett und Rachel sich bei einem solchen Einsatz kennen und lieben gelernt hatten.

„Ich würde ja gern, aber ich bin noch keine Amerikanerin. Selbst wenn Barrett und ich in einigen Wochen heiraten, wird das noch dauern. Außerdem ist Barrett nicht begeistert von der Idee.“ Sie lächelte verschmitzt.

„So wie ich dich einschätze, lässt du dich davon aber nicht abhalten.“

„Davon vielleicht nicht, aber …“ Sie strich sich über den schlanken Bauch.

„Du bist …?“

Rachel strahlte über das ganze Gesicht. „Ich werde es Barrett heute Abend sagen. Ich weiß es erst seit ein paar Stunden. Ich musste es einfach jemandem sagen.“

Lily freute sich und fühlte sich geehrt, dass die Wahl auf sie gefallen war. „Scarlett wird ganz aus dem Häuschen sein.“

„Oh ja, ich kann mir vorstellen, dass Barrett jedes Wochenende einen Hubschrauber organisieren wird, damit wir die Kinder dann alle zusammenbringen.“ Scarlett und Barretts Bruder Aidan hatten zwei kleine Töchter. Lily sah das Leuchten in Rachels Augen.

„Ich wollte nie Kinder. Wir haben auch noch nie darüber gesprochen, aber jetzt wo es passiert ist, ist es ein unglaubliches Gefühl.“

Lily hatte immer Kinder gewollt, aber seit Ramon fort war, nie wieder einen Gedanken daran verschwendet. Für einen kurzen Moment beneidete sie Rachel um ihr Glück. Wie sich die Dinge doch ändern konnten. Die knallharte Agentin Rachel war schwanger und sie selbst, die Krankenschwester mit dem Familientick musste sich in einen Auftrag für die Special Agents of Justice stürzen. „Ich freue mich für euch.“

Rachel wurde wieder ernst. „Du wirst das alles schaffen. Ich glaube an dich. Corey tut es auch und laut Barrett weiß der, was er tut. Er hat dich ausgewählt. Du kriegst das hin.“

Rachel umarmte sie. Lily wusste, dass dies ein Abschied war. Morgen würde sie nach Las Vegas aufbrechen. In eine Welt aus Verbrechen, Intrigen und politischen Machtkämpfen … und sie mittendrin.

2

Las Vegas

Die beiden Koffer hatte Lily ausgepackt. Sie sah sich in der Suite um. Corey Snyder war großzügig gewesen. Ihr wäre auch ein normales Zimmer recht gewesen, dennoch musste sie zugeben, dass ihr die Suite gefiel. Ein übergroßer Flachbildfernseher dominierte das riesige Wohnzimmer. Der Raum war sehr modern eingerichtet, in Blau und Weiß gehalten. Eine große Couch, auf der gut und gern zehn Personen Platz gehabt hätten, war das Prunkstück. Aber sie war nicht hier um sich darauf zu lümmeln und sich die Filme aus der DVD-Sammlung an den Abenden anzusehen. Das hier war kein Urlaub. Das angrenzende Schlafzimmer hatte ein Himmelbett und im Badezimmer gab es nicht nur eine Dusche, sondern auch einen Whirlpool. Den würde sie auf jeden Fall ausprobieren. Sie erfreute sich an den Blumensträußen, die in den Zimmern verteilt waren, dann ging sie in den Ankleideraum. Dort war der Safe. Sie schüttelte den Kopf. Wer hätte gedacht, dass sie jemals in so einer Suite residieren und eine Waffe im Safe verstecken würde. Corey hatte sie nicht im Lucky Diamonds untergebracht. Das Casino, in dem Ramon für die Spinelli-Familie arbeitete, war auch gleichzeitig ein Hotel. Lily wohnte im Stars and Stripes. Ein reines Hotel, das weder im Besitz der Spinellis noch im Besitz der Howards war. Es gab auch kein Casino in der unteren Etage. Das Hotel wurde von Indianern betrieben. Zumindest war ein Mann mit Namen Sam Crow als Besitzer im Prospekt abgebildet, der aussah wie ein Ureinwohner. Lily hatte sich nie für Glücksspiel und die Situation der Ureinwohner in Bezug auf Casinos interessiert, auf dem Weg nach Las Vegas aber Recherchen angestellt. Die amerikanischen Ureinwohner genossen in ihren Reservaten einige Privilegien, darunter auch Lizenzen fürs Glücksspiel. Einige verdienten sich damit eine goldene Nase. Von den 562 anerkannten Indianerstämmen betrieben mehr als 200 Indianerkasinos. Damit stellten sie sogar eine ernsthafte Konkurrenz zu Las Vegas dar. Denn Las Vegas war kein Territorium der Ureinwohner. Las Vegas war, wie Corey ihr bereits erklärt hatte, in der Hand der Mafia. Durch die Spinellis in der Hand der klassischen Mafia, wenn es sowas überhaupt gab, und durch die Howards, in der Hand einer Organisation, die wohl so was wie die britische Mafia darstellten. Wieder wurde ihr klar, wie wenig sie über diese Welt wusste. Sie hatte sich nie für das organisierte Verbrechen interessiert. Zweifel machten sich in ihr breit. Sie hatte einfach so zugesagt, wegen Ramon. Aber nachgedacht, worauf sie sich hier letztendlich einließ, hatte sie nicht. Diese Zweifel führten sie zur nächsten Frage. Was würde passieren, wenn sie Ramon nach all den Jahren gegenüberstand? Wie würde er darauf reagieren? Was würde mit ihrer Gefühlswelt passieren? War sie jemals wirklich über ihn hinweggekommen? Nein. Sie liebte ihn immer noch. Liebte den Menschen, der er gewesen war, aber er musste sich verändert haben. Der Ramon, den sie gekannt hatte, hätte sich nie in solche Kreise begeben, oder doch? Es war alles so lange her. Hatte sie ihn jemals richtig gekannt? Sie musste aufhören darüber nachzudenken. Sie war nicht hier, um eine alte Liebe wieder aufleben zu lassen, sondern um Informationen für einen Geheimdienst zu beschaffen. Aber noch nicht heute. Morgen. Morgen war auch noch ein Tag. Sie beschloss sich ein nettes Restaurant zu suchen und in Ruhe zu essen, dann konnte sie früh schlafen gehen und morgen das Lucky Diamonds aufsuchen.

Allein zu essen machte keinen Spaß. Bildete sie es sich ein, oder starrten die Leute sie an? Sie hatte ein kleines italienisches Restaurant um die Ecke gewählt, in dem lauter verliebte Paare saßen. Schnell beendete sie ihr Mahl und machte sich auf den Weg zurück ins Hotel. Dummerweise war es noch sehr früh und sie überhaupt noch nicht müde. Sie entschied, noch an die Bar des Hotels zu gehen und sich einen Drink zu genehmigen. Am besten einen Bourbon, dann konnte sie schneller einschlafen. Sie setzte sich an die Bar. Die war nicht sonderlich gut besucht. Kein Wunder, draußen begann gerade das Nachtleben. In der glitzernden Welt von Las Vegas gab es aufregendere Orte, als diese kleine Hotelbar. Nur ein weiterer Gast saß am anderen Ende des Tresens. Ein Mann mit Glatze in den Vierzigern. Er schien schon einiges getrunken zu haben. Sein Blick war glasig, als er zu ihr hinsah und ihr zuprostete. Es dauerte einen Moment, bis eine ältere Dame aus einer Tür kam und sich schnell hinter die Bar begab, um ihre Bestellung aufzunehmen. Auch dem Mann am Ende des Tresens schenkte sie noch einmal nach, dann verschwand sie wieder. Lily nahm einen kräftigen Schluck und sah aus den Augenwinkeln, dass der andere Gast sich ihr näherte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Auf Konversation mit einem Betrunkenen war sie nicht aus. Er stellte sein Glas auf den Tresen und ließ sich neben ihr auf dem Barhocker nieder. „Ich wusste gar nicht, dass das Hotel hier so hübsche Frauen am Start hat.“

„Ich bin hier nicht am Start, ich bin Gast.“

Wenn er lachte, entblößte er schiefe Zähne. „Scheiß Laden. Luxuriöse Zimmer, aber das Entertainment lässt zu wünschen übrig.“ Er stand auf, ging einfach hinter die Theke und schnappte sich die Flasche Bourbon. „Ich würde sagen, wenn die uns keine Show bieten, machen wir uns selbst eine.“

Lily sah, wie er seines und ihr Glas bis zum Rand mit der goldbraunen Flüssigkeit füllte.

„Sir, ich bin müde, Sie entschuldigen mich.“

Im Aufstehen hielt der Mann sie am Arm fest. Sollte sie sich wehren? Rachel hatte ihr alles über Selbstverteidigung beigebracht. Dennoch kroch Angst in ihr hoch, sie erinnerte sich nicht, was man in so einer Situation für einen Griff hätte anwenden können. Es würde doch sicher gleich ein Angestellter des Hotels auf sie aufmerksam werden. „Lassen Sie mich los.“

„Du trinkst jetzt einen mit mir.“ Sein Griff wurde fester, sein Gesicht kam näher. Sie konzentrierte sich, sie hatte einen Arm frei. Ein gezielter Schlag …

Eine andere Hand legte sich auf den Arm des Mannes. „Die Lady hat gesagt, sie ist müde.“

Lily hatte ihn nicht kommen sehen. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Außergewöhnlich war das Erste, was ihr einfiel. Der Mann packte den Betrunkenen am Kragen und der Griff um ihren Arm löste sich. „Verschwinde.“

Es gab keine Gegenwehr. Der Betrunkene torkelte aus der Bar.

„Tut mir leid. Das hätte nicht passieren dürfen.“ Ein entschuldigendes Lächeln erhellte das Gesicht ihres Retters. Ein wunderschönes, außergewöhnliches Gesicht. Eindeutig europäische Gesichtszüge, aber seine Haare und seine Hautfarbe schienen die eines Ureinwohners zu sein. Er war um die ein Meter achtzig groß, so dass sie ein kleines Stückchen aufschauen musste, wenn sie ihm in die Augen sehen wollte. Seine langen, glatten braunen Haare reichten bis weit in den Rücken.

„Ist ja nichts passiert.“

Er ging hinter den Tresen und goss ihr einen frischen Bourbon ein. „Geht aufs Haus.“ Das Glas, welches der Grapscher zuvor gefüllt hatte, ließ er kommentarlos verschwinden.

„Danke.“ Offenbar hatte ihr Retter mit dem Hotel zu tun. Lily nippte an ihrem Glas. Der Mann war Mitte bis Ende dreißig. Seine hellbraunen Augen ruhten auf ihr. Sie nahm noch einen Schluck. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Irgendwie lenkten die engen Lederhosen und das enge schwarze T-Shirt sie vom Reden ab. Der Mann war durchtrainiert. Puh! Ihr wurde heiß. Vom Bourbon, natürlich.

„Mein Name ist Taylor Crow. Meiner Mutter gehört dieses Hotel.“

„Lily Blue.“

„Erfreut Sie kennenzulernen.“

Dann musste dieser Sam Crow im Flyer sein Vater sein. Also war er Ureinwohner, aber sein Gesicht sah nicht so aus. Er goss sich auch einen Bourbon ein.

„Arbeiten Sie hier?“

„Sollte man meinen, aber nein. Ich habe eine kleine Autowerkstatt.“

„Oh, dann führen Ihre Eltern das Hotel und Sie wohnen hier?“ Er musste sie für total neugierig halten. Warum stellte sie überhaupt diese Fragen? Es ging sie nichts an.

„Mein Vater ist tot. Sie haben sicher das Bild im Flyer gesehen. Meine Mutter kann sich nicht aufraffen, es zu ersetzen.“

„Das tut mir leid.“

„Ist schon vor einigen Jahren passiert.“

Lily sah in die hellbraunen Augen. Da war Trauer. Tiefe Trauer. Er lächelte zwar, aber unter dem Lächeln wartete Traurigkeit. Für einen Moment überkam sie der Impuls, ihn zu trösten. Sie nahm den letzten Schluck Bourbon und stand hastig auf. Sie musste dringend raus hier. Trösten? Gingen gerade irgendwelche Pferde mit ihr durch? Sie kannte den Kerl überhaupt nicht. „Ich werde schlafen gehen. Vielen Dank für Ihre Hilfe und den Drink.“

„Jederzeit.“

Sie beeilte sich, aus der Bar zu kommen. Sein Lächeln haute sie aus den Schuhen. Was war nur los mit ihr? Vor allen Dingen hatte er die Frage nicht beantwortet, ob er hier wohnte. Vielleicht würde sie das noch herausfinden.

*

Taylor sah ihr nach. Die Frau war wunderschön. Er goss sich noch einen Bourbon ein. Er trank normalerweise nicht, aber vielleicht würde es helfen, die Frau wieder aus seinem Gehirn zu vertreiben. Sie hatte dort nichts verloren, wunderschön hin oder her. Diesem Glatzkopf hätte er am liebsten so richtig die Fresse poliert, anstatt ihn nur aus der Bar zu vertreiben. Die Heftigkeit seiner Gefühle überraschte ihn. Das sollte es nicht. Seit geraumer Zeit hatte er schon Probleme Hass und Wut unter Kontrolle zu halten, aber das musste er, wenn er an seinem Plan festhalten wollte. Ein weiterer Bourbon änderte nichts daran, dass Lily Blue immer noch vor seinem inneren Auge erschien. Ihr Akzent war nicht so stark wie bei einem Texaner, aber eindeutig aus den Südstaaten. Louisiana oder Mississippi, vermutete er. Wahrscheinlich hatte sie karibische Vorfahren, ihre Haut war dunkel, aber nicht so als stammten ihre direkten Vorfahren aus Afrika. Schmale Nase, volle Lippen und braune Augen. Ebenmäßige Gesichtszüge verliehen ihr eine Grazie, wie er sie selten gesehen hatte. Sie hätte in Las Vegas glatt als Showgirl Karriere machen können, oder überall auf der Welt als Model, wenn er ihre schlanke Figur dazurechnete. Wer sagte ihm, dass es nicht so war? Er wusste gar nichts über sie. Nicht dass es ihn etwas anging, was sie hier in Las Vegas tat. Es interessierte ihn noch nicht einmal. Er hielt inne. Würde er das durchziehen können? Würde er noch lange so weitermachen können? Leere und Trauer überfielen ihn von einem Moment auf den Anderen. Das schwarze Loch, gegen das er ankämpfte, öffnete wieder sein alles verschlingendes Maul. Er verließ die Bar und entschloss sich noch ein wenig mit seinem Motorrad in der Gegend rumzufahren, denn wenn er jetzt schlafen ging, dann würde ihn das schwarze Loch verschlingen.

*

Lily war früh aufgewacht. Sofort war da diese Nervosität gewesen, die sich gestern Abend vor dem Einschlafen schon in ihre Eingeweide geschlichen hatte. Kein Wunder, vielleicht würde sie heute Ramon treffen. Sie sollte ihn besser heute treffen. Keiner hatte ihr gesagt, wie lange sie an diesem Auftrag