Spirit - Du gehörst mir - Carrie Jones - E-Book

Spirit - Du gehörst mir E-Book

Carrie Jones

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Beschreibung

Du gehörst mir, ganz und gar mir ...

Traumstimmen, Visionen – Alan und Aimee verbindet ein dunkles Geheimnis. Vom ersten Tag ihrer Begegnung an fühlen sie sich zueinander hingezogen. Und vom ersten Tag an kommt es zu mysteriösen Vorfällen. Als ob ihnen etwas Böses auf den Fersen wäre. Doch dann machen sie eine schockierende Entdeckung: Nicht sie werden verfolgt, sondern Courtney, Aimees beste Freundin. Und es gibt nur eine Möglichkeit, sie zu retten: Sie müssen den Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hat, austreiben …

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Seitenzahl: 394

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DIE AUTORIN

Carrie Jones’ »Flüsterndes Gold« und auch die weiteren Bände ihrer Romantasy-Serie standen wochenlang auf der Bestsellerliste der New York Times. In ihrer Heimat in New Hampshire hatte die Autorin mal eine Seance mit der Komikerin Sarah Silverman.

Weitere lieferbare Titel von Carrie Jones:

Flüsterndes Gold(Band 1, 30819)

Finsteres Gold (Band 2, 30862)

Verhängnisvolles Gold (Band 3, 30859)

Verräterisches Gold (Band 4, 30927)

DER AUTOR

Steven E. Wedel ist hauptberuflich Highschool-Lehrer und lebt mit seiner Familie in Oklahoma. Er hat bereits Fantasyromane für Erwachsene geschrieben und SPIRIT ist sein erstes Jugendbuch.

Aus dem Englischen von Ute Mihr

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2015

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2011 by Carrie Jones and Steven E. Wedel

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »After Obsession« bei Bloomsbury U.S.A. Children’s Books, New York.

Übersetzung: Ute Mihr

Außenlektorat: Werner Wahls

Umschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft

MI · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-13972-8www.cbt-buecher.de

Für Emily Ciciotte, Rena Morse und Shaun Farrar, weil sie mir immer zeigen, wie ich der Angst am besten begegne.C.J.

Für meine Frau Kim und die Kinder.Danke für eure Geduld.S.E.W.

Du gehörst mir.

Du wirst immer mir gehören.

Seit der Vater meiner Freundin Courtney tot ist, höre ich diese Worte jeden verdammten Morgen. Sie schwirren den ganzen Tag durch meinen Kopf, bis ich fast verrückt werde. Und heute ist keine Ausnahme. Sogar hier draußen im Garten höre ich sie, wo ich mit meinem Freund Blake halb nackt im Gras liege. Eigentlich sollten wir in den Himmel hinaufschauen und die träge Stimmung nach dem Rumknutschen genießen …

»Aimee, du bist die Beste«, sagt Blake. »Du bist die beste Freundin der Welt und gehörst für immer zu mir. Ja?«

Die Worte erinnern mich an meine Traumstimme, und obwohl mein Kopf auf Blakes Brust liegt, bin ich nicht so ruhig wie sonst, wenn wir zusammen sind. In meinem Magen nistet sich Übelkeit ein. Blakes Herzschlag klingt wie der Rhythmus zu einem Blut-Song, den ich aber nicht höre. Blake ist Sänger. Er hat immer ein Lied im Kopf, und ich stelle mir vor, dass dieses Lied ihn vollkommen ausfüllt, durch sein Blut strömt, sich in den Kapillaren verteilt und in jede Zelle vordringt, so wie Worte es bei mir tun. Mein Seufzen übertönt das Klopfen seines Herzens.

»Gramps und Benji kommen bald heim.«

»Der Wink mit dem Zaunpfahl?«, fragt er. Er greift nach seinem T-Shirt und lächelt sein Rockstar-Lächeln, das jeden dahinschmelzen lässt.

»Sozusagen«, entschuldige ich mich.

Um uns herum gibt es nur den Wald und den Fluss und das Haus. Es fühlt sich an, als würden sie uns beobachten und uns zu verstehen geben, dass es vollkommen in Ordnung ist, jung zu sein und glücklich. Aber es ist nicht in Ordnung, jung und glücklich zu sein, wenigstens nicht heute. Nicht jetzt. Nicht wenn Courtneys Vater tot ist. Ich darf nicht glücklich sein, wenn ihr Inneres von einem einzigen großen Schmerz zerfressen wird. Diesen Schmerz habe ich selbst erlebt. Courtney hat das Meer den Vater genommen; mir hat der Fluss die Mutter genommen. Das ist schon lange her, aber der Schmerz ist immer noch da.

Blake lehnt mich an eine große Kiefer, aber ich spüre eigentlich nichts. Die letzten paar Wochen habe ich immer weniger gefühlt, wenn ich mit Blake zusammen war, und das macht mir große Sorgen, denn wir passen perfekt zueinander. Alle sagen das.

Blake stöhnt. »Wir müssen in Psycho ein Referat über unsere größten Ängste schreiben.«

»Aha?« Seine Augen sind so grau. Augen wie das Meer, denke ich oft. Obwohl das Meer für mich kein so großartiges Bild mehr ist. Aber ich schlucke den Köder und frage: »Und was sind deine?«

Er fährt mit seinen Händen von meinen Schultern die Arme hinunter bis zu meinen Handgelenken und umfasst sie, während er achselzuckend meint: »Keine Ahnung. Eigentlich habe ich nicht vor viel besonders große Angst. Vor Feuer, vielleicht. Oder davor, in Stanford nicht angenommen zu werden.«

In mir schwappt etwas herum, das Übelkeit erregt wie alter, abgestandener Kaffee. Von einem Baum fliegt eine Krähe auf, schwarze Flügel schlagen durch die Luft.

»Wovor hast du denn Angst?«, fragt er.

Ich denke nach und dann sage ich ihm einfach die Wahrheit. »Ich habe Angst vor mir selbst.«

Seine Augenbrauen ziehen sich verwirrt zusammen.

Ich atme hörbar aus: »Ja, vor mir. Am meisten fürchte ich mich vor mir selbst.«

Ein paar Dinge über mich kann ich nicht erklären: Manchmal sehe ich in meinen Träumen Ereignisse, bevor sie geschehen. Bei meiner Mom war das auch so. Deshalb denke ich auch, dass es eine gewisse genetische Veranlagung zu dieser ganzen »Psycho-Kiste« gibt. Ja, ich weiß, das ist seltsam, und ja, ich habe Sachen im Zusammenhang mit Courtney gesehen, und ja, ich sehe einen mir unbekannten Jungen mit markanten Zügen und dunklem Teint. Und ja, vor ein paar Wochen habe ich von Männern geträumt, die ertrunken sind, aber der Nebel war so dicht und das Licht so schlecht, dass ich sie nicht erkannte und das Unglück nicht verhindern konnte. Ich habe einfach nicht gesehen, dass einer von ihnen Courtneys Vaters war.

Die Träume sind so was von ätzend.

Und es sind nicht nur Träume. Wenn jemand krank ist oder verletzt, genügt manchmal eine Berührung von mir, und er fühlt sich besser oder wird langsam gesund. Manchmal sieht man förmlich, wie sich die Wunden schließen. Ich weiß nicht, ob meine Mom diese Fähigkeit besaß. Sie hat nicht so lange gelebt, dass ich sie hätte fragen können.

Ich bin nicht verrückt.

Bevor Blake endgültig abfährt, küssen wir uns lange und langsam, und er drückt mich gegen die Karosserie seines alten Volvos.

»Ich wünschte, du müsstest nicht gehen«, sage ich.

Er zieht den Kopf zurück und streicht mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Worte berühren sanft meine Wange: »Ich auch.«

Ich trete einen Schritt zur Seite. Der Wind bläst mir die Haare wieder ins Gesicht. Blake schaut an unserem Haus hinauf: ein großes mit Holzschindeln verkleidetes Einfamilienhaus mit einer Veranda nach vorn hinaus, angebauter Garage und so. »Euer Haus sieht einfach gemütlich aus«, meint er.

»Gemütlich?«

»Es sieht einfach nett aus. Ich stelle mir gern vor, wie du dort nachts schläfst.«

Ich drehe mich auch zum Haus um und lehne mich zusammen mit ihm an sein Auto. »Es sieht wirklich gemütlich aus. So ganz anders als Courtneys Haus jetzt wirkt. Manchmal fühlt es sich schrecklich an, dort zu sein, verstehst du?«

»Ich glaube, das ist ganz normal.« Er zieht mich am Handgelenk wieder dichter an sich. »Ruf Courtney an und lad sie zu euch ein. Vielleicht geht’s euch dann beiden besser.«

Als Blake weg ist, schreibe ich Courtney, ob sie mit mir Kajak fährt. Von Gramps habe ich die Nachricht, dass er und Benji erst in einer Stunde heimkommen.

Es dauert nicht lange, bis Courtney da ist. Wir schnappen uns die Schwimmwesten und Paddel und gehen zu dem langen Holzsteg am Fluss. Bis zur Bucht und dem Meer, wo Courtneys Vater gestorben ist, ist es nur einen guten halben Kilometer. Bis zur Stadt ist es genauso weit, mit dem Auto sogar ein bisschen weiter. Courtney schaut eine Sekunde lang in Richtung Meer. Bestimmt denkt sie an ihren Vater, denn ihre Augen trüben sich und ihre Mundwinkel gehen nach unten. Aber sie schüttelt den Gedanken ab, und ich kann regelrecht sehen, wie sie ihre Züge wieder so in den Griff bekommt, dass sie glücklich aussieht.

»Stell dir vor, was mir heute passiert ist.« Der Wind bläst ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie schüttelt den Kopf, als wäre die Erinnerung schon zu viel.

»Was?« Ich halte das Kajak fest, während sie in den vorderen Einstieg gleitet.

»Es ist so was von peinlich.« Sie lehnt sich nach vorn und hält sich am Steg fest, sodass ich mich hinten hineinsetzen kann. »Echt. Peinlich wie die ›Peinlichen Vorfälle aus dem wirklichen Leben‹ in den Frauenzeitschriften.«

Wir stoßen uns mit den Paddeln ab und gleiten rasch über das Wasser. Ich will nicht daran denken, dass Courtneys Vater tot ist, und auch nicht daran, dass meine Mom tot ist. Von ihr wissen wir wenigstens, wo sie gestorben ist – nämlich genau hier. Aber das sind schlechte Gedanken. Ich verbanne sie aus meinem Kopf.

»Erzähl schon, was passiert ist«, bitte ich lächelnd. Es tut so gut, dass sie sich wieder verhält wie früher, nicht übermäßig traurig ist und redet.

»Okay. Also, Justin Willis hat in Bio einen Kuli gebraucht und ich hab einen aus meiner Handtasche gezogen.« Während sie redet, schneidet unser Kajak in stetigem Auf und Ab durch das Wasser.

»Ja?«, sage ich, denn sie hat innegehalten, um sich eine Bestätigung zu holen.

»Ich nehme also den Kuli und halte ihn hoch, aber er sagt immer noch ›Ich brauch einen Kuli. Hat jemand einen Kuli für mich?‹ Und ich darauf ›Hier, du Blödmann!‹ Und ich wedle mit meinem Kuli vor seinem Gesicht herum, denn ich bin total sauer, dass er mich ignoriert, und denke Was ist los? Ist mein Kuli nicht gut genug für dich, Justin Willis?«

»Und ob er das ist!« Ich empöre mich an Courtneys Stelle.

»Nein. Nein. Warte …« Sie hört auf zu paddeln, dann lacht sie und dreht sich zu mir um, damit ich ihr Gesicht sehe, während sie mir den Rest der Geschichte erzählt. »Dann schaue ich den Kuli in meiner Hand endlich an und – es ist gar kein Kuli.«

»Es ist kein Kuli?«, frage ich in die Stille hinein. Courtney ist echt gut im Geschichten erzählen. Sie sollte Comedian werden.

»Es ist kein Kuli! Es ist ein Tampon! Ich wedle Justin Willis mit einem Tampon vor dem Gesicht herum!« Sie legt den Kopf in den Nacken und lacht so sehr, dass das Kajak wackelt. Aber vielleicht wackelt es auch, weil ich auch lache.

»Das ist sooo peinlich!«

»Ja, aber echt!«

Wir hören beide auf zu paddeln und lassen uns einfach treiben, denn das Leben ist manchmal sehr komisch.

»Ich mag dich wirklich, Courtney«, sage ich zu ihr. »Du bist der größte Kindskopf auf Erden und ich hab dich lieb.«

»Ha!«, lacht sie. »Ich weiß.«

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und wirft Schatten auf den Fluss. Wir sind zu nah an der Bucht, wo ihr Vater gestorben ist, und ihre Stimme ist ganz traurig, als sie sagt: »Lass uns zurück Richtung Stadt paddeln, okay?«

Mein Großvater und Benji kommen wenige Minuten, nachdem Courtney gegangen ist. Ich suche gerade im Kühlschrank nach etwas Essbarem, als sie hereinplatzen. In dem Augenblick, in dem sie hereinkommen, fällt am anderen Ende des marmornen Küchenblocks eine Kartoffel hinunter, schlägt auf dem Boden auf und kullert durch die Küche. Ich greife sie mir. Kartoffeln riechen so erdig wie der Boden draußen, und normalerweise mag ich den Geruch, aber jetzt lässt er mich schaudern. Keine Ahnung, warum. In Momenten wie diesen zweifle ich manchmal daran, ob ich alle Tassen im Schrank habe.

Gramps küsst mich auf die Stirn. »Wie war’s beim Fußball?«

»Gut«, antworte ich. »Und wie war’s bei den Pfadis?«

»Langweilig.« Benji wirft sein nasses Schwimmzeug achtlos in einem feuchten Haufen auf den Boden. Die Nässe färbt das Blau seiner Badehose dunkel, sodass es fast aussieht, als strecke ein Seehund den Kopf aus dem Meer. Eine Sekunde lang gleite ich in diesen merkwürdigen Zustand, der sich immer einstellt, wenn ich diese Visionen habe. Ich sehe einen Seehund, einen richtigen Seehund. Er schaut mich ganz verloren an, aber … in seinen Augen ist noch etwas anderes. Eine Warnung? Ich schüttle den Kopf und vertreibe damit das Bild.

»Heb das auf, Benji, sonst fängt es an zu stinken. Bei den Pfadis war’s gut. Wir sind beim Y geschwommen«, sagt Gramps. Dann runzelt er die Stirn. »Heb das auf, Benji, und zwar sofort.«

Benji trottet zurück und hebt seine nassen Sachen auf. »Gramps hat wieder geflirtet.«

»Echt?« Ich nehme mir einen Apfel vom Küchenblock und beiße hinein. »Aber Gramps flirtet doch nie.«

»Genau, niemals«, sagt er, aber seine alten Männeraugen glitzern kokett.

»Wirklich! Ich kenne keinen, der weniger anfällig fürs Flirten ist als du«, ziehe ich ihn auf und entferne mich langsam.

»Wohin gehst du?«, fragt Gramps und ruft dann in die Waschküche hinunter: »Leg das nasse Zeug in die Waschmaschine, nicht in den Wäschekorb, Benji!«

»Wenn’s sein muss!«, ruft Benji zurück.

Gramps hebt die Augenbrauen, um seiner Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen, und nimmt sich dann auch einen Apfel aus der Schale. »Was ist das für ein Ton.«

»Ich geh hoch malen«, sage ich ihm.

Gramps möchte immer gern wissen, was wir tun. Das gibt ihm das Gefühl, zuständig zu sein und die Kontrolle zu haben. Die perfekte Ersatz-Mom. »Ich bin heute fürs Abendessen zuständig. Wie wär’s mit Steaks?«

»Ja.« Ich bleibe auf der Treppe stehen. »Kommt Dad zum Essen?«

»Er hat eine späte Besprechung mit den Ärzten.«

»Schon wieder?«

Er seufzt. »Ja, schon wieder. Wie geht’s Courtney?«

»Heute kam es mir vor, als wäre sie ein bisschen besser drauf.« Traurigkeit überkommt mich. »Aber sie denkt, ihr Vater könnte noch …«

»… am Leben sein?« Gramps schüttelt den Kopf. »Das Wasser in Maine ist zu kalt. Das hält niemand lange aus. Man muss den Tatsachen ins Auge schauen.«

»Ja.« Ich hole tief Luft und versuche, mich nicht an das Traumbild von den Männern im Wasser zu erinnern, die mit den Händen nach etwas greifen, an dem sie sich festhalten können, aber nur Nebel vorfinden.

Gramps steht auf einmal neben mir und fasst mich am Arm. »Ganz ruhig, Mädel.«

»Tut mir leid. Es ist einfach so … es ist so traurig.

»Ich weiß. Das Leben ist manchmal traurig.«

»Heute ist ihr Cousin gekommen«, erzähle ich ihm, »und ihre Tante, ich glaube, irgendwo aus dem mittleren Westen. Sie wollen helfen, das Haus in Ordnung zu halten.«

Gramps lässt mich los. »Gut. Sie brauchen weiß Gott alle Hilfe, die sie bekommen können.«

Eine knappe Stunde später, ich bin mit meinen Hausaufgaben durch und male, ruft Gramps die Treppe herauf: »Aimee! Benji! Essen!«

Benji stürmt aus seinem Zimmer, streckt mir die Zunge heraus und poltert die Treppe hinunter. Ich folge ihm und rufe: »Ich krieg dich! Du bist ja sooooo langsam!«

Das ist eine absolute Lüge, denn ich versuche es nicht einmal.

»Gewonnen!« Er lässt sich an seinen Platz bei Tisch fallen und verkündet: »Ich liebe Steak!«

»Tote Kuh. Lecker«, sage ich, während ich mich setze und mir das Leben der armen Kuh vorstelle, die krank und einsam in einem Massentierhaltungsbetrieb vor sich hin vegetiert. Ich sehe sie ganz deutlich vor mir, aber weil so was nicht gut ist für die psychische Gesundheit, sortiere ich meine Gedanken neu und betrachte meinen Großvater. Er sieht ein bisschen müde aus. Da mein Vater sechzig Stunden pro Woche arbeitet, kümmert er sich hier um alles. »Den Tisch hätte ich doch decken können, Gramps.«

»Ich weiß, aber du warst beschäftigt. Außerdem braucht ein alter Mann das Gefühl, nützlich zu sein.« Er spießt ein Steak auf und legt es mir auf den Teller. »Habe ich dir von Benjis und meinem kleinen Projekt erzählt?«

Ich schüttle den Kopf und schneide währenddessen mein Fleisch. »Nö.«

»Benji.« Gramps zeigt mit der Gabel auf den Kühlschrank.

Benji legt seine Gabel ab, springt auf und stürzt hinüber zum Küchenblock. Er schwingt sich hinauf, greift nach oben auf den Kühlschrank und schnappt etwas in einer Zip-Plastiktüte, dann springt er vom Küchenblock herunter und schlenkert die Tasche vor meinem Gesicht herum. Ich inspiziere ihren orangefarbenen Inhalt.

»Ein Cheeto?«

»Nicht einfach irgendein Cheeto, stimmt’s Gramps?«, sagt Benji.

Gramps reibt sich die Hände. »So viel ist sicher.«

Ich untersuche die orangefarbene, industriell verarbeitete Lebensmittelmasse und überlege, was ich sagen soll. »Okay. Es ist, ähm, es ist …«

»Marilyn Monroe!«, verkündet Benji.

»Was?« Ich schaue Gramps Hilfe suchend an.

»Marilyn Monroe. Sie war früher einmal ein großer Filmstar. Blonde Haare und …«

»Riesige Titten!«, unterbricht Benji.

»Benji!«, schreie ich ihn an.

Er lässt sich kichernd auf seinen Platz fallen. Gramps schmunzelt.

»Männer sind zum Kotzen.«

»In dieser Familie sagt man nicht ›zum Kotzen‹«, rügt mich Gramps streng.

Ich zeige mit der Gabel auf ihn, sodass ein Stück Steak runterfällt: »Nein, aber wir sagen ›Titten‹. Es lebe die Gerechtigkeit. Egal, ich weiß, wer Marilyn Monroe ist. Ich versteh bloß nicht, was sie mit dem Cheeto zu tun hat.«

Benji verdreht die Augen. »Sie ist das Cheeto.«

»Wiedergeboren?« Ich spieße ein Stück Steak auf.

»Nein.« Gramps schnappt Benji die Tüte weg und hält sie mir vor die Nase. »Schau genau hin. Sieht das etwa nicht wie Marilyn aus?«

Ich überlege. »Ähm. Na ja, ein paar Wölbungen sind schon zu erkennen.«

Benji zeigt auf den oberen Teil des Cheeto. »Schau mal, da sind ihre Haare. Du siehst sie doch, Amiee, oder? Sie sehen genau aus wie ihre.«

Er ist total süß in seinem Eifer. Von oben ertönt ein lautes Rumsen und ich zucke vor Schreck zusammen. Meine Gabel fällt klirrend auf den Teller.

»Da ist nur ein Buch runtergefallen«, erklärt Gramps, kann aber damit meine Gänsehaut nicht verscheuchen. »Siehst du sie in dem Cheeto?«

»Klar.« Ich nehme meine Gabel wieder in die Hand. »Klar sehe ich es.«

»Sie«, korrigiert er mich.

»Sie. Ich sehe sie. Wow.« Ich nicke heftig. »Das ist ja total cool. Und was habt ihr mit eurem Marilyn-Monroe-Cheeto vor?«

Benji hüpft vor lauter Aufregung auf und ab: »Wir verkaufen sie auf eBay.«

Ich verschlucke mich fast und bringe irgendwie »eBay?« heraus.

»Das ist eine Versteigerungsseite im Internet«, erklärt Gramps. »Benji, iss jetzt.«

»Ich weiß, was eBay ist.« Diesmal lege ich meine Gabel absichtlich hin und wiederhole seinen Satz, um sicher zu sein, dass ich ihn wirklich verstanden habe. »Ihr verkauft sie auf eBay.«

»Jep!«, sagt Benji. »Die ersten Gebote sind schon da.«

»Weiß Dad davon?«, frage ich.

»Er würde es wissen, wenn er mal daheim wäre«, sagt Benji. Sein Lächeln ist verschwunden. Er stopft sich Kartoffeln in den Mund, kaut hörbar und schluckt. »Ich wette, wir bekommen tausend Dollar.«

Er tut mir in der Seele leid.

»Was meinst du, Aim? Wie viel können wir kriegen?«, fragt Gramps.

»Ach«, lüge ich. »wahrscheinlich mindestens zweitausend Dollar.«

Benjis Augen leuchten auf.

Ich sattle noch drauf, als ob ich noch eine Farbschicht auftragen würde: »Vielleicht sogar mehr.«

Nach dem Abendessen wasche ich im oberen Bad den Farbverdünner von meinem Fächerpinsel Größe 2. Die winzigen gelben Spritzer auf dem Stiel gehen nicht ab, aber das ist okay. So sieht man, dass er häufig benutzt wird. Leise Schritte sind zu hören, als ob Benji herumschleichen würde.

Langsam lege ich den Pinsel hin und spähe, den Schaber fest in der Hand, durch die offene Badezimmertür in den Flur. Dort ist natürlich nichts.

Als ich klein war, brachte meine Mom mir ein Gebet bei. Ich musste ihr versprechen, dass ich es jeden Abend sprechen würde.

»Es wird die Träume nicht ganz vertreiben, aber es wird dafür sorgen, dass sie nicht so schlimm sind«, sagte sie. »Bei anderen hat es auch funktioniert.«

Lieber Gott, Schöpfer von Himmel und Erde,schütze mich vor den Träumen dieser Nacht.Zerstöre jeden Succubus, bevor er werde,

Und lass keinen Incubus gewinnen an Macht.

Ich spreche es vor dem Schlafengehen im Bett, aber es vertreibt die Träume nicht. In ihnen bin ich unter Wasser gefangen und etwas Böses saugt das Leben aus mir heraus. Es ist dunkel. Das Wasser lastet immer schwerer auf mir, und in der Ferne ertönt ein böses, geisterhaftes Lachen und ein Wehklagen, das bin ich, ich schreie und schreie und schreie. Etwas greift nach mir und hebt mich hoch. Zuerst ist es angsteinflößend und pelzig und stark, nur Muskeln und Klauen, und es sieht aus wie ein Puma, aber dann verwandelt es sich in einen Jungen, einen riesengroßen Jungen. Seine dunklen Augen schauen mich an, sie sind voller Angst und feucht, aber irgendwie auch stark und entschlossen.

»Wir müssen sie retten«, sagt er.

»Wen?«, frage ich. »Wen?«

Er verwandelt sich wieder in einen Puma und knurrt. Nur noch Zähne und Knurren. Ich wache auf, schlecht gelaunt und voller Angst, denn jemand ist in Gefahr, aber ich weiß nicht, wer oder wie ich helfen kann, nur dass ich es herausfinden muss, bevor es zu spät ist. Wow, ich hasse Träume.

»Was soll das heißen, Football gibt es nicht?«, frage ich.

Einen Augenblick lang ist Mrs. Wood, die Beratungslehrerin, sprachlos.

»Das ist eine Highschool. Da muss es Football geben.« Ich schaue meine Mutter auf dem Stuhl neben mir an. »Warum gibt es hier kein Football? Hast du das gewusst?«

»Tut mir leid, Alan«, sagt die Beratungslehrerin. Sie scheint wirklich bestürzt zu sein und schaut dauernd meine Mutter an. »Ich meine, ich hätte das erwähnt.«

»Mom? Du hast es gewusst, stimmt’s? Du hast gewusst, dass ich hier nicht Football spielen kann, und ich musste trotzdem hierher umziehen. Stimmt’s?«

»Ja.« Sie schlägt die Beine übereinander. »Es tut mir leid, Alan.«

Viele meiner Freunde zu Hause in Oklahoma City hätten ihre Mütter auf der Stelle übel beschimpft. Aber das bringe ich nicht fertig, obwohl ich schrecklich wütend bin. Ich sacke nur auf meinem Stuhl zusammen wie ein Ballon, aus dem auf einmal alle Luft entweicht.

»Alan war letztes Jahr in der zweiten Mannschaft der Landesliga in der Klasse 5A«, erklärt Mom. »Er ist ein richtig guter Footballspieler. Er spielt Runningback.«

»Gibt es in einer anderen Schule Football?«, frage ich.

»Nicht im Umkreis von achtzig Kilometern. Wir haben Fußball, Geländelauf und Ringen«, bietet Mrs. Wood an.

»Fußball? Als Fußballspieler bekomme ich kein Football-Stipendium an der OU.«

»Alan will schon immer für die University of Oklahoma Football spielen«, erklärt meine Mutter, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir zuwendet. »Komm, Alan, wir wollen das Beste daraus machen.«

Es war nicht meine Idee, nach Maine zu kommen. Maine? Im Ernst, wer zieht schon nach Maine? Höchstens meine Mutter, die uns hierhergeschleppt hat, damit wir bei meiner Tante und Cousine wohnen, weil die jetzt ehemann- und vaterlos sind. Zu uns ist auch niemand gekommen, nur weil ich vaterlos war, und ich bin das schon mein ganzes Leben lang.

»Dann tragen Sie mich eben für den Geländelauf ein.« Mehr Zugeständnis geht nicht. »Haben Sie im Frühling wenigstens Leichtathletik?«

»Ja.« Mrs. Wood reckt vor lauter Erleichterung fast die Faust in die Luft. Sie schreibt mich für Geländelauf und Leichtathletik ein, während der Computer meinen Stundenplan ausspuckt.

»Danke.« Meine Mutter ist ein einziges tröstliches Lächeln. »Wir sind am Wochenende erst hier angekommen. Der Mann meiner Schwester ist vor Kurzem auf dem Meer ums Leben gekommen, beziehungsweise wird vermisst. Er besaß ein Fischerboot und …«

»Oh, ja, die Dawn Greeter.« Mrs. Woods dunklen Augen ist anzusehen, dass sie um das Unglück weiß. Sie schaut mich an: »Dann bist du Courtneys Cousin?«

»Ja.«

»Sie ist ein sehr nettes Mädchen«, verspricht Mrs. Wood. Keine Ahnung. Ich habe sie gestern Abend nur kurz ein paar Minuten lang gesehen und sonst sind wir uns nur zweimal im Leben begegnet. »Es war eine Tragödie für die ganze Stadt, als das Schiff vermisst wurde. Die ganze Mannschaft kommt von hier. Drei Schüler, einschließlich Courtney, haben ihre Väter verloren.«

»Wie furchtbar«, sagt Mom. »Ich habe nie verstanden, wie Lisa damit klarkam, dass Mike jeden Tag aufs Meer hinausfährt.«

»Das ist das Leben hier.« Mrs. Woods Blick streift die Bilder von Schiffen an den Wänden ihres Büros und die Messingglocke über der Tür. »Sicher sind auch in Oklahoma arbeitende Männer jeden Tag irgendwelchen Gefahren ausgesetzt.«

»Ja, aber wenn etwas passiert, gibt es wenigstens einen Leichnam, den man begraben kann.«

»Das stimmt.« Mrs. Wood will noch mehr sagen, aber es klingelt, und der Flur vor ihrem Büro füllt sich mit Teenagern. »Die erste Stunde ist vorbei. Wenn es draußen ruhiger ist, soll unsere Bürohilfe dir dein Schließfach zeigen und dich kurz durch die Schule führen. Danach bringt er dich in deine Biologie-Stunde.«

Heimlich beobachte ich die vorbeiströmenden Schüler. Viele schauen durch das Glasfenster zu mir herein. Ich unterscheide mich schon sehr deutlich von ihnen und das prägt sich ihnen ein. Meine dunkle Haut und meine langen schwarzen Haare sind anders als alles, was ich in dem Menschenstrom vor dem Büro sehe. Mein Vater, den ich nie kennengelernt habe, ist Navajo-Indianer. Ich wappne mich schon mal gegen den üblichen Müll im Hinblick auf meine indianische Abstammung. Sie nennen mich »Häuptling«, erzählen Reservats-Witze und bitten mich um Zigarren oder um Fünf-Cent-Stücke aus Holz, bis ich die Beherrschung verliere und jemanden verprügle. Danach respektieren sie mich widerwillig.

Es klingelt noch einmal, und die letzten paar Schüler rennen zu offenen Türen, an denen schon Lehrer warten. Ein großer Typ mit kurzen schwarzen Haaren kommt ins Büro der Beratungslehrerin und legt einen Stapel Bücher auf einen kleinen Schreibtisch, der ein bisschen abseits steht.

»Blake?«, ruft Mrs. Wood. »Das ist Alan Parson. Heute ist sein erster Tag bei uns. Führst du ihn ein bisschen rum?«

»Klar«, sagt Blake und mustert mich. Dann nickt er mir zu, ich nicke zurück und folge ihm aus dem Büro hinaus. Mom ruft mir ein »Tschüss« hinterher, aber ich winke nur, denn ich bin wegen der Football-Geschichte immer noch sauer. Blake ist ein bisschen größer als ich und er geht sehr schnell. Er trägt ein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck Goffstown Highschool Geländelauf auf dem Rücken.

»Du machst Geländelauf?«, frage ich.

»Ja. Du auch?«

»Jetzt schon, wie’s aussieht«, antworte ich. »Nicht zu fassen, dass ihr keine Football-Mannschaft habt. In Oklahoma gibt’s in jeder popligen Schule auf dem platten Land eine.«

»Football ist hier kein großes Ding«, meint Blake, während er mich einen Flur hinunterführt. »Außerdem ist Football ein sehr teurer Sport, und wie du vielleicht gemerkt hast, hat diese Schule nicht viel Geld. Wir haben hier Sportarten, die nicht viel kosten.«

»Ach so.« An die Kosten hatte ich nicht gedacht. »Ist die Geländelauf-Mannschaft gut?«

»Ziemlich gut«, antwortet er. »Ich war letztes Jahr Landesbester. Wir hatten zwei Jungs und drei Mädchen bei den Landeseinzelmeisterschaften. Dieses Jahr stellen wir das ganze Team.«

»Cool.« Das war doch wenigstens etwas.

»Das ist dein Schließfach«, sagt er, als wir um eine Ecke biegen. Er zeigt auf eine hohe gelbe Tür. »Versuch dich mal an dem Schloss.« Während ich den Einstellring auf die Ziffern drehe, die man mir gegeben hat, fragt er: »Du kommst aus Oklahoma?«

»Ja.«

»Und was hat dich nach Maine verschlagen?«

Beim Erzählen schließe ich die Tür und wende mich dann wieder Blake zu. Der schüttelt mit dem Kopf. »Ach, Courtney. Ja, Scheiße, das mit ihrem Vater.«

Ich folge Blake von einem Flur in den anderen, während er mir die Toiletten zeigt, die Aula, Klassenzimmer und die Cafeteria. Auch zu einigen Lehrern gibt er Kommentare ab, und ich merke bald, dass er zu den Typen gehört, die alle Lehrer lieben. Allem Negativen, das er über einen Lehrer sagt, folgt etwas Positives. »Mrs. Baileys Unterricht ist echt heftig, aber sie selbst ist total cool. Freitags bringt sie immer Kekse mit.«

Schließlich stehen wir vor einer Klassenzimmertür und Blake klopft an. Ein Junge, der in der Nähe der Tür sitzt, springt auf und betrachtet uns durch die schmale Luke, bevor er die Tür öffnet. Er und Blake stoßen zum Gruß die Fäuste gegeneinander, dann richtet Blake seine Aufmerksamkeit auf den Lehrer.

»Mr. Swanson, das ist Alan Parson. Er ist neu. In der zweiten Stunde hat er bei Ihnen Unterricht.«

Über ein Dutzend Augenpaare durchbohren mich mit ihrem Blick. Sie beobachten, urteilen und spinnen sich aus, warum ich wohl hier bin. Mr. Swanson ist ein großer Mann mit einem dünnen grauen Ziegenbart und ergrauenden blonden Haaren. Tränensäcke scheinen seine Augen nach unten zu ziehen. Er geht sehr gemächlich auf mich zu und bleibt dann vor mir stehen.

»Hallo, Alan«, sagt er. »Setz dich doch einfach mal dort hin. Ich wollte gerade eine Aufgabe stellen. Sobald alle anderen arbeiten, bring ich dich auf Stand.«

Ich gehe zu dem Pult und setze mich hinter einen Jungen, der eine Diät bitter nötig hätte, und vor ein rothaariges Mädchen, das energisch Kaugummi kaut. Während ich warte, muss ich mich dazu zwingen, nicht mit der Hand den Medizinbeutel zu berühren, den ich unter meinem T-Shirt verborgen trage. Normalerweise, das heißt zu Hause, trage ich ihn offen.

Zu Hause würde ich jetzt in Gemeinschaftskunde bei Coach Baldwin sitzen. Ich unterdrücke ein Seufzen und versuche so zu tun, als würden meine Mitschüler alle in ihre Bücher schauen, statt mich anzustarren.

Mit knapper Not überstehe ich eine sehr merkwürdige Busfahrt nach Hause und steige einfach an derselben Haltestelle aus wie Courtney.

»Tut mir leid, dass ich mich nicht neben dich gesetzt habe«, sagt sie, als wir die Einfahrt hinaufgehen. »Mom hat extra gesagt, ich soll dir das Gefühl geben, willkommen zu sein.«

»Mach dir darüber keine Gedanken.« Ich schaue sie zum ersten Mal, seit ich Samstagabend spät in Maine angekommen bin, richtig an: Sie ist klein, wahrscheinlich nicht mal einen Meter fünfzig, sehr dünn und blass. Ihre langen, glatten Haare hängen schlaff herunter und fallen ihr ins Gesicht. Hinter ihrer Brille trägt sie zu viel Eyeliner. Sie hat einen AFI-Kapuzenpulli an und ausgeblichene Jeans. Will wohl ein Emo sein. Ob sie sich auch ritzt?

»Hat Mom dir schon einen Schlüssel gegeben?« Ich schüttle den Kopf. Das Haus ist schön und ich habe ein eigenes Zimmer. »Macht sie bestimmt noch.«

In der Einfahrt stehen keine Autos. Ist meine Mutter schon zu Hause? Sie hatte ein Vorstellungsgespräch in der Papierfabrik, wo auch Tante Lisa arbeitet.

»Ihr wohnt eine Weile bei uns, sagt Mom.« Ich höre nicht heraus, ob sie das gut oder schlecht findet oder ob sie überhaupt eine Meinung dazu hat.

»Sieht so aus. Ist das okay für dich?«

»Keine Ahnung. Ja. Es ist alles sehr merkwürdig, seit Dad weg ist. Mom hatte Angst, dass sie das Haus aufgeben muss, bis Tante Holly angeboten hat, uns zu helfen.« Wir betreten die Veranda und Courtney zieht den Schlüssel aus der Tasche. »Ich bin froh, dass wir es nicht aufgeben müssen.«

»Ich auch.« Ich muss zwar höchstwahrscheinlich meinen Traum von einer Zukunft als Runningback bei den Oklahoma Sooners und einer sich daran anschließenden Profikarriere begraben, aber wenigsten behalten Tante Lisa und Courtney ihr Haus. »Warum seid ihr nicht einfach nach Oklahoma gezogen? Deine Mom ist doch da aufgewachsen.«

Courtney bedenkt mich mit einem Blick, der sagt, dass ich die blödeste Kreatur bin, die jemals auf zwei Beinen gestanden ist. »Mein Dad wird vermisst, kapiert? Vermisst. Vielleicht ist er auf irgendeiner Insel und wartet auf Hilfe. Er könnte gerettet werden und morgen nach Hause kommen. Und wenn wir dann nicht da wären? Was, wenn er heimkäme und wir wären weg?«

Ich merke, dass ich sie ein paar Mal anblinzle, während ich mir klarmache, dass sie das wirklich glaubt. Kann das sein?

»Passiert so was wirklich?«, frage ich. »Werden Menschen in einem Unwetter vermisst und tauchen später wieder auf?«

»Kann schon passieren.« Courtneys Stimme ist auf einmal ganz schrill. Sie dreht sich von mir weg und rennt durch das Wohnzimmer zur Treppe. Ich bleibe in der offenen Eingangstür zurück.

Ein plötzlicher, kalter Windstoß fegt über die Veranda, aber er ist ebenso schnell weg, wie er gekommen ist. Ich betrachte die trockenen Blätter, die an mir vorbeigetrieben werden und dann auf den Boden segeln. Mit dem Windstoß jagt ein Schatten vorbei. Merkwürdig. Oben knallt eine Tür.

Über meinem Kopf kratzt etwas in dem Zwischenraum zwischen den Innen- und den Außenwänden des Hauses. Ich halte es nicht für nötig hochzuschauen. Mäuse sind Mäuse, egal ob sie in den Great Plains oder an der Ostküste leben.

Weil ich nichts anderes zu tun habe und es in Tante Lisas Haus kein Pay-TV gibt, mache ich meine Hausaufgaben. Ich habe gerade fertig gelesen, was wir in Bio aufhatten, als Tante Lisas Auto die Einfahrt hochrumpelt.

»Ich hab den Job«, ruft Mom, kaum dass sie das Haus betreten hat. In ihren sandblonden Haaren hängen immer noch gelbliche Hobelspäne, und ihre Wangen glühen, als sie sich an ihrer Schwester vorbeidrängt, um mich zu umarmen.

Ich erwidere die Umarmung, allerdings mit wenig Begeisterung.

»Du hättest schon Bescheid sagen können«, ziehe ich sie auf.

»Ich hab eine Nachricht hinterlassen«, sagt sie und zeigt auf das Telefon hinter mir. Am Anrufbeantworter blinkt ein rotes Licht.

»Oh, ich wusste nicht, ob ich ihn abhören darf«, sage ich, auch wenn ich das blinkende Licht gar nicht bemerkt hatte.

»Sei nicht albern, Alan«, meint Tante Lisa. »Du wohnst hier. Mia casa is dein-a-casa.«

Das ist der erste Satz von Tante Lisa, der nicht von Schmerz durchtränkt ist, deshalb zwinge ich mich dazu, über ihre Spanischverhunzung zu schmunzeln.

»Okay, ich denk dran. Glückwunsch zum Job, Mom. Du hast gleich angefangen, was?« Ich pflücke eine Holzlocke aus ihren Haaren. Sieht aus wie Kiefer.

Lachend fährt Mom sich mit beiden Händen in die Haare und schüttelt sie. »Du hast gesagt, sie wären alle weg, Lisa.«

»Du bist eben Anfängerin, Holly«, sagt meine Tante und zieht im Vorbeigehen weitere Sägespäne aus den Haaren meiner Mutter. »Hat Courtney was zu essen gemacht?«

Ich zögere und überlege, ob ich meine Cousine in Schwierigkeiten bringe, wenn ich die Wahrheit sage. Aber sie merken es ja ohnehin gleich: »Nein. Sie ist gleich nach oben gegangen und seither hab ich sie nicht gesehen. Ich habe massenweise Hausaufgaben.«

»Das schaffst du schon«, meint Mom. »Ist Courtney okay?«

»Ich denk schon.« Ich bin kein Seelenklempner, aber zu glauben, dass dein toter Vater heimkommt, wenn sein Boot im Nordatlantik vermisst wurde, klingt für mich nicht okay. Ich habe Titanic gesehen. Ich weiß, dass Menschen in kaltem Wasser nicht allzu lange überleben, schon gar nicht in einem Sturm.

»Also, ich finde, wir sollten essen gehen – zur Feier deines neuen Jobs und eures Umzugs nach Maine«, schlägt Tante Lisa vor.

Den Umzug nach Maine feiern? Ja, klar! Mom klatscht in die Hände und meint, das sei der beste Vorschlag, den sie seit Wochen gehört hat. Sie könne es kaum erwarten, frische Meeresfrüchte zu essen.

»Ja, gut«, sage ich. »Warum nicht? Ich gehe hoch und hole Courtney.«

Courtneys Zimmer liegt am Ende des Flurs direkt neben meinem neuen Zimmer. Der Flur kommt mir sehr dunkel vor, obwohl die Deckenbeleuchtung eingeschaltet ist. Irgendwas stimmt nicht. Die Haare an meinem Arm stellen sich auf, als ich mich Courtneys geschlossener Tür nähere, und mir ist kalt, als würde ich vor einem undichten Kühlschrank stehen.

»Courtney?« Ich klopfe an. Wieder höre ich das Kratzen, diesmal direkt unter meinen Füßen. Ich überlege, ob ich aufstampfen soll, um die Mäuse zum Schweigen zu bringen, aber ich lasse es sein. Warum soll ich Tante Lisa darauf hinweisen, dass ich von den Nagern in ihrem Haus weiß?

»Courtney?« Ich klopfe noch einmal ein bisschen lauter.

Die kalte Luft um mich herum verschwindet. Sie wurde unter Courtneys Tür hindurch wieder eingesogen. Da sie immer noch nicht reagiert, drehe ich an dem Türknopf und drücke. Einen Augenblick lang spüre ich einen Widerstand, dann geht die Tür leicht auf.

Courtney liegt mit offenen Augen auf dem Bett, die Arme starr neben ihrem Körper und die Handflächen gegen die Schenkel gepresst. Es sieht total unheimlich aus.

»Courtney? Alles in Ordnung?«

Langsam wendet sie den Kopf und schaut mich an. Ihre Augen hinter der Brille kommen mir fremd vor, groß und viel zu hell.

»Wir gehen zum Essen aus. Bist du fertig?«

»Klar. Ich komm gleich runter«, antwortet sie und wirkt dabei ein wenig benommen.

Ich schließe die Tür und trete einen Schritt zurück. Hinter der Tür höre ich, wie sie sich bewegt. Ihre Kleider rascheln, als sie sich im Bett aufsetzt. Vermutlich geht es ihr gut und sie ist eben emo-verrückt. Ich gehe wieder runter. Tante Lisa klaubt die letzten Sägespäne aus Moms Haaren und erzählt von einem Kollegen aus der Fabrik.

Ein paar Minuten später hüpft Courtney die Treppen herunter. Ihre Augen sehen wieder normal aus. Sie umarmt ihre Mutter: »Wohin gehen wir? Zu Charlie’s?«

»Klingt gut«, antwortet Tante Lisa. »Seid ihr fertig?«

Mom und ich folgen ihr nach draußen zu ihrem SUV. Ich setze mich zu Courtney auf den Rücksitz.

»Du hast zusammen mit meiner besten Freundin Unterricht«, sagt Courtney, als wir in die Straße einbiegen.

»Ach ja? Wer ist das?«

»Aimee Avery.«

Ich schüttle den Kopf und ziehe die Schultern hoch. »Ich kennen noch nicht viele Namen. In welchem Fach?«

»Hat sie nicht gesagt.«

»Wie sieht sie aus?«

»Fantastisch, auch wenn sie selbst findet, dass sie aussieht wie ein Muppet. Sie hat rote Haare.«

Ich erinnere mich an die schmatzende Kaugummikauerin in Swansons Biologieunterricht. »Ich glaub, ich weiß, wen du meinst.«

»Sie ist nett«, fügt Courtney hinzu. »Schau mal da, die Bullen.«

Ein großer Polizist drückt einen Mann auf die Motorhaube eines Geländewagens und legt ihm Handschellen an. Der Typ wehrt sich heftig. »Was er wohl verbrochen hat?«

»Wahrscheinlich ist er betrunken«, erklärt Tante Lisa. »In letzter Zeit betrinken sich immer mehr Leute und benehmen sich dann daneben. Fast täglich hört man von Schlägereien. Muss am Wetter liegen.«

In der Nacht erwache ich von einem Traum und setze mich im Bett auf. Mit aufgerissenen Augen starre ich vor mich hin, ohne etwas zu sehen. Es war ein Totemtraum, eine Vision. Onawa, mein Totem-Puma, wollte mir etwas sagen. Ich lege mich wieder hin und taste auf dem Tisch neben meinem Bett nach dem Lederriemen meines Medizinbeutels. Ich ziehe ihn zu mir, drücke ich ihn mir mit beiden Händen an die Brust.

Mein Herz rast immer noch.

Onawa hatte Angst. Wir waren in einem Wald. Daran erinnere ich mich. Sie stand auf einem Felsen, sodass ihr wunderschöner lohfarbener Kopf auf einer Höhe mit meinem Gesicht war. Hinter ihr jedoch … war alles schwarz, als ob der Wald von einem schwarzen Nebel verschluckt worden wäre. Und in der Dunkelheit bewegten sich Schatten.

Onawa hat etwas gesagt. Etwas Wichtiges. Ich presse den Medizinbeutel fester an mich und denke nach, versuche mich zu erinnern.

Ich war abgelenkt. Da war noch jemand in meinem Traum. Ein Mädchen? Ja, ein Mädchen. Sie trug eine Fackel oder sonst irgendein rotes Licht. Oder vielleicht hatte sie auch rote Haare? Vielleicht. Aber da war auch etwas mit Licht. Sie brachte Licht. Onawa hat mir etwas erzählt, und jetzt kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was.

Da kratzen die Mäuse wieder unter dem Fußboden. Das Licht des Mondes dringt durch den dünnen Vorhang vor meinem Fenster. Ich bin mir sicher, dass vor wenigen Minuten nicht so viel Licht in diesem Zimmer war. Als ich aufwachte, war es stockdunkel. Und als die Mäuse kratzten, war es immer noch dunkel. Wolken? Vielleicht.

Ich muss wieder eingeschlafen sein, denn mein Wecker fängt plötzlich an zu piepen, viel zu früh, und reißt mich zurück ins Bewusstsein. Ich stelle ihn aus und rolle mich aus dem Bett. Das blanke Holz unter meinen Füßen ist kalt. Das ist verrückt. In Oklahoma ist es am Anfang des Schuljahrs nie so kalt. Ich streife mir den Lederriemen meines Medizinbeutels über den Kopf und lasse den Beutel los. Meine linke Hand ist ganz verkrampft, weil ich ihn so lange … vier Stunden oder auch fünf, festgehalten habe. Ich bewege sie, während ich mit der Rechten in einem Karton mit Klamotten wühle und ein schwarzes Metallica-T-Shirt Kill ’Em All für den heutigen Tag auswähle. Es ist ein bisschen zerknittert, aber was soll’s. Ich schlüpfe hinein, zögere kurz und ziehe dann den Medizinbeutel hervor, um ihn über dem T-Shirt zu tragen. Dann zerre ich den Rest meiner Uniform für den heutigen Tag heraus: schwarze Jeans, schwarze Socken und meine Springerstiefel.

Ich bin nicht gut in Mathe. In Algebra bin ich mit einer drei minus hierhergekommen, und es sieht so aus, als könne es damit nur abwärts gehen, als ich in der ersten Stunde Mrs. Bailey dabei zuschaue, wie sie mit Kreide Zahlen und Buchstaben an die Tafel kritzelt. Sie ist klein, Ende dreißig, und nicht hässlich für eine Frau in ihrem Alter, aber was sie mit diesen Zahlen und Buchstaben anstellt, kommt mir sündhaft vor. Sie bittet uns, die Aufgaben auf Seite 42 zu bearbeiten und geht zu ihrem Pult.

Endlich klingelt es. Bücher werden zugeklappt, Füße schlurfen, Rucksäcke werden hochgehievt und die Schüler rücken wie Pawlowsche Hunde zum nächsten Zwinger weiter. Ich bewege mich mit ihnen und versuche, mich an den Weg zum Biologieunterricht zu erinnern.

»Da ist er.«

Ich schaue über die Schulter zurück. Neben einem offenen Schließfach stehen drei Mädchen. Alle drei sind sie sorgfältig darauf bedacht, mich nicht anzustarren. Ich wende mich ab und gehe weiter. Als ich das Klassenzimmer betrete, klingelt es.

Da ist sie.

Rotschopf.

Courtneys Freundin. Das hübsche Mädchen mit den roten Haaren. Auf einmal ist der Traum wieder da. Aneinandergeklammert sind wir gefallen, während sich die Dunkelheit um uns gedreht hat. Onawa war auch da gewesen.

Das Mädchen schaut zu mir auf, und ich stelle fest, dass ich stehen geblieben bin und sie anstarre. Ich bringe meine Füße wieder dazu, sich zu bewegen, aber ich kann nicht aufhören, sie anzusehen. Ich sehe etwas in ihren Augen. Als ob wir uns wiedererkennen würden.

Dann setze ich mich auf meinen Platz und löse den Blickkontakt, weil ich nach vorn schauen muss.

»Hi.«

Sie ist es. Wie war noch mal ihr Name? Angel? Agnes? Irgendwas mit A. Ich drehe mich um und sage: »Hallo.«

»Wie war dein erster Tag?«, fragt sie.

»Ganz gut.«

»Echt? Du bist Courtneys Cousin.«

Das klingt nicht wie eine Frage, aber ich nicke. »Ja.«

»Sie ist meine beste Freundin.«

»Hat sie mir schon erzählt, aber ich habe deinen Namen vergessen.«

»Aimee, Aimee Avery.«

»Stimmt.«

»Aber alle sagen Aim oder …«

»Rotschopf. Sie sagen Rotschopf zu dir.«

Erstaunt zieht sie die Augenbrauen hoch. »Ja. Das stimmt. Weißt du das von Courtney?«

Ich erzähle einem Mädchen, das ich gerade erst kennengelernt habe, bestimmt nichts von meinen Visionen. Und ganz sicher nichts von Onawa. Egal wie scharf sie ist oder wie gut sie aus der Nähe riecht.

»Ja, Courtney hat’s mir gesagt«, lüge ich.

»Miss Avery, wenn Sie dann vielleicht fertig damit sind, unseren neuen Schüler zu unterhalten?« Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Mr. Swanson hereingekommen war. Ich zwinkere Aimee rasch zu und drehe mich um.

»Ja, Mr. Swanson«, sagt Aimee hinter mir. »Er gehört jetzt ganz Ihnen. Bitte unterrichten Sie uns.«

Biologie ist nicht viel einfacher als Algebra, aber wenigstens ein bisschen interessanter. Doch jedes Mal, wenn Aimee sich hinter mir bewegt, hüllt mich eine Wolke ihres Parfüms ein und lenkt mich ab. Ich spüre, wie ihr Fuß einen Rhythmus auf das hintere Bein meines Tisches klopft. Es klingelt und das Ritual der schlurfenden Schritte zur Tür beginnt von vorn.

»Bis später, Alan.« Aimee drängelt sich an mir vorbei. Sie hebt die Hand und winkt mit den Fingern. Sie sehen aus wie ein Flügel eines Schmetterlings, der davongaukelt. Bevor mir einfällt, was ich sagen könnte, ist sie verschwunden.

Eines ist überall gleich: Schulessen ist Schulessen, egal, ob du in Oklahoma bist oder in Maine. Die Hamburger schmecken wie gewürzte Pappe und die Kroketten nach gar nichts, bis ich sie komplett mit Salz bedeckt habe. Ich sitze allein am Tisch und kaue auf dem Mist herum, als ich auf einmal von Mädchen umringt bin. Vier stellen ihre Tabletts auf dem Tisch ab.

»Dürfen wir uns zu dir setzen?«, fragt eine. Sie ist blond, hat große blaue Augen und eine winzige Nase.

»Du hast so einsam ausgesehen«, erklärt eine Brünette in einer Cheerleader-Jacke.

»Ja, wahrscheinlich.« Ein Cheerleader? Sehe ich aus wie ein Typ, der an einer Unterhaltung mit Cheerleadern interessiert ist? Sie setzen sich alle hin und bombardieren mich mit Fragen.

»Du kommst aus Texas?«

»Oklahoma.«

»Da gab’s die gewaltigen Staubstürme, richtig?«

»Ähm, ja, vor achtzig Jahren.«

»Hast du dort ein Pferd?«

»Nein.«

»Ich hab gehört, du spielst Football?«

»Hmmm.«

»Football gibt’s bei uns nicht«, sagt der Cheerleader.

»Hab’s gehört.«

»Magst du Li’l Wayne oder hörst du nur das Headbanging-Zeug .«

»Nur Headbanging-Zeug.«

»Warum? Ich seh da so gar keinen Sinn drin.«

»Na ja, Li’l Wayne, Little Boosey und all die anderen Little-Typen haben den Synthetic Pop-Markt beherrscht.« Aha! Sie können auch schweigen. Acht Augen schauen mich an. Klimper, klimper. Neustart. Dann reden sie weiter, als wäre nichts gewesen.

»Hast du auf einer Farm oder einer Ranch gelebt?«

»Ist Oklahoma wirklich ein einziges großes Weizenfeld?«

»Alan? Du wolltest dich doch zu uns setzen, Mann. Weißt du nicht mehr?« Ich schaue von dem Hamburger auf, den ich eingehend beäugt hatte, und da steht Blake, die Hilfskraft der Beratungslehrerin.

»Komm. Das Geländelauf-Team hockt dort zusammen.«

»Ach, ja. Das hab ich komplett vergessen«, sagte ich. »Entschuldigung, meine Damen.« Ich schnappe mein Tablett und folge Blake.

»Du erregst ganz schön Aufsehen«, meint er, als wir die Cafeteria durchqueren.

»Nicht absichtlich.«

»Du bist neu. Du bist anders. Hier gibt’s nicht viele, die anders sind«, sagt er. »Aimee hat mich geschickt, um dich zu retten. Wir haben eine Weile zugeschaut, aber als du offensichtlich abgedriftet bist, hat sie mich geschickt, dich zu holen.«

Dort sitzt sie. Blake führt mich zu dem Tisch, wo Aimee zusammen mit Courtney und drei anderen sitzt. Ich stelle mein Tablett ab und schaue zu, wie Blake auf den Platz neben Aimee gleitet, einen Arm um sie legt und sie rasch an sich drückt.

»Blake, der Retter in der Not«, sagt er.

In mir bricht etwas zusammen.

Der Schulvormittag zieht sich. Endlich ist Mittagspause. Blake rettet Courtneys Cousin Alan vor den Mädchen, die jedes männliche Wesen anmachen müssen.

»Ich hasse Schule«, sagt Blake gerade zu Alan, als sie an unseren Tisch treten. »Ich tue so, als würde ich gern hingehen, sonst würde ich nie im Leben in die National Honour Society aufgenommen. Da gibt’s diese blöden ›charakterlichen Voraussetzungen‹, was im Grund bedeutet, dass du den Lehrern in den Arsch kriechen musst. Das ist Regel Nummer eins.«

Courtney nickt und schaut mich an. Sie weiß, dass ich negative Einstellungen zu irgendwas absolut nicht ausstehen kann. Sie nennt mich ihre kleine Friedenstaube. Und sie meint das wirklich nicht böse. Egal. Damit Blake wegen der Aufnahmeregeln der National Honour Society nicht noch stinkiger wird, will ich ihn zum Lachen bringen, indem ich meinen Vater nachahme, einen stengen »Mustervater« aus den alten TV-Serien der Fünfzigerjahre, auch wenn er damals noch gar nicht auf der Welt war. »Weißt du, Blake, hassen ist ein starkes Wort mit ernsten Konnotationen.«

Er täuscht an, als wollte er mir seinen Bagel ins Dekolleté werfen. Ich stoße einen vorgetäuschten Schrei aus, sodass die Aufsicht führende Lehrerin Mrs. Los Santos ihren Finger mit dem schwarz lackierten Nagel wie einen Dolch auf mich richtet. Ich lächle und sie ist besänftigt. Dann wende ich mich wieder an Blake:

»Willst du mir damit etwa drohen?«, sage ich im Tonfall eines Mafiosi. »Dann lass dir eines gesagt sein: Drohungen kommen bei mir gar nicht gut an. Und Drohungen mit Bagels schon gar nicht. Weißt du eigentlich, mit wem du es zu tun hast?«

Alan lacht sich schlapp, und ich komme nicht umhin zu bemerken, dass er ausgesprochen süß ist, wenn er lacht. Er ahmt die Antwortstimme nach: »Ich denke schon. Ich glaube, wir haben es mit einem absolut sturen Bock zu tun.«

Und in diesem Augenblick weiß ich, und zwar zu hundert Prozent, dass sich etwas in meinem Leben unwiderruflich verändert hat. Das ist der Junge aus meinen Träumen. Direkt vor mir. Und wir werden zusammen etwas tun müssen, etwas retten, gemeinsam. Ich weiß nur nicht, was.

»Aimee ist heute wunderbar verrückt.« Blake beißt in seinen Bagel. Er redet, als wäre ich gar nicht da. »Und sie hat Farbe an den Händen.«

Das stimmt. »Die Farbe geht schwer ab.«

»Malst du?«, will Alan wissen.

Das ist der erste Satz, den er direkt an mich richtet. Ich schaue ihm in die Augen. Ein großer Fehler. »Ja.«