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Dieser Roman basiert auf wahren Begebenheiten. Er erzählt die Geschichte von Frank Ostmann, einem jungen Soldaten der DDR, dessen Leben eine dramatische Wendung nimmt, als er vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unfreiwillig rekrutiert wird. Konfrontiert mit dem unmoralischen Auftrag, alle um ihn herum zu überwachen und notfalls auch Gewalt anzuwenden, erkennt Ostmann die Falle, in die er in naiver Überzeugung getappt war und beschließt, dem schnellstmöglich ein Ende zu setzen. Doch so einfach ist das nicht, denn schließlich will er sich seine Zukunft nicht ruinieren. Zerrissen zwischen seinem Gewissen und dem Druck des Systems, sucht er nach einer cleveren Taktik, um sich aus dieser Lage zu befreien. Inspiriert von einer unerwarteten Einsicht, entwickelt er die Strategie der ›gespielten Unfähigkeit‹: Während er MfS-Aufgaben bewusst mangelhaft erledigt, glänzt er in Bereichen, die seinen wahren Fähigkeiten entsprechen. Ein gefährliches Doppelspiel. Schließlich beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Versetzung an die Armeehochschule steht unmittelbar bevor. Wird es ihm gelingen, seine Freiheit zu erlangen, seine Liebe zu retten und das System zu überlisten, ohne zu zerbrechen?
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2025
Thomas Schmertosch
Spitzel wider Willen
Nach einer wahren Begebenheit
Der Inhalt dieses Romans beruht auf wahren Begebenheiten.
Alle Namen wurden zum Schutz noch lebender Personen geändert, etwaige Übereinstimmungen sind rein zufällig.
Zum Allgemeinverständnis wurden in die tatsächliche Handlung ergänzende Informationen eingearbeitet, die aus Recherchen im Aktenbestand der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) entstammen, sowie aus Informationen über das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), die nach dem Zusammenbruch der DDR zahlreich veröffentlicht wurden.
Zur Arbeitsweise des MfS sowie der Art und Weise der Rekrutierung von inoffiziellen Mitarbeitern existieren ebenfalls zahlreiche Veröffentlichungen, die auch online verfügbar sind. Gleiches gilt für die Grenzsicherung der DDR und die im Text vorkommende Einsatzkompanie.
Die im Text zitierten Dokumente wurden den durch die BStU zur Verfügung gestellten Originalen entnommen.
Ebenso wurden Hintergrundinformationen zum Grenzregime aus dem Bestand des Heimatmuseums sowie Zeitzeugen der Gemeinde Ellrich in einer fiktiven Szene nachgestellt.
Der Autor bedankt sich für die Unterstützung der Mitarbeiter der BStU in den Außenstellen Berlin und Leipzig sowie des Heimatmuseums Ellrich.
Leipzig, August 2025
Unteroffiziersschule Potsdam
Dienstag, 14. Dezember 1971
»Kompanie stillgestanden!«
»Richt euch!«
»Augen geradeaus!«
»Rechts um!«
»Zur Sturmbahnübung im Laufschritt marsch!«
Wie ich das hasse. Wie ich das abgrundtief hasse! Die reine Schikane. Wozu muss ein Funker durch den Fuchsbau kriechen und über die Eskaladierwand klettern? Warum muss einer, der Sprech- und Tastfunk beherrschen soll, übers Feld robben? Kann das was anderes sein als Schikane? Nein, davon hat Bernd nichts gesagt.
»Wenn du dem sinnlosen Übers-Feld-Robben und den Strapazen der Mot-Schützen entkommen willst, musst du Funker werden. Die sitzen im Warmen, während sich die anderen draußen im Schlamm wälzen und den Arsch abfrieren.« Ja, genau das hat er gesagt.
»Funker sind die gehobene Intelligenz der Armee. Was die hören und senden, ist für die ganze Einheit überlebenswichtig. Vor Funkern haben alle Respekt.« Genau das hat er gesagt. Und nun das hier. Herumrennen, Sandrobben, Sturmbahngeplacke und wieder Rennen. Wie ich das hasse!
Alles andere hat ja funktioniert. Ich war schon richtig stolz auf meinen Kumpel. Er musste es ja wissen. Sein Vater ist irgend so ein Oberst bei den Mot-Schützen, den letzten armen Schweinen, die immer zuerst dran sind, wenn es knallt. Rein in den Panzerwagen. Raus aufs Feld und rein in den Schützengraben. Egal ob es regnet oder schneit. Egal ob es sengend heiß ist oder hundekalt.
»Wenn du das alles nicht willst, musst du drei Jahre machen. Solche suchen die. Und wenn du gleich sagst, du gehst drei Jahre, dann fressen die dir aus der Hand. Da kannst du dir alles aussuchen. Wohin und wann du gehen willst. Ob du zu den Fliegern willst oder zu den Funkern. Völlig egal. Auch einen Studienplatz kriegst du. Und das Beste ist: Du kriegst auch noch viel mehr Kohle als die anderen. Nach der Fahne sitzt du in ´nem schicken Wartburg und die Weiber sind scharf auf dich.«
Zugegeben, das mit dem Wartburg fand ich ganz schön übertrieben. Schließlich muss man ja mindestens sechzehn Jahre drauf warten. Zur Sicherheit habe ich mich aber trotzdem gleich angemeldet. Man kann ja nicht wissen, was nach drei Jahren kommt.
»Rechts schwenkt marsch!« »Auch der Genosse Ostmann.«
Ja, ja! Das musste ja wieder kommen! Einmal wollte ich aus Versehen statt rechts herum nach links schwenken. Habe meinen Vordermann voll in die Hacke getreten und mein Hintermann mir. Der ganze Zug musste zurück und den Marsch noch mal machen. Mann waren die sauer auf mich. Seitdem hasse ich diesen arroganten Feldwebel Schneider. Wie die Pest hasse ich den! Ständig schikaniert der mich. Stiefel nicht sauber genug – Toilette putzen. Uniform nicht glattgebügelt – Ausgang gestrichen. Dabei läuft der selber rum wie ´ne Schlampe. Einmal habe ich gesehen, wie ein Oberstleutnant ihn zusammengestaucht hat. Die Hosen waren knittrig und die Mütze saß schief. Das war vielleicht ein innerlicher Parteitag!
»Kompanie im Laufschritt habe ich befohlen! Los los, das geht schneller!«
Ja ja, du elender Leuteschinder. Möchte dich sehen mit Sturmgepäck, MPi und Helm. Mensch Bernd, warum hast du das nicht gesagt!
Aber die bei der Musterungskommission sind sicher heute noch sprachlos. Rein bin ich und schon legten die los. Ob ich denn wüsste, wie unser sozialistischer Arbeiter- und Bauernstaat vom westdeutschen Revanchismus bedroht wird.
»Klar«, hab ich gesagt, »darum will ich ja auch drei Jahre als Funker in Berlin meinen Ehrendienst verrichten und anschließend zum Wohle des Sozialismus ein Studium aufnehmen.« Wie ich auf Berlin komme, wusste ich in dem Moment gar nicht. Vielleicht nur, weil es nicht so weit war. Von Leipzig nur zwei Stunden mit dem Zug. Da ist man schnell mal zu Hause. Mann, die waren richtig sprachlos. Sekundenlang schauten die sich an.
Langsam wurde mir mulmig. War ich zu forsch? Oder zu frech? Ach was, Bernd hat gesagt, die fressen dir aus der Hand. Also hau ich noch einen drauf.
»Wenn ich noch einen Wunsch äußern darf«, unterbrach ich die Stille.
»Ja bitte, nur zu«, antwortete der mit den meisten Sternen fast amüsiert.
»Ich möchte unmittelbar nach meinem 18. Geburtstag den Ehrendienst antreten. Das ist im November 71.«
Zehn Minuten später war ich fertig. Alles zugesagt. So einfach kann Sozialismus sein!
Und nun dieser Mist. Über die Sturmbahn hecheln, Wache schieben und ständig irgendwie rennen. Mal dreitausend Meter, mal nur zum Essen oder draußen im Feld.
Ich kann das einfach nicht! War schon in der Schule schlimm genug. Mit zu kurzen Beinen und dickem Hintern hat man nun mal nicht die ideale Laufstatur. Keine Norm schaffe ich. Und wenn der blöde Schneider mich noch hundert Mal extra um den Kasernenhof jagt. Ich kann es einfach nicht!
Von wegen ich hätte keinen Willen. Nein, ich kann mich anstrengen wie ich will, es geht einfach nicht. Basta.
»Kompanie im Schritt!«
Endlich! Aber auch wieder nicht, denn jetzt geht die Hetzerei erst richtig los. Ich werde wohl wieder ein paar extra Runden machen müssen, weil ich zu langsam bin.
Montag, 20. Dezember 1971
Die letzten Tage war es ruhiger. Wird auch Zeit. Mir tut alles weh von dem Gerenne. Musste wieder zwei Extrarunden machen. Und weil ich es dann immer noch nicht drauf hatte, durfte ich noch das Klo schrubben. Am liebsten würde den Schneider hundertmal über den Hof jagen und dann im Fuchsbau verrecken lassen.
Der Politunterricht ist wieder richtig gut. Viel besser als die blöde Staatsbürgerkunde in der Schule. Der hat echt was drauf, der Leutnant Müller. Ist frisch von der Offiziersschule gekommen und jetzt unser Zugführer. Das Agitieren hat er jedenfalls gelernt. Mann, bei dem sitzt jedes Wort.
Letztens bin ich nach Hause, der erste Urlaub. Ich rein in die gute Stube. Hallo zu Mutter und Vater, Kuss auf die Wange, Umarmung, das ganze Geschmuse. Und da sehe ich doch, wie wieder Westprogramm geglotzt wird. Ich raste bald aus.
»Sagt mal, wollt ihr euch denn immer nur belügen lassen? Der Klassenfeind wartet doch nur drauf, dass wir auf seine Märchen reinfallen! In Wirklichkeit werden die armen Menschen ausgebeutet und an die Raketen gestellt, die uns dann vernichten sollen.«
Sage es, stürze zum Fernseher und schalte um auf das DDR-Fernsehen. Vielleicht lag es daran, dass nun gerade in diesem Moment der Karl Eduard alles ins rechte Licht rückte. Mein Vater springt jedenfalls vom Sofa auf wie von der Tarantel gestochen und haut mir eine, wie ich noch keine erwischt habe. Na ja, erst mal waren alle beleidigt. Habe mich dann aber entschuldigt und es war wieder gut. Sollen die sich doch belügen lassen. Ich hab ja meinen Leutnant Müller, der weiß Bescheid.
Endlich ist wieder Tastfunk dran. Kann es kaum erwarten. Da kann ich zeigen, was ich wirklich kann und auch will. Schließlich schaffe ich nicht umsonst die meisten Anschläge in meiner Gruppe. Jeden Test habe ich bisher fehlerfrei bestanden. Sogar gelobt hat mich der Schneider. Vor der ganzen Kompanie.
»Bester im Tastfunk Stufe 1: Genosse Frank Ostmann. Genosse Ostmann vortreten!«
Ich marschiere vor und salutiere.
»Für die beste Leistung im Tastfunk Stufe 1 wird Genosse Ostmann belobigt mit einem Foto vor der ausgebreiteten Truppenfahne!«
Hab richtig gemerkt, wie ihm das peinlich war. Ständige Schikaniererei passt halt nicht zu den besten Leistungen in Tastfunk und Funktechnik. Das ist ja mein totales Steckenpferd. Schließlich mache ich das schon seit der Schule.
Ich ging gerade mal in die fünfte Klasse, da habe ich mein erstes kleines Detektor-Radio gebaut. Das bestand zwar nur aus drei Bauelementen und man konnte nur Radio DDR oder Sender Moskau empfangen, aber das war egal. Es war Elektronik und funktionierte.
Dann war ich in der Gesellschaft für Sport und Technik schon Funker. War mir egal, wenn alle sagten, die GST ist nur die Vorbereitung zur Armee. Ich wollte Elektronik erleben und Schaltungen ausdenken. Und funken wollte ich. Selbst konnte ich mir das nicht kaufen und so blieb halt nur die GST.
Verdammt, zwei Fehler bei 120 Zeichen pro Minute. Schneider kann sich das Grinsen nicht verkneifen. Ja, freu dich nur du Miststück!
Funktechnik ist ja heute auch noch dran. Da sehen alle gleich ganz alt aus. Ich kenne die Geräte ja schon von der GST. Da haben wir die von der Armee ausrangierten Dinger auseinandergenommen und repariert. Oft waren die hinterher besser wie neu. Und dann haben wir die wildesten Antennen gebaut, sodass wir viel weiter reichten, als erlaubt. Und da will mir der Schneider erzählen, wie die Dinger funktionieren. Keine Ahnung hat der. Aber meine Stunde kommt noch, ganz sicher.
Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Der Kompaniechef kommt hereingestürmt.
Schneider springt auf wie ein Hampelmann. Dabei bleibt er mit einem Knopf am Tisch hängen. Es poltert und der Knopf ist ab. Ich kann mir kaum das Lachen verkneifen.
Aber lange muss ich nicht kneifen. Keine viertel Sekunde später brüllt er: »Achtung!« Wir springen auf und stehen stramm. Zum Glück bleiben unsere Knöpfe da, wo sie hingehören.
»Genosse Hauptmann ich melde: Gruppe Schneider bei der Ausbildung!«
»Danke Genosse Feldwebel. Rühren und setzen!«
Hauptmann Sänger ist eine echte Respektsperson. Nein, nicht nur wegen seines Dienstgrades und seiner Funktion. Er ist einfach eine Autorität. Etwa Mitte 40 aber schon grau wie eine Maus. Sein Vater war im Krieg bei den Widerstandskämpfern und wurde von den Nazis hingerichtet. Er ist hochgewachsen, schlank und immer korrekt. Er strahlt Ernsthaftigkeit, aber auch eine Spur Gelassenheit aus.
Einmal ist er mir beim Laubfegen auf dem Hof begegnet. Habe korrekt gegrüßt und er zurück. Dann kam er auf mich zu und befahl mir, bequem zu stehen.
»Genosse Ostmann?«, fragte er. »Jawoll, Genosse Hauptmann. Unteroffiziersschüler Frank Ostmann, Zug zwei, Gruppe Schneider!«
»Feldwebel Schneider« korrigierte er mich.
»Jawoll, Genosse Hauptmann. Zug zwei, Gruppe Feldwebel Schneider.«
Leicht schmunzelnd sagte er: »Schon gut Genosse Ostmann.«
»Ich habe gehört«, setzte er fort, »sie können schon besser funken als manche unserer Ausbilder. Woher kommt das?«
»Genosse Hauptmann, ich war bei der GST und habe schon seit ich zwölf Jahre bin Elektronik und Funktechnik als Hobby.«
»Und was haben sie als Beruf gelernt?«
»Elektriker, Genosse Hauptmann!«
Da zeigte er fast einen väterlichen Zug. Um seine großen braunen Augen spielte ein Anflug von Lächeln.
»Nun lassen sie mal für einen Moment das ›Genosse Hauptmann‹. Da können sie wohl auch elektrische Geräte reparieren?«
»Selbstverständlich, Genosse Hauptmann – äh, Tschuldigung! Selbstverständlich. Wir haben alles gemacht. Schaltanlagen, einfache Hausinstallation und alles, was sonst noch einen Stecker hat.« Er schmunzelt.
»Sehr gut, das ist sehr gut. Wie lange haben sie noch Revierreinigung?« Das klang wieder sehr dienstlich.
»Bis Siebzehn-Null-Null, Genosse Hauptmann. Anschließend sind wir bis Achtzehn-Null-Null auf Stube.«
»Sehr gut. Dann melden sie sich Siebzehn-Drei-Null in meinem Dienstzimmer.«
»Jawoll, Genosse Hauptmann, Siebzehn-Drei-Null in ihrem Dienstzimmer.«
»Und nun machen sie weiter, damit Feldwebel Schneider nicht wieder meckert«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
»Jawoll, Genosse Hauptmann!«, salutierte ich.
Und da ging er dahin, akkurat und aufrecht. In meinem Kopf hallte es noch nach.
Damit Feldwebel Schneider nicht wieder meckert.
War da nicht eine Aversion gegen diesen Schneider? Das wäre dann der zweite Offizier, bei dem ich das merke. Vielleicht ist Schneider deshalb so fies zu uns. Klar, an irgendwem muss er ja seinen Frust ablassen. Aber bitte nicht an mir!
Exakt zwanzig nach fünf meldete ich mich beim UvD ab. Zum Glück war Schneider nicht Unteroffizier vom Dienst. Das hätte bloß wieder dumme Fragen gegeben.
Auch so war mir schon recht mulmig in der Magengegend. Meinem bedrohlichen Adrenalinspiegel zum Trotz ging ich zügig in Richtung Kompaniechef. Keine Ahnung, was der von mir wollte. Warum wollte der wissen, was ich gelernt habe? Mann, ich hatte jetzt doch langsam Schiss.
Es fehlte noch eine Minute. Was ist richtig? Exakt die Sekunde oder etwas früher? Und was ist, wenn unsere Uhren nicht genau gleich gehen? Was solls. Ich wartete nicht und klopfte. Das ›Herein!‹ kam postwendend.
»Genosse Hauptmann. Unteroffiziersschüler Frank Ostmann wie befohlen zur Stelle.«
»Danke. Rühren und Platz nehmen.«
Ich nahm Platz und glaubte, mein Blut musste mir gleich explosionsartig aus allen Poren spritzen. Es vergingen zwei, drei Sekunden, die mir wie Lichtjahre erschienen. Dann zeigte er sich wieder väterlich, was mich zwar etwas beruhigte, aber nicht wirklich entspannte.
»Genosse Ostmann, sie haben Elektriker gelernt und sind ein guter Funktechniker. Sie haben sicher schon gesehen, dass hier im Haus einiges getan werden muss. Es gibt aber momentan keine Kapazitäten. Sie wissen schon, wegen des Ausbaus in Kompanie drei.«
Ich nickte zustimmend. Wir mussten schon paar Mal dort Arbeitseinsätze schieben, Steine schleppen, Dreck räumen und Sand schaufeln.
Sänger fuhr fort: »Hier im Erdgeschoss ist der Schalter am Eingang kaputt. Wir müssen die ganze Nacht das volle Licht brennen lassen. Das ist sinnlose Energieverschwendung und ärgert mich schon lange. Denken Sie, dass Sie das reparieren können?«
Ich dachte, ich hörte die Englein singen! Das war alles? Der bestellt mich in sein Dienstzimmer, nur um einen Handwerker zu engagieren? Und deswegen war ich seit zwei Stunden schon fast tot?
»Ja selbst..., äh, ja selbstverständlich. Selbstverständlich Genosse Hauptmann« stotterte ich. »Ich benötige nur etwas Werkzeug und eventuell Material.«
Er sagte kurz und fast schon erleichtert: »Wegen Werkzeug und Material melden Sie sich beim Unteroffizier vom Dienst. Wenn irgendwas fehlt, dann kommen Sie zu mir.«
»Und in welcher Zeit soll das gemacht werden?«
Fast entschuldigend antwortete Sänger: »Von der Ausbildung kann ich Sie nicht entbinden. Schauen Sie mal gleich nach und wenn Sie länger brauchen, finden wir eine Lösung.«
Nachdem ich wieder raus war, konnte ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Was war das für eine abgefahrene Kiste! Ich denke sonst was und dann will kein geringerer als unser Kompaniechef nur handwerkliche Hilfe. Ich konnte es nicht fassen!
Mein Weg führte mich sofort in Richtung Erdgeschoss. Ein kurzer Blick, Probeschalten – alles klar. Die Schaltwippe blockierte. Ich besorgte mir beim UvD Schraubendreher und Kombizange und keine zehn Minuten später war der Schalter wieder in Ordnung. Ich hatte Glück, denn die Wippe war nur etwas aus der Lagerung gerutscht. Musste sie wieder reindrücken und eine Metallklammer etwas zusammenbiegen. Kinderspiel!
Noch vor Achtzehn-Null-Null klopfte ich wieder bei Sänger.
»Herein!«
Er sah vom Schreibtisch hoch und fragte: »Na, Genosse Ostmann, was brauchen Sie?«
Ich nahm mich zusammen, um nicht triumphierend zu klingen.
»Genosse Hauptmann. Ich melde Vollzug.«
Sänger sah mich an, wie ein kleiner Junge, der eine Zauberschau verfolgt.
»Was ›Vollzug‹?«
»Genosse Hauptmann, das Licht kann wieder geschaltet werden. Ich habe den Schalter reparieren können.«
Er sprang von seinem Stuhl hoch und stürmte auf mich zu. »Das ist doch unglaublich. Der ist schon seit Wochen defekt und sie brauchen nicht mal 20 Minuten?«
Jetzt konnte ich meinen triumphierenden Ton nicht mehr unterdrücken.
»Genosse Hauptmann, manchmal sind es eben nur Kleinigkeiten, die große Sorgen machen.«
Er bedankte sich fast überschwänglich und ich durfte in den folgenden Wochen noch eine Schreibtischlampe, zwei Telefone und das Licht im Keller reparieren. Sicher hatte ich bei ihm nun einen Stein im Brett und Schneider würde in Zukunft vorsichtiger sein.
Nur was Schneider betraf, sollte ich mich irren. Meine ›Beziehung‹ zu Sänger sprach sich schnell herum und anstatt etwas nachsichtiger zu sein, wurde er nur noch fieser.
Und nun steht Sänger vorn und ich muss mich anstrengen, ihn nicht dauernd anzusehen. Ich weiß auch nicht warum, aber bei Schneider weiß man nie.
Dann beginnt Sänger ganz ruhig zu sprechen.
»Genossen Unteroffiziersschüler. Bitte hören Sie mir genau zu, was ich Ihnen zu sagen habe. Es ist wichtig, damit Sie verstehen, warum Ihre Ausbildung und Ihr zukünftiger Dienst in der Nationalen Volksarmee jetzt wichtiger ist denn je.«
Sänger macht eine kurze Pause und schaut jeden von uns der Reihe nach an.
Ich weiß nicht, was ich von dieser Situation halten soll. Was ist denn passiert, dass kein Geringerer als der Kompaniechef den Unterricht unterbricht? Gibt es womöglich einen Krieg? Nein, das glaube ich nicht, das kann nicht sein. Hat nicht der Müller im letzten Politunterricht, was von Entspannung und neuer Ostpolitik des Westens erzählt? Was verdammt noch mal ist also so wichtig? Die Anspannung steigt und man könnte eine Stecknadel fallen hören. Dann berichtet Sänger von einem Abkommen, das die vier Besatzungsmächte unterzeichnet haben.
»Genossen Unteroffiziersschüler, Sie haben in den Nachrichten sicher schon vom Inkrafttreten des neuen Transitabkommens zwischen unserer DDR und der BRD gehört. Diese Vereinbarung soll den Bürgern aus Westdeutschland und Westberlin Erleichterungen im Transitverkehr bringen. Doch was bedeutet das in Wirklichkeit?« Er macht eine Pause und schaut in die Runde.
»Es bedeutet praktisch die Öffnung der Transitwege zwischen der BRD und Westberlin über unser Territorium. Der Westen wird dies aber nicht nur für den Besucherverkehr nutzen. Die Reaktionäre werden ihre Spionage gegen unser sozialistisches Vaterland ausweiten. Sie werden unsere für den Aufbau des Sozialismus dringend benötigten Fachkräfte gezielt abwerben und mit Schleuserbanden entführen. Sie werden revanchistisches Material verbreiten und jede Möglichkeit nutzen, um staatsfeindliche Hetze gegen die Errungenschaften des Sozialismus und der Arbeiterklasse zu verbreiten. Genossen, dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen.«
Wieder schaut Sänger in die Runde, geradezu als wollte er jeden von uns zustimmend nicken sehen. Und wir tun es, natürlich tun wir es. Was denn sonst? Denkt Sänger etwa, auch nur einer von uns würde das nicht tun? Hey, wir sitzen hier, um unseren sozialistischen Staat zu schützen! Na gut, bei mir waren es vielleicht etwas niedere Ambitionen. Aber letztendlich wollen wir ein friedliches Leben führen, Familien gründen und den Aufbau des Sozialismus vorantreiben. Das lassen wir uns doch von diesem Bonner Revanchistenpack nicht kaputtmachen! Also nicken wir alle zustimmend und spendieren einen betroffenen, aber entschlossenen Blick dazu. Sänger nimmt es wohlwollend zur Kenntnis.
»Gut Genossen, sehr gut. Ich sehe, wir verstehen uns. Halten Sie also die Augen offen. Sind Sie wachsam, wenn Sie das Gelände verlassen, wenn Sie Ihre Familien, Ihre Freunde oder Eltern besuchen. Beobachten Sie die Menschen, die im Zug sitzen, und wenden Sie sich an die örtlichen Sicherheitsorgane, wenn Ihnen etwas verdächtig vorkommt. Melden Sie, wenn zuhause unverhofft Westverwandtschaft auftaucht und Sie über Ihren Dienst bei der Nationalen Volksarmee aushorchen will. Haben wir uns verstanden Genossen?«
»Jawoll Genosse Hauptmann!«, erklingt unser Männerchor unisono.
Wieder schaut er in die Runde und sammelt noch eine Portion Zustimmung ein. Dann gibt er sich einen Ruck.
»Genosse Feldwebel, weitermachen!«
Schneider springt auf, wie eine vom Stoff befreite Sofafeder und salutiert.
»Zu Befehl Genosse Hauptmann.«
Nur schade, dass nicht noch ein Knopf am Tisch hängen bleibt.
Mittwoch, 22. März 1972
Mir tut immer noch alles weh. Die Waden hart wie Beton vom Muskelkater. Beide Füße übersät mit Riesenblasen, im Schritt alles wund gescheuert. Und das nur von einem einzigen Marsch durch die Botanik. Hab so die Schnauze voll von dieser Schikaniererei!
Gestern früh um halb fünf ging der Alarm los. Da steht Sekunden später der UvD in der Stube und brüllt rum wie angestochen und du stehst von ganz alleine neben der Koje und fliegst in die Uniform. Manche lassen gleich den Schlafanzug drunter, andere ziehen keine Socken in die Stiefel. Achtzig Sekunden später standen alle auf dem Kasernenhof und keiner dachte daran, dass es gleich auf einen 20km-Marsch ging. Mit vollem Sturmgepäck, Kalaschnikow über der Schulter, Stahlhelm auf der Rübe und die Schutzmaske am Gürtel. Zu meinem großen Glück hatte ich Unterwäsche und alte Socken an. Aber auch so wars schlimm genug.
Raus aus der Kaserne gings erst mal, wie auch sonst, im Laufschritt. Dann paar Kilometer in Formation, stets und ständig unter Feldwebel Schneiders Beobachtung. Schließlich haben wir Potsdam hinter uns gelassen und marschierten auf dem Damm der Nuthe entlang, einem kleinen Fluss, der sich durch Potsdam in Richtung Havel schlängelt. Nach zwei Stunden Marsch begannen die Füße zu brennen und das Sturmgepäck wurde schwer. Dann kam der Hammer.
Hinter Potsdam ist die Nuthe im Schnitt zehn Meter breit und da haben die Misthunde doch tatsächlich von einer Seite zur anderen ein Seil gespannt! Allen war sofort klar, dass wir da rüber mussten. Ich dachte, mein Schwein pfeift. Wir waren natürlich stinksauer, aber es half nichts. Wir mussten rüber, einer nach dem anderen dieses beschissene Seil rüber hangeln.
Ich hab es fast geschafft, da kriege ich doch tatsächlich diesen blöden Wadenkrampf! Konnte gar nicht so schnell überlegen, wie ich in die eiskalte Nuthe patschte. Mit voller Montur, elende Scheiße! Der Schneider hat sich natürlich bald in die Hosen gemacht vor Lachen. Am liebsten hätt´ ich meine Knarre durchgeladen und das Magazin auf den Mistkerl leergefeuert.
Wenigstens hatten die ein Schlauchboot im Wasser, mit dem sie mich und noch ein paar weitere arme Schweine wieder rausgefischt haben. Am Ufer angekommen blitzte dann so ein Hoffnungsschimmer auf. Dachte ich doch tatsächlich, mit den nassen Klamotten lassen die keinen weitermarschieren. Aber Fehlanzeige! Wenn ich mich in meinem Leben nur ein einziges Mal geirrt habe, dann in diesem Moment. Ohne Gnade ging es weiter, zum Glück wenigstens zurück in die Kaserne. Keine hundert Meter weiter fingen die Füße an zu reiben, dann gings im Schritt los.
Und jetzt lieg ich übersät mit Wundpflastern und gepudert in meiner Koje und weiß nicht, ob ich erst später oder lieber doch gleich sterben soll.
Im nächsten Moment sind die paar Minuten Freizeit auch schon vorbei. Die Tür fliegt auf und Schneider stürmt rein.
Dieter, unser Stubenältester, hechtet von seinem Doppelstockbett runter, als hätte ihn eine Tarantel gestochen.
»Stube Achtung!«
Alle springen auf und nach nicht mal einer Sekunde stehen alle stramm, Hände an der Hosennaht und Blick geradeaus. Außer Klaus Wachsmuth. Der hockte vor seinem Spind, hat irgendwas gesucht. Als er hochspringt, verliert er für einen Moment das Gleichgewicht und taumelt gegen die Fensterbank. Die Sekunde ist vorbei und er versucht immer noch, sich zu straffen.
Ein Fest für Schneider. Hat er wieder einen Grund, uns zu schikanieren.
»Genosse Wachsmuth, das gilt auch für Sie!«, brüllt er Klaus an und dann weiter zu Dieter.
»Genosse Franke, Stubenmannschaft eine Runde auf dem Hof. Im Laufschritt Marsch!«
Zehn Minuten später stehen wir wieder auf dem Flur. Noch ganz außer Puste in Reih und Glied. Meine Wunden brennen wie Feuer. Schneider schreitet unsere Formation ab. Vor Klaus bleibt er stehen.
»Genosse Wachsmuth, das nächste Mal sind es zwei Runden und dann drei und immer so weiter, bis Sie es lernen.« Er schaut Klaus in die Augen, das Gesicht nur eine Handbreit von seinem entfernt. Und weil Klaus nicht gleich reagiert, schreit er weiter.
»Haben Sie verstanden Genosse Wachsmuth?«
»Jawoll Genosse Feldwebel«, schreit Klaus laut, fast zu laut zurück.
Schneider schaut ihn noch einige Sekunden unbeeindruckt und fest in die Augen. Da ist purer Hass, und zwar auf beiden Seiten. Schneider hasst uns und wir hassen ihn. Er weiß das und lässt es uns spüren, jeden verdammten Tag und jede beschissene Sekunde! Ich glaube, Klaus bringt gerade übermenschliche Kräfte auf, um Schneider nicht mit dem Kopf das Nasenbein zu zertrümmern.
Und dann steht Schneider vor mir und schreit weiter.
»Genosse Ostmann, stehen Sie still, wenn ich mit Ihnen spreche.«
Es kann nicht wahr sein! Ich stehe stocksteif und der macht mich an, dass ich nicht stillstehe.
»Jawoll, Genosse Feldwebel!«, schreie ich vor lauter Frust besonders laut zurück.
Wieder trifft mich sein hasserfüllter Blick. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Sekunden der Ewigkeit. Dann hebt er wieder die Stimme.
»Ihre Kameraden können sich bei Ihnen bedanken. Bei Ihnen Ostmann, weil ich wegen Ihnen meine Freizeit opfern muss und bei Wachsmuth, weil der immer noch nicht begriffen hat, dass eine Sekunde nicht zwei sind.«
Ich verstehe Bahnhof. Wieso musste der Schneider wegen mir seine Freistunde unterbrechen? Ich muss nicht lange überlegen.
»Genosse Ostmann, wegtreten und Meldung in der Schreibstube. Sofort!«
Ich schreie zurück und salutiere.
»Zu Befehl Genosse Feldwebel. Sofort melden in der Schreibstube.«
Dann ein Schritt vor, rechts um und zur Sicherheit gleich im Laufschritt. Natürlich kommt trotzdem noch was.
»Das geht auch schneller.«
Ich mache, dass ich wegkomme, und es bleibt dabei: Schneider stirbt!
Im Treppenhaus wechsle ich aus dem Modus Laufschritt in Verwunderung. Was soll ich jetzt in der Schreibstube? Post gab es heute schon und Ausgang habe ich keinen beantragt. Was solls, ich werd es gleich wissen.
Ich will gerade anklopfen, da fliegt die Tür auf und ich stehe Stabsfeldwebel Hendricks gegenüber. Ich salutiere brav, worauf er mich auffordert, einen Moment zu warten. Er tritt zurück, blickt in seine Ablage, befördert einen Brief ins düstere Stubenlicht und drückt ihn mir in die Hand.
»Genosse Ostmann, der lag noch unten im Fach. Ist wohl heute Morgen übersehen worden. Kommt aus Ihrem Betrieb. Ist vielleicht wichtig.« Sagt es und entschwindet.
»Danke Genosse Stabsfeldwebel«, kann ich gerade noch hinterherrufen und mit einem dahingemurmelten ›schon gut‹ ist er in der nächsten Tür verschwunden.
Noch im Gehen reiße ich den Umschlag auf und lese.
Genosse Ostmann,
erscheinen Sie am Donnerstag, dem 23.03.1972 um 18:30 Uhr im Stabsgebäude Zimmer 125.
Benutzen Sie folgende Legende: Melden Sie sich beim UvD in den Medpunkt ab, um eine Verletzung behandeln zu lassen, die Sie sich beim Sturz in die Nuthe zugezogen haben. Gehen Sie dann direkt zum Eingang des Medpunktes. Am Ende des Flurs nehmen Sie den Treppenaufgang in die erste Etage. Zimmer 125 befindet sich dort gleich rechts.
Betrachten Sie sowohl dieses Schreiben als auch unser Treffen als streng vertraulich. Vernichten Sie es jetzt in der Toilette.
Mit militärischem Gruß
Oberst A. L.
Verwundert schau ich mir den Umschlag an. Er ist eindeutig von meinem Betrieb, dem VEB Elektroanlagen Leipzig. Und jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Ich schaue mich um. Niemand ist außer mir auf dem Flur.
Wieso schreibt mir mein Betrieb, dass ich ins Stabsgebäude kommen soll? Und dann noch so?
Betrachten Sie sowohl dieses Schreiben als auch unser Treffen als streng vertraulich. Vernichten Sie es jetzt in der Toilette.
Woher wissen die von meinem Nuthe-Debakel? Und dann die Grußformel.
Mit militärischem Gruß
Oberst A. L.
Völlig konsterniert und wie im Trance gehe ich in Richtung Toilette. Mit einem lauten Gurgeln verschwindet der ominöse Brief in Richtung Kanalisation. Ich schaue ratlos hinterher und erreiche Minuten später wieder meine Stube.
Als ich eintrete, komme ich sofort auf andere Gedanken.
Ich sehe, wie Klaus von unseren zwei Stubenraudis in die Mangel genommen wird. Während einer ihn rücklings auf einem Stuhl festhält, schmiert ihm Fred schwarze Schuhcreme ins Gesicht. Dabei versucht sich Klaus mit aller Kraft loszureißen, doch Fred gelingt es mithilfe des anderen immer wieder, das Gesicht weiter schwarz zu färben.
Als ich eintrete, fährt Fred herum, und noch ehe ich die Situation voll erfasst habe, schreit er mich an. »Schnauze Ostmann, sonst bist du auch noch dran!«
Ich verstehe Bahnhof und springe von der Drohung unbeeindruckt Klaus zu Hilfe. Es kommt zum Gerangel, alle schreien durcheinander, aber schließlich kommt Klaus frei und steht vor Fred. Schäumend vor Wut holt er zum Schlag aus, kann sich aber gerade noch beherrschen. Fred ist zwar einen halben Kopf kleiner, aber sehr schnell und durchtrainiert. Klaus würde wahrscheinlich den Kürzeren ziehen. Außerdem hätte sein Kumpel fleißig geholfen.
»Lass, gut sein Klaus«, beschwöre ich ihn und gemeinsam machen wir den Rückzieher. Dann helfe ich ihm im Waschraum bei der Entfernung seiner unfreiwilligen Kriegsbemalung, was uns schließlich mithilfe von Vollwaschmittel und Wurzelbürste einigermaßen gelingt. Nach einer halben Stunde hat Klaus seine ursprüngliche Hautfarbe wieder, aber er sieht aus, als hätte er den ärgsten Sonnenbrand seines Lebens. Wenig später sitzen wir im Klub. Klaus, noch immer wutgeladen und puterrot, spendiert eine Vita Cola.
Es ist der Beginn einer Freundschaft, von deren Ausgang wir beide noch nicht die leiseste Ahnung haben.
Donnerstag, 23. März 1972
Die Ereignisse mit Klaus haben mich den ominösen Brief fast vergessen lassen. So bin ich erstaunlicherweise recht schnell eingeschlafen. Auch der Frühsport und die Schmerzen beim obligatorischen Rumgerenne brachten mich auf andere Gedanken. Doch jetzt habe ich bei 100 Zeichen pro Minute schon drei Fehler. Ich bin im Tastfunk zwar immer noch weit besser als Fred und Konsorten, aber für Schneider ist es wieder ein gefundenes Fressen.
»Na Ostmann, da hat wohl das Nuthewasser ein paar Hirnwindungen geflutet?«
Naja, so etwas musste ja kommen. Man würde sonst vermuten, Schneider wäre krank.
Nach dem Mittagessen ist es aber endgültig vorbei. Unentwegt geht mir der mysteriöse Brief im Schädel herum und meine Gefühle fahren Achterbahn.
Melden Sie sich beim UvD in den Medpunkt ab.
Einmal finde ich es spannend wie in einem Agententhriller, im nächsten Moment vermute ich einen verspäteten Aprilscherz und dann wieder eine schlichte Fälschung.
Eine Verletzung behandeln lassen ...
Sturz in die Nuthe ...
Ich zermartere mir das Hirn, doch ich finde keine Erklärung. Irgendwann beschließe ich, nicht mehr daran zu denken und einfach alles auf mich zukommen zu lassen. Nur es gelingt mir nicht, obwohl es an Möglichkeiten der Zerstreuung keineswegs fehlt. Nicht auf der Sturmbahn, die mir Schneider wieder zweimal extra verordnet hat und auch nicht beim Reinigen der wieder mal restlos versauten Latrine.
Betrachten Sie sowohl dieses Schreiben als auch unser Treffen als streng vertraulich. Vernichten Sie es jetzt in der Toilette.
Dort ist es auch gelandet und plötzlich wird mir schlecht. Wann sollte ich dort sein? Es war was mit halb - aber wann halb? Halb sieben oder halb sechs? Ich befrage meine Armbanduhr. Die Zeiger stehen auf 17:15 Uhr, in fünf Minuten ist Ausrücken zum Abendbrot. Abendbrot? Ja, stimmt! Ich hatte mir gemerkt, dass ich mich gleich nach unserer Rückkehr in Formation und dem Wegtreten zur Freizeit auf den Weg machen muss. Ja, genau so wars! Mein Adrenalinspiegel normalisiert sich wieder und der schrille Pfiff des UvD mit der freundlichen Aufforderung ›Kompanie raustreten zum Essen fassen!‹ bringt mich zumindest kurzzeitig wieder auf andere Gedanken.
Das bereits zur Oktoberrevolution als altbacken aussortierte Brot tut es aber nicht. Mit jedem Bissen steigt mein Unbehagen weiter an. Zum Glück sind die anderen in ihre Gespräche vertieft und Klaus scheint auch seinen Gedanken nachzuhängen. Mit finsterem Blick belegt er eine Scheibe Brot mit dieser komischen Mettwurst, die sicher einer Konservenbüchse aus Restbeständen der kaiserlichen Armee entstammt.
»Wieder mal echt übel der Fraß« versuche ich, ein Gespräch anzufangen.
Er schaut mich an und ich erkenne, dass ihn irgendwas beschäftigt.
»Was sagst du?«
Ich wiederhole.
»Stimmt, gehört eigentlich in die Tonne, aber der Hunger treibts rein.«
»Und der Ekel drückts runter«, ergänze ich. Wir schmunzeln mehr wehleidig als belustigt und das wars dann auch mit dem Wortwechsel. Was seltsam ist, denn sonst ist Klaus doch auch gesprächiger? Hat er auch so einen komischen Brief erhalten? Ich will fragen, kann es mir aber gerade noch verkneifen.
Betrachten Sie dieses Schreiben als streng vertraulich.
Wäre es so, würde er mit einer Lüge antworten müssen, also lasse ich es.
»Kompanie fertig werden!«, ertönt es vom UvD und wir beeilen uns, die letzten Reste des köstlichen Mahls in uns reinzustopfen. Dann ertönt der Befehl zum Abmarsch.
Mit einem Puls von gefühlt tausendfünfhundert betrete ich den Medpunkt. Die Abmeldung in der Kompanie war unproblematisch. Keine Fragen und kein Kommentar. Von meinen Kameraden hat auch keiner gefragt und hier ist es wie ausgestorben. Bin ich hier überhaupt richtig? Oder war es doch halb sechs?
Was solls - ich werd´s gleich wissen! Mit flauem Gefühl gehe ich den langen Flur bis ans Ende. Zögernd nehme ich Stufe für Stufe in die erste Etage und wenig später stehe ich vor der Tür mit der Nummer 125.
Ein Blick zur Uhr. Es ist genau 18:27 Uhr.
Mir fällt auf, dass es neben dem Türpfosten im Gegensatz zu den anderen Türen im Flur kein Namensschild gibt. Überall verrät ein kleines Schild neben dem rechten Türrahmen Dienstgrad, Name und Funktion, nur an der Tür 125 steht nichts.
»Was ist das nur für eine abgefahrene Kiste«, höre ich mich murmeln.
Inzwischen ist es 18:29 Uhr und ich entschließe mich zu klopfen. In diesem Moment öffnet sich die Tür. Erst einen Spalt, dann ganz. Ein Offizier, etwa meine Größe, alter geschätzt Mitte fünfzig, scharf geschnittenes Gesicht und Stoppelfrisur, tritt mir entgegen. Er schaut kurz nach links und rechts den Flur entlang, und noch ehe ich etwas sagen kann, fragt er, ob ich jemanden gesehen habe oder mir einer gefolgt sei. Ich verneine und werde mit einer Handbewegung hereingebeten. Ich trete an ihm vorbei. Wieder schaut er den Flur entlang, ehe er mir folgt. Hinter sich schließt er die Tür, bei der ich bemerke, dass sie recht ordentlich schallgedämmt ist, und dreht den Schlüssel um.
Eigentlich müsste ich jetzt protestieren. Wieso schließt der uns ein? Außerdem erinnere ich mich, dass in der Grußformel als Dienstgrad ›Oberst‹ stand. Der hier aber ist Oberleutnant. Verunsichert frage ich, ob ich richtig bin. Er fordert mich auf, in einem Sessel Platz zu nehmen, der Teil einer gemütlichen Sitzgruppe ist. Eine Antwort bekomme ich nicht.
»Genosse Frank - das ist doch Ihr Name, oder?«
»Unteroffiziersschüler Frank Ostmann, Genosse Oberleutnant«, verbessere ich in militärischem Stakkato.
»Ist schon gut Genosse. Solange Sie hier sind, vergessen Sie bitte Ihren Nachnamen und den Dienstgrad. Auch meinen, ich bin für Sie einfach nur Genosse Paul.«
›Verdammt, wo bin ich hier nur hingeraten?‹, hämmert es mir wieder und wieder durch den Kopf. Ich bin mir jetzt sicher, dass in der Grußformel auch kein ›P‹ stand. Ich weiß nicht mehr genau, welche Buchstaben es waren, aber es war ganz gewiss kein ›P‹!
Ziemlich irritiert setze ich mich, während dieser Genosse Paul aus dem Barfach seiner Schrankwand eine Flasche Wodka schwungvoll auf den kleinen Couchtisch befördert. »Den trinken Sie doch oder ist Ihnen ein Weinbrand lieber?«
»Nein, nein - ähm, ja schon. Wodka ist in Ordnung.«