Splitterwelten - Michael Peinkofer - E-Book

Splitterwelten E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

Gildenmeisterinnen bewahren den fragilen Frieden auf den Welteninseln. Dort haben die Menschen die Vorherrschaft über Animalen und Chimären gewonnen, die als niedere Geschöpfe betrachtet werden. Und die Unterdrückten begehren auf. Es kommt zu tödlichen Angriffen – und die Hinweise mehren sich, dass die Verschwörer sich den endgültigen Sturz der Meisterinnen zum Ziel gesetzt haben. Die Gildenschülerin Kalliope begibt sich mit ihrer undurchsichtigen Meisterin Cedara auf eine Mission, die sie zu den gefährlichsten Geheimnissen der zersplitterten Welt führen wird. Und alle Zeichen deuten darauf hin, dass der Untergang kurz bevorsteht …

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ISBN 978-3-492-95551-5

© Piper Verlag GmbH, München 2012 Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Inhaltsverzeichnis

Cover & Impressum

Veränderung

Prolog

Erstes Buch: CALIGO PRODITIONIS

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Zweites Buch: TEMPORA MUTANT

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Drittes Buch: MUNDI COINCIDENT

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Epilog

Personenverzeichnis

Nachwort

Guide

Veränderung

»Erzähl es mir bitte«, forderte das Mädchen.

Ein tiefes Atmen folgte, ehe eine samtene Stimme antwortete. Sie klang weich, als hätte sie Flügel, auf denen sie zum Ohr des Kindes schwebte.

»Am Tag, als die Begräbnisbarkasse flog – und sie flog hoch, musst du wissen – fiel ein Blütenblatt vom Bug hinab. Es ist unbedeutend, und außer mir hat es niemand gesehen. Aber es kam mir vor, als würde mein Herz in genau diesem Moment alles verstehen. In meinem Kopf wusste ich schon lange, was geschehen war … doch der Weg von dort zum Herzen ist weit.«

Von Ferne drang Rauschen zu den beiden, die sich an diesem Abend unterhielten; zu der Frau und dem Mädchen. Es klang fast wie ein Fluss, der seinen Weg durch Steine suchte, aber tatsächlich war es die Hitze der Feuer, die die Luft bewegte und Wind entfachte. Über den Klippen brannte ein Schiff, das Holz knackte, das Segel längst nur mehr Asche. Es würde nie wieder fliegen.

»Ich fühlte mich«, fuhr die samtene Stimme fort, »als könnte ich auf diesem Blatt in winzigen Buchstaben die gesamte Geschichte lesen. Ich kann sie dir unmöglich auf einmal von vorne bis hinten erzählen. Immerhin hat sie alle Weltensplitter verändert. Es gibt Gute in dieser Geschichte, und Böse, und solche, die nicht wussten, was sie sind.«

»Aber jetzt wissen sie es?«

Die Frau hob ihren Blick in den Raum zwischen den Splittern. War das Crescat, dort oben? Sie blinzelte eine Träne hinweg. »Ja«, sagte sie, log sie. Es war besser so. »Jetzt wissen sie es.« Sie atmete tief durch. »Ich denke nun an dieses Blütenblatt, um meine Gedanken zu sammeln und mein Gleichgewicht zu finden. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich es vor mir: das kräftige Rot vor dem dunklen, glänzenden Holz des Schiffbugs. Es muss sich von dem Platz erhoben haben, an dem normalerweise die Leiche gelegen hätte. Wir umgeben die geehrten Toten nämlich mit Blumen, weißt du, ehe wir die Begräbnisbarkassen aufsteigen lassen. Sie sollen von Schönheit bedeckt ihren Weg antreten, wohin er auch führen mag. An jenem Tag jedoch begruben wir etwas völlig anderes.«

»Was?«, wollte das Mädchen mit weit geöffneten Augen wissen. Wie konnten sie nur so rund werden und so voller Neugierde stecken?

Und bin ich, fragte sich die Frau, immer noch so neugierig wie dieses Kind? Nach allem, was geschehen ist? Sie dachte darüber nach und gab sich selbst die Antwort. Ja, sie war es, nach wie vor. Gerade weil sie so viele Dinge gesehen und erlebt hatte. Sie lachte. »Du willst das Ende dieser Geschichte vor dem Anfang erfahren? Um es zu verstehen, musst du sie von vorne hören. Hast du die Geduld dafür?«

Das Mädchen stemmte die Arme in die Seiten, als wäre es beleidigt. »Natürlich! Ich werde dir drei mal drei Tage lang lausche, ohne auch nur ein einziges Mal zu schlafen!«

Ein leichter Wind zog auf, und er trieb winzige Regentröpfchen mit sich, kaum mehr als ein aufziehender Nebel. Irgendwo in der Nähe sang ein Vogel, aber seine Melodie übertönte nicht den Schrei, der plötzlich über allem hallte.

Ein Laut der Wut, oder des Schmerzes? Jedenfalls klang er hinter dem Feuer auf, hinter dem Chaos, das das Kind überhaupt erst zu seinem Wunsch verleitet hatte: Erzähl es mir bitte.

Die Frau erinnerte sich an eine Geschichte der Veränderung. Aber wann hatte jemals ein Kind das Licht der Weltensplitter erblickt, ohne dass es vorher unter Schmerzen geboren worden wäre? Wann wäre nach dieser Geburt je alles sofort voller Frieden gewesen? Es gehörte zum Wesen der Dinge, dass Neues im Leid begann und Aufbegehren mit sich brachte. Das Gleichgewicht kam nicht von alleine, weder im Kleinen noch im Großen. Man musste es suchen, es festigen und die Hindernisse beseitigen.

Erzähl es mir bitte.

Wenn das nur so einfach wäre. Es gab Angst und Schrecken in dieser Geschichte, ebenso wie Freude und Lachen, und für diejenige, die nun erneut ihre Stimme erhob, gab es viele Wunder darin.

Es war die Geschichte sämtlicher Weltensplitter, und mehr als das. Aber für sie war es vor allem die Geschichte ihres Lebens. Wie jung sie gewesen war, als es seinen Anfang genommen hatte. Fast selbst noch ein Kind. Ein weiter Weg von damals bis zu diesem Tag, bis zu dem Feuer unten am Hafen.

»Kommen Ungeheuer vor?« Das Mädchen blinzelte.

»Ungeheuer?«, fragte die Frau zurück. »Wie meinst du das?«

Die Kleine legte den Kopf in den Nacken. »Zwischen den Weltensplittern, da ist doch nichts. Meine Schwester sagt, das Nichts dort oben ist wie ein dünnes Tuch, und wenn es reißt, stürzen die Ungeheuer durch, die dahinter lauern! Die haben noch nie Licht gesehen!« Mit einem Mal zögerte das Kind und verknetete die Hände ineinander. »Meint meine Schwester jedenfalls«, ergänzte sie kleinlaut.

»Das stimmt nicht«, sagte die Frau. Und lachte. Doch es klang nicht so überzeugend, wie sie es gerne hätte. Natürlich gab es zwischen den Splittern kein Tuch, das reißen konnte, und es gab keine Ungeheuer, aber …

Sie fröstelte.

»Lass uns ein Stück zur Seite gehen«, forderte sie. »Dort können wir uns hinsetzen. Und dann hör gut zu und erzähl es danach deiner Schwester. Und allen anderen Kindern. Jeder soll es wissen. Die Wahrheit wird für Freiheit sorgen.«

Die neugierigen Augen blitzten vor Freude und Erwartung.

Sie gingen los und setzten sich auf hohe Steine, warm von der Sonne. Das Mädchen wählte einen etwas größeren, und so sahen sie sich gleich auf gleich ins Gesicht.

Die Frau stützte sich ab, und eine Echse huschte mit pendelndem Schwanz über ihre Finger. Der Anblick und das kitzelnde Gefühl brachten sie zum Lächeln. Das Tier verschwand im Schatten.

»Iih!«, machte das Mädchen.

»Ich mag Echsen.«

»Wieso?«

»Warum nicht?«

»Ich finde sie eklig.«

»Ich früher auch, aber …« Die Frau brach ab, in Gedanken versunken.

»Ja?«

»Ich … ich sollte jetzt beginnen. Also lausche dem, was für mich damals auf diesem roten Blütenblatt geschrieben stand, in winzigen Buchstaben.

Lausche der allumfassenden Veränderung und der Geburt der neuen Zeit.

Es ist meine Geschichte und die meiner Freunde.

Und glaub mir, es wird drei mal drei Tage dauern, um alles zu erzählen … und du wirst zwischendrin schlafen müssen. Aber am Ende kehren wir zu dem Feuer zurück, das heute lodert, zu der Begräbnisbarkasse und zu dem, was wir darin begraben haben, zwischen roten Blütenblättern, die wir in den Himmel schickten.«

Sie begann zu reden, und von Satz zu Satz fiel es ihr leichter, und bald war sie mittendrin in der Vergangenheit.

Prolog

Es war kein vorübergehender Zustand, in dem sich Meisterin Glennara befand. Es war das Leben selbst, die einzig wirkliche Art des Seins, so wie der Haiku der primae es beschrieb:

 

Leichter als Federn,

den Elementen trotzend,

Himmel und Erde.

 

Die Augen geschlossen, die Hand- und Fußflächen aneinandergelegt und den Gesetzen der Natur entrückt, fühlte Glennara sich frei und ungebunden … selbst an einem Ort wie diesem.

Nicht ihre eigene Entscheidung hatte sie hierhergeführt, auf diesen Weltensplitter, der weit abseits der Zivilisation und jedes wärmenden Feuers lag, sondern die der Erhabenen Schwester, und Glennara glaubte fest genug an die äonenalten Prinzipien der Gilde, um sich ihrer Entscheidung ohne Widerspruch zu fügen. Auch wenn in diesen Tagen jedem, der sich auf den Außenwelten aufhielt, klar werden musste, dass die Dinge nicht mehr waren wie einst.

 

Bewahren, was wert

und was besteht seit Langem

der Gilde Macht und Glanz.

 

Anfangs waren die Veränderungen kaum zu bemerken gewesen, winzige Abweichungen vom Kreislauf der Geschichte, jede für sich genommen unbedeutend. Doch tief im Inneren hegte Glennara die Befürchtung, dass das große Ganze davon betroffen sein würde, das Gleichgewicht der Welten, vom eisigen Pol bis hinab zum Mahlstrom, der alles Wasser verschlang.

 

Welten unzählig,

schwebend wie im dunklen Traum,

umgeben vom Nox.

 

Der Gilde kam von jeher die Aufgabe zu, die Welten des Sanktuarions miteinander zu verbinden. Sie war das Blut in den Adern eines Körpers mit unzähligen Gliedern. Ohne die Gilde gab es keinen Fortschritt, keine Zivilisation. Sie hielt das Sanktuarion zusammen, schlug Brücken zwischen Welten, die ansonsten füreinander unerreichbar gewesen wären, ermöglichte Austausch und Handel und, wenn es die Lage gebot, auch feindliche Auseinandersetzung – und das allein aufgrund der geistigen Fähigkeiten, über die die Levitatinnen der Gilde verfügten und die sie weit über jedes andere sterbliche Wesen stellten.

 

Nie sich zu beugen

und niemals zu erliegen

weltlicher Gewalt.

 

Schon früh in der Geschichte hatten die Gildemeisterinnen ihre besondere Verantwortung erkannt und entsprechend gehandelt. Die primae, mutige Frauen, die über die Gabe der Levitation verfügten und nicht gewillt waren, sich zum Werkzeug machthungriger Weltenherren machen zu lassen, sagten sich von diesen los und schlossen ein Bündnis, das als der »Pakt« in die Weltengeschichte einging. Dies war die Geburtsstunde der Gilde von Ethera, die von diesem Augenblick an die Geschehnisse im Sanktuarion entscheidend mitbestimmte. Nicht durch Krieg oder Gewalt, wie die Weltenherren es taten, sondern durch die alleinige Kontrolle über das Element der Luft.

 

Bedacht mit Gaben,

welche niemand sonst besitzt,

vom Schicksal bestimmt.

 

Die kollektive Erinnerung, die Generationen zurückreichte und von großen Taten kündete, von Gildemeisterinnen, die die Geschicke der Welten maßgeblich beeinflusst hatten, strahlte etwas Beruhigendes aus und versprach Beständigkeit. Selbst in Zeiten wie diesen.

Glennaras Meistergrad entsprach nur dem der dritten Stufe, und es stand ihr nicht zu, Entscheidungen der soror levitata infrage zu stellen. Dennoch ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder nach einem Grund dafür suchte, dass sie auf diese entlegene Welt versetzt worden war.

Hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen? War dies der Grund, dass man ihr befohlen hatte, ein Handelsschiff in die Polregion zu geleiten und bis auf Widerruf dort zu verbleiben? Nein. Sie musste darauf vertrauen, dass ihr Aufenthalt auf diesem barbarischen, von Eis und Schnee bedeckten Weltensplitter einer höheren Bestimmung diente. Sie musste Geduld bewahren und Trost aus der Meditation gewinnen, aus dem Zustand der Schwerelosigkeit, in den Glennara sich kraft ihres Willens zu flüchten vermochte, und in der beruhigenden Gewissheit der eigenen Vergangenheit.

Glennara erinnerte sich gut daran, wie es gewesen war, als sie die Fähigkeit erstmals an sich entdeckt hatte. Mehr als vierzig Zyklen lag dies zurück, dennoch konnte sie noch immer die Freude verspüren, die sie dabei empfunden hatte. Sie war aus dem Schlaf erwacht und hatte geglaubt, noch zu träumen. Erst allmählich war ihr aufgegangen, dass sie wach war und dass sie tatsächlich mehrere Ellen über ihrer Schlafstatt schwebte …

Auch jetzt öffnete Glennara die Augen und blickte hinab auf den steinernen Boden der kargen Kammer. Das schneeweiße Meditationsgewand schützte sie nur unzureichend gegen die Kälte, die jeden Winkel der Festung durchdrang. Dennoch hatte sie es angelegt, um sich der Gemeinschaft der Gilde verbunden zu fühlen. Wie ein zu Eis erstarrter Katarakt fiel der Stoff an ihr herab, während sie selbst in der Mitte der Kammer schwebte, scheinbar schwerelos und den Naturgesetzen entrückt.

»Gildemeisterin?«

Die Stimme, die von jenseits der grob gezimmerten und mit Eisenbeschlägen versehenen Tür drang, riss Glennara aus ihren Gedanken. Ihre erste Reaktion war Verärgerung, doch sie beherrschte sich, wie es von einer Meisterin erwartet wurde.

»Ja?«

»Es gibt Nachrichten, Gildemeisterin. Man wünscht Euch zu sprechen.«

Da es spät nachts war, flüsterte die Stimme. Dem Lispeln war jedoch zu entnehmen, dass sie einem der Animalen gehörte, die in der Festung ihren Dienst versahen, zu Glennaras Verdruss und Ärgernis.

»Worum geht es?«, schnaubte sie.

»Das weiß ich nicht, Gildemeisterin.«

Glennara schüttelte unwirsch den Kopf. Ihrer Abneigung gegen die barbarischen Bewohner dieser Welt gemäß hatte sie in den vergangenen Wochen kaum Kontakt zu ihnen unterhalten. Von den offiziellen Anlässen abgesehen, die ihr keine andere Wahl gelassen hatten, als die Gesellschaft des Weltenherrschers und seiner ungehobelten Gefolgschaft zu ertragen, hatte sie es vorgezogen, in ihrer Kammer zu bleiben und sich der Kontemplation zu widmen. Umso überraschter war sie darüber, dass jemand sie zu sprechen wünschte.

»Kann es nicht warten bis morgen früh?«

»Ich glaube nicht, Gildemeisterin. Die Besucherin meinte, es sei dringend.«

Die Besucherin!

Glennara atmete innerlich auf. Das musste bedeuten, dass jemand von außerhalb nach Jordråk gekommen war, womöglich eine Abgesandte der Gilde, die ihr Nachricht von Ethera brachte …

Sie beendete die Levitation und sank zum Boden zurück. Die Wehmut, die sie gewöhnlich überkam, sobald ihre Füße den Stein berührten, verspürte sie diesmal nicht. Sie bemerkte noch nicht einmal die eisige Kälte der grob behauenen Fliesen, über die sie eilig zur Tür schritt.

Mit einem Ruck zog die Gildeschwester den Riegel zurück und öffnete. Der Diener, der davor stand und dessen birnenförmiger Körper ihr nur bis zur Hüfte reichte, blickte furchtsam zu ihr auf. Seine Barthaare bebten, Glennaras strenge Züge spiegelten sich in den schwarzen Knopfaugen.

»Worauf wartest du?«, fuhr sie ihn an. »Bring mich zu ihm!«

Der Phocide nickte ergeben. Sie versuchte, den Diener und den strengen Geruch, den er verströmte, zu ignorieren, während sie seinen schlurfenden Schritten den von Fackeln beleuchteten Gang hinabfolgte.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Orientierung verloren hatte. Für die Levitatin sah einer der kalten, aus groben Steinen gemauerten Gänge wie der andere aus, und weder hatte sie sich je die Mühe gemacht, noch war sie oft genug unterwegs gewesen, um sie genauer zu erkunden. Wann immer sie von einem Ort zum anderen zu gelangen wünschte, nahm sie die Dienste eines Hausknechts in Anspruch. Eines Menschen, wenn es möglich war, eines Animalen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Doch obwohl sie sich nicht auskannte, war Glennara schon nach wenigen Abzweigungen und Treppen überzeugt, noch niemals zuvor in diesem Teil der Festung gewesen zu sein.

»Wohin führst du mich?«

»Zu Eurem Besuch«, lispelte der Robbenmann schlicht. »Das war Euer Wunsch, nicht wahr?«

Die Gildemeisterin empfand es als unter ihrer Würde zu antworten. Stattdessen fragte sie sich, was die Botin – denn um eine solche musste es sich handeln – ihr zu sagen haben würde. Hatte sich die Erhabene Schwester anders besonnen? Würde ihr Dienst an diesem unwirtlichen Ort womöglich schon bald zu Ende gehen? Würde sie auf eine andere Welt versetzt? Durfte sie womöglich zurückkehren in den Schoß der Gilde und den schützenden Hort von Ethera?

Allein der Gedanke ließ ihren Herzschlag beschleunigen, während sie weiter den Gang hinabschritt, ihre schlanke, von weißem Stoff umflossene Gestalt ein krasser Gegensatz zur gedrungenen Erscheinung des Animalen.

Schließlich gelangten sie an eine Tür, die einen Spalt weit offen stand; flackerndes Licht fiel auf den Gang, dazu war das leise Knacken von Kaminfeuer zu hören. Der Robbenmann blieb stehen und wies ihr den Weg. Glennara öffnete die Tür vollends und trat ein.

Dahinter befand sich ein mittelgroßes Gewölbe, dessen hohe Decke von Säulen getragen wurde, grob und plump wie alles an diesem Ort. In einer Esse loderte Feuer, in dessen flackerndem Schein die Pfeiler lange Schatten warfen. Weitere Möbel gab es nicht, und es war niemand zu sehen. Im ersten Moment glaubte Glennara, der Diener hätte sich einen Scherz mit ihr erlaubt, und wollte sich wutentbrannt abwenden, als sie das Geräusch vernahm.

Ein Rauschen wie von feinem Stoff.

Instinktiv blickte sie nach oben – um verblüfft zurückzufahren, als sie die Ehrfurcht gebietende, von einem weiten Gewand umwallte Gestalt gewahrte, die dort schwebte, reglos und mit vor der Brust verschränkten Armen. Ihre Augen starrten in milchigem Weiß.

»Ihr?«, fragte sie nur.

»Seid Ihr überrascht?«

»Durchaus. Ich hatte nicht erwartet, Euch so weit entfernt von …«

»Ihr hattet vieles nicht erwartet, ist es nicht so? Auch Eure Versetzung an diesen Ort nicht.«

»Nun«, entgegnete Glennara ausweichend, »ich habe mich bemüht, die Anweisungen der Erhabenen Schwester nach bestem Wissen auszuführen.«

»Das habt Ihr«, bestätigte die schwebende Gestalt, »und mehr als das.«

»Wie meint Ihr das?«

»Ihr habt dazu beigetragen, die Geschichte zu verändern, Glennara, dafür gebührt Euch mein Respekt und mein Dank.«

»Die Geschichte zu verändern?«, fragte die Gildemeisterin zweifelnd. »Ich fürchte, ich verstehe nicht. Wann soll ich die Dinge getan haben, von denen Ihr sprecht?«

»Noch nicht«, gab die schwebende Gestalt zurück, »aber Ihr werdet sie tun, schon in wenigen Augenblicken.«

Glennara begriff noch immer nicht, wovon die Rede war, aber sie gab sich alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Es musste sich um einen Test handeln, um eine Prüfung ihrer mentalen Reife. Entsprechend konnte ihre nächste Antwort über ihre Zukunft innerhalb der Gilde entscheiden …

»Was soll ich tun?« Sie neigte ergeben das Haupt, kaum anders als der Robbenmann zuvor.

»Nichts«, lautete die seltsame Antwort. »Wartet ab. Schließt die Augen und vertraut darauf, dass Eure Bestimmung Euch leiten wird.«

Glennara gehorchte.

Sie wollte zeigen, dass sie würdig war, den nächsten Grad der Reife zu erlangen, dass sie bereit und willens war, zur Ordenswelt zurückzukehren und sich dort neuen Aufgaben zu stellen, dass sie in der Lage war …

Ein leises Knurren unterbrach ihren Gedankengang.

Die Gildemeisterin widerstand der Versuchung, die Augen zu öffnen. Auch dies mochte Teil der Prüfung sein. Stattdessen versuchte sie, sich zu konzentrieren und das innere Gleichgewicht zurückzuerlangen, das den Schwestern der Gilde als das höchste Ideal galt.

Es gelang ihr nicht.

Ein erneutes Knurren hinderte sie daran.

Es war näher als zuvor und paarte sich mit dem ekelerregenden Gestank von Fäulnis und Verwesung.

Die hässliche Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte, ließ die Gildemeisterin alle Beherrschung vergessen. Sie riss die Augen auf und sah, wer vor ihr stand.

Einen Moment lang war sie wie erstarrt vor Entsetzen. Dann öffnete sich ihr Mund zu einem gellenden Schrei, der jedoch nie erklang. Denn die Klaue des Wolfs schnellte vor und zerfetzte ihre Kehle.

Erstes Buch

CALIGO PRODITIONIS 

 

 

»Das Erste unter allen Gesetzen jedoch ist Folgendes: Die Herrschaft über das flüchtige Element soll auf alle Zeit jenen vorbehalten bleiben, die befähigt sind, kraft ihres Willens die Klüfte zwischen den Welten zu überbrücken – den Levitatinnen der Gilde.«

Pakt der Gilde · Präambel

1. Kapitel

Es war eine Prozession des Schweigens.

Dreizehn Frauen in weiten Roben, die die steinernen Stufen hinabstiegen. Immer weiter drangen sie in das Gewölbe vor, das sich dem Inneren eines gigantischen Schneckenhauses gleich in die Tiefen Etheras erstreckte. Das Licht, das sie begleitete und die umgebende Schwärze doch nur unzureichend vertrieb, rührte von kleinen eisernen Schiffen her, in denen Kohlefeuer brannten; wie von unsichtbarer Hand geführt, schwebten sie neben den Frauen her, deren Augen von einem milchig anmutenden Schleier überzogen waren.

Sie waren die numeratae, die Gezählten; die obersten und ranghöchsten Schwestern der Gilde und damit die legitimen Nachfolgerinnen jener glorreichen primae, die die Schwesternschaft einst begründet hatten. Vor vielen Generationen schon hatten sie sich königlichem Gebot widersetzt, auf dass kein weltlicher Herrscher, auf dass kein Mann jemals wieder Macht über sie gewänne. Doch hier, tief im Herzen der Gildewelt, war die Erinnerung an sie so lebendig wie einst.

Die dreizehn Frauen setzten ihren Weg fort, vorbei an bizarren Skulpturen, die sich im Fels geformt hatten, hinab zur Quelle der Macht. Je tiefer sie kamen, desto schwieriger wurde das Vorankommen. Nicht nur, weil die Luft in dem sich krümmenden und windenden Felsengang mit jedem Schritt stickiger wurde und sich beständig erwärmte. Sondern auch, weil sich den Schwestern des Rates eine unsichtbare Barriere in den Weg zu stellen schien; eine Barriere, errichtet von einem fremden Willen.

Schließlich endete der Stollen und mündete in eine Höhle, die so riesig war, dass der Schein der Feuerschiffchen nicht mehr ausreichte, sie vollständig zu erhellen. Im Zentrum stand ein geräumiges Zelt, das von innen beleuchtet war, wie ein großer Leuchtkörper inmitten der Dunkelheit schwebend. Der Boden ringsum lag in Schwärze, lediglich eine steinerne Brücke war zu sehen, die vom Rand der Höhle zum Vorplatz des Zeltes führte und dabei ungeahnte Tiefen überwand. Lautlos schritten die Frauen hinüber, begleitet von ihren Fackeln, die erst zu Boden sanken, als die numeratae die andere Seite erreicht hatten. In einem Halbkreis nahmen sie vor dem Zelt Aufstellung, schlugen die Kapuzen ihrer Roben zurück und verbeugten sich tief und ehrerbietig. Dabei klärte sich der Blick ihrer Augen.

»Erhabene Schwester«, rief schließlich Harona, die die Gezählten zu ihrer Sprecherin gewählt hatten. »Wir sind gekommen wie von Euch verlangt!«

In dem Zelt, dessen Eingang verschlossen war, schien sich zunächst nichts zu regen. Dann war ein leises Schlurfen zu vernehmen, als wenn sich jemand langsam und schwerfällig über den steinernen Boden schleppte, und eine zaghafte Stimme erklang. »Ich danke Euch, Schwestern, dass Ihr meinem Ruf gefolgt seid. Wichtige Dinge sind es, die Eure Anwesenheit hier erforderlich machen.«

Die numeratae verbeugten sich abermals, um ihrem Oberhaupt Respekt zu erweisen. In einigen Mienen war Betroffenheit zu lesen. Die Stimme der soror levitata hatte seit der letzten Versammlung abermals an Kraft verloren. Es schien sich zu bewahrheiten, was einige hinter vorgehaltener Hand behaupteten und die meisten längst befürchteten.

Die Erhabene Schwester wurde schwächer.

Sie würde sterben.

Ein tiefer, rasselnder Atemzug war in der Stille zu hören. Einige Gildemeisterinnen tauschten betroffene Blicke. Andere starrten zu Boden, um sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen.

»Geliebte Schwestern«, drang es weiter aus dem Zelt, »ich habe Euch rufen lassen, weil tiefe Sorge mein Herz verdunkelt. Über tausend Zyklen hinweg hat die Gilde von Ethera die Lüfte beherrscht, so wie die primae es uns vorgegeben haben, und die Völker des Sanktuarions sind uns dafür dem Pakt gemäß mit Respekt und Dankbarkeit begegnet. Doch diese Zeiten der Ruhe und des Friedens gehen ihrem Ende entgegen. Dunkle Kräfte erstarken. Menschen, die dem Einfluss des Nox verfallen sind und Lügen über die Gilde verbreiten; aber auch Animalen und Chimären, die den Menschen gleich sein wollen und unsere Vorherrschaft anzweifeln, sodass sich die Geschichte gegen uns zu wenden droht.«

Wieder wurden verstohlene Blicke getauscht.

Die Ratsschwestern hatten von den Gerüchten gehört, sie jedoch ins Reich der Legenden verwiesen, so lange sie nicht offiziell bestätigt worden waren. Genau dies jedoch schien gerade zu geschehen.

»Immer häufiger«, fuhr die Erhabene Schwester mit brüchiger Stimme fort, »wurde mir in jüngster Zeit berichtet, dass Levitatinnen angefeindet wurden. Auf Pilar kam es zu einer bewaffneten Erhebung, der die dortige Gesandte mithilfe der Schöpferin entkommen konnte, zu unseren Schwestern auf Ayforas und Ulster haben wir jeden Kontakt verloren, sodass ihr Schicksal ungewiss ist. Auf Jordråk jedoch ist geschehen, wovor wir alle uns insgeheim gefürchtet haben.«

Erneut tauschten die numeratae verstohlene Blicke.

»Als Euer Oberhaupt habe ich die traurige Pflicht, Euch darüber in Kenntnis zu setzen, dass unsere Mitschwester Glennara, die als missa auf Jordråk weilte, auf ebenjener Welt einem feigen Mordanschlag zum Opfer gefallen ist.«

Wären die Tiefen Etheras von einem Weltenbeben erschüttert worden, die Bestürzung der Ratsschwestern hätte kaum größer sein können.

»Ein Mordanschlag?«

»Gegen eine Vertreterin der Gilde …?«

Entsetzte Blicke wurden getauscht, einige Schwestern, vor allem die älteren, begannen zu weinen. Doch auch ihre bitteren Tränen änderten nichts daran, dass auf jener fernen, bitterkalten Welt geschehen war, was niemals hätte geschehen dürfen.

»Frevel!« Graia, die Älteste der dreizehn, raufte sich das ergraute Haar. »Der Pakt wurde gebrochen!«

Zustimmende Rufe wurden laut, das Entsetzen schlug in Empörung um. Geduld und Gleichmut, die notwendigen Voraussetzungen für ein ausgewogenes Urteil, drohten verloren zu gehen angesichts der schrecklichen Nachricht.

»Der Pakt wurde gebrochen, in der Tat«, verschaffte sich deshalb Meisterin Cedara Gehör, deren besonnenes Wesen von allen geschätzt wurde. Das satte Königsblau ihrer Robe bot selbst im Fackelschein einen auffälligen Kontrast zum Grau und Schwarz ihrer Mitschwestern. »Doch sollten wir abwarten, was unsere Erhabene Schwester uns weiter zu sagen hat.«

Die Aufregung legte sich daraufhin ein wenig, nicht weil die Frauen sich beruhigt hätten, sondern aus Respekt vor ihrer geistigen Führerin. »Ich danke dir, Schwester Cedara, für deine Worte«, ließ diese sich wieder vernehmen. »So großes Verständnis ich für Eure Wut hege, geliebte Schwestern, und sosehr auch mein Innerstes in Aufruhr ist über diese frevlerische Untat, rate ich dennoch zur Besonnenheit. Zorn und Rachsucht sind schlechte Ratgeber, die das Gleichgewicht stören und die Vernunft verstummen lassen.«

»Das ist wahr«, räumte Meisterin Graia ein. »Dennoch kann die Gilde es nicht einfach hinnehmen, wenn eine der Ihren getötet wird. Offenbar haben wir den Lügen und Schmähreden, die man über uns verbreitet, zu lange tatenlos beigewohnt. Nun haben sie furchtbare Wirkung gezeitigt.«

Wieder gab es Zustimmung, und erneut war es Cedara, die einen Einwand erhob.

»Solange es die Gilde gibt«, gab sie zu bedenken, »wurde sie mit Neid und Missgunst bedacht. Daran ist nichts Neues.«

»Wollt Ihr leugnen, dass die Aggression gegen unsere Schwesternschaft in den vergangenen Zyklen zugenommen hat? Habt Ihr nicht gehört, was die Erhabene Schwester gesagt hat?«

»Ich habe es gehört«, versicherte Cedara. »Doch solange wir nicht wissen, was dort auf jener fernen Welt tatsächlich vorgefallen ist, sollten wir keine voreiligen Schlüsse …«

»Voreilige Schlüsse? Eine der Unseren wurde getötet, und Ihr sprecht von voreiligen Schlüssen?« Der helmartige Schopf, zu dem Graia ihr langes graues Haar gebunden hatte, bebte vor Empörung. »Ich glaube, Schwester, dass Ihr es Euch ein wenig zu leicht macht. Meisterin Glennara wurde nicht das Opfer eines tragischen Unglücks! Zu allen Zeiten wurden wir angefeindet und geschmäht, das ist wahr, aber nie zuvor hat es jemand gewagt, die Hand gegen uns zu erheben. Was, so frage ich Euch, geliebte Schwestern, wird als Nächstes geschehen? Womöglich wird auch auf anderen Welten schon bald unser Blut fließen!«

Das Entsetzen, in das sie diese Vorstellung stürzte, war den meisten der Gezählten deutlich anzusehen. Lediglich Cedara bewahrte zumindest äußerlich ihre Gelassenheit – und Harona, deren schmale, von Askese gezeichneten Züge kaum jemals eine Gefühlsregung erkennen ließen.

»Sehr richtig«, pflichtete sie Graia ruhig, aber entschieden bei. »Was auf Jordråk geschehen ist, sollte uns eine Warnung sein – eine Warnung der Schöpferin, den Veränderungen, die allenthalben vor sich gehen, nicht weiter tatenlos zuzusehen.«

»Von was für Veränderungen sprichst du«, fragte Cedara.

»Als ob du das nicht wüsstest!« Eisige Blitze schienen aus Haronas gletscherblauen Augen zu schlagen. »Muss ich ausgerechnet dir sagen, was auf den Außenwelten vor sich geht? Dir von den Unruhen erzählen? Von den blutigen Fehden, die dort vor sich gehen?«

»Wenn ich mich recht entsinne«, konterte Cedara, »haben wir selbst diese Fehden stets gutgeheißen, so lange sie unseren Zwecken dienten …«

»Das war zu einer anderen Zeit! Nordath Durandor war ein großer Herrscher, der es verstand, die Welten des Sanktuarions im Gleichgewicht zu halten und den Schwestern der Gilde zuverlässigen Schutz zu gewähren. Sein Sohn jedoch ist durch und durch verkommen. Unter seiner Herrschaft ist Tridentia ein Hort der Unzucht und des Lasters geworden – wen will es da verwundern, wenn das Reich in Auflösung begriffen ist und die Gesetze des Paktes, die uns über so viele Zyklen geschützt und bewahrt haben, keine Gültigkeit mehr besitzen?«

Cedara unterdrückte ein Seufzen. »Wir alle wissen, Schwester, dass du kein Parteigänger König Ardaths bist, dessen ausschweifende, ja verschwenderische Lebensweise der unseren in jeder Hinsicht widerspricht. Aber es missfällt mir, dass du den tragischen Tod unserer Mitschwester Glennara dazu missbrauchst, um Unfrieden zu stiften und unsere Mitschwestern gegen den König aufzubringen.«

»Unfrieden?« Haronas Augen weiteten sich. »Du behauptest, ich würde Unfrieden stiften? Bin ich es, der seine Frevlerhand gegen unsere Mitschwester erhoben hat? Der die Werte unserer Gemeinschaft verachtet und sie mit Füßen tritt?«

»Nein, aber …«

»Oder bin ich es gewesen, der seine Fürsorgepflicht der Gilde gegenüber sträflich vernachlässigt und der durch seine falsche Politik das Sanktuarion ins Chaos stürzt?«, legte Harona nach, noch ehe Cedara ihren Einwand vorbringen konnte. »Nein, geliebte Schwestern! Nicht wir sind es, die den Unfrieden säen, sondern jene dort draußen, die von nokturnen Mächten besessen sind und nach unserer Vernichtung trachten, die Tiermenschen und jene, die sich mit ihnen verbünden. Und was den König betrifft, so spreche ich nur die Wahrheit aus – jene Wahrheit, die du nicht anerkennen willst, Cedara.«

»Eine jede unserer Schwestern weiß, dass ich mich der Wahrheit nie verschlossen habe«, widersprach Cedara. »Dennoch warne ich vor voreiligen und übereilten Schlüssen.«

»Ist es voreilig, wenn wir uns gegen die Mörder unserer Schwester stellen?«, fragte Harona. »Ist es übereilt, wenn wir handeln, statt weiter abzuwarten, was geschieht?«

»Was wollt Ihr tun?«

»In meinen Augen haben wir schon viel zu lange gewartet, geliebte Schwestern«, entgegnete Harona, und einige, allen voran die gestrenge Graia, bekundeten lautstark ihre Zustimmung. »Den Feinden der Gilde muss Einhalt geboten werden – oder dort draußen wird sich ein Sturm zusammenbrauen, der uns alle hinwegreißen wird! Wir müssen ein Zeichen setzen, ein Signal, dass auf Jordråk eine Grenze überschritten wurde, die niemals hätte überschritten werden dürfen. Die Frevler müssen ausfindig gemacht und bestraft werden.«

»Darin stimmen wir überein«, gab Cedara zu. »Doch wer sind die Täter? Sollten wir dies nicht zunächst herausfinden?«

»Durchaus«, räumte Harona ein, und ihrem dünnen Lächeln war anzumerken, dass sie mit dem Einwand gerechnet, ja ihn sogar erwartet hatte. »Deshalb sollte jemand nach Jordråk gehen und die Vorgänge vor Ort untersuchen.«

»Sehr richtig«, stimmte eine der anderen Ratsschwestern zu, »ein legatus legis sollte sich der Sache annehmen!«

»Ich würde Euch zustimmen, Meisterin Vana, wenn Nordath noch an der Macht wäre«, erwiderte Harona, »doch statt seiner sitzt sein liederlicher Sohn auf dem Thron. Wie soll ein Legat des Königs auf Jordråk für Recht und Ordnung sorgen, wenn noch nicht einmal der König selbst dies vermag? Nein, geliebte Schwestern, wir selbst müssen uns dieser Aufgabe annehmen und eine der Unseren nach Jordråk entsenden.«

»Eine von uns? Ihr meint, eine inquisitora?«

»Jenes Wort hast du gebraucht, nicht ich«, wehrte Harona ab. »Du weißt so gut wie ich, dass das Amt der Inquisitorin nicht mehr existiert.«

Cedara schnaubte, ihre sonst so wachen Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was sagt Ihr dazu, Erhabene Schwester?«, wandte sie sich dem Zelt der Anführerin zu, die zuletzt beharrlich geschwiegen hatte.

Die Antwort ließ auf sich warten, so als müsste die Erhabene Schwester zunächst Atem schöpfen. »Angesichts der jüngsten Ereignisse«, ließ sich ihre brüchige Stimme schließlich vernehmen, »ist es schwer zu beurteilen, was richtig ist und was falsch. Aber ich stimme zu, dass wir mehr Informationen brauchen, um ein ausgewogenes Urteil zu fällen – und dass wir diese Informationen aus erster Hand bekommen sollen. Ich entspreche deshalb Schwester Haronas Ersuchen, eine numerata nach Jordråk zu entsenden.«

»Und wer?«, fragte Meisterin Vana. Furcht und Ratlosigkeit schienen ihre kleinwüchsige, zerbrechlich wirkende Gestalt zu beugen. »Wer soll auf jener entlegenen, barbarischen Welt den Kampf gegen das Nox aufnehmen?«

»Ich erbiete mich freiwillig, diese Aufgabe zu übernehmen«, verkündete Harona großmütig.

»Du?«, fragte Cedara schnell und sehr viel schärfer, als es unter den numeratae üblich war. »Ausgerechnet du?«

Haronas Gesichtsausdruck blieb unverändert. Nur ihre schmalen Brauen hoben sich. »Du hast Einwände?«

»Du selbst hast gesagt, dass es an den Rändern des Reiches gärt und brodelt«, konterte Cedara. »Hältst du es für klug, auf diese Weise noch weiter Öl ins Feuer zu gießen?«

»Vielleicht nicht«, räumte Harona ein. »Mir ist durchaus bewusst, dass ich auf den Außenwelten einen … zwiespältigen Ruf genieße. Aber ich kann hier beim besten Willen niemanden sehen, der außer mir bereit wäre, sich dieser schwierigen und gefährlichen Aufgabe zu stellen. Oder seht Ihr das anders?«

Erneut zeigte sich ein dünnes Lächeln auf ihren blassen Zügen – und Cedara wusste, dass sie in die Falle gegangen war. Sie biss sich auf die Lippen, suchte fieberhaft nach einem Ausweg, nach einer Lösung, die den Rat überzeugte und sie dennoch nicht dazu zwang, etwas zu tun, was sie nicht tun wollte. Aber es gab keine.

Harona hatte den Köder ausgelegt, und sie war darauf hereingefallen.

Genau wie früher …

»Ich werde gehen«, erklärte Cedara und gab sich Mühe, ihren Widerwillen dabei zu verbergen.

»Ihr?«, fragte Graia.

»Ihr alle wisst, was ich einst gewesen bin und dass ich genau wie Schwester Harona über die Kenntnisse verfüge, die nötig sind, um diesen Auftrag zu erfüllen«, sagte sie in die Runde, »aber nicht als Inquisitorin, was die Völker der Außenwelten nur noch mehr gegen uns aufbringen würde, sondern in meiner Eigenschaft als Mitglied dieses Rates.«

»Und du glaubst, damit Erfolg zu haben?«, fragte Harona.

»Geschulte Sinne und ein wacher Verstand vermögen die Wahrheit eher ans Licht zu bringen als nackte Furcht.«

»So hast du nicht immer gedacht.«

»Aber heute denke ich so«, beharrte Cedara und wandte sich den anderen numeratae zu. »Wer von uns beiden also soll gehen?«

Ratlosigkeit sprach aus den Augen der Ratsschwestern. Eine jede von ihnen wusste genau, worauf Cedara angespielt hatte und weshalb vieles dagegen sprach, Harona mit jener Mission zu betrauen. Aber nicht eine von ihnen hatte den Mut, dies offen auszusprechen.

»Ich habe nachgedacht«, vermeldete die Anführerin der Gilde bedächtig, »und in meiner Weisheit habe ich beschlossen, dass Cedara gehen soll.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte Harona nur und verbeugte sich tief – die Tatsache, dass sie auf jeden Widerspruch verzichtete, machte deutlich, dass Cedara richtig vermutet hatte.

Es war eine Falle gewesen.

Und sie war blindlings hineingetappt …

»Euer aller Fähigkeiten und Vorzüge habe ich wohl abgewogen«, fuhr die Erhabene Schwester leise fort, »Cedaras Gabe jedoch, stets die Mitte zu finden zwischen Vernunft und Gefühl, scheint mir am besten geeignet, um diese schwere Aufgabe zu lösen. Die Schuldigen müssen gefunden werden, und das möglichst rasch.«

»Wie Ihr es wünscht, Erhabene Schwester«, sagte Cedara und verbeugte sich ebenfalls – was hätte sie sonst auch tun sollen? »Jedoch bitte ich Euch zu bedenken, dass ich eine Schülerin habe, die kurz davor steht, die Windweihe zu empfangen. Wenn Ihr es erlaubt, so werde ich sie für die Zeit meiner Abwesenheit in die Obhut einer anderen Meisterin geben.«

»Das wäre nicht ratsam«, wandte Schwester Vana ein. »Die Ausbildung zur Levitatin darf nicht unterbrochen, das Band zwischen Euch und Eurer Schülerin nicht durchtrennt werden.«

»Dann soll deine Schülerin dich begleiten«, schlug Harona unverblümt vor. »Welche Schule könnte besser sein als die der rauen Wirklichkeit?«

»Du willst Kalliope dem Schutz der Gemeinschaft entreißen? Ausgerechnet jetzt?« Cedara sah die Ratssprecherin herausfordernd an. »Würdest du das auch deiner eigenen Schülerin zumuten?«

Erneut formten Haronas Lippen ein dünnes Lächeln. »Wenn es ihrem Vorankommen diente – warum nicht?«

»Es ist entschieden«, gab die Erhabene Schwester bekannt, mit einer Endgültigkeit, die jeden Widerspruch zum Frevel gemacht hätte. »Deine Schülerin wird dich begleiten, Cedara. Jedoch darfst du ihr die wahre Natur eurer Mission erst enthüllen, wenn ihr am Ziel eurer Reise angelangt seid. Zudem werdet ihr Ethera nachts und in aller Heimlichkeit verlassen. Nichts von dem, was hier gesprochen wurde, darf vorher nach außen dringen.«

»Ja, Erhabene Schwester«, bestätigte Cedara und verbeugte sich. »Wie Ihr wünscht.«

»Ich danke euch, Schwestern«, drang es aus dem leuchtenden Inneren des Zeltes. »Geht nun, die Beratung hat mich geschwächt und ich muss ruhen. Nur Harona und Cedara bitte ich, noch zu bleiben.«

»Wie Ihr wünscht, Erhabene Schwester.«

Graia, Vana und die übrigen numeratae beugten die Häupter, dann schlugen sie die Roben ihrer Kapuzen wieder herauf, und sie gingen so lautlos, wie sie gekommen waren, elf schweigende Gestalten. Ihre Feuerschiffchen verließen den Boden und folgten ihnen, sodass es merklich dunkler wurde in der Höhle. Nur noch das Zelt sowie die beiden verbliebenen Fackeln verbreiteten unstetes Licht, das einen beständigen Kampf gegen die umgebende Dunkelheit zu führen schien.

»Kommt näher«, verlangte die Erhabene Schwester.

Cedara und Harona leisteten der Aufforderung Folge. Dabei konnten sie, wie schon bei ihrer Ankunft, den Widerstand spüren, der sich ihnen entgegenstellte und der nun, da sie sich dem Zelt noch weiter näherten, zu körperlichem Schmerz wurde. Cedara merkte, wie ihr Schweiß auf die Stirn trat. Unruhe erfüllte sie, die ihr inneres Gleichgewicht bedrohte.

»Näher«, forderte die Erhabene Schwester unbarmherzig.

Cedara streifte Harona mit einem Blick. Auch ihr war anzusehen, dass ihr die Präsenz der Erhabenen Schwester zusetzte.

Die beiden numeratae bemühten sich, sich weder den Schmerz anmerken zu lassen, der mit der Wucht eines Schraubstocks auf ihre Schläfen drückte, noch die Überwindung, die es sie kostete, die Eingangsplane des Zeltes beiseitezuschlagen und einzutreten. Feuchtwarme, von Kräutergeruch durchsetzte Luft schlug ihnen entgegen, die von Dampfschwaden durchsetzt war, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Erst als die beiden Schwestern weiter vortraten, klärte sich die Sicht – auf den Anblick, der sie jenseits der Schleier erwartete, waren sie jedoch nicht gefasst. Der Zustand ihrer Anführerin hatte sich seit ihrem letzten Besuch dramatisch verschlechtert, die Verwandlung war weiter vorangeschritten.

Unumkehrbar.

Unaufhaltsam.

»Seht mich nicht so an«, verlangte die Erhabene Schwester mit ihrer wispernden Stimme, die in solch krassem Gegensatz zu ihrer Erscheinung stand. »Ihr wusstet, was geschehen würde.«

»Das ist wahr«, gab Cedara zu. »Jedoch Euch so zu sehen …«

»Es ist der Preis für das, was ich bin. Doch ich habe euch nicht zu mir gerufen um eures Mitleids willen, sondern weil ich euch etwas mitzuteilen habe. Ich hätte wissen müssen, dass eine unserer Mitschwestern gewaltsam zu Tode kommen würde, denn ich war gewarnt.«

»Wir alle waren gewarnt«, versicherte Harona. »Wären wir den Animalen gegenüber nicht so nachlässig gewesen …«

»So meine ich es nicht«, wandte die Anführerin der Schwesternschaft ein und hob abwehrend die kurzen Arme. »Vor einigen Wochen hatte ich einen Traum. Darin sah ich, wie eine Schwester unserer Gemeinschaft grausam ermordet wurde, aber weder konnte ich ihr Gesicht erkennen noch den Ort des Verbrechens. Ich wusste nicht, was ich von jenem Traum halten sollte – bis du, Harona, mir die Nachricht vom Tod Schwester Glennaras überbrachtest. Von diesem Augenblick an wusste ich, dass es die Zukunft war, die ich gesehen hatte.«

»Ihr … habt die Gabe der Prophetie erlangt?«, erkundigte sich Cedara vorsichtig. Gelegentlich kam es vor, dass Gildeschwestern über die Fähigkeit der Levitation hinaus auch noch andere Begabungen entwickelten, darunter auch jene der Hellsicht – doch sie taten es stets erst am Ende ihres Lebens, wenn die Schatten der ewigen Nacht bereits begannen, sich über sie zu breiten …

Die Erhabene Schwester wog das entstellte, unförmig gewordene Haupt. »Ich werde diese Welt bald verlassen«, stellte sie mit erschreckender Nüchternheit fest, »und ich will nicht gehen, ohne euch zu warnen.«

»Uns zu warnen?« Harona hob eine Braue. »Wovor?«

»Glennaras Tod war nicht alles, was ich gesehen habe. Jordråk war erst der Anfang, und es gibt nichts, was wir dagegen tun können. Mehr Blut wird fließen, der Krieg wird über uns kommen, und eine Zeit der Finsternis wird anbrechen. Aufruhr und Revolte werden das Sanktuarion in Flammen setzen, und die Welten, wie wir sie kennen, werden untergehen.«

»Ihr … sprecht vom letzten Kampf«, sagte Cedara vorsichtig. »Vom Ende der Zeiten.«

»Doch wenn dies geschieht, werde ich nicht mehr am Leben sein – und es ist an euch beiden, meine Nachfolge anzutreten.«

»Welche von uns?«, wollte Harona wissen.

»Diese Frage habe auch ich mir wieder und wieder gestellt: Welche von euch beiden wird am ehesten in der Lage sein, unsere Gemeinschaft durch diese dunklen Zeiten zu führen?« Die Erhabene Schwester keuchte, ihr Atem ging rasselnd und schwer. »Ich erinnere mich, wie ihr einst wart. Gemeinsam seid ihr nach Ethera gekommen, erst sehr viel später als die meisten, und habt eure Ausbildung begonnen. Sorores facto animoque – Schwestern in der Tat und im Geiste …«

»Das ist lange her«, bemerkte Harona kühl. »Seither ist viel geschehen.«

»Vieles, das euch geprägt hat«, stimmte die Anführerin der Gilde zu, »und vieles, das euch trennt. Du, Cedara, würdest die Schwesternschaft mit Nachsicht führen, du, Harona, mit Disziplin. Da ich trotz meiner Gabe nicht zu sagen vermag, welches von beiden uns in jener dunklen Zukunft besser dienen wird, ist die Entscheidung über meine Nachfolge zugleich auch eine Entscheidung über das Schicksal der Gilde. Lange habe ich mit mir gerungen und die Urmutter um Weisheit gebeten – und endlich wurde sie mir zuteil.«

»Und?«, fragte Harona nach. »Zu wessen Gunsten habt Ihr Euch entschieden?«

»Zu euer beider – oder für keinen von beiden«, entgegnete die Erhabene Schwester rätselhaft. »Ich werde mein Amt an euch beide übergeben. Auf diese Weise ist alles vereint, Milde und Disziplin, Weisheit und Strenge.«

»Aber … das ist unmöglich«, wandte Cedara ein. Die Aussicht, zum Oberhaupt der Gilde ernannt zu werden, bestürzte sie. Nie hätte sie mit einer solchen Entwicklung gerechnet, und der bloße Gedanke der Verantwortung, die auf den Schultern einer Erhabenen Schwester ruhte, ließ sie erschaudern. Jedoch entsetzte sie die Vorstellung, sich dieses Amt mit Harona teilen zu müssen, noch ungleich mehr.

»Nichts ist unmöglich, wenn guter Wille am Werk ist«, zitierte die Erhabene Schwester den Codex. »Ihr werdet eure Differenzen überwinden und wieder Schwestern sein wie einst – das Überleben der Gilde hängt davon ab.«

Cedara biss sich auf die Lippen. Der Widerspruch lag ihr auf der Zunge, zusammen mit einem Dutzend Argumenten, die belegen sollten, dass die Anführerin der Gilde Unmögliches verlangte – aber sie schwieg. Auch in der Vergangenheit hatte es Zeiten gegeben, da zwei Erhabene Schwestern das Schicksal der Gilde gelenkt hatten, Zeiten der Krise und des Neubeginns. Und wenn sich bewahrheitete, was die Visionen von der Zukunft gezeigt hatten, so standen der Schwesternschaft genau solche Zeiten bevor.

»Ich verstehe«, sagte Cedara deshalb nur.

»Harona?«

»Ich bin einverstanden«, erklärte die Sprecherin des Schwesternrates ohne Zögern.

»Dann habt ihr mein Herz soeben um eine schwere Bürde erleichtert.«

»Soll ich es den Schwestern sagen?«

»Noch nicht, Harona. Der Augenblick, da sie all dies erfahren werden, naht ohnehin mit beängstigender Schnelle. Gönne ihnen noch diese kurze Zeit des Friedens und des Gleichgewichts. Es wird nicht mehr lange währen.«

»Wie Ihr wünscht.«

»Geht jetzt und stärkt euren Geist für die Aufgaben, die vor euch liegen«, entgegnete die Erhabene Schwester, die sich nicht länger aufrecht halten konnte und erschöpft auf ihr Lager niedersank. Ihre Augen wurden glasig und nahmen einen entrückten Ausdruck an. »Uns allen stehen Zeiten der Prüfung bevor. Dunkelheit senkt sich über die Welt, das Nox … Der letzte Kampf steht bevor, das Ende der Welten. Und wir, die Schwestern der Gilde, müssen obsiegen.«

2. Kapitel

Es lag eine gewisse Ironie darin, dass das Wirtshaus »Zum Feuerkürbis« hieß. Denn der flackernde Schein jener orangefarbenen, wagenradgroßen Früchte, die von den großen Bäumen hingen und deren ölhaltiges Fleisch überall in Shantanpur dazu benutzt wurde, auch die dunkelste Nacht zum Tag zu machen, drang nicht bis in jenen finsteren Winkel, in dem sich die Schenke befand. Das war allerdings durchaus beabsichtigt, denn der »Feuerkürbis« war bekannt dafür, eine Sammelstätte all jener zu sein, die Grund hatten, das helle Licht zu meiden.

Croys fellbewachsene Züge verzerrten sich vor Abscheu, als er über die Schwelle trat. Der Gestank, der ihm entgegenschlug – eine widerwärtige Mischung aus Fusel, Rauch, Pisse und Schweiß –, war eine Beleidigung für seinen ausgeprägten Geruchssinn. Viel lieber hätte er sein Geld in eines der Wirtshäuser in den oberen Regionen Shantanpurs getragen, dorthin, wo der Brandsaft weniger gepanscht war und die Luft weniger von Pilzrauch geschwängert. Aber das, was er brauchte, würde er nur hier unten finden. Nicht in den Kronen der riesigen Shantik-Bäume, über deren mächtige Äste sich die Stadt erstreckte, sondern an deren Fuß, im Bodensatz von Madagor.

Croy brauchte keine zwei Augenblicke, um zu erkennen, dass sich seit seinem letzten Besuch nichts geändert hatte. Die Nischen, die sich entlang der Wände reihten, waren noch immer mit abgerissenen Gestalten besetzt, die billigen Fusel schluckten oder mit entrückten Mienen den Pilztabak rauchten, den der Wirt ihnen verkaufte; am Tresen lungerten noch immer grobschlächtige Kerle, Tauriden und andere, die Streit suchten und nur darauf warteten, einem Ahnungslosen die Hörner in die Eingeweide zu rammen; und auf der kleinen Bühne in der Mitte der Spelunke tanzte eine Menschenfrau, die nichts als ihr Sklavenhalsband am Leibe trug, zu den schrägen Klängen, die ein Kröterich seiner Flöte entlockte. Die Auswölbungen an seinem Hals blähten sich dabei unaufhörlich.

Croy verzog abermals das Gesicht.

In der Tasche seines Rocks kramte er nach einem Geldstück. Anderswo in der Stadt hätte man dafür nicht einmal ein Kaublatt bekommen, hier genügte es für einen gut gefüllten Krug. Vorausgesetzt, dass man bezüglich des Inhalts keine Ansprüche stellte.

Durch einen Pulk betrunkener Halbkreaturen, deren Ursprünge sich nur mehr erahnen ließen, bahnte er sich einen Weg zu einem kleinen Tisch, der noch unbesetzt war und von dem aus sich die Umgebung gut im Blick behalten ließ. Ein schmächtiger junger Mensch, der wie die Tänzerin das lederne Sklavenband um den Hals hatte, wischte den Tisch mit dem Saum seines schmutzigen Hemdes ab. »E-Euer Wunsch?«, erkundigte er sich dann in der Allgemeinsprache, die er einigermaßen flüssig zu beherrschen schien.

»Bier«, sagte Croy nur, worauf der Junge in den Dunstschwaden verschwand, die wie dichter Nebel über dem Schankraum hingen.

Aufmerksam, die gelbgrünen Augen zu Schlitzen verengt, spähte Croy umher. Am Tresen waren zwei Tauriden inzwischen in eine heftige Auseinandersetzung verwickelt, die ein langohriger Leporide noch zusätzlich anzustacheln schien. Die Tänzerin hatte ihre Darbietung beendet, dafür waren einige Gäste auf die Bühne gesprungen und vollführten unter dem Einfluss von Alkohol und Pilztabak wilde Verrenkungen.

Croy verachtete sie.

In seinen Augen waren sie Feiglinge. Schwache Geister, die es vorzogen, sich in den Rausch zu flüchten, statt sich der Wirklichkeit zu stellen. Unter ihnen würde er keinesfalls finden, wonach er suchte, da war er sich ganz sicher.

Der Sklave kehrte zurück, einen Krug Bier im Arm, der von gelbem Schaum gekrönt wurde. Auch wenn er nur ein Mensch war – der Junge hatte etwas an sich, das Croys Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht war es das kurz geschorene schwarze Haar, das sein markantes Haupt betonte, vielleicht die stahlblauen, aufmerksamen Augen, die nicht recht zu seiner schmächtigen Postur und seiner unterwürfigen Haltung zu passen schienen.

Croy nickte dem Jungen zu und legte ein Kupferstück als Bezahlung auf den Tisch. Der Sklave nahm es und prüfte seine Echtheit, dann ließ er es in dem Beutel verschwinden, den er am Gürtel trug. Sodann verschwand er wieder, und Croy trank von dem Bier. Es war warm und schal und schmeckte nach Elefantendung. Und vermutlich, dachte Croy missmutig, war das auch eine der Zutaten.

Plötzlich gab es ein lautes Klirren.

»Was fällt dir ein?«, zeterte jemand. »Bist du völlig von Sinnen? Willst du elender Menschenfott mich ruinieren?«

Auf der anderen Seite der Schenke, wo der Tresen endete und sich der Durchgang zur Küche befand, gab es Tumult. Zuerst dachte Croy, dass es der streitsüchtige Leporide wäre, der so lautstark lamentierte, aber das war nicht der Fall – das Langohr war noch immer mit den beiden Tauriden beschäftigt. Stattdessen war ein kleinwüchsiger Chamäleonid auf ein Fass gesprungen und gebärdete sich dort wie von Sinnen. Die Krallenhände zu Fäusten geballt, hüpfte er zeternd auf und ab, während sein Hals sich aufblähte und seine Schuppenhaut sich vor Ärger braun verfärbte; seine halbkugelförmigen Augen blitzten zornig, und es sah aus, als wollten sie vollends aus den Höhlen treten.

Croy kannte den Kerl.

Sein Name war Jago, und er war der Inhaber des »Feuerkürbis«.

»Elender Tölpel!«, tobte der Chamäleonid weiter. »Jede Nacht ist es dasselbe Theater, ich verliere allmählich die Geduld mit dir!«

Erst jetzt konnte Croy sehen, auf wen sich Jagos Zorn richtete. Es war der junge Sklave, der seinen Tisch gewischt und ihm das Bier gebracht hatte. Offenbar war er von irgendwem angerempelt worden und hatte einen Tonkrug fallen lassen, der daraufhin zu Bruch gegangen war. In der drückenden Enge der Spelunke war das nicht weiter verwunderlich. Jago jedoch schien nicht in nachsichtiger Stimmung zu sein.

»V-verzeiht, Herr«, murmelte der Junge, während er über den Boden kroch und die Scherben aufzusammeln versuchte. Dabei schnitt er sich die Finger blutig, aber seinen gestrengen Herrn kümmerte das nicht.

»Ich habe dir schon viel zu oft verziehen«, plärrte er, »nun ist es genug! Wenn du nicht hören willst, dann muss Brutor dich eben Ordnung lehren!«

»N-n-nein, Herr«, stammelte der Junge, »bitte nicht« – aber es war bereits zu spät. Einer der riesigen Tauriden löste sich vom Tresen, ein grobschlächtiger Hüne, auf dessen Armen sich Muskelberge türmten. Sein schwarzes Fell glänzte vor Schweiß, sein lederner Rock war blutbesudelt. Die Tatsache, dass sein rechtes Horn abgebrochen war, ließ vermuten, dass er schon häufig in Kämpfe verwickelt gewesen war – vermutlich ein ehemaliger Söldner oder Grubenkämpfer, der jetzt für Jago als Rausschmeißer arbeitete.

Heißen Dampf aus den Nüstern stoßend, trat er in den Kreis der Schaulustigen, der sich im Nu gebildet hatte. Wenn es etwas gab, das die Gäste im »Feuerkürbis« noch mehr schätzten als billigen Fusel und Pilztabak, dann war es die Aussicht auf Blut. Das Gemurmel, das eben noch den Schankraum erfüllt hatte, hatte sich gelegt. Aller Augen (mit Ausnahme derer, die im Rausch von Fusel und Pilztabak schwammen) richteten sich auf den Jungen.

»B-bitte n-nicht, Herr«, flehte dieser abermals, noch immer auf dem Boden kauernd. Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte er zu dem Tauriden auf, der sich drohend wie ein Ungewitter über ihm aufbaute.

»Verpasse ihm eine ordentliche Tracht Prügel, Brutor«, wandte sich Jago an den Tauriden. »Brich ihm die Knochen, wenn du willst, aber lass ihn am Leben, hörst du? Vergiss nicht, dass er mein Eigentum ist.«

Der Tauride schnaubte eine Bestätigung, dann beugte er sich zu dem Jungen hinab, packte ihn an seinem Sklavenhalsband und riss ihn zu sich empor. Der Mensch schrie vor Angst, als er den Boden unter den Füßen verlor. Mühelos hob Brutor ihn in die Luft. Die Menge grölte begeistert, jeder wollte sehen, wie der Mensch grün und blau geprügelt wurde.

Mit einer Ausnahme.

»Lass den Jungen los.«

Croy hatte seinen Platz am Tisch verlassen und stand nun unmittelbar hinter dem Tauriden. Der schnaubte geräuschvoll, dann wandte er sich langsam zu ihm um, wankend vor ungebändigter Kraft.

»Was?«, fragte er nur. Seine Augen rollten in den Höhlen.

»Ich habe gesagt, du sollst den Jungen loslassen«, wiederholte Croy, auf den Menschen deutend, den der Tauride noch immer in der Luft hielt.

»Sonst?«, erkundigte sich Brutor genüsslich. Der heiße Atem, der aus seinen Nüstern quoll, roch faulig.

»Sonst wird es dir leidtun«, antwortete Croy, wobei er jedes einzelne Wort betonte.

Im Schankraum hatte sich freudige Erwartung breitgemacht. Jeder wusste, dass es mehr als unklug war, sich einem Tauriden in den Weg zu stellen. Noch mehr Blut würde fließen, daran gab es keinen Zweifel.

Brutor stieß etwas aus, das wohl Gelächter sein sollte. Erneut fuhr weißer Dampf aus seinen Nüstern, sein Maul dehnte sich zu einem Grinsen, während er das Haupt bedrohlich neigte.

Als Erwiderung bleckte Croy die Zähne und ließ ein Knurren vernehmen. Gleichzeitig schlug er seinen Umhang zurück und entblößte die beiden Klingen, die er so vor der Brust trug, dass sie einander kreuzten, jedoch unternahm er keine Anstalten, sie zu zücken.

»Was soll das, Fremder?«, rief Jago von seinem Fass herab. »Willst du dein Fell riskieren wegen eines Menschen?«

Croy bedachte zuerst das Chamäleon, dann den Jungen mit einem prüfenden Blick. Er konnte den stummen Hilferuf in den Augen des Menschen erkennen, so wie er die Arglist in Jagos zornverzerrter Miene erkannte.

»Lasst den Jungen gehen«, sagte er noch einmal.

»Herr?«, fragte Brutor nur.

Jago machte ein abfälliges Geräusch, zu dem er seine lange Zunge flattern ließ. »Wenn er nicht hören will, muss er eben fühlen«, erklärte er und zuckte gleichmütig mit den schmalen Schultern. »Stopf dem Fremden das Maul, er hat es nicht anders verdient.«

Der Tauride nickte bereitwillig und senkte das Haupt noch weiter, bereit, den aufsässigen Fremden zu durchbohren – doch der war bereits nicht mehr da.

Croy hatte die Unaufmerksamkeit seines Gegners genutzt, um in dessen Rücken zu gelangen. Mit einer fließenden Bewegung zückte er die beiden Klingen und brachte dem Tauriden zwei Schnittwunden am Oberarm bei. Überrascht ließ Brutor den Jungen los. Mit einem Aufschrei landete der auf dem Boden, raffte sich jedoch sofort wieder auf die Beine.

»Lauf«, raunte Croy ihm zu, während Jago auf seinem Fass Gift und Galle spuckte.

»Das reicht!«, brüllte er. »Mach ihn fertig, Brutor! Bring den Katzmann um! Quetsch ihm die Eingeweide raus!«

Das ließ sich der Tauride nicht zweimal sagen. Die Schnittwunden an seinem linken Arm spürte er wohl kaum, aber seine Eitelkeit war gekränkt, und er brannte darauf, es seinem Gegner heimzuzahlen. Sehr viel schneller, als es einer Kreatur seiner Form und Masse zuzutrauen war, wirbelte er herum, und seine riesigen Fäuste schlugen so blitzschnell zu, dass Croy kaum ausweichen konnte.

Der linken Faust entging er, indem er sich blitzschnell duckte, die rechte traf ihn mit der Wucht eines Schmiedehammers. Er taumelte zurück und verlor das Gleichgewicht, fand sich auf dem Boden wieder, wo er jedoch nicht lange blieb. Die wutverzerrte, von Hörnern gekrönte Miene des Tauriden erschien über ihm, während seine Pranken ihn an den Schultern packten und in die Höhe rissen.

»Tot«, beschied ihm der Koloss, während die Menge begeistert Beifall klatschte. »Tot.«

Croy entsann sich der Tatsache, dass er die beiden Dolche noch immer in den Händen hielt, doch der Griff, mit dem Brutor ihn umklammerte, war so erbarmungslos, dass er seine Arme nicht bewegen konnte. Hilflos wie ein Fisch auf dem Trockenen zappelte er in den Pranken des Tauriden, der ihn, wie es unter seinesgleichen üblich war, zunächst auf den Boden schmettern, dann mit den Hörnern durchbohren und schließlich unter seinen Hufen zertrampeln würde.

Vorausgesetzt, man ließ es dazu kommen.

Unter wütendem Gebrüll und begleitet vom Johlen der Menge holte Brutor aus, um Croy mit aller Macht auf die morschen Dielen zu werfen – doch er hatte nicht mit der Schnelligkeit seines Gegners gerechnet. Kaum hatte er Croy losgelassen, warf dieser sich in der Luft herum und fing den Sturz ab, indem er federnd auf allen vieren landete. Unter heiserem Gebrüll sprang er auf, ließ die beiden Klingen wirbeln und hieb so rasch zu, dass kaum einer der Schaulustigen mitbekam, was geschah. Am allerwenigsten Brutor selbst, der breitbeinig dastand und auf den blutigen, unförmigen Haufen Fleisch starrte, der plötzlich unter ihm auf dem schmutzigen Boden lag.

»Sieh an«, knurrte Croy, der ungerührt vor ihm stand, »aus dem Stier ist ein Ochse geworden.«

Damit schob er die beiden Klingen in die Futterale zurück, und ohne seinen Gegner noch eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt er an den verblüfften Zuschauern, deren Gegröle jäh geendet hatte, vorbei zur Tür. Dort traf er auf den Sklavenjungen, der zitternd am Boden kauerte und nicht zu wissen schien, wohin.

»Willst du frei sein?«, fragte Croy und hielt ihm die rechte Krallenhand hin. »Dann komm mit mir.«

Der Junge, der völlig verängstigt schien und am ganzen Körper bebte, starrte ihn unentschlossen an – als der Tauride zusammenbrach. Mit fürchterlichem Getöse ging der Verstümmelte nieder und riss noch einen Teil des Tresens dabei mit. Fässer stürzten um, Krüge gingen zu Bruch. Eine Staubwolke stieg auf, aus der das Haupt des wütenden Jago ragte.

»Da sind sie!«, keifte er, als er Croy und den Jungen erblickte. »Haltet sie, sie dürfen nicht entkommen! Wer sie mir bringt, kriegt ein ganzes Fass vom besten Gesöff!«

Auf ein solches Angebot hatten die Gäste des »Feuerkürbis« nur gewartet. Jeder von ihnen wäre bereit gewesen, für ein Fass Bier zu morden, und so waren von einem Augenblick zum anderen überall blanke Klingen zu sehen, die nach Blut lechzten.

»Weg hier«, sagte Croy nur, und ohne die Entscheidung des Jungen abzuwarten, packte er ihn und stieß ihn zur Tür hinaus, er selbst folgte auf dem Fuß.

Die schwülwarme, von Feuchtigkeit durchsetzte Nachtluft Madagors empfing sie, doch sie kamen nicht zum Durchatmen. Eine grobschlächtige Gestalt setzte aus der Finsternis heran, einer von Jagos Türstehern.

Croys katzenhafte Reflexe sprachen augenblicklich an, und so entging er der mörderischen, mit eisernen Stacheln versehenen Keule, die der Angreifer nach ihm schwang. Es war ein Menschensklave, ein feister Bursche, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Tumbe Einfalt sprach aus seinen winzigen Augen. Wütend fuhr er herum und wollte abermals zuschlagen – Croy sprang senkrecht in die Luft und brachte ihm einen Tritt vor die Brust bei, der ihn zurücktaumeln ließ. Mit markigem Knacken brach das Geländer, das den Steg begrenzte, und ein dumpfes Platschen erklang, als ein Sumpfloch den Schläger verschlang.

In diesem Moment flog die Tür der Spelunke auf, und die mordlüsterne Meute erschien. In ihrer Gier auf die Belohnung hinderten sich die Verfolger jedoch gegenseitig daran, die Tür zu passieren, sodass Croy Zeit blieb zur Flucht. Anstatt jedoch einfach dem hölzernen Steg zu folgen, der über Brücken und Leitern in die weniger zwielichtigen Regionen Shantanpurs hinaufführte, blickte er senkrecht nach oben, wo sich ein dichtes Gewirr von Zweigen und Ästen in der Dunkelheit verlor.

»Halt dich fest.« Er packte den Jungen und lud ihn sich auf den Rücken. Dann sprang er mit einem kräftigen Satz senkrecht empor, krallte sich an einem der Äste ein und zog sich mühelos hinauf. Just in diesem Augenblick platzte der Knoten der sich gegenseitig behindernden Verfolger.

Unter dem enormen Druck der nachdrängenden Massen brach die Tür aus den Angeln, und die geifernde Meute quoll hinaus in die Nacht.

Croy hörte ihr wütendes Geheul, während er immer weiter hinaufkletterte. Geschickt sprang er von einem Ast zum nächsten, während sich der junge Mensch angstvoll an ihn klammerte. Erst nachdem er eine beträchtliche Distanz zwischen sich und Jagos Spelunke gebracht hatte, gönnte Croy sich und dem Jungen eine Pause.

Auf einem Ast, der so breit war, dass ein Fuhrwerk darüber hätte fahren können, lud er den noch immer zitternden Menschen ab. Croy hatte wenig Übung darin, menschliche Mimik und Gesten zu deuten, aber er nahm an, dass der Junge verwirrt war und Angst hatte, und er konnte es ihm nicht verdenken.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er deshalb und gab sich Mühe, ruhig zu sprechen. »Hier werden sie uns nicht finden. Du bist in Sicherheit.«

Der Junge starrte ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Ihr habt mich ger-ger-ger-ger…«

»Gerettet.« Croy nickte. »Ganz recht.«

»Warum?« Die stahlblauen Augen des Jünglings blickten ihn fragend an. »Wa-wa-was wollt Ihr dafür?«

Croy lachte freudlos auf. Auch wenn der Knabe noch keine zwanzig Zyklen alt war – als Jagos Leibeigener schien er bereits gelernt zu haben, dass man im Leben selten etwas geschenkt bekam.

»Ich möchte, dass du mir hilfst.«

»Ich?« Die blauen Augen weiteten sich.

Croy nickte. Hätte man ihm noch am Morgen gesagt, dass er mit einem halbwüchsigen Sklaven im Gepäck zurückkehren würde, hätte er es für einen schlechten Scherz gehalten. Aber bisweilen beschritt das Leben eben seltsame Wege.

»Und w-was sssoll ich für Euch tun?«

»Das wirst du noch erfahren«, versicherte Croy und deutete auf das lederne Band, das um den Hals des Jungen lag. »Du wirst tun, was ich verlange, und ich werde dir dafür helfen, dieses Ding loszuwerden. Einverstanden?«

Der Junge brauchte nicht lange nachzudenken.

»Einverstanden«, erwiderte er.

»Wie ist dein Name?«

Der junge Mensch zögerte einen Augenblick.

»K-K-Kieron«, erwiderte er dann.

3. Kapitel

Es war die Nacht vor der Abreise.

Die Nacht vor dem Aufbruch.

Kalliope lag wach in ihrem Bett, die Augen zum aus feiner Seide gewobenen Himmel gerichtet, der sich darüber spannte. So oft hatte sie hier gelegen und diesen Ort als den Inbegriff von Geborgenheit empfunden, von Trost und Frieden. Sie hatte es geliebt, sich vom Gesang des Windes in den Schlaf wiegen zu lassen, der sanft um die Türme Etheras strich, und von den Stimmen der musae, die vom artificium heraufdrangen. In dieser Nacht jedoch schien der Wind ein anderes Lied zu singen, das von Ferne und Ungewissheit kündete; die Musen waren verstummt, und selbst jene vertrauten Wände, die Kalliope über die letzten sieben Jahre hinweg Heim und Zuflucht gewesen waren, vermochten ihr keinen Trost mehr zu spenden.

Es ging fort.

Fort von Ethera.

Fort von der Gilde.

Fort von der Gemeinschaft, die ihr Halt gegeben hatte, wann immer sie seiner bedurft hatte, hinaus in die Fremde.

Jordråk.

Schon der Klang des Namens ließ Kalliope erschaudern. Noch bis vor wenigen Tagen hatte sie den Namen jener Welt, nach der ihre Meisterin und sie entsandt werden sollten, nie vernommen; seit er zum ersten Mal gefallen war, hörte sie jedoch kaum noch etwas anderes. Und was sie über jenen fernen Weltensplitter erfahren hatte, erfüllte sie mit Unbehagen.

Und mit Furcht.

Nicht nur, dass Schnee und immerwährende Kälte jene Welt überzogen, die am Rand der Polregion lag; nicht genug damit, dass sie von kriegerischen Barbaren bevölkert wurde und blutrünstige Bestien in ihren Eiswüsten lauerten; eine Schwester der Gilde war dort auch auf geheimnisvolle Weise verschwunden, und es oblag Kalliopes Meisterin Cedara, diesen unheimlichen Vorfall vor Ort zu untersuchen.

So sehr Kalliope die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung einleuchtete, so sehr fragte sie sich, weshalb ausgerechnet ihre Meisterin damit betraut worden war. Gewiss, Cedara war eine Gildeschwester ersten Ranges, die die Windweihe schon vor langer Zeit empfangen hatte und dem Rat der numeratae angehörte. Aber sie war vor allem eine Levitatin und verfügte über keinerlei Erfahrung, was den Umgang mit derlei Vorfällen betraf; Kalliope war überzeugt davon, dass sich ein vom König bestellter Legat der Angelegenheit um vieles geschickter und wohl auch effektiver hätte annehmen können – und vor allem hätte sie selbst dann nicht die Sicherheit und Annehmlichkeit der Gildewelt verlassen müssen.

Noch nicht, jedenfalls.

Natürlich wäre der Tag des Aufbruchs ohnehin irgendwann gekommen, wenn Kalliope bereit gewesen wäre, sich der Herausforderung der levitatio zu stellen und sie als missa der Gilde auf eine andere Welt versetzt worden wäre. Aber ganz sicher wäre sie dann nicht bis in die Polregion gereist, in Gefilde, die im Grunde genommen jenseits aller Zivilisation lagen. Menschen und Animalen lebten dort zusammen, und die Geschicke wurden von roher Gewalt bestimmt. Was, bei Ayona, hatte die Erhabene Schwester nur dazu bewogen, Cedara dorthin zu entsenden? Und warum musste Kalliope ihrer Meisterin bis ans buchstäbliche Ende der Welt folgen?

Nicht, dass Kalliope gezögert hätte, ihre Meisterin zu begleiten, doch die Aussicht, die lieblichen Hügel Etheras mit ihren grünenden Gärten und glitzernden Seen gegen die eisige Wildnis einer feindseligen und barbarischen Welt zu tauschen, ängstigte sie. Natürlich sagte sie sich, dass sie derlei Empfindungen nicht hegen durfte und dass es ihr eine Freude sein müsste, im Auftrag des Rates einen solch wichtigen Auftrag zu erfüllen, und natürlich hatte sie bislang niemandem von ihren Ängsten erzählt; doch in dem Widerstreit, den sich ihr Pflichtbewusstsein und ihre tatsächlichen Empfindungen lieferten, drohte ihre Furcht als Siegerin hervorzugehen, und das erschreckte Kalliope beinahe noch mehr als alles andere. Schlimmer noch, je länger sie in ihrer Kammer wach lag und über alles nachdachte, desto deutlicher spürte sie, wie sich ihre Angst in Panik verwandelte. Panik, die so heillos war, dass sich alles darin zu verlieren drohte. Wie ein Untier lauerte sie tief in ihrem Inneren, knurrend und die Zähne fletschend, bereit und willens, sie zu verschlingen …

Furcht ist der natürliche Feind der Levitatin, zitierte sie in Gedanken den codex primarum, jenes Regelwerk, dem unterzuordnen jede Gildeschwester Etheras feierlich geschworen hatte, denn Furcht stört das innere Gleichgewicht. Das innere Gleichgewicht jedoch ist die unabdingbare Voraussetzung für das Erlangen der Reife …

»Kalliope?«

Ihr wurde bewusst, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Sie erschrak, denn es war nicht ihre Absicht gewesen, Prisca zu wecken. Erschrocken sah sie zu ihrer Zimmergenossin hinüber, die wach in ihrem Bett saß. Besorgnis war in ihren blassen, von wirrem rotem Haar umrahmten Zügen zu lesen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

Kalliope nickte, doch zugleich stiegen ihr Tränen in die Augen, die im einfallenden Sternenlicht glänzten.

»Du weinst«, stellte Prisca entsetzt fest.

Kalliope antwortete nicht. Sie ärgerte sich über sich selbst und über ihre kindische Furcht und wischte die Tränen beiseite.

»Ist es der Abschied?«, fragte Prisca so sanft und einfühlsam, dass es wehtat. Erneut blieb Kalliope eine Antwort schuldig, aber die Freundin fühlte auch so, dass sie gebraucht wurde. Kurz entschlossen verließ sie ihr Bett, huschte zu Kalliope und setzte sich zu ihr.