Spuren der Erinnerung - Tabea Petersen - E-Book
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Spuren der Erinnerung E-Book

Tabea Petersen

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Beschreibung

Ein gefühlvoller Familienroman vor der Kulisse einer Kleinstadt im Harz. Tabea Petersen nimmt ihre Leser mit auf die Reise an einen Ort, an dem die Zeit still zu stehen scheint. Als Rebecca aus der Harzer Schmalspurbahn steigt, fühlt sie sich sofort in ihre Kindheit zurückversetzt. Auf den ersten Blick scheint sich in dem Städtchen Harzgerode überhaupt nichts verändert zu haben. Doch der Grund für Rebeccas Rückkehr ist der denkbar schwerste: Gemeinsam mit ihren Schwestern Dorothea und Miriam muss sie die Beisetzung ihrer geliebten Großmutter Emilia organisieren. Deren altes Fachwerkhaus, in dem die Schwestern als Kinder so viele glückliche Stunden verbracht haben, zieht plötzlich auch Verwandte, alte Freunde und neue Bekannte in seinen Bann. Rebecca hofft, endlich mehr über die Vergangenheit ihrer Familie zu erfahren: Wer war ihr Großvater, über den die Großmutter nie gesprochen hat? Warum kann ihre Großtante der verstorbenen Schwester bis heute nicht verzeihen, und was geschah mit Rebeccas Vater, der im Jahr 1988 einfach verschwand? Auf ihrer Reise durch die Vergangenheit muss sich Rebecca bald fragen, wem sie noch vertrauen kann. Auch ihre eigenen Gefühle verwirren sie: Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um eine Jugendliebe wieder aufleben zu lassen, oder geht ihr Herz längst neue Wege? »Spuren der Erinnerung« von Tabea Petersen ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Tabea Petersen

Spuren der Erinnerung

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als Rebecca aus der Harzer Schmalspurbahn steigt, fühlt sie sich sofort in ihre Kindheit zurückversetzt. Auf den ersten Blick scheint sich in dem Städtchen Harzgerode überhaupt nichts verändert zu haben. Doch der Grund für Rebeccas Rückkehr ist der denkbar schwerste: Gemeinsam mit ihren Schwestern Dorothea und Miriam muss sie die Beisetzung ihrer geliebten Großmutter Emilia organisieren. Deren altes Fachwerkhaus, in dem die Schwestern als Kinder so viele glückliche Stunden verbracht haben, zieht plötzlich auch Verwandte, alte Freunde und neue Bekannte in seinen Bann. Rebecca hofft, endlich mehr über die Vergangenheit ihrer Familie zu erfahren: Wer war ihr Großvater, über den die Großmutter nie gesprochen hat? Warum kann ihre Großtante der verstorbenen Schwester bis heute nicht verzeihen, und was geschah mit Rebeccas Vater, der im Jahr 1988 einfach verschwand? Auf ihrer Reise durch die Vergangenheit muss sich Rebecca bald fragen, wem sie noch vertrauen kann. Auch ihre eigenen Gefühle verwirren sie: Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um eine Jugendliebe wieder aufleben zu lassen, oder geht ihr Herz längst neue Wege?

Inhaltsübersicht

ProtagonistenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16EpilogNachwort der Autorin
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»Leise strich sie mir übers Haar, Großmutter erzählte

von der Zeit, als sie jung noch war,

wie sie sich freute und quälte.«

(Mundartgedicht, Verfasser unbekannt)

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Protagonisten

Die Nachkriegsgeneration

 

Emilia Arndt (1937–2018)

Träumt vom Frieden und einer besseren Zukunft. Muss sich später entscheiden zwischen ihrer Heimatverbundenheit und der Liebe ihres Lebens.

 

Elfriede Macke, geb. Arndt (geb. 1934)

Emilias Schwester bemüht sich stets, alle Regeln zu befolgen und alles richtig zu machen. Ist hin- und hergerissen zwischen Eifersucht und Verärgerung über ihre »unmögliche« Schwester.

 

Erika Lindemann (geb. 1936)

Emilias beste Freundin, die im Nachbarhaus wohnt. Ist pragmatisch und hat das Herz am rechten Fleck.

 

Walter Mielczarek (1935-2018)

Flüchtlingsjunge aus Ostpreußen, der mit seiner Mutter bei Emilias Familie einquartiert ist. Emilias Freund und Vertrauter.

 

Hartmut Meyer (geb. 1933)

Sohn eines hohen NS-Funktionärs. Wird später von seiner Großtante adoptiert und nennt sich Hardy. Wird von Emilia und Elfriede gleichermaßen bewundert.

 

Heinrich Macke (1931–2012)

Wird in den letzten Kriegstagen als 14-jähriger Hitlerjunge zum Volkssturm eingezogen. Heiratet später Elfriede.

Die DDR-Generation

Antonia Arndt (1958–2017)

Emilias Tochter, ihren Vater lernt sie nie kennen. Wird Orchestermusikerin und lebt mit ihrem Mann Jürgen und ihren Töchtern Dorothea, Rebecca und Miriam in Leipzig. Stirbt 2017 an Brustkrebs.

 

Amanda-Louise Richter, geb. Macke (geb. 1958)

Genannt Malli. Antonias Cousine, die zeitlebens neidisch auf sie ist. Tochter von Elfriede und Heinrich, Mutter von Aileen.

 

Max Richter (geb. 1957)

Mann von Amanda-Louise, Vater von Aileen. Ist als lustiger Onkel bei Dorothea, Rebecca und Miriam beliebt, ganz im Gegensatz zu seiner Frau und seiner Tochter.

 

Manfred Lindemann (geb. 1959), genannt Fredi

Erikas Sohn, Vater von David.

 

Jürgen Weise (1958–1988)

Antonias Mann, der im Mai 1988 spurlos verschwindet. Nach seinem Verschwinden weigert sich Antonia, über ihn zu sprechen, und nimmt wieder ihren Mädchennamen an.

 

Die Wende-Generation

Dorothea Lessing, geb. Arndt (geb. 1985), genannt Doro

Älteste Tochter von Antonia und Jürgen. Gibt sich als toughe Karrierefrau.

 

Rebecca Arndt (geb. 1987), genannt Becky oder Becks

Mittlere Tochter von Antonia und Jürgen. Pflegte ihre Mutter während ihrer schweren Krankheit und lebt seit deren Tod sehr zurückgezogen. Arbeitet als Maskenbildnerin beim Theater, ist einfühlsam und schüchtern.

 

Miriam Arndt (geb. 1989), genannt Miri

Jüngste Tochter von Antonia und Jürgen, ist temperamentvoll und spontan. Arbeitet als freischaffende Journalistin und lebt in einer lesbischen Beziehung.

 

Aileen Lindemann, geb. Richter (geb. 1985)

Tochter von Amanda-Louise und Max, bemüht sich, den Konkurrenzkampf ihrer Mutter und Großmutter weiterzuführen. Dementsprechend angespannt ist ihr Verhältnis zu Dorothea, Rebecca und Miriam.

 

Enrico Bohse (geb. 1987)

Sohn eines Harzgeröder SED-Funktionärs. Wird als Kind wegen seines »Parteibonzen«-Vaters gemobbt, Rebecca spielt jedoch gern mit ihm. Später gelingt ihm der Aufstieg zum erfolgreichen Geschäftsmann.

 

Thomas Mielczarek (geb. 1986)

Sohn einer polnischen Mutter und eines polnisch-deutschen Vaters. Kommt nach Harzgerode, um etwas über seinen verstorbenen Großvater Walter zu erfahren, und findet heraus, dass dieser der Kindheitsgefährte von Rebeccas Großmutter Emilia war.

 

David Lindemann (geb. 1984)

Aileens Mann und der Enkelsohn von Erika. Ist als Junge eher ein Rowdy und hänselt Enrico Bohse erbarmungslos. Wird als Erwachsener jedoch ein liebevoller Familienvater.

 

Karsten Lessing (geb. 1984)

Dorotheas Mann, ist praktisch veranlagt, ruhig und zuverlässig.

 

Petra Sörensen (geb. 1985), genannt Pit

Miriams Lebensgefährtin, gibt sich frech und burschikos, hat aber das Herz am rechten Fleck.

Die 2000+-Generation

Amira und Annabell Lindemann (geb. 2011)

Zwillingstöchter von Aileen und David, werden von Miriam auch »Prinzessinnenklone« genannt.

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Kapitel 1

Harzgerode, 12. April 2018

Junge Frau, darf ich Ihnen ein Taschentuch anbieten?«

Rebecca blinzelte erschrocken. Kurz zuvor war sie sich, wie so oft während der letzten Stunden, mit dem Jackenärmel über das Gesicht gefahren, um die Tränen fortzuwischen. Mit geschlossenen Augen stand sie auf der schmalen Außenplattform des altertümlichen Eisenbahnwaggons, spürte Sonne und Schatten auf der Haut und den kühlen Fahrtwind, der ihr braunes Haar durcheinanderwirbelte. Nur ab und zu hatte sie kurze Blicke auf die Landschaft und auf den glänzend schwarzen Eisenrumpf der Lokomotive vor ihr geworfen, aus deren Schornstein unermüdlich Dampfwolken quollen.

»Helft – mir – helft – mir!«, schnaufte die Lok an jeder Steigung. »Geht schon besser, geht schon besser«, ratterte es, wenn das Terrain flacher wurde. Schließlich sauste die Bahn mit Volldampf und »Ich schaff es noch, ich schaff es noch!« durch Wiesen und Felder. Rebecca hatte unter Tränen gelächelt. Den Gesang der Schmalspurbahn auf ihren Schienen hatte Oma Emilia sie deuten gelehrt – wie so vieles. Schon als Kleinkinder hatten Rebecca und ihre Schwestern an den Händen der Oma den Unterharz durchstreift: Gernrode, Osterteich, Sternhaus, Mägdesprung, Alexisbad. Die Schilder an der Bahnsteigkante waren Rebecca ebenso vertraut wie die Landschaft, die sie durchquerte: Wiesen, lichte Laubwälder und dämmrige Nadelwälder, geheimnisvolle Felsschluchten, auf deren Grund kleine Bäche sich gurgelnd ihren Weg durch das Gestein bahnten.

Das Licht fiel durch die Baumkronen auf Rebeccas Gesicht, sie spürte die Wärme durch die geschlossenen Lider. So durchquerte sie das Wunderland ihrer Kindheit und weinte. Sie wusste, dass von nun an nichts mehr wie früher sein würde, denn Oma Emilia, die Hüterin der Wunder, war nicht mehr. Ihre Mitreisenden hatte Rebecca nur am Rande wahrgenommen. Bisher hatte niemand sie angesprochen, sodass sie beinahe vergessen hatte, dass sie für die anderen Menschen sichtbar war. Das passierte ihr manchmal.

Jetzt war sie aus ihren Gedanken aufgeschreckt worden: von einer dunklen, vollen Stimme, die zu einem älteren Mann mit weißem Haar und einer Brille im wettergegerbten Gesicht gehörte. Seine Gestalt war breitschultrig, aufrecht und so groß, dass Rebecca zu ihm aufschauen musste. Er musste einmal ein gut aussehender Mann gewesen sein, und das Lächeln verlieh seinem Gesicht noch immer einen verwegenen Charme. Rebecca spürte, wie sie errötete.

»Oh, vielen Dank, aber es geht schon. Ich … «Sie ärgerte sich über ihre Unbeholfenheit und nahm das Taschentuch an. Es war ein blau-weiß kariertes Stofftaschentuch, sorgsam gefaltet, und unter Rebeccas Lidern quollen neue Tränen hervor: Das Tuch sah aus wie die Taschentücher, die Oma Emilia immer bei sich getragen hatte. Es roch sogar genauso, nach Waschpulver, Sonnenwärme und … Geborgenheit.

»Bitte entschuldigen Sie.« Wieder schrak Rebecca zusammen, als die Lokomotive beim Überqueren der Landstraße einen volltönenden Pfiff ausstieß.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Manchmal muss man eben alles rauslassen. Wohl dem, der weinen kann.« Einen Augenblick lang hatte das Gesicht des Fremden einen harten, bitteren Zug angenommen. Er fragte nicht weiter nach, und auch Rebecca schwieg.

Die ersten Häuser von Harzgerode kamen in Sicht, und wenig später hielt die Bahn vor dem schmucken alten Fachwerkgebäude des Bahnhofes: Endstation.

»Vielen Dank.«

Der Fremde schwieg noch immer, als Rebecca das Taschentuch zurückgab und in das Innere des Waggons ging, um ihren Koffer zu holen. Als sie ihren altersschwachen Rollenkoffer aus dem Wagen wuchtete, streckte ihr auf dem Bahnsteig ein junger Mann helfend die Hand entgegen. Wie bei dem älteren Herrn verwirrte auch diese kleine Geste der Hilfsbereitschaft Rebecca im ersten Moment. Doch diesmal gelang es ihr, sich ein Lächeln abzuringen.

»Danke.«

Sie hatte sich schon abgewandt und wollte gehen, als sich der junge Mann räusperte und sie zögernd ansprach.

»Verzeihung, das ist jetzt wohl etwas ungewöhnlich, aber wissen Sie …«

»Ja?« Was wollte der Mann? Offenbar fiel es ihm schwer, damit herauszurücken. Rebecca betrachtete ihn genauer. Er musste etwa in ihrem Alter sein, Anfang dreißig vielleicht, und fast ebenso groß und kräftig gebaut wie der alte Mann. Sein Haar war dunkel, der Pony ein wenig zu lang, das Gesicht markant mit kräftigem Kinn und hohen Wangenknochen. Wie er sie so Verständnis heischend ansah, erinnerte er Rebecca an den jungen Elvis Presley. Dackelblick, dachte sie und machte sich auf einen der üblichen Annäherungsversuche gefasst – den sie selbstverständlich ablehnen würde, höflich, aber eindeutig.

»Ich habe Sie vorhin fotografiert.« Auch das war nicht ungewöhnlich. Rebecca verstand ehrlich gesagt nicht, was Männer in ihr sahen. Wenn sie in den Spiegel blickte, begegnete ihr ein ziemlich unscheinbares Gesicht, schmal und blass mit großen, braunen Augen. Sich selbst schminkte Rebecca selten. Als Maskenbildnerin an einem Theater in Halle lebte sie davon, andere ins Rampenlicht zu rücken.

»Hier, wollen Sie mal sehen? Wenn Sie nicht einverstanden sind, lösche ich die Fotos natürlich sofort«, beeilte sich der junge Mann zu versichern. Er nestelte an seiner teuer aussehenden Kamera und hielt Rebecca das Display vor die Nase. Sie sah ihre eigene Gestalt als Silhouette vor dem Hintergrund der vorbeiziehenden Landschaft, fotografiert aus dem Dämmerlicht des Eisenbahnwaggons heraus. Dann eine Nahaufnahme von ihrem Gesicht, über das aus den halb geschlossenen Augen Tränen rannen. Wahrscheinlich hätte sie darüber wütend sein sollen, dass dieser Fremde sie beobachtet und ihren Schmerz eingefangen hatte, doch sie spürte nur Leere.

»Behalten Sie sie«, sagte sie.

»Ich würde gern mehr Bilder von Ihnen machen. Vielleicht können wir einen Termin vereinbaren? Hier …« Der Mann zog eine leicht zerknitterte Visitenkarte aus seiner Hosentasche.

»Thomas Mielczarek, freier Fotograf«, stand in geschwungenen schwarzen Lettern darauf.

»Ich überlege es mir«, murmelte Rebecca, wandte sich abrupt ab und packte den Griff ihres Rollenkoffers.

»Gut, ich kann warten«, sagte der Mann hinter ihr her.

Als sie einige Schritte gegangen war, schüttelte sie den Kopf über die seltsame Begegnung. Die Visitenkarte wollte sie schon in einen der Papierkörbe am Bahnhofsvorplatz werfen, aber dann steckte sie sie doch in ihre Hosentasche.

 

Ob ihre Schwestern wohl schon angekommen waren? Suchend sah sich Rebecca an den Bushaltestellen um. Miriam hatte vielleicht die S-Bahn-Linie von Leipzig nach Halle genommen und von dort einen der Überlandbusse. Dorothea hingegen würde mit dem Auto anreisen, dessen war sich Rebecca sicher. Erstens hatte die älteste der drei Schwestern aus Köln den weitesten Anfahrtsweg, zweitens konnte sich Rebecca ihre große Schwester nicht in einem öffentlichen Verkehrsmittel vorstellen.

Rebecca ging die Straße hinauf und bog wenig später nach rechts in den Grabenweg ein, einen von hohen Bäumen überschatteten Hohlweg. Das Pflaster unter ihren Füßen war noch genauso uneben wie früher und bereitete ihrem Rollenkoffer Schwierigkeiten, sodass Rebecca nur langsam vorankam, aber das störte sie nicht. In den Gärten zu beiden Seiten des Wegs bellten Hunde und gackerten Hühner. Menschen jedoch begegneten Rebecca nicht.

Als sie in die Augustenstraße einbog, sah sie schon von Weitem die Friedhofsmauer und das braun-weiße Fachwerkhaus daneben. Die Fassade muss dieses Jahr wieder gestrichen werden, dachte Rebecca, bis sie mit einem scharfen Schmerz die Erkenntnis durchzuckte, dass sie das bald nichts mehr anging: Oma Emilia würde das Haus nicht mehr streichen, sie würde schon am nächsten Tag nebenan auf dem Friedhof ruhen. Nach der Beerdigung würden Rebecca und ihre Schwestern das Haus ausräumen und einen Makler bitten, den Verkauf in die Wege zu leiten.

Die Parkbuchten vor dem Haus waren leer, also war Dorothea wohl noch nicht angekommen. Rebecca warf einen schnellen Blick in Richtung Friedhofsmauer. An die kleine Tafel mit dem hölzernen Rahmen, die neben dem Tor hing, schrieb die Friedhofsverwaltung von jeher die Namen der kürzlich Verstorbenen und die Zeitpunkte der kommenden Beerdigungen mit Kreide an. Doch Rebecca wollte nicht genauer hinschauen und den vertrauten Namen mit fremder Schrift auf dieser Tafel sehen. Schnell wandte sie sich wieder ab.

Erst als sie vor der Haustür stand, kam ihr der Gedanke, jemand könnte den Hausschlüssel genommen haben. Aber wusste außer ihr und ihren Schwestern überhaupt irgendjemand von dem Versteck? Vielleicht Erika von nebenan, doch die hatte sicher ihren eigenen Ersatzschlüssel. Rebecca bückte sich und tastete den Sockel ab. Er war, genauso wie die Friedhofsmauer, die direkt an das Haus anschloss, aus Feldsteinen gemauert. Emilia hatte selbst vor Jahren die Zwischenräume mit frischem Mörtel zugeschmiert. Dabei war sie auf die Idee gekommen, einen Stein nur lose einzusetzen und den so entstandenen Zwischenraum als Schlüsselversteck zu nutzen. Ja, hier war es. Der Schlüssel lag tatsächlich wie immer an seinem Platz.

»Da bist du ja!« Als Rebecca eben die schwere Holztür aufschließen wollte, hörte sie hinter sich die vorwurfsvolle Stimme ihrer Schwester.

»Warum hast du nicht am Bahnhof gewartet? Ich wollte dich natürlich abholen, wenn du schon unbedingt mit dieser furchtbaren Dreckschleuder fahren musstest.«

»Tut mir leid.« Unwillkürlich fuhr sich Rebecca noch einmal mit dem Ärmel über die Stirn. Hoffentlich hatte sie keine Rußspuren im Gesicht. Sie wusste, es hatte keinen Zweck, Dorothea zu erklären, dass sie den alten Weg gern gegangen war. Es hätte sich falsch angefühlt, ihn nicht zu gehen. Dorothea dagegen war in ihrem schwarzen Mercedes vorgefahren, einem kleinen, aber schnittigen Modell.

Rebecca blickte in das sorgfältig geschminkte Gesicht ihrer Schwester. Dorotheas Haar war, genau wie Rebeccas, von Natur aus braun, doch sie trug es blond gefärbt, zu einer modischen Kurzhaarfrisur geschnitten. Diese sollte wohl sportlich aussehen, aber kombiniert mit dem eckigen Brillengestell und dem viel zu grellen roten Lippenstift ließ sie Dorotheas Gesicht streng und unnahbar wirken.

Sie hat abgenommen, dachte Rebecca und verspürte eine beinahe körperliche Sehnsucht danach, mit wenigen, geschwungenen Strichen ihres Schminkpinsels die schroffen Züge ihrer Schwester weicher erscheinen zu lassen.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie vorsichtig.

»Einigermaßen.« Dorothea verzog das Gesicht, erklärte aber nichts weiter. »Also, packen wir's.«

Mit einem schweren Seufzer betrat Dorothea als Erste das Haus. Kalte, abgestandene Luft schlug Rebecca aus dem Hausflur entgegen. Hier drinnen, das wusste sie aus Erfahrung, war es selbst im Hochsommer immer kühl. Jetzt hatte zwar draußen seit einigen Tagen der Frühling Einzug gehalten, aber davon war im Inneren des Hauses noch nichts zu merken.

»Puh, ist das kalt hier!« Fröstelnd zog Dorothea die Arme eng um den Oberkörper. »Ich drehe erst einmal die Heizung auf. Miriam kommt natürlich wie immer als Letzte«, setzte sie mit einem Anflug von Schärfe hinzu, obwohl sie selbst erst vor Kurzem angekommen war und mit der jüngsten Schwester keine genaue Uhrzeit vereinbart hatte.

Dennoch betrat Miriam kaum eine halbe Stunde nach der Ankunft der Schwestern das altmodische Wohnzimmer. Rebecca war es, als würde die Temperatur im Raum sofort um einige Grad ansteigen, obschon Dorothea sich bereits darüber beschwert hatte, dass die Heizkörper noch nicht ansprangen. In dem Haus hatte sich nichts verändert, wie Rebecca bei ihrem Rundgang durch die Zimmer schmerzlich feststellte. Alles stand noch genau an seinem Platz. Beinahe konnte man damit rechnen, dass jeden Augenblick Oma Emilia in ihrer roten Kittelschürze und den hochgekrempelten Blusenärmeln hereinkäme und mit spitzbübischem Augenzwinkern fragen würde: »Na, habt ihr ordentlichen Hunger?«

Sogar die Fuchsien in den Blumenkästen vor dem Küchenfenster trieben frische Blüten. Oma Emilia musste sie nach dem letzten Nachtfrost noch ausgepflanzt haben. Vielleicht goss die Nachbarin Erika sie. Behutsam war Rebecca mit dem Zeigefinger über die gehäkelten Zierdeckchen auf der Sofalehne gefahren, über die Bilder mit Harzansichten an den Wänden und die aufgestellten Fotorahmen auf der Wohnzimmeranrichte: Oma mit Klein Miriam auf dem Schoß, Rebecca und Dorothea neben sich. Ihre Mutter Antonia als Konfirmandin neunzehnhundertzweiundsiebzig mit schwarzem Kleid und Perlenkette. Ansichtskarten, die die Mädchen ihrer Oma geschickt hatten, erst von Klassenfahrten und Studienreisen, später von Rebeccas Theatertourneen, Dorotheas Geschäftsreisen und Miriams journalistischen Auslandsprojekten. Von der Schlafzimmerwand über dem altmodischen Ehebett lächelte Jesus am Ölberg sein schwermütiges Lächeln.

Die Veränderung war dennoch spürbar.

»Es ist so still hier«, war das Erste, was Miriam sagte, als sie hereinkam.

»Die Wanduhr ist stehen geblieben«, erwiderte Rebecca. Das Aufziehen der altmodischen Pendeluhr jeden zweiten Tag war bei Oma ein festes Ritual gewesen, solange Rebecca zurückdenken konnte. Zum ersten – und wahrscheinlich letzten – Mal nahm sie nun selbst den kleinen Schlüssel von seinem Platz oben auf dem hölzernen Gehäuse und zog die Uhr auf.

»Wo kommst du jetzt überhaupt her?«, wollte Dorothea von Miriam wissen. »Soweit ich weiß, fahren um diese Zeit kein Zug und auch kein Bus. Du bist doch nicht etwa per Anhalter gefahren?«

Miriam verdrehte die Augen. »Es nennt sich Mitfahrgelegenheit, schon mal davon gehört? Da gibt es Webseiten, wo Leute Fahrten anbieten, preiswert und praktisch. Aber ehrlich gesagt gibt es Bequemeres als eine zweistündige Fahrt auf der Rückbank eines Mini Coopers.« Miriam streckte sich ausgiebig, dann umarmte sie Rebecca.

»Doch genug von mir. Was ist mit euch, kommt ihr klar?«

»Mhm, müssen wir ja wohl.« Zum ersten Mal, seit die Nachricht von Oma Emilias Tod sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen hatte, hatte Rebecca in diesem Moment tatsächlich das Gefühl, sie könnte weiterleben. Irgendwie.

Miriams Umarmung war weich und warm, alles an Miriam steckte voll quirliger Energie, von den fransigen rostrot gefärbten Haaren bis zu den ausgetretenen Sneakers an ihren Füßen.

»Ist es nicht schrecklich? Mama ist noch kein Jahr tot, und jetzt Oma. Dabei ist sie fast nie krank gewesen, noch nicht einmal einen Schnupfen hat sie gekriegt. Sie war einfach unverwüstlich. Harzer Urgestein, Unkraut vergeht nicht. Und jetzt?«

»Ich schätze, das ist der Lauf der Welt«, sagte Dorothea.

»Scheißwelt!«, grollte Miriam und ließ sich neben Rebecca auf das braune Sofa fallen.

Dorothea saß auf einem Stuhl am Esstisch und blätterte in Aktenordnern. Einige davon hatte sie aus Omas Bücherschrank genommen, einen hatte sie selbst mitgebracht. Rebecca sah nicht nach, was in den Ordnern stand.

Stattdessen blickte sie hinüber zu dem Wildledersessel am Fenster. Die drei Schwestern hatten ihrer Oma den Sessel vor einigen Jahren gemeinsam zum Geburtstag gekauft. Als Kinder hatten sie das Lied »Oma Emilia« von Gerhard Schöne geliebt und sich vorgenommen, genau wie es in dem Lied hieß, ihrer Oma später einmal einen schönen Sessel und ein weiches Kissen zu schenken. Sie hatten ihr Versprechen gehalten, aber keine von ihnen hätte es wohl über sich gebracht, sich nun selbst dort hinzusetzen. Es war Omas Sessel mit Omas Sofakissen darin. Wieder standen Rebecca die Tränen in den Augen.

»Du singst doch morgen ›Stilles Tal‹, oder?«

»Mhm?«

Rebecca brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Dorothea sie angesprochen hatte.

»Na, bei der Beerdigung. Das Lied ›Im schönsten Wiesengrunde‹. So habe ich es mit dem Bestatter abgesprochen. Vorher kommt morgen Vormittag schon der Makler, um das Haus zu besichtigen. Der kommt extra aus Gernrode, ein echter Glücksfall an einem Samstag. Ich glaube übrigens, du kennst ihn, Becky. Rick Bohse steht auf der Visitenkarte. Hat der nicht mal hier in der Nachbarschaft gewohnt? Nach der Beerdigung gibt es Kaffee, Kuchen und Schnittchen im Café am Markt. Sonntag können wir mit Ausräumen anfangen. Karsten hat morgen in Köln noch einen geschäftlichen Termin, deswegen schafft er es nicht zur Beerdigung. Aber am Sonntag kommt er zum Helfen, so früh er kann. Vielleicht kann sogar der Trödler wegen der Haushaltsauflösung sonntags kommen. Für Montag habe ich dann für die restlichen Sachen einen Container bestellt.«

»Und wenn es bis Dienstag noch nicht mit dem Verkauf geklappt hat, bestellst du gleich die Abrissbirne, oder was? Sag mal, hast du sie noch alle?«

Wie gelähmt saß Rebecca da, während die Stimmen ihrer Schwestern in ihren Ohren zu einem einzigen, bedrohlich anschwellenden Lärm verschwammen. Sie wusste nicht, was schlimmer war: die ruhige, beherrschte Stimme, mit der Dorothea Worte wie »Makler«, »Haushaltsauflösung« und »Container« ausgesprochen hatte, oder Miriams aufgebrachte Proteste, mit denen sie schließlich Dorotheas Selbstbeherrschung ins Wanken gebracht hatte. Dorothea und Miriam stießen mit ihren Dickschädeln zusammen, dass es nur so krachte, Rebecca stand ratlos zwischen ihnen. So war es immer gewesen, seit sie Kinder waren. Würde es sich je ändern?

»Ich reiße mir den Arsch auf, um das alles hier zu organisieren, und das ist der Dank: Du kommst einfach so reingeschneit, planlos wie immer, und willst alles besser wissen.«

»Planlos? Nennst du es planlos, dass ich noch so was wie Gefühle habe? Dass ich vielleicht ein paar Sachen aus dem Haus behalten möchte, und dass ich denke, einige andere Menschen täten gern dasselbe? Nachbarn, Freunde. Die sollten wir zumindest fragen, bevor wir einfach alles verscherbeln oder in den Container hauen. Was ist mit Tante Elfriede, hast du wenigstens sie gefragt? Sie ist Omas Schwester, verdammt noch mal! Und Tante Malli und Onkel Max? Und Erika von nebenan? Du kannst nicht einfach über andere Leute bestimmen!«

»Ich bestimme nicht über …«

Rebecca hielt es nicht mehr aus. Sie presste die Hände vor die Ohren, sprang vom Sofa auf und rannte aus dem Zimmer hinaus in den Garten, den schmalen holperigen Gartenweg entlang bis zur Laube. Omas grüne, ein wenig windschiefe Gartenlaube. Auch hier war alles wie immer: das grüne Plüschsofa, das schon ihren Urgroßeltern gehört hatte, der weiße, etwas wackelige Gartentisch, darauf die Schiefertafel, auf der schon Oma Emilia als Kind schreiben geübt hatte, danach ihre Tochter Antonia, dann Dorothea, Rebecca und schließlich Miriam. Wenn das Haus erst verkauft wäre, würden die neuen Eigentümer die Laube wohl abreißen.

Rebecca lehnte die Stirn gegen den Türrahmen und weinte hemmungslos.

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Kapitel 2

Harzgerode, 12. April 2018

Becky, es tut mir leid.«

Rebecca schrak zusammen, als Miriam ihr behutsam die Hand auf die Schulter legte.

»Ich weiß, du hasst es, wenn Doro und ich uns streiten. Ich hätte meine große Klappe halten sollen, aber manchmal bringt sie mich echt zur Weißglut. Wie kann man dermaßen rücksichtslos sein?«

»Sie meint es nicht so«, murmelte Rebecca und wischte sich einmal mehr die Tränen aus dem Gesicht.

Miriam seufzte. »Ich wünschte, ich hätte deine Fähigkeit, das Gute in jedem Menschen zu sehen. Hey, Wahnsinn, hier drinnen hat sich wirklich gar nichts verändert.« Miriam spähte an Rebecca vorbei ins Innere des Gartenhauses und sog schnüffelnd die Luft ein. »Es riecht sogar wie früher. Moder, Mottenkugeln und Holzlasur.« Sie schmunzelte und trat über die Schwelle. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber irgendwie mag ich den Mottenkugelgestank sogar.«

Vorsichtig hob sie die Schiefertafel vom Gartentisch und drehte sie um.

»Wow, es ist tatsächlich noch da. Sieh mal!«

Klasse 10a was here on 22. September 2005. We'll be back!, stand in undeutlicher, aber noch immer lesbarer Schrift auf der Tafel, umgeben von einigen Namenszügen, darunter Miriams. Damals hatte es unter den Klassenkameraden als cool gegolten, sich auf Englisch zu unterhalten. Miriam, die schon als Kind ein Fremdsprachengenie gewesen war, hatte sich die Angewohnheit bewahrt, ab und zu englische Redensarten zu benutzen.

»Wir haben doch unsere Klassenfahrt der zehnten Klasse in den Harz gemacht«, erklärte sie jetzt. »Wir waren mit dem Fahrrad unterwegs, und Omi hat uns alle zu Kaffee und Kuchen eingeladen.« Ihre Stimme klang plötzlich rau wie von zurückgehaltenen Tränen. Einen Moment lang lehnte sie den Kopf an Rebeccas Schulter, bevor sie sich energisch wieder aufrichtete und verstohlen mit dem Pulloverärmel die Augenwinkel trocken wischte.

»Ich habe euch gesucht.« Dieses Mal lag kein Vorwurf in Dorotheas Stimme, als sie sich den Schwestern näherte. »Was habt ihr da?«

Miriam zeigte ihr stumm die Tafel.

»Willst du die behalten?«, fragte Dorothea mit einer Unsicherheit, die Rebecca nicht von ihr kannte. Einige Augenblicke blieb die ältere Schwester vor der niedrigen Tür der Gartenlaube stehen, als wagte sie nicht einzutreten.

»Man kann die Schrift fixieren, damit sie nicht verwischt, mit Haarlack zum Beispiel«, fügte Rebecca eifrig hinzu.

»Und was soll ich dann machen, mir das Ding an die Wand hängen? Nee, lasst mal.« Miriam schüttelte entschieden den Kopf, zückte ihr Handy und machte ein paar Fotos. Danach wischte sie behutsam die Tafel ab und verließ die Laube. Die beiden Schwestern folgten ihr. Miriam musste sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die windschiefe Tür stemmen, bis sie sich schließen ließ. Aufmerksam sah sie sich in dem kleinen Garten um.

»Irgendwie hatte ich das alles hier größer in Erinnerung, ihr nicht?«, fragte sie.

Dorothea zuckte mit den Schultern, und auch Rebecca wusste im ersten Moment nichts zu erwidern. Im Gegensatz zu ihren Schwestern hatte sie die Großmutter in den letzten Jahren zu häufig besucht, als dass es zwischen Erinnerung und Realität einen großen Unterschied hätte geben können. Trotzdem glaubte sie zu verstehen, was die Schwester meinte.

Rebecca erinnerte sich plötzlich genau, welchen Stolz sie verspürt hatte, als es ihr zum ersten Mal ohne Hilfe gelungen war, die Natursteinmauer zu erklimmen, die den Garten vom Friedhof trennte. Wie alt war sie da gewesen, sechs oder sieben? Jetzt schwang sich Miriam mühelos hoch, ließ sich auf der Mauer nieder und baumelte mit den Beinen. Ohne nachzudenken, folgte Rebecca ihrem Beispiel. Auf der Friedhofsseite harkte ein alter Mann – der Friedhofsgärtner – in Arbeitskleidung das welke Laub des vergangenen Winters zusammen und lud es auf eine Schubkarre. Die Schwestern fingen einen finsteren Blick des Mannes auf und begannen gleichzeitig zu kichern. Selbst Dorothea schmunzelte.

»Ist das nicht genau derselbe Mann wie vor zwanzig Jahren?«, fragte Rebecca. »Der uns immer mit der Faust gedroht hat, wenn wir auf dem Friedhof gespielt haben?«

»Das kann gar nicht sein, der war doch damals schon uralt«, widersprach Dorothea.

»Im Ernst, ich frage mich, ob sie die Typen klonen«, prustete Miriam. »Gibt es irgendein geheimes Naturgesetz, das besagt, dass Hausmeister, Gärtner und Parkwächter immer alte Stinkstiefel sein müssen?«

Bei dem Gedanken, dass dieser verbitterte alte Mann vielleicht mit einem Stück Kreide Oma Emilias Namen an die Tafel am Friedhofseingang geschrieben hatte, stieg plötzlich ein heißer Groll in Rebecca auf. Sie wusste selbst, dass es völlig unlogisch war, der Mann tat schließlich nur seine Arbeit. Doch das Gefühl ließ sich nicht vertreiben.

Auch Dorothea war schlagartig wieder ernst. Die plötzliche Verbundenheit, die durch die gemeinsamen Kindheitserinnerungen hergestellt worden war, hatte nur wenige Augenblicke überdauert.

»Die Heizung springt immer noch nicht an. Irgendwas stimmt mit dem Kessel nicht, wir müssen nachschauen.«

Mit Taschenlampe, Werkzeugkiste und der Gebrauchsanweisung für den Heizkessel bewaffnet, stiegen die drei jungen Frauen wenig später in den Keller hinab. Allen voran Miriam, die in ihren Sneakers leichtfüßig die unebenen Steinstufen hinuntersprang. Mit klackernden Absätzen folgte Dorothea und blätterte beim Gehen bereits eifrig in dem dicken Serviceheft.

Rebecca hatte sich ihren Schwestern nur zögernd angeschlossen. Immerhin hatte sie ihnen verraten können, in welcher Schreibtischschublade Oma Emilia Quittungen und Gebrauchsanweisungen aufzubewahren pflegte. Doch darüber hinaus konnte sie den anderen kaum eine Hilfe sein. Im Gegenteil, sie würde ihnen höchstwahrscheinlich nur im Weg stehen. Insgeheim verfluchte Rebecca wie so oft ihre absolute Unfähigkeit in lebenspraktischen Fragen. Sie schaffte es ja nicht einmal, einen Akkuschrauber zu bedienen, und zur Funktionsweise einer Gasheizung hatte sie absolut nichts Wissenswertes beizutragen.

Also hielt sie sich im Hintergrund, während Dorothea und Miriam eifrig die Bedeutung der in der Anleitung aufgelisteten Fehlercodes diskutierten und mit Schraubenziehern der Verkleidung des Kessels zu Leibe rückten. Darunter kam ein roter Behälter zum Vorschein.

»Es liegt am Ausdehnungsgefäß, eindeutig. Der Druck stimmt nicht.«

»Wasser ablassen … Luft auffüllen … eigentlich Stickstoff … müsste auch so gehen …«

Rebecca bekam von der Unterhaltung ihrer Schwestern nur unverständliche Bruchstücke mit. Stattdessen sah sie sich aufmerksam in dem niedrigen Kellerraum um. Als Kind hatte sie sich wie eine Schatzsucherin gefühlt, wenn sie an Omas Hand die Stufen in das geheimnisvolle Reich unter der Treppe hinuntergestiegen war. Auch hier war die Luft feucht. In den Ecken hingen dicke Spinnweben. Sie umgaben sogar die einsame Glühbirne, die von der Decke hing und trübes Licht verbreitete. Die unebenen Natursteinwände waren mit groben Holzregalen gesäumt, auf denen lange Reihen von Einmachgläsern standen, beschriftet mit Oma Emilias säuberlicher Handschrift: Erdbeermarmelade, Mirabellengelee, Pflaumenmus, Birnenkompott, las Rebecca. Von einem Regalbalken hing ein Zwiebelzopf herab. Sie alle hatten Omas Pflaumenmus geliebt, aber mehr als ein oder zwei Gläser davon würden in Rebeccas Rollenkoffer keinen Platz haben. Fand sich wohl jemand anders, der die sorgfältig gelagerten Vorräte aufessen konnte, oder würde Oma Emilias Mühe umsonst gewesen sein, und die vollen Einmachgläser würden im Container landen? Der Gedanke an das Klirren zerspringenden Glases bereitete Rebecca beinahe körperliche Schmerzen.

»Becky, komm mal. Wir suchen den Absperrhahn für das Wasser, der muss hier irgendwo sein.«

Miriams Aufforderung riss Rebecca aus ihren Gedanken.

»Wie soll der denn aussehen?«, fragte sie zerstreut und sah sich suchend im Raum um.

»Ein roter Hahn oder Hebel.« Selbst im Dämmerlicht der einzelnen Glühbirne war sich Rebecca sicher, dass Dorothea bei der Antwort mit den Augen gerollt hatte. Sie hatte die Irritation in der Stimme der Schwester gehört.

»Ach so«, murmelte sie kleinlaut und fühlte sich noch unnützer als zuvor, doch dann entdeckte sie tatsächlich den roten Hahn an dem altmodischen Heizungsrohr.

»Hier, ich hab ihn!« Eifrig versuchte sie, den Hahn zu drehen. Er bewegte sich nicht. Sie packte erneut zu, stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen – da hielt sie plötzlich das rote Metallrädchen in der Hand, und ein dünner Wasserstrahl schoss aus der Verbindungsstelle zwischen den Rohren.

»Verdammter Mist!«

Miriam war sofort zur Stelle und versuchte vergeblich, die undichte Stelle mit den Händen abzudecken, während Rebecca sich das Wasser aus Gesicht und Haaren wischte. Genau in dem Moment hörte sie von oben aus dem Hausflur das Läuten der Türklingel. Ohne nachzudenken, setzte sie sich in Bewegung. Sie war schon oben am Treppenabsatz angelangt, als Miriam ihr hinterherbrüllte: »Wer auch immer das jetzt ist, wir brauchen sofort eine Rohrzange!«

Tante Erika! Die kleine, krumm gebeugte Nachbarin mit dem kurz geschnittenen rötlich grauen Haar und dem unverwüstlichen Humor, die schon seit Menschengedenken Oma Emilias beste Freundin gewesen war und die sich wie selbstverständlich von den Mädchen Tante nennen ließ, erschien Rebecca wie ein rettender Engel. Solange sie zurückdenken konnte, hatte Emilia sich bei allen wichtigen Dingen mit Erika beraten. Egal, ob es darum ging, einen Baum zu fällen, das Schuppendach zu teeren oder einem verängstigten kleinen Mädchen einen widerspenstigen Milchzahn zu ziehen – Tante Erika wusste immer Rat.

»Mädchen, was macht ihr denn? Wollt ihr das Haus abreißen?«

Erst jetzt wurde Rebecca wieder bewusst, dass sie klatschnass war und noch immer den unseligen roten Absperrhahn in der Hand hielt. Tante Erika ließ sich durch den Anblick nicht aus der Ruhe bringen. Rebecca glaubte sogar, ein Schmunzeln die Mundwinkel der Nachbarin umspielen zu sehen. Das Aufblitzen des einzelnen goldenen Eckzahns auf der linken Seite gab Erikas Lächeln etwas Verwegenes, das Rebecca liebte.

»Wir … die Heizung …«, stammelte sie, dann erinnerte sie sich an Miriams Worte: »Wir brauchen eine Rohrzange. Weißt du, wo …«

»Im Holzschuppen, würde ich sagen. Ich bin mir aber nicht sicher. Warte lieber kurz.« Ehe Rebecca sichs versah, huschte die alte Frau wieselflink zurück in Richtung Nachbarhaus.

»Fredi? Fredi, komm mal!«

 

Am Ende reparierte Erikas Sohn Manfred, den die Schwestern als Fredi kannten, nicht nur den Absperrhahn, sondern brachte auch das Ausdehnungsgefäß des Heizkessels wieder auf den vorschriftsmäßigen Druck. Bei dem leisen Knistern, mit dem die Zündflamme im Kessel ansprang, fiel Rebecca ein Stein vom Herzen – und nicht nur ihr, wie es schien.

»Danke sehr, ich danke Ihnen!« Ganz gegen ihre sonstige Zurückhaltung drückte Dorothea dem vierschrötigen Mann wieder und wieder die schwielige Hand.

»Seit wann wird bei uns Sie gesagt?«, fuhr Erika sofort dazwischen. »So was lassen wir gar nicht erst einreißen. Ich bin die Tante Erika, das ist der Onkel Fredi, und dabei bleibt es!«

»Ich wusste ja nicht, ob Ihnen … ob euch das noch recht ist«, erwiderte Dorothea verlegen.

Rebecca fragte sich, wann die Schwester eigentlich zum letzten Mal hier gewesen war. Es schien sehr lange her zu sein. Miriam dagegen hatte keine Scheu, die beiden Nachbarn zu umarmen.

»Ich wollte euch eigentlich nur mein Beileid aussprechen, Mädchen«, sagte Erika. »Auch wenn ihr längst erwachsen seid – die Omi wird euch trotzdem fehlen.«

»O ja.« Miriam seufzte, und Rebecca nickte stumm.

»Aber dir wird sie genauso fehlen, oder? Ihr habt immer zusammengehalten.«

»Ja. Von unserem Jahrgang sind nicht mehr viele übrig, und jedes Jahr werden es weniger.« Mit einem Mal sah die energische kleine Frau müde und zerbrechlich aus. Doch dann ging ein Ruck durch die schmale Gestalt.

»Irgendwie geht es trotzdem weiter. Muss es ja. Emilia hätte nicht gewollt, dass wir hier herumstehen und Trübsal blasen. Also, wie ist es, Mädchen? Kommt ihr gleich rüber auf eine Tasse Kaffee und ein Likörchen? Ihr seht aus, als ob ihr’s gebrauchen könnt.«

»Von deinem Selbstgemachten? Immer!« Bevor Rebecca und Dorothea reagieren konnten, hatte Miriam schon zugesagt. Dorothea sah aus, als wäre ihr das gar nicht recht. Doch sie schwieg auch, nachdem die beiden Nachbarn wieder gegangen waren, und rubbelte nur energisch mit einem alten Lappen auf dem feuchten Steinfußboden herum.

»Lass nur, das kann ich machen«, beeilte sich Rebecca zu versichern. Dorothea richtete sich auf, ließ mit angewiderter Miene den Lappen fallen, wischte sich die Hände an einem Papiertaschentuch ab und begann, die nassen Flecken auf ihrem Blazer trocken zu tupfen. Rebecca hoffte inständig, dass keine Schmutzspuren auf dem teuer aussehenden Kleidungsstück zurückbleiben würden.

»Tut mir leid wegen des Absperrhahns«, murmelte sie.

»Ich hoffe bloß, dass sich schnell ein Abnehmer für das Haus findet«, erwiderte Dorothea nur.

Wenig später betraten die drei Schwestern das Nachbarhaus. Rebecca hatte von den Marmeladen- und Kompottgläsern aus dem Keller so viele mitgenommen, wie in Oma Emilias altmodischen Einkaufskorb passten, und überreichte sie Erika.

»Mädchen, du kommst ja an wie Rotkäppchen«, schmunzelte die Nachbarin. »Recht hast du, gute Sachen soll man nicht umkommen lassen. Emilia hat mich ohnehin gefragt, ob ich von ihren Vorräten etwas möchte. Im Marmeladenkochen ist eure Oma unschlagbar.«

Sie sagte »ist«, nicht »war«, und bemühte sich, munter zu klingen, doch Rebecca spürte die Traurigkeit hinter ihren Worten. Der selbst gemachte Obstlikör brannte in der Kehle und trieb ihr die Tränen in die Augen.

Eine Weile sprach niemand, dann räusperte sich Fredi und brummte:

»Erst Antonia, jetzt Emilia. Das ist schon ’ne traurige Sache.«