Spuren im Sumpf - Regine Mädje - E-Book

Spuren im Sumpf E-Book

Regine Mädje

4,9

Beschreibung

Sommer in Bückeburg. Eine Wiese mit Wasserbüffeln und eine tote Frau: Was zunächst wie ein tragischer Unfall wirkt, bekommt beim 2. Blick das Potential für raffinierten Mord. Die Polizei beginnt zu ermitteln. Auf der Landpartie, eine Messe rund ums Bückeburger Schloss, sammelt man wichtige Infos. Die Tote wird identifiziert. Wie in einem Kaleidoskop öffnen sich jetzt immer neue Einblicke in ihr Leben. Und damit auch Motive für ihre Ermordung. Seltsame Vorgänge am Tatort geben den Ermittlern zusätzliche, harte Nüsse zu knacken. Ein 30 Jahre altes, familiäres Ereignis rückt ins Visier und wirft seinen langen Schatten bis in die Gegenwart. Als das Dunkel sich lichtet, scheint auch der Tod der Frau geklärt. Aber ist dies tatsächlich die Wahrheit?

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Widmung

9. Juni 1963

9. Juni 2012

Sommermorgen

Tatort

Landpartie

Schnatgang

Obstgeister

Abendmeldungen

Neue Spuren

Leichtsinn

Beobachtungen

Frösche

Verdächtige

Alte Geschichten

Große Städte, kleine Städte

Handydaten

Perlenschnur

Trutzburg

Alte Freunde

Alibi

Leuchtzeichen

Zerstobene Träume

Neue Wege

Lichtreflexe

Rennpappe

Spuren im Nebel

Reines Gewissen

Mitleid

Verschlungene Wege

Wasserlochstarrer

Windsbraut

Vermisst

Asche im Wind

Scherben auffegen

Grollmeister

Margarete

Goofys Zahnspange

Pokerspieler

Nebensache

Körpersprache

Alte Schätze

Nachlese

Nachwort und Danksagung

Regine Mädje

Spuren im Sumpf

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher der Autorin erschienen:

Licht im Mausoleum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de.

© 2013 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Der Umschlag verwendet Motive von shutterstock.com,

Water buffalo skull Yu Lan 2012 /

Grunge background with space happykanppy 2012

eISBN: 978-3-8271-9831-0

ePub Produktion durch INTEC/ANSENSO

www.inteconline.com

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Über die Autorin:

Regine Mädje ist 1964 in Berlin geboren und in Lüneburg aufgewachsen. Im Anschluss an das Abitur folgte das Studium der Landschaftsplanung. Danach war sie einige Jahre als Diplomingenieurin in Celle und Exten tätig. Seit 1996 wohnt sie in Bückeburg. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach der Familiengründung entwickelte sich ihr Hang zur Schriftstellerei. Bückeburg und das Schaumburger Land bieten, da hier verschiedene Welten aufeinandertreffen, einen idealen Rahmen für spannende Geschichten.

Allen jenen gewidmet, die unter der innerdeutschenGrenze gelitten haben

Möge dein Arm nicht schwach werden, wenn du die Hand zur Versöhnung ausstreckst.

(Anonymus: Irischer Segensspruch)

9. Juni 1963

„Weiter!“, befahl sein Kopf. Seine Arme waren schwer wie Blei. Steinharte Muskulatur, ausgekühlt, überanstrengt. Er wollte nur schlafen. Ausruhen. Doch er wusste: Es wäre sein letztes Nickerchen in diesem Leben.

Noch wusste er es, noch war seine Vernunft klar bei der Sache. Wie spät war es? Er hätte die Uhr mitnehmen sollen, obwohl sie nicht dicht hielt im Wasser. Ein suchender Blick nach oben - über ihm funkelte der blanke Sternenhimmel. Bald musste die Morgendämmerung kommen. Hoffentlich. Sicher. Dann war die Orientierung leichter, er konnte einfach die aufgehende Sonne im Rücken lassen. Barsch befahl er seinen Armen, weiterzuarbeiten.

„Ich bin kein Waschlappen.“

Wie hart hatte er hierfür trainiert! Fast sechs Monate lang. Jeden Tag drei, später sogar vier oder fünf Stunden Schwimmen. Ob er schon Froschfinger habe, feixte seine Mutter manchmal, wenn er ausgekühlt und mit gigantischem Hunger durch die Wohnungstür hereinstolperte.

„Ist alles für die NVA“, hatte er stets geantwortet und sich dabei aufgerichtet, „die sollen doch einen richtigen Mann kriegen.“

Dann schwieg sie und er spürte genau, wie stolz sie auf ihn war. Sie und Vater. Während sein kleiner Bruder immer darauf wartete, dass er endlich schlappmachte. Niemand ahnte, was das Training wirklich bedeutete, am allerwenigsten der NVA-Offizier, der seine Unterschrift entgegengenommen hatte vor einem halben Jahr.

Nur er, Gottfried Mercator. Und Margarete, mit der er seit zwei Jahren heimlich Kontakt hielt.

Margarete fand Gottfried altmodisch und gab ihm den Spitznamen Goofy. Albern, aber der Name fühlte sich an wie ein Kuss, wenn sie ihn über ihre schönen Lippen perlen ließ. Nur zu Hause schwieg er davon. Einen Eklat hätte diese Comicfigur aus den verfemten USA ausgelöst.

Aber gegenüber Margarete war er Goofy. Und nur sie wusste, wem sein Kraftakt diente. Dass sein Vorhaben lebensgefährlich war, hatte sie mit Angst erfüllt. Als der Entschluss fiel, fühlte er sich stolz. Ein Held, kraftvoll und mutig.

Inzwischen lernte er die Kehrseite kennen. Hilflos war er den dunklen, gefräßigen Wellen der Ostsee ausgeliefert. Sie leckten an ihm und kosteten von seiner Lebenskraft.

„Bist du es auch wert?“, prüften sie seinen Mut. Leise umstrichen sie seinen Körper, bereit, ihn für immer hierzubehalten. Jetzt lachte er zynisch über seinen naiven Wagemut und die aufgesprungenen Lippen brannten dabei. Das Meer lehrte ihn auf eine schweigsame Art, dass er sich auf einen Handel mit dem Teufel eingelassen hatte. Es gab niemanden, der ihn auffangen würde. So war sein Plan: ohne Netz und doppelten Boden.

Und während seine Kraft langsam vom Salzwasser der See zerfressen wurde, sickerte Todesahnung in den freien Raum nach. Wie fühlt es sich an, ertrinkend im Nichts zu verschwinden? Dauert es lange? Tut es weh? Fressen die Fische von einem? Oder sackt der tote Leib leise auf den schlammigen Boden? Wird er irgendwann als aufgeblähter Leichnam in Polen oder Finnland angeschwemmt?

Finnland wäre nicht schlecht, aber tot nützte ihm das auch nichts mehr. Wer hatte diejenigen gezählt, die ertrunken waren bei dem Versuch, dem ach so heiß geliebten Staat zu entkommen? Niemand. Es kursierten Gerüchte. Aber keine Zahlen. Und die Fische führten kein Buch.

Goofy war immer stolz gewesen auf seinen Körper. Vor einem halben Jahr hatte er eine Seite aus dem alten Atlas herausgerissen: die Ostsee samt umgebender Staaten. Er überschlug die Entfernung anhand des Maßstabs. Und ahnte ein wenig, auf was er sich da einlassen wollte. Es gab keine Infos, keine genauen Karten – jede Nachfrage hätte Verdacht erregt. Deshalb hatte er die NVA-Verpflichtung unterschrieben und alle glauben lassen, seine Selbstschinderei im Vorfeld sei für die Laufbahn.

Heimlich besorgte er sich zwei aufblasbare Sitzpolster, die ließen sich unauffällig transportieren. Jetzt stützten sie ihn, wie zwei winzige Boote, und seine Arme und Beine bildeten den Antrieb. Stundenlang. In dieser Nacht mit ihrem unsichtbaren Neumond. Zum Glück besaß er den Kompass mit den phosphoreszierenden Markierungen.

Er schob das eine Sitzpolster höher und legte den schweren Kopf darauf ab. Döste kurz. Es wäre unmöglich gewesen, ohne den Kompass die Richtung auf dem Wasser zu halten. Ein Geschenk seines Vaters zum 18. Geburtstag. Samt einer mehrtägigen Wanderung querfeldein. Die Vater-Sohn-Tour war beinhart gewesen, sein alter Herr verachtete Waschlappen und machte keinen Hehl daraus. Nach dem Crashkurs aber konnte er sich in wildfremdem Gelände orientieren.

Die kleine Pause war zu Ende. Mühsam erinnerte Goofy sich. Seine Finger, seine Arme: Alles schien nicht mehr ihm zu gehören. Zitternde Fremdkörper. Er ruderte mit den Beinen, die sich anfühlten wie eiskaltes Glas: jederzeit bereit, durch die geringste Berührung zu zerspringen. Die Ostsee maß jetzt, im frühen Sommer, 19 Grad. Er hatte keine Wahl. Außerdem: Woher hätte er einen Schutzanzug bekommen können, ohne aufzufallen?

Er zwang sich, in Richtung Westen weiterzuschwimmen. Wenn er wenigstens gewusst hätte, wo er war. Musste er nur noch auf die Küstenlinie zuhalten oder war dort nach wie vor Ostzone? Bei dem Gedanken, trotz dieser Tortur verhaftet und viele Jahre weggesperrt zu werden, aktivierten sich seine Kräfte. Allen Schmerz konnte er ertragen, aber nicht die Tränen von Margarete und die Verachtung seiner Eltern.

Weiter nach Westen. Niemand ahnte, wo er war, kein Patrouillenboot hatte bisher seine Wege gekreuzt. Sieben Stunden Schwimmzeit, wenn alles optimal lief, hatte er auf der Grundlage seiner alten Atlaskarte errechnet. Denn wäre er spätestens gegen fünf Uhr morgens drüben. Circa eine Stunde nach Sonnenaufgang. Aber dieses Schneckentempo hier reichte nicht. Er würde länger brauchen. Und er durfte auf keinen Fall schon jetzt in Richtung Küste geraten. Viel zu früh.

Margarete wartete im Westen auf ihn. Nahe Travemünde, hatten sie beim letzten Mal in ihrer Geheimsprache ausgemacht. Nahe Travemünde. Sie würde nach ihm suchen lassen und ihn finden. Von wegen Fischfutter! Er wollte leben. Mit ihr. In Freiheit. Seine Eltern mussten das verstehen. Er war volljährig und sein eigener Herr. Sie würden ihm verzeihen und Margarete lieben lernen. So, wie er sie liebte.

Mit dem Gedanken an sie kamen seine Arme und Beine wieder in Gang. Er konzentrierte sich entschlossen auf das kleine Einmachglas, in dem der Kompass wasserdicht verschlossen lag. Unermüdlich schlug sein Herz in der Brust. Es war müde, aber auch jung und kraftvoll. Margarete wartete. Sie würde ihn suchen lassen, sobald der Tag anbrach.

9. Juni 2012

Der Wasserbüffel hob den schwarzen, zottigen Schädel und horchte in die Nacht. Seltsame Geräusche störten ihn. Sein Kopf wandte sich, wobei die mächtigen, wie ein Halbkreis geformten Hörner einen behäbigen Tanz durch die Luft vollführten. Auch die vier Büffelkühe begannen zu lauschen. Nur das junge Kalb schlief noch fest. Kaum einen Tag war es alt, behütet wie der Heilige Gral von seiner Mutter. Die anderen Tiere der Herde durften sich ihm nähern. Niemand sonst. Alles Fremde war automatisch Feind.

Die Vierbeiner hatten sich unter zwei großen Bäumen versammelt. Hier, am Rand ihrer Weide, übernachteten sie oft. Fünf Meter neben ihnen verlief ein breiter Weg, auf dem sich die seltsamen Geräusche näherten. Streitende Menschenstimmen, laut undverbissen. Eine hohe und eine tiefe. Üblicherweise kamen Zweibeiner tagsüber hier vorbei, selten störten sie nachts die Ruhe. Die hohe Stimme biss in den Ohren, sie war sehr angriffslustig. Etwas reservierter hielt die tiefe Stimme dagegen. Die Nackenhaare des Büffels sträubten sich, er spürte die wachsende Aggression der Mutterkuh.

Die Streiter bemerkten keines der Tiere, an denen sie vorbeigingen. Es war stockdunkel. Ihr Tempo verlangsamte sich, jetzt redete nur noch die hohe Stimme in einer höhnischen Tonlage. Die tiefe Stimme schwieg. Nicht zum ersten Mal ließ der Mann, dem sie gehörte, seine rechte Hand prüfend in die Jackentasche gleiten. Dort lag sein Mittel für alle Fälle bereit. Wenn sich eine Einigung als zu kompliziert erweisen sollte. Und damit rechnete er fast sicher. Er hatte gut vorausgeplant.

Die Frau ereiferte sich weiter. Der Mann argumentierte nicht länger. Das Dunkel der bewölkten Neumondnacht schützte ihn, als er den länglichen Gegenstand aus der Tasche zog. Mit einem raschen Seitenschritt trat er hinter seine Begleiterin, hielt den Schocker an ihren Rücken und drückte den Knopf. Sie quiekte erschrocken, sprang einen Schritt vor, drehte sich um. Unverletzt. Empört. Sofort begriff er seinen Fehler: Der Apparat hatte direkt auf ihrer Tasche gelegen, dieses großformatige Quadrat aus recyceltem Kunststoff. Alte Fahrradschläuche, sorgfältig gereinigt, in Handarbeit verwoben und kalt verschweißt. Auf der Außenseite stand The winner takes it all. Ihr Wahlspruch.

Das Ding isolierte natürlich perfekt gegen Strom.

Jetzt wurde sie misstrauisch, zeigte aber keine Unsicherheit. Sie glaubte einfach nicht, was die Wasserbüffel längst spürten: große Gefahr. Der Mann versuchte wieder, den Schocker aufzusetzen, doch die Frau erahnte seine Bewegung. Mit einem spitzen Schrei sprang sie zur Seite und krachte mitten auf eine Eichenbohle. Ein Zaunpfosten zur angrenzenden Büffelweide, gespickt mit vier Lagen Stacheldraht. Sie verfing sich im Draht und versuchte zappelnd, freizukommen. Schrie vor Schmerz und zum ersten Mal erkannte man Angst darin. Der Mann warf sich auf sie, den Schocker vorgereckt.

Doch er löste den Apparat nicht aus, denn ihr Körper am Eichenpfahl wirkte wie ein Bremspoller, auf dem er nun selbst unfreiwillig klebte. Er hätte sich selbst einen Stromschlag versetzt. Hektisch versuchte er, freizukommen. Der Stacheldraht hielt ihn fest. Plötzlich erfüllte ein langes, stöhnendes Knarren die Luft. Der Eichenpfosten gab nach. Mit einem quälenden Geräusch kippte er samt seiner Last hinein in die Büffelweide. Die Zweibeiner landeten im Gras. Der Mann kam rasch hoch, die Frau unter ihm rang japsend nach Luft.

Sie schrie laut, abwehrend, zugleich aggressiv. Er zögerte, das machte sie mutiger. Wütend beschimpfte sie ihn und riss sich energisch vom Draht los. Ging langsam rückwärts, hinein in die Wiese und verschaffte sich selbst Zeit zum Nachdenken. Ihr Stolz kehrte zurück, ihr Selbstbewusstsein, das alles für machbar hielt. The winner takes it all…

Sie spuckte ihm entgegen, dass das hier „reif für eine Anzeige“ wäre. Die Drohung beendete sein Zögern. Entschlossen machte er zwei lange Sätze und drückte den Schocker auf ihr Brustbein. Hier isolierte nichts, am wenigsten ihr naives Heldentum. Kurz blitzte ein bläuliches Minigewitter auf, bevor sie ohnmächtig zusammensackte. Zufrieden starrte er auf die schlaffe Gestalt. Es hatte geklappt.

Er bückte sich hinunter zu ihr und nahm zum ersten Mal wahr, dass dicht neben ihm Wasser schimmerte. Ein kleiner Tümpel. Seine guten Lederschuhe saugten sich gerade im tiefen Schlamm des zertretenen Ufers fest. Wie unpassend. Er würde die edlen Treter wegschmeißen müssen, wie auch die zerrissene Jacke. Schade drum.

Plötzliche fauchende Luft. Wie aus dem Nichts.

Erschrocken fuhr er zusammen, hielt den Atem an. Kaum drei Meter neben ihm stand ein zottiger Schatten. Der Wasserbüffel saugte die Witterung ein und prustete die Luft laut wieder aus, um den beiden Menschen zu zeigen, dass sie verschwinden sollten. Je rascher, desto besser. Vor einigen Sekunden hatte er sich lautlos erhoben und war näher getreten. Was wollten diese Streithähne? Waren sie wie Hunde, die manchmal auf die Weide liefen und mit ausladenden Hörnern empfangen wurden? Oder trugen sie Futter bei sich, wie die Bauern, die er gut kannte?

„Heiliges Rhinozeros“, entfuhr dem Mann entgeistert. Er ahnte die große, schwarze Masse mehr, als er sie sah. Wann war dies Urvieh so dicht herangekommen? Langsam tastete er sich rückwärts. Der Schlamm hielt ihn fest, schmatzend zerrte der Moder an den Schuhen. Der Büffel prustete erneut, diesmal noch lauter. Er roch den Angstschweiß. Panik schlug über dem Mann zusammen, er rutschte aus, fluchte laut, seine Arme fuchtelten wild.

Damit überschritt er die geringe Toleranz der Mutterkuh. Sie sprang auf und stürzte mit dumpfem Grollen vor. Im selben Moment entkam der Mann dem Morast und fiel der Länge nach auf festen Grund. Sofort rappelte er sich hoch und sprintete um sein Leben. Ein Riesensatz über den niederliegenden Stacheldraht rettete ihn. Seine zornige Verfolgerin stoppte dort, wo sonst der Zaun stand.

Laut schnaufend starrte sie dem fliehenden Fremden nach und schüttelte den massigen, breit gehörnten Schädel gereizt. Ein fremder Geruch stach in ihre Nase, die Wut erglühte sofort neu. Ruckartig wandte sie sich um, ortete die Frau. Mit wenigen Sätzen war sie bei der Gestalt und stieß die schweren Hörner hinab. Der erste Stoß verfehlte die Ohnmächtige, der zweite traf ihren Unterleib und zerriss etwas darin. Ein dritter Stoß schleuderte sie ins Wasser. Es gab ein lautes Aufklatschten, der Körper tauchte kurz unter und erschien wie ein überdimensionaler Korken wieder an der Oberfläche. Innerhalb weniger Minuten verblutete die Frau innerlich.

Prüfend witterte die Mutterkuh über den Tümpel. Tiefe Stille war eingetreten. Kein Eindringling würde mehr das Kalb bedrohen. Vorsichtig trat jetzt der Rest der Herde näher und inspizierte die frischen Spuren des Kampfes. Ihr Pascha, den die Bauern Goofy genannt hatten, bekam eine neue Idee. Gemächlich verließ er das Ufer des Tümpels und näherte sich dem umgeknickten Eichenpfosten. Wo war der Elektrozaun? Die Tasthaare an seinem Maul signalisierten, dass keine Spannung mehr in der Luft lag. Der beißende Draht hielt den Mund.

Zugleich stieg angenehmer Geruch in seine Nase. Süßlich und er weckte Erinnerungen an eine Leckerei. Also hatten die Zweibeiner doch etwas Gutes dabei gehabt. Ein kleiner Gegenstand verströmte den Duft, er hing im Stacheldraht. Vorsichtig schlossen sich Goofys Lippen darum und pflückten das Päckchen ab. Weiches Papier und süßer Geschmack, dazwischen ein kleiner, gebogener, harter Gegenstand. Während er bedächtig kaute, veränderte sich mit plötzlicher Macht das Harte in seinem Maul und klemmte sich fest zwischen seine Backenzähne.

Erst erschrak er, doch etwas anderes lenkte ihn ab. Immer schon hatte ihn der Duft einer Wiese auf der anderen Zaunseite gelockt. Sie roch so viel saftiger, so völlig ohne pieksende Disteln. Entschlossen stieg er über die vier Reihen liegenden Drahts, querte den Weg und schlenderte hinüber ins Nachbargras. Die Freiheit umfing ihn und ein Grashalm duftete besser als das nächste. Die Büffelkühe folgten ihm neugierig in diemilde Sommernacht. Übermütig und albern hopste das Kalb um sie herum. Ohne Hast sackte der Körper der toten Frau langsam unter die Wasserlinie und verblasste zu einem hellen Schemen.

Sommermorgen

Tief atmete Engel Meier die kühle Luft ein. Der frisch geborene Junimorgen duftete würzig. Und was für ein Naturschauspiel hatte ihn eingeleitet! Nur zögernd löste die Mittfünfzigerin den Blick vom Himmel. Dort verblasste ein rot-oranges Feuerwerk, das der Sonnenaufgang fast 20 Minuten lang in den Horizont gezaubert hatte. Ein guter Anfang für solch einen sonnigen Tag. Gut gelaunt schritt Engel aus. An ihrer linken Seite gurgelte der kleine Schlossbach sein Lied. Rechts wogte sattgrünes Getreide wie die Dünung eines Meeres. Den Delfin darin spielte ihr braunweißer Spaniel. Immer wieder tauchten seine fliegendenOhren über den milchreifen Ähren auf.

Weit und breit sonst keine Menschenseele. Niemand, der ihr erklärte, dass der Hund gleich ein hilfloses Kitz reißen würde, weshalb man ihn sofort anleinen müsse. Sie folgte einem zweispurigen Betonweg, der erst parallel zum Bach verlief und dann nach rechts, in Richtung alter Kastanien abknickte. Die beiden ausladenden Bäume bildeten den Eingang zu einer besonderen Landschaft: die Bückeburger Niederung. Gemähte Wiesen tauchten auf, Weiden mit Rindern, Tümpel, Gebüsche, malerische Einzelbäume. Eine Schar Wildgänse sicherte zu Engel hinüber, ihr Schnattern klang misstrauisch.

Doch die Spaziergängerin zog es zu anderen Wasserwesen. Ob die Herde heute wieder im Wasserloch badete? Nur die Köpfe mit den mächtigen Hörnern und die schwarzen, schlammigen Rücken schauten dann heraus. Urweltlich wirkten sie, diese Wasserbüffel. Wie Grüße aus einer fremden Welt.

„Sicher stehen sie beim Tränkewagen“, mutmaßte Engel, als sichtbar wurde, dass die Herde sich rarmachte. Nach 100 Schritten erkannte sie den Irrtum. Nach weiteren 50 wurde ihr klar, warum. Der Zaun lag niedergedrückt. Sie stoppte. Griff nach einigem Zögern und einem Blick auf die Armbanduhr zum Handy. Die Nummer der Besitzer hatte sie im Verzeichnis. Ihnen gehörte ein großer, alter Bauernhof, der Auenhof, bei dem Engel regelmäßig einkaufte. Mit langen Armen, denn ihre Lesebrille lag zu Hause, suchte sie den richtigen Namen, ließ den Apparat wählen und beobachtete die Umgebung. Mit einem Mal fühlte sie sich unsicher.

„So was“, murmelte sie, „büxen die einfach aus.“ Und zu ihrem Hund: „Bleib schön hier, Kaspar.“

„Freimuth“, meldete die Stimme des Bauern sich, äußerst knapp angesichts des frühen Morgens.

„Herr Freimuth, Gott sei Dank“, sprudelte es aus Engel heraus, „Meier am Apparat. Eine Kundin. Entschuldigen Sie die unmögliche Tageszeit, aber ich stehe hier am Wasserloch und sehe, dass die Büffel ausgebrochen sind.“

„Die Wasserbüffel?“, echote der Mann am anderen Ende der Leitung.

„Alle. Sie sind alle fort.“

„Nee, sind Sie ganz sicher?“

„Die Weide ist leer.“

„Schiet!“

„Und der Zaun liegt an einer Stelle ganz platt auf der Erde.“

„Hundsfoot! So ein… Wir kommen sofort. Danke.“

Keine zehn Minuten später kam ein grüner Traktor herangedonnert, der spielend dem Vergleich mit einem Panzer standhalten konnte. Er verringerte seine Geschwindigkeit, nachdem er die zwei alten Kastanien passiert hatte, und kam geschmeidig puckernd neben der Anruferin zum Stehen. Bauer und Bäuerin saßen in der Fahrerkabine. Halb neugierig, halb besorgt schauten sie hinunter. Ungefrühstückt. Mit einem Gesichtsausdruck, der nahelegte, dass sie die Themen Sonntag und Ausschlafen bereits zu den Akten gelegt hatten.

„Das fängt ja bescheiden an“, kommentierte Freimuth die augenfällige Leere in seiner Weide. Aus der Höhe des fahrbaren Untersatzes hatte er einen guten Blick über die Umgebung und außer einem Reiher, der angestrengt überlegte, ob er jetzt fortfliegen müsse, fiel ihm nichts auf.

„Weit und breit keine Spur von den Viechern. Haben Sie die Herde weglaufen sehen, Frau Meier?“

„Gott bewahre“, entsetzte sich Engel. „Dann stände ich gar nicht hier. Ich gehe doch nicht freiwillig an solche Tiere ran. Nur mit Zaun dazwischen, wie im Zoo.“

Alle drei lachten ein wenig gezwungen.

„Wo mögen sie hin sein?“

„Im besten Fall nicht allzu weit.“

„Du, Thomas“, sagte die Bäuerin, stupste ihren Mann an und zeigte in Richtung des Tümpels, „sieh mal rüber. Ist da was?“

„Am Wasser?“

„Im Wasser.“

„Ich seh’ nichts.“

„Da ist was.“

„Nein.“

„Doch.“

„Ich guck’ mal“, enttarnte er sich als der Klügere. Aufseufzend kletterte er vom motorisierten Hochsitz herab und stapfte in die Weide.

„Da schimmert was durch“, bestätigte er. Die beiden Frauen kamen ihm mit gereckten Hälsen nach. Zu dritt spähten sie in die trüben Fluten. Das Wasser spiegelte die Morgensonne wie polierter, dunkelgrüner Marmor. Doch ganz schwach konnte man vage Umrisse darin erahnen.

„Sieht groß aus. Wie ein…“, ließ Engel den Satz unvollendet.

„Es wird doch nicht das Kalb sein?“, fürchtete der Bauer. „Wäre schade drum.“

Er holte einen langen Stock aus der Fahrerkabine und versuchte, nach dem Schemen zu angeln. Die Spitze des Stabes stupste das Vage an. Mit bedächtigem Rollen drehte es sich, ohne die Wasseroberfläche zu erreichen. Eindeutig: Es war zu hell für das Büffelkalb. Und zu groß. Der Anblick trieb den drei Beobachtern prickelnde Gänsehaut über den Rücken. Sie sahen einander an.

„Frau Meier, rufen Sie mal zur Sicherheit die Polizei“, brachte die Bäuerin alle Bedenken auf einen Punkt. „Können Sie hier bleiben und denen die Lage erklären? Wir kommen wieder, sobald wir die Wasserbüffel haben. Das ist jetzt furchtbar dringend. Wenn die auf die Bundesstraße oder die Bahnstrecke geraten, kann sonst was passieren.“

„Aber bitte, Frau Freimuth“, Engel fehlten fast die Worte vor Empörung. „Sie können mich doch nicht mit diesem…“ sie rang um neutrale Worte, „…diesem komischen Leuchten da im Wasser allein zurücklassen. Wer weiß, was das ist? Mich gruselt’s ja jetzt schon. Bitte, also wirklich.“

„Bleib du auch hier, Marion“, lenkte der Bauer rasch ein. „Wenn es das ist, was ich mal so fürchte, braucht die Polizei uns sowieso bald. Ich beeile mich mit den Viechern.“

„Aber du kannst die Büffel doch nicht allein holen“, wandte seine Angetraute ein.

„Herr Freimuth“, stammelte auch Engel hilflos. „Sie können uns Frauen doch hier nicht allein lassen.“

Damit jedoch machte sie die Bäuerin ärgerlich.

Konfliktsituationen war Marion Freimuth gewohnt, sie besaß jede Menge Viehzeug und eine große Verwandtschaft, außerdem wuchsen auf ihrem Hof mehrere Kinder heran.

„Fahr schon los“, ließ sie ihren Mann von der Leine.

„Ich telefonier’ mit Norbert und Johann“, fiel dem ein. „Die helfen bestimmt.“

„Und wirf gleich den Ältesten aus dem Bett, der muss auch mitmachen.“

„Na siehst du. Zu viert schaffen wir das. Und ihr haltet hier die Stellung. Ist vielleicht doch nur ein Reh. Ein Albino oder so. Ich komme zurück, sowie ich kann.“

Entschlossen stiefelte er zum Weg und erklomm seinen Agrarpanzer.

„Nimm den Treibewagen mit, Thomas“, rief seine Frau ihm nach. Es ging im Aufröhren des Dieselmotors unter.

„So, Frau Meier“, ergriff die Bäuerin das Steuer. „Jetzt leinen Sie Ihren Hund an und dann kommt die Polizei an die Reihe. Ich hoffe nur, es ist nicht das, was ich fürchte. Wieso muss das ausgerechnet uns passieren?“

Tatort

„Schön, dass du gleich kommen konntest, Klaus“, empfing Oberkommissar Weber den Hannoverschen Gerichtsmediziner. Die beiden kannten sich seit Langem. In der Regel war der Anlass ihres Treffens traurig, was sie zu ignorieren gelernt hatten.

„Tut mir leid um deinen freien Tag“, schob er nach. Zusammen mit einigen Kollegen forschte Weber auf der Büffelwiese nach dem Was, Wie und Warum der letzten Nacht. Er kam direkt aus dem 60 km entfernten Nienburg. Dort befand sich sein Arbeitsplatz, die Polizeiinspektion Nienburg-Schaumburg. Weber stand seit fast 30 Jahren in den Sielen der Ordnungshüter und verfügte über eine Routine, die sich nur noch durch Extremereignisse aus der Balance bringen ließ. Lag ein Kapitaldelikt im Schaumburger Land an, fiel es in sein Aufgabengebiet.

Ergänzt wurde sein Team im Moment durch zwei Spurensicherer sowie Fanny Reichert und Kai Müller, beide Polizisten aus Bückeburg. Weber nannte sie gern seine rechte und seine linke Hand.

„Spar dir dein Geheuchel. Mir geht’s gut, Heinrich“, wehrte Klaus Neddermeier-Lau jetzt ungnädig ab. Der Mediziner liebte seine Arbeit. Heute besonders. Außerdem ließ er seinen Zynismus gern an anderen aus, auch sein Freund Heinrich Weber bekam diesbezüglich kein Pardon.

„Haben die ihn gefunden?“, fragte er mit Blick auf zwei müde Streifenbeamte, die sich am Rand des Geschehens hielten. Die Nachtschicht samt Auffinden und Bergen einer Leiche hatte sichtbare Spuren auf ihren Mienen hinterlassen.

„Nicht ganz. Erzähl ich dir später, Klaus. Bist du gut aus den Federn gekommen?“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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