18,99 €
Sind es spezielle Ereignisse oder eine längere Entwicklung, die die für ihre kritischen Ansichten bekannten Autoren, Patrik Baab, Ulrike Guérot, Gabriele Gysi, Werner Köhne, Michael Meyen, Ullrich Mies, Hermann Ploppa, Dirk Pohlmann, Werner Rügemer, zu Kämpfern für echte Demokratie werden ließen? Eine spannende aber auch unterhaltsame, teils sogar lustige Lektüre erwartet den Leser.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 234
Veröffentlichungsjahr: 2024
Staatsfeind?
Wie ich zum Kämpfer für echte Demokratie wurde
www.philosophischer-salon.de
Danksagung
Der Herausgeber bedankt sich bei allen beteiligten Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung. Bereits die Vielfältigkeit der Herangehensweise an dieses persönliche Thema entwickelt ein spannendes Eigenleben.
Ganz besonderen Dank an die Lektorin aber auch für das so freundliche Vorwort sowie an Manuela Essig für die Hilfe beim Buchsatz und letzten Korrekturen.
Für Mia
eine Welt der Liebe, Freiheit und Wahrheit
Umschlag, Illustration: Sabine Marx
Lektorat, Korrektorat: Annette van Gessel
Druck und Distribution im Auftrag des Herausgebers, Philosophischer Salon Köln, tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-384-15001-1
e-Book
978-3-384-15002-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autoren verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgt im Auftrag des Herausgebers, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Vorwort
Türklingeln. „Erste Etage rechts“, kommt es aus der Gegensprechanlage.
„Herzlich willkommen im Philosophischen Salon Köln!“
Ich betrete eine exquisite Privatwohnung im südlichen Köln mit einem atemberaubenden Blick auf den Rhein. Die Gedanken werden weit bei diesem Blick.
Beim Eintreten herrscht großes Gewusel, viele Gäste sind schon da. Alle unterhalten sich, in der Luft liegt die gespannte Erwartung auf den Vortrag des heutigen Referenten.
Wie kommt jemand überhaupt dazu, in den eigenen Privaträumen einen Philosophischen Salon zu veranstalten?
Es begann damit, dass sich die Salon-Gründerin, Sabine Marx, in Köln auf die Suche nach einer Gesellschaft begab, die sich philosophisch mit dem Thema Atheismus auseinandersetzen und ihren Mitgliedern gedanklichen Austausch darüber ermöglichen sollte. Aber Fehlanzeige.
Die Suche verlief lang, zäh und ergebnislos. Schließlich kam die überzeugte Atheistin zu dem Schluss: „Das gibt es nicht. Dann muss ich das eben selbst machen!“
So entstand der erste Anlauf – eine kleine Gruppe, die sich tollkühn unter dem Namen „Die Zeugen Darwins“ zusammenfand.
Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass die Beschränkung allein auf das Thema Atheismus im Spannungsfeld zur Religion zu eng war – es gab großen Bedarf zum Austausch über vielfältige weitere Themengebiete und Aspekte des Lebens. Die Zeugen Darwins wurden zum Philosophischen Salon und erweiterten ihren Gesprächshorizont. Da sich keine anderen Räumlichkeiten finden ließen, stellte die Initiatorin kurzerhand ihre Privaträume zur Verfügung. So weit zur Historie.
Persönlich kam ich das erste Mal vor einigen Jahren zum Salon, um gemeinsam mit anderen Aktivisten einen Vortrag über den politisch verfolgten WikiLeaks-Journalisten Julian Assange zu halten. Wir blieben. Seit unserem Vortrag war ich fast jedes Mal mit dabei und habe den Salon nur in absoluten Ausnahmefällen verpasst, wenn es sich partout nicht anders einrichten ließ.
Mittlerweile habe ich die Ehre, den Salon auch als Moderatorin unterstützen zu dürfen, was ich sehr gerne tue.
Bereits vor Beginn des Referenten-Vortrags ist die Hausbar eröffnet. Die Salon-Besucher haben den ganzen Abend lang eine reichhaltige Auswahl an feingeistigen sowie geistfreien Getränken. Als rein privates Unterfangen ohne jeglichen kommerziellen Bezug ist der Philosophische Salon bei Selbstdenkern in Köln und in der Region inzwischen zu einer kleinen Institution geworden.
Bevor der Vortrag beginnt, erklimmt der Referent eine kleine Stufe zu einem Podest vor der malerischen Rhein-Kulisse, auf dem ein gemütlicher Großvatersessel steht. Daneben steht eine heimelige Lampe. Von diesem Sessel aus lässt sich entspannt zu allen möglichen Themen referieren.
Ich bin gespannt, was der aktuelle Vortrag und der Abend für uns bereit halten mag. Im gesamten Wohnzimmer sind Stühle aufgestellt, und auch der Tisch in der etwas höher gelegenen Essecke ist voll besetzt. Um ein breiteres Publikum zu erreichen, wird der Vortrag mitgefilmt, von der Salon-Gründerin persönlich geschnitten und kostenfrei auf der Homepage des Salons
www.philosophischer-salon.de
zur Verfügung gestellt. Die anschließende Diskussionsrunde findet inzwischen ohne filmische Begleitung statt – so darf gerne frei von der Leber weg kontrovers diskutiert werden. Das ist ohnehin das Motto des Philosophischen Salons: Jede Meinung wird gehört. Es richtet sich explizit gegen die mehr und mehr grassierende Repressionsmethode des sich gegenseitig Zensierens und der Unterdrückung von Meinungen. Auf diese Weise versteht sich der Salon als kleines Mosaiksteinchen echter, gelebter Demokratie, die auf Diskurs beruht.
Es geht los. Die Präsentation startet, und das Publikum lauscht gebannt.
Von hin und wieder eingeworfenen Kommentaren und Seitenggesprächen lässt der Referent sich nicht beeindrucken. Je später es wird, desto mehr nimmt das Getuschel allerdings zu – man spürt deutlich den Redebedarf der Anwesenden. Der Vortrag ist mittlerweile aber auch schon ans Ende gelangt. Pause. Die Gläser werden wieder aufgefüllt, und die Raucher genießen vom Balkon aus den Anblick der Sonne, die hinter dem Rhein versinkt. Es herrscht eine besondere, inspirierte Atmosphäre, man tauscht sich bereits jetzt angeregt über den Vortrag aus. Dann startet die Diskussion. Die Fragen und Kommentare brennen den Salon-Besuchern bereits unter den Nägeln. Es gibt durchaus nicht nur Zustimmung, es wird kontrovers diskutiert. Aber bei aller Meinungsverschiedenheit geht man dennoch respektvoll miteinander um. Wütendes Aufspringen und Verlassen des Raumes unter geräuschvollem Türknallen kam bisher nur ein einziges Mal vor, bildet also die absolute Ausnahme. Die Diskussion verläuft meinungspluralistisch und friedlich.
Zum Ende des Gedankenaustauschs in großer Runde gibt es meist immer noch weitere Wortmeldungen, aber irgendwann ist ein Schlussstrich erforderlich. Doch der Austausch geht nach der offiziellen Diskussion in kleinen Gruppen und privaten Gesprächen weiter, meist bis tief in die Nacht hinein.
Meiner Meinung nach basiert jede zivilisierte Gesellschaftsform letzten Endes darauf, dass sich einzelne Individuen respektvoll über die eigenen, mehr oder weniger geteilten, mitunter gleichen, zuweilen gegensätzlichen Meinungen austauschen können.
Für mich sind die Diskussionen im Philosophischen Salon eine Keimzelle einer Gesellschaft, die in der Lage ist, verschiedene Meinungen auszuhalten und sie sogar begrüßt, weil sie erkennt, dass, je pluraler die Meinungen sind, desto stärker die Gesellschaft ist. Wenn man davon ausgeht, dass in jeder aufrichtigen Meinung zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten ist – und sei es noch so winzig – so trägt jede einzelne Meinung zu einem Gesamtbild bei, das umso vollständiger wird, je mehr einzelne Meinungs-Facetten hinzukommen.
Im Laufe seines mehrjährigen Bestehens hatte der Salon die Ehre, viele brillante Köpfe, zahlreiche illustre Gäste und herausragende Referenten begrüßen zu dürfen. Die Salon-Gründerin verriet mir, dass sie sich ausgesprochen über jede einzelne Zusage dieser Vordenker unserer Zeit freut, das vorliegende Buch mit jeweils einem Beitrag zu unterstützen.
Bei der Entstehung des Buches ging es dieses Mal nicht so sehr um die Theorien und Analysen, sondern eher darum, wie die klugen Köpfe und Kritiker der aktuellen Zeit dorthin gekommen sind, wo sie aktuell stehen und wie ihr Weg dorthin verlief. Auf die daraus resultierenden Beiträge darf man zu Recht sehr gespannt sein!
Der Salon bedankt sich ganz herzlich bei allen an diesem Buchprojekt beteiligten Menschen!
Wir wünschen allen Lesern viel Vergnügen, viele Erkenntnisse bei der Lektüre und eine gute Zeit auf dem Weg in eine neue meinungspluralistische Gesellschaft des echten Diskurses!
Marie Wasilewski
Cover
Titelblatt
Widmung
Urheberrechte
Vorwort
Patrik Baab
Eine Art Zorn
Ulrike Guérot
Vom Dissidententum im postdemokratischen Zeitalter
Oder: wie ich mein Land verlor…
Gabriele Gysi
Die Macht der Worte
Werner Köhne
Wie wurde ich der, der ich nicht war?
Michael Meyen
Corona als Erfolgsgeschichte
Ullrich Mies
Warum ich widerständig wurde
Hermann Ploppa
Dirkis Dreirad – oder: wie ich zum Eigendenker wurde
Dirk Pohlmann
Wie ich Dissident wurde
Werner Rügemer
Ein langer Weg zur Erkenntnis
Cover
Titelblatt
Widmung
Urheberrechte
Patrik Baab
Werner Rügemer
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
Patrik Baab
Eine Art Zorn
Das Fenster zum Park – für sie war es ein Fenster zur Hölle. Da unten stand er, unterm Laubdach der Bäume oder im Winter mit Schneehaube auf der Mütze, massiv und unverrückbar. Beim ersten fahlen Morgenlicht konnte sie ihn sehen, wie er ihr den Rücken zuwandte, vollendete Verachtung. „Hure und Heilige“ hatte er sie genannt.
Sie lebte in dieser Wohnung im Südflügel des Scheremetjew-Palastes nah der Fontanka, und jedesmal, wenn sie am Litejnyj Prospekt entlanglief, damals wie heute Sitz des Geheimdienstes, an Hausnummer 53 in den Innenhof einbog und nach links den Park Richtung Haustür querte, sah sie IHN. In der zweiten Etage überlebte sie die Verhaftung und Erschießung ihres Mannes; die Verhaftung und Deportierung ihres zweiten Mannes; die beiden Verhaftungen ihres Sohnes.
Heute befindet sich in dieser Wohnung in St. Petersburg ein kleines Museum für Anna Achmatowa. Hinter Glas liegt dort ein verblichenes Schwarzweiß-Foto. Darauf sieht der Besucher, was sie beim Blick aus dem Fenster sah, morgens, mittags, zur Nacht: Josef Stalin hatte eine steinerne Büste seiner selbst unter ihrem Fenster aufstellen lassen, dem Park zu- und von ihr abgewandt: Du entgehst mir nicht. Diese Büste unterm Laubdach - der steingewordene, subtile Sadismus der Macht.
Dieses vergilbte Foto: Ich weiß kaum, warum mir das auffällt. Es ruft Erinnerungen wach. Oder besser: Es greift welche heraus. In Traumbildern tauchen die Mächtigen auf als bedrohliche Schatten. Am Tag sind die Sinne geschärft für übergriffige Gesten. Doch Erinnerung ist nur ein Fenster, der Blick hinaus bleibt eng gerahmt. Erfahrung ist inkonsistent, diskontinuierlich; sie führt in die Trümmer des beschädigten Lebens. Es gibt keine langen Linien, nur die „biografische Illusion“.1
In der Dunkelheit hämmern kleine Fäuste gegen die verriegelte Tür. Er spürt noch die kalten Stufen hinunter in den Keller. Er schreit in panischer Wut. In diesem Verließ wird er nun die Nacht verbringen. Hineingeworfen hat den Vierjährigen die Tochter jenes Lagerkommandanten Friedrich Stauter in der schwarzen Uniform, die seine Mutter war. Der da unten im Keller sitzt auf kalten steinernen Stufen, das bin nicht ich. Ich - ist ein anderer.2 Die Schläge, die Schreie. Sie erregte sich an der Gewalt, konnte kein Ende finden: Du entgehst mir nicht. Ihr Bruder Fritz: „Du machst Dir den Jungen kaputt!“ Die dunkle Seite der Macht hat er früh kennengelernt. So wird er dissoziativ, kann Angst und Schmerz ins hinterste Verließ der Seele sperren. Jahre später zieht er in Kriege, das Entsetzen seiner Vorfahren in den Schlachthäusern zu wiederholen. Bis heute machen ihn enge Räume und Befehle renitent.
Das Arbeiterkind vom Land rutscht aufs Gymnasium durch jenes Bildungsfenster, das die sozialliberale Koalition geöffnet hat. Der Französisch-Lehrer: „Euch kriegen wir hier schon wieder raus. Dann geht ihr auf den Bau, wo ihr hingehört!“ Die bürgerliche Elite soll unter sich bleiben. Es geht nicht um Bildung; es geht um Interessen; nicht um Argumente, sondern um den Platz am Fleischtopf. Was Klassenkampf heißt, ist ihm schon klar, bevor er je von Marx etwas hört. Die bürgerliche Demokratie ist eine Herrschaftsform: „Das Ganze ist das Unwahre.“3
Doch wer der kleinbürgerlichen Enge entkommen will, muss Abschlüsse haben. Die Schule, die auf die spätere Rolle als Arzt oder Lehrer vorbereiten soll, weckt Lust auf Opposition. Der Kampfgeist erwacht. Er weiß nicht mehr, wie und wann genau. Jedenfalls landet er 1977 beim Team des „Provinzblatt Homburg“. Diese „Alternativzeitung“ hat sich zum Ziel gesetzt, einem regionalen Baulöwen auf die Füße zu treten. Er will aus der Innenstadt von Homburg eine Konsumzone machen. Die Monopol-Presse gehört mit zum regionalen Klüngel und findet nichts dabei. Diesem Kartell wollen sie etwas entgegensetzen. Sie haben eine Kugelkopf-Schreibmaschine und kommen sich sehr modern vor. Ihr Provinzblatt wird mangels Vertriebsstruktur in Blumenläden und Buchhandlungen verkauft. Die Auflage liegt bei 800. Sie wollen die Öffentlichkeit wachrütteln. Tatsächlich spielen sie keine Rolle. Der Baulöwe gewinnt. Die Homburger Innenstadt nicht.
Die Reise nach Freiburg zum bundesweiten Treffen der Alternativ-Presse ist ein großes Ereignis. Der Plärrer aus Augsburg ist vertreten, aus Frankfurt reist der Pflasterstrand an, Radio Dreyeckland ist mit dabei. Aus Berlin und Frankfurt kommen die ersten Gründungsgruppen der taz – sie stellen sich etwas anderes vor als die Wendung des Blattes ins Lager der Marktradikalen und antirussischen Kriegstreiber, wie sie heute vollzogen ist. Großen Erfolg haben sie nicht. Aber was Gegenöffentlichkeit heißt, das wissen sie damals besser als jene narzisstischen Redakteure, die heute in selbstverliebtem Größenwahn der NATO-Propaganda folgen.
Die Kriegsdienstverweigerung 1978 kommt zu spät, kann die Einberufung nicht mehr verhindern. Schießen lehnt er ab, verweigert den Gehorsam: 20
Tage Bau in Bremerhaven. Tagsüber wird die Pritsche hochgeschlossen; Kreise laufen auf acht Quadratmetern; heimlich werden Tabak und Zigarettenpapier durch das Guckloch in der Zellentür geschoben. Eingestuft als Sicherheitsrisiko, wird er vom MAD vernommen. Eine halbe Stunde Hofgang pro Tag, der Wachhabende mit geladener Waffe muss 10 Meter Abstand halten. Ein Offizier im Kübelwagen fährt hinterher, die Kontaktsperre zu überwachen. Der Arrest bricht ihn nicht. Einstecken ist auch eine Lektion. Die Gangs in Neukölln sagen: „Knast macht Männer!“
Zwei Jahrzehnte später berichtet er über völkerrechtswidrige Angriffskriege. Die Soldaten sind es nicht, die Kriege anzetteln. Hineingetrieben werden sie von Politikern, die selbst nicht in den Schützengraben müssen. Der Großvater seines Warschauer Freundes Przemyslaw, Pjotr Fill, hat drei Kriege erlebt: Den Ersten Weltkrieg; den polnischsowjetischen Krieg; den deutschen Überfall auf Polen. Als sein Sohn den Helden spielt, wäscht er ihm den Kopf: „Wenn du den Stiefel der Offiziere im Genick hast; wenn du tagelang im durchnässten Mantel im Dreck liegst; wenn du dich wochenlang nicht waschen kannst und Läuse und Flöhe dir die Haut zerbeißen; wenn dir im Schützengraben voller Wasser die Füße abfaulen – dann weißt du, was Vaterlandsliebe heißt!“ Friedrich Stauter, um 1933: Die niedrige Mitgliedsnummer seines NSDAP-Parteibuchs verschafft ihm die Möglichkeit, sich den besten Bauplatz auszusuchen: ein lebenspraktischer Anreiz. Dass der Faschismus, dem er anhängt, auch eine bürgerliche Herrschaftsform ist und seinen eigenen Interessen entgegensteht, fällt ihm deshalb gar nicht auf: In jeder faschistischen Diktatur gilt das Privateigentum an Produktionsmitteln fort. Max Horkheimer: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen.“4
Bildungsfern wie er ist, wird das Studium zur Entdeckungsreise. Ohne seinen Freund Klaus wäre der Einstieg nicht gelungen: Wie wissenschaftlich arbeiten? Wie politisch diskutieren? Wie ein Stipendium ergattern? All das hat er von ihm. Jeder ist seines Glückes Schmid – das ist das Mantra der Neoliberalen. Es ist falsch.
Pier Paolo Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ kommt in die Kinos. Der Film lässt ihn nachdenken über die Ehe von Faschismus und Sadismus: zwei Seiten derselben Medaille. Es ist die Psychologie des Faschismus, die im Sadistisch-Autoritären die Diktatur überlebt.5
Jene, die heute an der Uni Kiel Aufkleber mit der Parole „Patrik Baab ist ein Faschist“ verteilen, bleiben ohne Begriff von der Sache. Dimitroff hat es gewusst: „Der Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“6 Ihre Merkmale: Antikommunismus und Antisozialismus; Anti-Russismus; Willkürherrschaft. Faschismus ist die Unterdrückung der Arbeiterklasse. Das Wichtigste: Faschismus heißt Krieg. „Russland ruinieren“ (Baerbock), „Waffen, Waffen und nochmal Waffen“ (Hofreiter), „egal, was meine deutschen Wähler denken“ (Baerbock): „Wenn man ein bisschen kratzt,“ sagt der JuSo-Kreisvorsitzende von Homburg 1977, „kommt unter der Farbe Grün schon die Farbe Braun hervor!“ Damals wollte er es nicht glauben.
Die Massenbewegungen, die den Faschismus an die Macht bringen: SA, Schwarzhemden, Falange, Pfeilkreuzler – sie halten sich für die Guten. Überzeugt von der eigenen Geltung, greifen autoritäre Charaktere nach der Macht. Der Historiker Götz Ali sieht die Grünen genau in dieser Tradition des identitären Denkens: „Auch der Nationalsozialismus war eine identitäre Bewegung.“7 Heute steht eine bornierte Antifa an der Seite der Kriegstreiber – nützliche Hilfstruppe der NATO: Transatlantifa.8
Das Lieblingsbuch: „Negative Dialektik“. Hans Albert, Professor für Philosophie, selbst ein Neopositivist: „Lesen Sie sich das bis nächste Woche mal durch!“ Adornos Sätze – sofort verständlich: „Identität ist die Urform von Ideologie… Ideologie dankt ihre Resistenzkraft gegen Aufklärung der Komplizität mit identifizierendem Denken: mit Denken überhaupt. Es erweist darin seine ideologische Seite, dass es die Beteuerung, das Nicht-Ich sei am Ende das Ich, nie einlöst; je mehr das Ich es ergreift, desto vollkommener findet das Ich zum Objekt sich herabgesetzt. Identität wird zur Instanz einer Anpassungslehre, in welcher das Objekt, nach dem das Subjekt sich zu richten habe, diesem zurückzahlt, was das Subjekt ihm zugefügt hat. Es soll Vernunft annehmen wider seine Vernunft. Darum ist Ideologiekritik kein Peripheres oder Innerwissenschaftliches, auf den objektiven Geist und die Produkte des Subjektiven Beschränktes, sondern philosophisch zentral: Kritik des konstitutiven Bewusstseins selbst.“9
Das ist es, was bis heute fehlt: Ideologiekritik – an Universitäten, in Redaktionen. Sie wird zertrampelt vom identitären Denken. Es gibt Bekenntnissen Vorrang vor Erkenntnissen. Dissidenten werden als „Querdenker“, „Schwurbler“, „Putin-Versteher“, „Klimaleugner“ oder „Corona-Leugner“ belegt – Kampfbegriffe, die in der Sache nichts aussagen, sondern Personen diffamieren. Wie selten zuvor dienen die ideologischen Apparate der Affirmation bestehender Machtverhältnisse. Der Rückfall der Aufklärung in Mythologie, der Vormarsch der Gegenaufklärung, von langer Hand vorbereitet, ist in vollem Gange.10
Der Prager Frühling wird zum Dreh- und Angelpunkt, beim Lernen, Schreiben, Politisieren: Vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz bleiben russische Panzerketten. Aber die Ideen eines Ota Šik zu einer gemischten Wirtschaft, in der sich Markt und Plan gegenseitig ausbalancieren, leben fort. So wird der Prager Mai auch Teil seines Films über den friedlichen Umbruch in der DDR.11 Prag 68 bleibt aktuell: Sein Freund Uwe Leuschner hatte in Prag studiert. Später baute er das asiatische Containergeschäft für DB-Cargo auf. Immer wieder weist er darauf hin, dass die chinesischen Wirtschaftsreformen sich auch auf Ota Šik stützen.
„Anton, Du spinnst!“ Unbedacht dahingesagte Worte irgendwann in den 80ern, als Antonin J. Liehm schon längst in den Westen geflohen und mit der Zeitschrift L 76 gescheitert war. Antonin war 1968 Chefredakteur der Literární Noviny gewesen, als Alexander Dubcek aus der kommunistischen Partei heraus den Prozess der Demokratisierung einleitete. Antons Mitstreiter waren Milan Kundera, Pavel Kohout, Jan Procházka. Nach dem Einmarsch der Russen zog er es vor, nach Paris zu fliehen, statt Selbstkritik zu üben.
„Ich plane, eine europäische Kulturzeitschrift aufzubauen, in mehreren Sprachen!“ Das erzählt Anton beim Bier an der Bar. Jahre später entsteht „Lettre International“, zunächst auf Französisch. 1987 bietet er Anton einen Beitrag über Joseph Schumpeter an. Der antwortet: „Wir drucken nur Essays. Wenn es sich um einen Essay handelt, bringen wir das!“12 Irgendwann liegt ein Belegexemplar im Briefkasten. Dann ein Anruf der Deutschen Bank: Ein Scheck über 200 Francs Francais sei angekommen; darauf stehe nur sein Name und „Bank von Deutschland“. Knapp bei Kasse, wie er ist, löst er den Scheck ein; das Geld wird versoffen.
Die Zeit im Kosovo 1999 für den NDR-Reporter ein prägendes Erlebnis. Zum ersten Mal gerät er mit Kameramann Gunnar H. am Rande eines Marktpatzes in Prizren unter Beschuss. Im Krankenhaus wollen sich zwei Jungs, 12 und 14 Jahre alt, am Fuß kratzen. Aber da ist kein Fuß mehr. Beim Versuch, Waffen für die UCK über die Berge von Albanien ins Kosovo zu schmuggeln, waren sie auf Minen getreten. Nun liegen sie da, am Oberschenkel amputiert: Phantomschmerz. Die Bilder wird er nicht mehr los. Sie immunisieren gegen die Propaganda-Phrasen der Kriegstreiber. Das Entsetzen bringt ihn um den Schlaf - und vermeidet Drehfehler im moralischen Kompass.
Im Stonewall Inn in Greenwich Village wird er in den Millennium-Jahren mit Handschlag empfangen, so oft ist er Gast. In der Christopher Street 53 hatte 1969 eine üble Polizei-Razzia den Stonewall-Aufstand ausgelöst. Schwule, Lesben und Transen setzten sich gegen die Polizeigewalt zur Wehr. Die Unruhen waren der Auftakt: Seither kämpfen Schwule und Lesben für gleiche Rechte. An den Aufstand erinnert der Christopher Street Day.
Karaoke mit Johnny Macado und Mathew Nowomlynki in einer Bar unter der Brooklyn Bridge. Mathew gehört eine große 2-Zimmer-Wohnung in der 8th Avenue Ecke Carroll Street. Vom Luxus-Erben wie er bis zum Taxifahrer ist alles in der Gay Community versammelt. Genau da setzt die CIA an. Ihre Vorfeldorganisationen tun alles, um den Kampf um Minderheitenrechte vor die Verteilungsfrage zu schieben. Der Konflikt zwischen oben und unten spielt bald keine Rolle mehr. Soziale Gleichheit wird durch Quote ersetzt. Betuchten Bürgerkindern kommt das gelegen; Umverteilung ist nicht in ihrem Sinne, sie haben etwas zu verlieren.
Die Sache nimmt Fahrt auf mit dem zweiten Irakkrieg. USA und UK schmieden die „Koalition der Willigen“. Denn Russland, Frankreich, China und Deutschland lehnen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ab. Washington will verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Spätestens von da an arbeiten US-Organisationen an der Unterwerfung europäischer Eliten: Nachwuchskräfte in Politik, Wirtschaft, Medien werden transatlantisch eingebunden und mit Karrierechancen gelockt.13 Unbotmäßige Führungskräfte wie Karin Kneissl in Österreich, Matteo Salvini in Italien oder Dominique Strauss-Kahn werden diskreditiert. An ihre Stelle treten willfährige Satrapen, auch im Journalismus.14
Zu neuen völkerrechtswidrigen Kriegen gehört die kognitive Kriegsführung – der Angriff der NATO auf die Psyche.15 Das natürliche Entsetzen der Menschen vor Krieg und Tod zum Schweigen zu bringen, erfordert die Umformung des Bewusstseins. Ein Trommelfeuer der Propaganda muss den moralischen Maßstab verdrehen: Wir sind die Guten, die anderen die Bösen; unsere Waffen töten nicht, sie retten Leben; wir erobern nicht, wir befreien; wir helfen den Bedrängten, die anderen schlachten ab. So lassen sich Menschen daran gewöhnen, dass Folter in Abu Ghraib, Einsatz von Uranmunition in Serbien oder Raketen auf Zivilisten im Donbass moralisch gerechtfertigt sind, wenn es nur den Guten nützt.16
Teil der Propaganda ist die semantische Kolonisierung. Der Begriff „Verschwörungstheorie“ wird reaktiviert. Die CIA hatte ihn schon nach dem Mord an John F. Kennedy erfolgreich verwendet, als ruchbar wurde, dass die Agency in den Anschlag verwickelt war.17 Mit dieser Denunziations-Vokabel werden nun alle diskreditiert, die der Affirmation der Macht mit Skepsis begegnen. Prekär beschäftigte Bürgerkinder in Politik, Bildung und Medien greifen sie begierig auf – bietet sie doch die Möglichkeit, Aufsteiger zu diskreditieren und von den Fleischtöpfen zu verdrängen. „Cancel Culture“ ist ein strategisches Ablenkungsmanöver:
Andere denunzieren und stigmatisieren vernebelt den Kampf Arm gegen Reich.18
„Du bist mein schlechtester Schüler!“ Sein Russisch-Lehrer Sergej bekommt einen Wutanfall: „Lass uns einen trinken gehen, das kannst Du besser!“ Russland ist reiner Zufall. Der NDR schickt ihn zu einer Politikerbegleitung nach St. Petersburg. Dort hat er sich vor allem dumm drangestellt. Dem erfahrenen Kameramann Peter Voss gelingt es, als ironisch-freundlicher Gentleman die Menschen für sich zu gewinnen. Er staunt über die kurzen Röcke der Mädchen, wie sie mit hochhackigen Schuhen den Trolleybus bestiegen. Das Fahrgeld in Kopeken geben sie durch die Reihen der Stehenden nach vorn zum Fahrer. Zur gleichen Zeit wird das Volksvermögen in umgekehrter Richtung durchgereicht: von den Staatsorganen zu Oligarchen und westlichen Investmentfonds. Es ist Ende Juli und 32 Grad heiß. Da lernt er: Russland ist anders als in den Landser-Heftchen zu lesen war. Auf dem Heimflug Anna Achmatowa im Gepäck und um eine Erfahrung reicher: Glaube nicht, was alle glauben; fahr hin und schau Dir’s an.
Er will die Möglichkeiten des NDR für kritische Berichterstattung nutzen. Ohne die russischen Kollegen wie Alexander kann es nicht gelingen. Die erste längere Recherche nimmt sich russische Neonazis vor. Sie haben drei Drehtage Zeit und Arbeit für fünf. Sie bleiben schlaflos und machen die Nächte durch. So ist das Zeitproblem gelöst. Das Material reicht für die erste Doku über russische Neonazis in Deutschland.19
2003 – ein heißer Sommer in London: Distanz zu den Verliesen der Kindheit. Vom Apartment in Chelsea Cloisters läuft er die Sloane Avenue hinunter und dann nach links zum Sloane Square, von dort mit dem Doppeldecker-Bus zum Hyde Park und Picadilly Circus, dann zu Fuß über den Markt in Soho ins Studio in der Great Chapel Street. Es ist die Zeit der “Dodgy Dossiers”, “sexed up” von Alistair Campbell, Tony Blairs Spin Doctor. Die Zeit der großen Lüge, mit dem der Überfall auf den Irak beginnt. Wer weiß, wie völkerrechtswidrige Kriege herbeigelogen werden, wird auch den Lügen der NATO vom „unprovozierten“ Angriffskrieg Putins auf die Ukraine nicht glauben.20
Die BBC verrät eine Quelle. Der Regierungswissenschaftler David Kelly begeht Selbstmord. Tatsächlich? Wer den Obduktionsbericht kennt, wird weitere Quellen studieren und nicht Zeitungsmeldungen.21
Nach Einbruch der Nacht noch ein paar Pints im Hour Glass auf der Brompton Road. Vor dem Pub sitzend beobachtet er die Banker, wie sie ihre Lamborghinis aus der Tiefgarage holen und ein paar Runden drehen. Es ist unglaublich viel Geld in der Stadt: noch fünf Jahre bis zum Ausbruch der Finanzkrise. An der Treppe vor Chelsea Cloisters steigen ukrainische Touristinnen in die Cabrios. Die Scheine, die sie in vier Wochen nachts anschaffen, reichen zuhause fürs ganze Jahr. Jedem ist klar, dass die Börsenblase irgendwann platzt. Keiner denkt daran. Nimm, solange Du was kriegen kannst.
Er hat ein Schlafzimmer, eine Küche, zugige Fenster und einen tropfenden Wasserhahn. Hier will er für immer aus dem Koffer leben. Allzu gerne folgt er den Spuren von Monica Ali in die Brick Lane.22 Jahre später geben Banker damit an: Dort hätten sie auch einmal in miesen Absteigen übernachtet. Bangladesch mitten in London, damit kann man sich den Multikulti-Anstrich verpassen, der beim Aufstieg in den Geldadel hilft.
Es ist ein großer Selbstbetrug. Seit Maggy Thatcher ist London eine umkämpfte Stadt. Sieger wird immer The Bank. Sie macht sich ihre eigenen Gesetze.23 Die anderen gehen leer aus. Am Ende bleibt nur, das Weite zu suchen. Niemand beschreibt es besser als John Lancaster in „Capital“: Ein Banker und seine Frau im Kaufrausch, eine ältere Dame, die an einem Gehirntumor stirbt, die pakistanische Familie, die den Laden an der Ecke betreibt, der junge Fußballstar aus dem Senegal – sie alle suchen in London ihr Glück. Doch der Finanzcrash wirft sie aus der Bahn.24 Bei Kate Tempest bleibt die Flucht mit Drogengeld: Leben in den rauchenden Trümmern des Neoliberalismus.25