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Ein spektakuläres Debüt. Hart, brutal und hoch politisch. Montagsdemonstrationen, Bürgerwehren, brennende Flüchtlingsheime. In Dresden sind schon vier Frauen einem brutalen Vergewaltiger zum Opfer gefallen. Theodor Decker, Boulevardjournalist wider Willen, wird von den Dämonen seiner Vergangenheit eingeholt. Auf der Suche nach Gerechtigkeit begibt er sich in die Untiefen einer zerrissenen Stadt. Zwischen waschechten Nazis, Prostituierten, Dealern und korrupten Politikern taucht bald die erste Leiche am Ufer der Elbe auf. Der sadistische Mord ist erst der Anfang.
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Seitenzahl: 590
Veröffentlichungsjahr: 2021
Für meine Familie.
1.
Stadt der Angst
2.
Epilog
3.
Nachwort
4.
Über den Autor
5.
Preview: Die Fehde
I’m gonna break both of your jaws.
I’m gonna mess up your face.
I’m gonna knock out both your eyes
'put you in your grave.
…
I ain’t gonna have no feelin’
I bury you in a paper sack.
Snooky Pryor - Bury You in a Paper Sack
Es scheint als braucht's erst den großen Knall.
Wir meinen wir fliegen noch, obwohl wir fallen.
Doch Fallen fühlt sich nur wie Fliegen an
wenn wir aufwachen, bevor wir auf'n Boden prallen.
Udo Lindenberg, Max Herre - No Future
Montag
Ein stockfinsterer Wintermorgen, als wolle Gott das Ende der Welt ankündigen. Eiseskälte kriecht durch das Elbtal, zieht Rücken und Röcke hoch und rein ins Knochenmark, wie sonst nur bei Toten. Der Schnee ist grau und festgelatscht. Arktischer Wind bläst zwischen den Häusern. Türscharniere quietschen. In den Kneipen verwachsen die Säufer mit ihren Hockern. Dürre Punks liegen wimmernd auf der Bahnhofstreppe und Hausfrauen schmiegen sich an Ehemänner, die sie längst zu verachten gelernt haben.
Es ist 6:30 Uhr, als Theodor Hagen Decker die Haustür zuzieht. Mit dem ersten Schritt tritt er in gefrorene Pennerpisse. Die gelben Eiskristalle verfangen sich in den Poren seiner Stiefel. Sein Auto steckt in einem Eisberg. Er kratzt fluchend ein Loch in den Scheibenfrost und steigt ein. Der Motor springt an wie ein Schiffsdiesel. Er verkabelt das Handy, dreht die Musik auf.
Where the road is dark and the seed is sowed
Where the gun is cocked and the bullet's cold
Where the miles are marked in the blood and gold
I'll meet you further on up the road.
Langsam schiebt der Benz über den knirschenden Schnee. Die Vibrationen wärmen und lösen den Schlafsand zwischen seinen Hirnwindungen.
108 Stunden zuvor
Die Nachtluft ist kalt und rein, ihre Spur darin eindeutig. Er folgt ihrem Duft. Blumiges Parfum, Schweiß und der Chemiecocktail den Menschen ausstoßen, wenn sie die nackte Angst verspüren. Er folgt ihr hörbar. Schnaufend, die Absätze seiner Stiefel tönen stumpf bei jedem Schritt. Sein Herz klopft ein Trommelsolo zum Rasseln seiner Lunge. Er folgt ihr gierig. Wie ein Ausgehungerter, die Hände feucht und zu Fäusten geballt, Schweiß sättigt seinen Hemdkragen. Wie feucht ist sie? Er sieht die Zukunft, sieht sie, den Engel, die Schlampe, vor sich liegen. Die unschuldigen Augen weit aufgerissen, die vollen Lippen bebend. Auch seine Hände zittern, Blut staut sich zwischen seinen Beinen. Er malt sich aus, was er ihr antun wird, malt es sich schon die ganze Zeit aus, bei jedem Schritt, bis ins kleinste Detail. Der Moment, wenn er ihr weiches Fleisch zu fassen bekommt. Ihr Widerstand und wie er ihn brechen wird, wie er ihn immer gebrochen hat. Dieses Gefühl in seinem Bauch wenn sie versteht. Wenn sie realisiert, erst langsam, dann zunehmend mehr, dass es keinen Ausweg gibt, dass sie nicht mehr wegrennen, sich nicht mehr wehren kann; dass da niemand ist, der kommen und sie retten wird. Dass sie allein ist, so ganz allein. Er wird sich nicht entschuldigen, wird es nicht auf die sanfte Tour versuchen. Bald wird sich in ihrem hübschen Kopf das Blut stauen. Wie rote Tinte wird es in das Weiß ihrer Augen rinnen. Die Flügel ihres filigranen Näschens werden vibrieren, wenn er ihren Hals umfasst hält. Mit verzerrtem Gesicht wird sie den Mund zum Schreien weit aufreißen und trotzdem wird da kein Laut, nicht einmal ein Krächzen zu hören sein. So war es immer, so war es bei all den anderen. Es ist ein uralter Kampf, das weiß er, ein Ritual aus einer vergangenen Zeit. Etwas, dass vor wenigen hundert Jahren völlig selbstverständlich gewesen wäre. Etwas, dass sich ein Mann sich erlauben durfte, ja, das sogar erwartet wurde, von Damen und Herren gleichermaßen. Und sie wollen es immer noch, denkt er. So oft hat er das bereits gespürt.
Montag
6:43 Uhr, Polizeidirektion Dresden. Gleißendes Licht. Ein Konferenzraum in weiß. Weiß auch die Tische, Jalousien, die Haare des Polizeipräsidenten. Uwe Kolbe, ein gealterter Hüne, Bürstenschnitt, deutliche Geheimratsecken, erhebt sich von seinem Stuhl. Mit den prominenten Augenbrauen, einem fleischigen Gesicht und fleckiger Haut, die stark ins Purpurne geht, könnte er auch als Walfänger durchgehen. Oder Veteran der russischen Mafia. Links neben ihm Polizeioberrat Stefan Hartmüller, Leiter des Polizeireviers West. Kleidung und Frisur wirken unangemessen akkurat, wie bei einer Schaufensterpuppe. Im Gesicht trifft der Ernst der Lage auf den jung-dynamischen Bürokraten. Das Trio wird vervollständigt von der stellvertretenden Bürgermeisterin Dresdens, Dr. Daniela Böhmer, im grauen Hosenanzug. Sie blättert, nein, sie durchfuchtelt die vor ihr auf dem Tisch liegenden Unterlagen. Ab und zu schaut sie auf und blickt die Meute an. Dreißig Pressegesichter, vom abgerocktesten DPA-Korrespondenten in der Midlife-Crisis bis zur Crime-Bloggerin, haben das hier noch nie erlebt (Nur ein einziges Mal!, ruft der Agenturmann und kratzt sich unter dem Bauchnabel). Eine Pressekonferenz gleich am Montagmorgen, das Ende muss nah sein. Es riecht nach kalten Jacken und Kaffeeatem. Die Brandung raumfüllenden Gemurmels bricht sich am Podium, wäscht schaumig über Dr. Böhmers Aktenfetzen und schlägt Kolbe gegen die Backen.
In der hintersten, der letzten Ecke des Raumes sitzt Theo Hagen Decker, Redakteur für Online-, Foto-, Video- und Social-Media bei Saxonews, einem lokalen Boulevardblog. Oder, in den Worten der Publikation: Mehr News braucht kein Mensch, die wichtigsten Nachrichten für uns Sachsen! Die Webseite ist eine Ansammlung kontrastreicher Bilder, hinter denen sich reißerische Artikel verstecken, die man Abends auf der Couch auch nach dem dritten Bier noch gut nachvollziehen kann. Theodor Decker ist einer von insgesamt sechs Redakteuren, die Artikel recherchieren, schreiben und eigene Fotos und Videos anfertigen. Gut ist, was Klicks bringt. Mehr Aufrufe der Seite bedeuten mehr Werbeeinblendungen, und damit verdient der Blog sein Geld. Mehr Impressions! ist das inoffizielle Motto des Unternehmens, das Mantra und Wiegenlied jedes Mitarbeiters.
Decker streicht sich unwirsch die labrador-blonden Haare aus dem Gesicht. Dann tippt er in den Gruppenchat:
Geht gleich los. Kolbe hat Dynamit gefrühstückt.
Peter Maas (01543 756 755 88):Der sieht immer so aus. Halt uns auf dem Laufenden.
Miriam Wolf (0173 898 14 1623):Hast du die Spiegelreflex?
Hab doch mein Handy.
Miriam Wolf (0173 898 14 1623):Da reicht das Licht nicht und Cecile macht wieder Ärger wegen der Qualität.
Könnt mir die Kiste gerne vorbei bringen ;)
Von seinem Platz sieht er ohnehin so gut wie Nichts. Den halben Hartmüller und die linke Schulter des Polizeipräsidenten. Doch nun scheint es los zu gehen. Kolbe räuspert sich, bittet in samtenem Sächsisch um Ruhe und Aufmerksamkeit. Mit bedrohlichem Blick würgt er auch die letzten Quatscher ab.
»In den späten Abendstunden des Donnerstages wurde eine Frau, 31 Jahre alt, in der Dresdner Altstadt Opfer einer versuchten Vergewaltigung. Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand befand sich das spätere Opfer gegen 21:30 Uhr auf dem Heimweg. Sie war zu Fuß allein auf der Herzoginallee unterwegs, als sie plötzlich am Kopf getroffen wurde, vermutlich durch einen Faustschlag. Daraufhin verlor sie kurzfristig das Bewusstsein.«
Kolbe räuspert sich ohne vom Blatt aufzuschauen. Es ist still, nur hier und da klackert eine Notebooktastatur.
»Was dann passierte, ist noch Gegenstand der Ermittlungen und nicht abschließend geklärt. Sicher ist: Der Täter verging sich an ihr. Als sie das Bewusstsein zurückerlangte, wehrt sie sich durch Schläge und Tritte. So war es ihr möglich, den vollendeten Geschlechtsverkehr zu verhindern und die Flucht zu ergreifen. In der Schützengasse gelang es ihr schließlich, durch Klingeln in mehreren Hauseingängen Anwohner zu alarmieren. Diese informierten die Kollegen von der Bereitschaft. Der Täter setzte sich in unbekannte Richtung ab. Bisher können folgende Angaben zum Täter gemacht werden: Hautfarbe unbekannt. 25 - 55 Jahre alt. Kurzes Haar, Farbe unbekannt, ca. 175 - 190 cm groß. Von Seiten der Polizei wurde die Tat aufgenommen und die Frau sodann in das Universitätsklinikum verbracht.«
Decker schüttelt den Kopf. Bei der Beschreibung ist der Typ ja so gut wie hinter Gittern.
Kolbe hebt seinen Blick vom Papier. »Wie sie wissen, ist es aus Gründen des Opferschutzes gerade nicht die Regel, dass wir derartige Taten durch eine Pressekonferenz an die Öffentlichkeit tragen. Wir sehen uns aber zu diesem Schritt gezwungen, da wir nun mit Sicherheit sagen können, dass es im Laufe der vergangenen Monate eine ungewöhnliche Häufung vergleichbarer Taten gegeben hat, wobei die Vorgehensweise des oder der Täter wenigstens in Teilen ähnlich war.«
Decker hackt Stichpunkte in den Gruppenchat.
Laut PP gabs noch andere Taten!? Serie?
Miriam Wolf (0173 898 14 1623):Wann? Uns fällt nichts ein. Wir suchen mal durch die Meldungen der letzten Monate.
Da die Polizei den Anlass für die Pressekonferenz im Voraus nicht bekannt geben wollte, hatte Decker eine weitere Nazitat vermutet. Vielleicht einen Bombenanschlag, wie auf die Synagoge vor ein paar Wochen. Dem aufsteigenden Gemurmel zufolge, wurde auch der Rest des Pressecorps überrumpelt.
Aus den Augenwinkeln sieht er, wie sich zu seiner Linken das Oberarschloch in Stellung bringt. Na großartig.
»Frank Opitz, leitender Redakteur bei unserer Morgenpost.«
Leitender Wichser, denkt sich Decker.
Opitz versteckt seine Bierwanne heute erfolglos unter einem zeltgroßen blauen Hemd. Um den Kragen hat er einen orangenen Seidenschal gelegt, der ihm die Aura eines bessergestellten Päderasten verleiht. Er hält Notizblock und Bleistift, mit dessen gummierten Ende er gegen den Rahmen seiner Brille tippt. Der Situation zum Trotz grinst er breit und entblößt dabei die urinfarbene Klaviatur zwischen seinen fleischigen Lippen.
»Wollen Sie damit sagen, es gibt eine Vergewaltigungsserie?«
Sofort hebt Dr. Böhmer die Hand zum Protest, doch Opitz spricht weiter: »Warum erfährt die Bevölkerung erst jetzt davon? Das ist doch ein Witz! Es muss Ihnen doch klar sein, dass sich nun alle fragen werden, warum diese Bedrohung verschwiegen wurde. Gab es Druck von Seiten der Politik? Das hört sich nach einem Polizeiskandal an!« Um ihn herum zustimmendes Nicken, Genau! und So ist es!, während Frank Opitz sich mit geöffneten Armen nach links und rechts dreht um den Applaus seines Publikums entgegenzunehmen. Dabei bewegt er den Kopf auf und ab, als würde er sich selbst zustimmen.
Polizeipräsident Kolbe beginnt sich aufzurichten, doch Dr. Böhmer ist ihm zuvorgekommen. Sie hat einen Teil ihres Zettelhaufens zusammengekratzt und hält ihn in der geballten Faust nach vorn gestreckt. »Herr Opitz!« Wie ein Peitschenknall. »Ich denke, es wäre für die Bevölkerung dieser Stadt und für die Arbeit unserer Polizei das Beste, wenn wir die Angelegenheit nicht skandalisieren.« Ihre Stimme besitzt diese Gravitas der Macht, einen Leitwolfunterton, von dem sich die Leute gerne mitnehmen lassen. Normale Leute. Für die Journalistenmeute ist es nur ein Taschenspielertrick. Sie haben ihre Beute bereits im Visier.
Decker sieht Frank Opitz weiter lächeln. Auf so eine Reaktion hat er gewartet. Nicht skandalisieren, daraus kann man was machen. Das klingt, als würde vertuscht, verheimlicht, vorenthalten und ist in den Augen eines jeden Lesers unerträglich, wenn daneben Worte wie Vergewaltigungsserie, Angst, Tod und Verderben im Blatt stehen, möglichst unterstrichen und in Großbuchstaben. Überall tuschelt es, einige Kollegen feixen schon. Es herrscht Goldgräberstimmung.
Opitz: »Wir haben also keine (!) Serie aber erneut eine brutale Vergewaltigung, wie bei den Fällen Kampfmüller, diese Veronica Tasch und, äh, wie hieß sie doch gleich? Ach ja, Rieger, Clara Rieger. Oder kennen sie noch weitere Verfahren?«
Hartmüller und Dr. Böhmer schauen Kolbe an, der beide heran winkt. Sie besprechen sich unhörbar leise.
Decker tippt einen der Namen ins Handy und dazu ein Fragezeichen. Die anderen beiden kennt er.
Nadine Kampfmüller, 47 Jahre alt, eine stadtbekannte Unternehmerin, betreibt Pubs und sogenannte Erlebnisgastronomie, hatte vor ca. einem Jahr eine Faschingsveranstaltung im Parkhotel verlassen und sich allein auf den Heimweg gemacht. Sie wurde niedergeschlagen, schwer verprügelt und sexuell missbraucht. Der Täter verschwand im Wald der Dresdner Heide und wurde nie gefasst. Saxonews hatte die Story selbstredend über zwei Wochen ausgeschlachtet, auch wenn zu keinem Zeitpunkt neue Fakten hinzu kamen. Ein Interview hatte die Frau abgelehnt.
Clara Rieger, 23 Jahre alt, war im Sommer letzten Jahres kurz vor Erreichen ihrer Wohnung von einer Gruppe Männer überfallen worden. Danach war sie grün und blau. Die gynäkologische Untersuchung ergab Spuren sexueller Gewalt. Problem: Blackout. Clara konnte sich kaum an etwas erinnern. Sie gab an, zuvor im Park mit Freunden Rotwein getrunken zu haben. Im Blut fand man THC und Rückstände von Amphetamin. Crystal Meth. Der oder die Täter wurden nie ermittelt.
Bisher hatte die Polizei kommuniziert, dass beide Fälle nichts gemeinsam haben. Für Decker war das nachvollziehbar gewesen. Bei Kampfmüller ein Einzeltäter, sehr wahrscheinlich jemand, der ihr von der Faschingsfeier gefolgt war. Eine Gelegenheitstat, ungeplant und sehr brutal. Clara Rieger war über 20 Jahre jünger und von mehreren Männern angegriffen worden. Auch sie trug Verletzungen davon, benötigte aber, anders als die Unternehmerin, keine Operationen, um ihr Gesicht wiederherzustellen.
Warum sollen diese Taten nun doch Teil einer Serie sein, fragt Decker sich. Wo ist der Zusammenhang?
Die dritte Frau, die Opitz erwähnt hatte, kennt Theo Decker nicht. Veronica Tasch. Wer ist sie und wer ist das Opfer von letzter Nacht? Soll sein Kollege Peter mal googlen.
Polizeipräsident Kolbe hat unterdessen einen Schluck aus seinem Wasserglas genommen: »Herr Opitz, ich weiß nicht, wie Sie an den Namen gekommen sind. Den Fall Tasch gibt es offiziell nicht und ich würde aus ermittlungstaktischen Gründen ihre und auch alle anderen Publikationen im Raum dringend darum ersuchen, dass es so bleibt. Keine Namen! Sie kennen den Pressekodex und diese Frauen haben das Schlimmste durchgemacht.«
Alle Arme im Raum in die Höhe. Kolbe, der eigentlich noch einen Schluck nehmen wollte, fügt hinzu: »Sie brauchen jetzt gar nicht erst fragen, warum wir das unter Verschluss halten. Es ist eben erforderlich und mehr werde ich dazu nicht sagen.«
Polizeioberrat Hartmüller will seinem Chef den Arsch retten: »Wir möchten Ihnen noch mitgeben, dass uns keine Hinweise vorliegen, die den Schluss zulassen, dass eine akute Gefahr für die Bevölkerung besteht. Zwischen den Taten liegen jeweils Monate. Damit wir den oder die Täter schnellstmöglich fassen können, sind wir aber auch auf Mithilfe aus der Bevölkerung angewiesen. Deshalb diese Pressekonferenz. Möglicherweise gibt es noch andere Opfer. Es kann auch sein, dass der Täter es in anderen Fällen nur versucht hat und dann aber an der weiteren Ausführung gehindert wurde. Vielleicht hat jemand bei einem Bekannten oder Familienangehörigen auffällige Verhaltensweisen bemerkt. Wir bitten darum, dass sich die Betroffenen in diesen Fällen umgehend an die Polizeidirektion Dresden wenden.«
Die Worte kommen ohne jede Betonung über seine dünnen Lippen, als wolle er die versammelte Presse einschläfern.
Auf dem Bildschirm von Deckers Smartphone fliegen derweil die Nachrichten hin und her. Am anderen Ende der Leitung wird gegoogelt und gefacebooked, der Kollege finden aber keine Tasch, Veronica, in ganz Deutschland nicht.
Decker wischt wütend über das Display und schließt die App. Ihn regt auf, dass Opitz, der schleimige Unsympath, mal wieder mehr weiß als alle anderen. Opitz gehört zum alte Filz. Netzwerke, die im Vakuum nach der Wende entstanden sind. Opitz war von Anfang an dabei. Angeblich ist er fester Bestandteil mehrerer Skatrunden mit Politikern, Unternehmern, Staatsanwälten und Richtern. Eishockey-Manager veruntreut Millionen, Chiphersteller kürzt 2000 Stellen, lokales Starlett hat sich die Brüste machen lassen - bei jedem Mist, ist Frank Opitz stets als Erster informiert. Dazu hat er eine schrecklich piefige Talkschow beim lokalen Fernsehsender. Einschaltquote: 5, da ist sich Theo Decker sicher.
Mittlerweile ist auch er aufgesprungen und wedelt mit seinem ausgestrecktem Arm. So müssen sich früher am Gymnasium die Streber gefühlt haben. Mit einer wegwerfenden Geste nimmt Hartmüller ihn dran.
»Decker, Saxonews. Präsident Kolbe sprach eben von einer ungewöhnlichen Häufung vergleichbarer Fälle. Welche Spuren haben Sie, aus denen Sie diese, äh, Vergleichbarkeit ableiten? Liegt es an der Vorgehensweise des Täters, gibt es DNA oder haben Sie extrapoliert nach dem Motto, ist häufiger passiert, kann noch mal passieren?«
Hinter Hartmüller räuspert sich der Polizeipräsident. Man erkennt ein wütendes Funkeln unter seinen dicken weißen Brauen. »Ich habe jetzt nicht verstanden, für welches Blatt sie arbeiten und ich kenne Sie nicht. Haben Sie überhaupt eine Akkreditierung oder sind Sie auch so ein dahergelaufener Blogger?«
Decker spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht steigt. Er atmet einmal tief durch und hält stumm seinen Presseausweis hoch.
Kolbe lehnt sich nach vorn und kneift die Augen zusammen. Dann dreht er sich zu Hartmüller »Ich kann nichts erkennen. Sie, Herr Kollege?« Hartmüller verneint grinsend. Wieder an Decker gewandt, die Stimme eisig: »Bei weiteren Fragen möchten wir Sie bitten, diese schriftlich einzureichen. Legen Sie einen Nachweis Ihrer beruflichen Tätigkeit bei. Wir melden uns dann.« Dann in den Raum. »Damit ist die Pressekonferenz beendet. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
Decker steht der Mund offen. Einmal Vorführen bitte! Was sollte denn die Scheiße? Er hatte noch nie mit dem Polizeipräsidenten zu tun also warum der Ärger? Oder lag es vielleicht an der Frage?
»Das war einmal nix, Junge.« raunt ihn ein faltiges Urgestein von der Seite an. Zigarettenatem mit Karzinomgarantie. Was für ein Haufen Drückeberger. Als ob es seine Schuld wäre, wenn die Bullen Informationen unterschlagen und alle an der Nase herumführen. Decker packt seine Sachen, spannt die Schultern an und drängelt sich in Richtung Ausgang.
108 Stunden zuvor
Er hatte eine solche Euphorie verspürt. Was für eine Gelegenheit! Doch nun stürzt er schon seit einer Viertelstunde durch die Straßen. Schwitzend und mit hochrotem Kopf hetzt er von Gasse zu Gasse. Die Altstadt rund um den Zwinger ist wie ausgestorben. Du bist langsam geworden.
Er war verzweifelt gewesen. Eine weitere Nacht, in der er unruhig durch die Wohnung wandern würde. Kein Schlaf seit einer Woche. Tage wie Stummfilme. Blackouts, manchmal fehlten ganze Stunden. Es hatte eine Zeit gegeben, da war der Appetit leichter zu stillen gewesen. Nun kommt der Hunger bereits nach wenigen Tagen. Die Lust nach Fleisch steigt, versetzt ihn in eine brennende Aufregung, die er am ganzen Körper spürt wie Asseln unter der Haut. Es ist ein Gefühl, welches er hassen gelernt hat. Und obwohl ihm das Herz fast aus der Brust springt, steckt sein Kopf dann im schwärzesten Nebel. Seine Migräne treibt ihm die Tränen in die Augen. Ein unerträgliches Stechen unter der Schädeldecke und dazu die finstersten Gedanken, die immer gleichen finsteren Gedanken, Fantasien des Todes, in ewiger, endloser, ergebnisloser Schleife.
Es ist keine Stimme, die zu ihm spricht. Es gibt keine konkreten Anweisungen. Aber Bilder. Pornokino und Horror. Blut und Scheiße, so sehr er auch dagegen ankämpft. Und er kämpft, kämpft immer. Bis er einknickt.
Letzte Nacht ist er in seinem Fieber mehrfach zum Messerblock getaumelt, hat sich eine Klinge in den Oberschenkel gerammt. Das Toben in seinem Bauch und der Sturm aus Stimmen im Kopf verstummte dann, wenigstens für einen Moment.
Er legt die Hand auf sein Bein, spürt das Glühen der Schnittwunden. Frisches Blut suppt in seine Hose.
Die Ostra-Allee ist leer, Dresden im Winter eine Geisterstadt. Hat er ihre Spur verloren? Wo bist du hin, Süße? Er jogged am Haus der Presse vorbei in Richtung Innenstadt. Schnauft. Mit dem Zeigefinger versucht er den durchnässten Kragen zu lockern. Er ist schon fast am Zwingerteich, als ein Geräusch ihn innehalten lässt. Langsam überquert er die Straße. Vor ihm eine riesige Baugrube - das Gelände des ehemaligen Herzogin-Garten. Er sieht nur die schwarzen Umrisse der Rohbauten. Hunderte Luxuswohnungen, deren Miete sich niemand wird leisten können. Alles dunkel und menschenleer.
Sie könnte überall sein. Vielleicht sogar schon in der Straßenbahn in Richtung ihrer erbärmlichen Wohnung zu ihrem Schwächling von einem Ehemann. Er wartet, zündet sich eine Zigarette an und überlegt, was er tun soll. Den Whiskey aus dem Büro mitnehmen, ein Geschenk von der letzten Weihnachtsfeier, und sich damit bewusstlos saufen. Diese Nacht überstehen. Vielleicht ist es morgen anders.
Ob sie ihn gesehen, ob sie ihn erkannt hat?
Dann die rote Outdoorjacke im Augenwinkel. Er schmeißt die Kippe weg und tritt in den Schatten eines geparkten LKW.
Im Schein der Straßenlaterne ist sie deutlich zu erkennen. Sichtbar steigt ihr Atem empor, als würde sie aus tiefster Lunge stöhnen.
Er glotzt mit leuchtenden Augen und zitternden Händen. Sie hat einen hübschen kleinen Mund. Volle Lippen. Er stellt sich vor, wie er sich anfühlen wird, wenn er ihn küsst, leckt, beißt. Ihm gefallen ihre glatten blonden Haare, die knapp unter dem Kinn enden, ihr weiblicher Gang. Vielleicht ist sie etwas mollig unter der weiten Kleidung aber das stört ihn nicht. Er stellt sich das Geräusch vor, wenn er die Outdoorjacke aufzieht. Wie es sich anfühlen wird, wenn seine Hände in das weiche Fleisch ihrer vollen Brüste greifen, fester und fester, bis sie aufheult. Wenn er ihr die verdammte Jeans herunterreißt. Die Schlinge um ihren Hals legt. Zieht. Fester. Und fester. Sich richtig anstrengt, sodass die feinen Äderchen auf der weißen Haut leuchtend hervortreten.
Er tritt vor Aufregung von einem Bein auf das andere.
Im Todeskampf entwickeln auch die kleinsten Bitches unbegreifliche Kräfte. Nach dem ersten Mal hatte er zentimetertiefe Kratzwunden an beiden Unterarmen. Seit dem trägt er eine dicke Lederjacke.
Mit einem Mal setzt sie ihren Weg fort. Zwischen den Laternen ist es stockfinster in der engen Seitenstraße. Bausand knirscht unter den Absätzen ihrer Stiefel. Er verlässt seine Deckung und folgt auf der rechten Straßenseite. Leise, schnell, fast so, als wolle er sie überholen.
Sie bleibt ein weiteres mal stehen. Es ist so still, dass auch er den Vibrationsalarm ihres Handys deutlich hören kann. Im blauen Licht des Bildschirms wirkt ihr Gesicht weiß, die Züge klar gezeichnet, wunderschön.
Als sie den Anruf wegdrückt weiß er, dass alles gut gehen wird.
Er ballt die rechte Hand zur Faust. Glühende Euphorie strömt ihm vom Kopf bis in die Fußspitzen. Der Abstand beträgt noch fünf Meter. Jetzt muss er schnell sein, braucht jede Muskelfaser. Seine Füße werden sich in den trockenen Asphalt stemmen, dann wird er sprinten und im Bruchteil einer Sekunde bei ihr sein.
Montag
Mit seiner Rambockattitüde hätte er sie beinahe übersehen. Nadja, ehemals seine Nadja. Wie lange steht sie schon hinter der Säule? Hatte sie seine Niederlage miterlebt? Sie muss ihn längst bemerkt haben, schaut sich aber weiter im Raum um, konzentriert und mit zusammengekniffenen Augen, als müsste sie sich jedes Gesicht, jede Reaktion einprägen. Sie steht ganz aufrecht, die Hände übereinander gelegt und verströmt eine Unnahbarkeit, als würde die Luft immer dicker und undurchdringlicher, je näher man ihr kommt. Trotzdem reicht ihr ab und zu ein Pressevertreter im Vorbeigehen die Hand. Alles an ihr wirkt sauber, sorgfältig arrangiert und professionell. Sie trägt ein schwarzes Kostüm, Seidenbluse, Very-High-Heels und Silberschmuck. Ihr blondiertes Haar ist zu einem Dutt gebunden. Er muss an ein Foto von 2009 denken. Kampf um den Stadtrat. Vor dem Stand auf der Prager Straße mit Flyern in der Hand. Die Augustsonne brannte. Beide trugen sie zu weite, knall-orangene T-Shirts der Partei und Nadja hatte ihr Haar offen. Damals war es noch braun. Auf dem Bild strahlt Nadja in die Kamera. Voller Jugend, Zuversicht und Herzlichkeit. Den ganzen Wahlkampfsommer hatte sie damals die Menschen offen empfanen und mit ihnen über Gott und die Welt geplaudert, während Decker meist nur stumm daneben stand und an seiner Misanthropie feilte. Aber sie waren ein gutes Team gewesen. Wenn er heute zurückdenkt muss er lächeln. Kaum zu glauben, dass nun die gleiche Frau vor ihm steht.
»Guten Tag Frau Nowak.« sagt er spöttisch.
Sie schmunzelt ironisch. Seit der Trennung immer das gleiche Spiel. »Herr Decker, um diese Uhrzeit hätte ich dich eher im Bett vermutet. Andererseits ist das hier genau das Richtige für euer hochwertiges journalistisches Machwerk. Sex, Gewalt und viel Raum für Spekulationen.« Sie zwinkert ihm zu. Sie meint es nicht böse. Nicht wirklich. Er weiß aber, dass sie seinen Job bei Saxonews lächerlich findet. Unter seinem Niveau. Und nie verstanden hat, warum er nicht in der Politik geblieben ist.
»Dein Chef erspart dir wirklich nichts. Bist du zur Aufklärung hier?«, fragt er. »Bestimmt will er die Sache zu seinem Vorteil ausschlachten. Etwas Angst schüren vor einem Serientäter und dann ein paar halb-gare politische Versprechungen. Mein Tipp wäre ja, dass er sein Lieblingsthema, die stadtweite Videoüberwachung, mal wieder hervorkramt.«
Nadjas Lächeln ist wie eingemeißelt. Sie wird nichts verraten. »Mein Chef ist, wie du weißt, Vorsitzender des Innenausschusses des sächsischen Landtages und darf sich deshalb zu Recht mit der Kriminalität im Freistaat und in der Hauptstadt Dresden befassen. Da er Termine hat, bin ich heute seine Augen und Ohren.«, erwidert sie. Decker kann an ihrer Stimme hören, dass sie etwas unterdrückt. Irgendeinen Nerv hat er getroffen.
»Wisst ihr mehr? Kannst du mir den Namen der Frau sagen, die letzte Nacht angegriffen wurde?« Er zieht sein Smartphone aus der Jeans, als würde er sich Notizen machen wollen.
»Wir haben unsere Quellen.«
»Also ja, du wirst aber einen Teufel tun und mir etwas verraten.
Nadja grinst: »Genau so ist es.«
»Schön, dass du dich freuen kannst, wenn du meinen Job schwerer machst. Dabei wollte ich dir gerade zu deinen Schuhen gratulieren.«
Ihre Mine verdunkelt sich. »Danke für das Kompliment, Theo, aber sei kein Arschloch. Wir machen alle nur unseren Job und es gehört zu meinem, dass ich mir überlege, welche Infos ich mit der Presse teilen kann und welche nicht.« Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Ich warte auf den Tag, an dem die Realität dich einholt und du von deinem hohen moralischen Ross stürzt. Wir können eben nicht alle einen Beruf ohne jegliche Verantwortung annehmen, uns verkriechen und den Rest unserer Tage mit dem Finger auf andere Zeigen, die sich für die Gesellschaft aufreiben und versuchen, etwas zum Positiven zu verändern.«
Sie sieht ihn herausfordernd an. Das alte Lied. So sind sie gegen Ende immer aneinander geraten. Er zwingt sich zu einem Lächeln. Es soll überlegen wirken.
»Niemand in eurem Büro hat im letzten Jahr auch nur einen Gedanken an Die Gesellschaft verschwendet, Nadja. Den Scheiß könnt ihr den Wählern erzählen. Ihr seid wo ihr seid weil ihr euch an der Macht aufgeilt. Wenn es euch um Leute ginge, um die Kinder ohne KiTa-Platz oder den Leiharbeiter im Call-Center, dann sähe eure Politik ganz anders aus. Aber ist schon gut. Ich finde auch so heraus, was der wahre Grund für diese Pressekonferenz ist. Grüße an Herrn Stamm und du kannst ihm von mir ausrichten, dass Videoüberwachung gar nichts bringt, siehe Großbritannien.«
Er macht kehrt und läuft mit langen Schritten in Richtung Ausgang ohne sich umzusehen. Vor der Tür raubt ihm die Kälte kurz den Atem. Schnell, bevor seine Finger zu kalt werden, tippt er eine Nummer in sein Handy. Als abgenommen wird, hört er im Hintergrund ein Stimmengewirr und Telefonklingeln. »Hey Jan, Theo hier, Lust auf einen Kaffee?«
»Sorry, hier ist zu viel los. Ich weiß schon warum du anrufst. Keine Namen, Theo.«
»Komm schon, Jan. Du weißt genau, dass ich noch keinen veröffentlicht habe und ich stelle auch nicht den Familien der Opfer nach. Außerdem: Die lokalen Blätter und die Spinner vom Großen B werden ihn so oder so herausbekommen und in zwei Stunden kennt ihn das ganze Internet. Wie überall gibt es auch in eurem Laden Menschen, die sich mit der Presse gut stellen wollen«
»So wie ich?«, fragt Jan.
»Du weißt schon, wie ich das gemeint habe.«
Eine kurze Pause. Dann: »Bis später, Theo.«
Decker tritt wütend in die Winterluft und stößt weißen Atem aus. Scheiße! Jan war seine einzige Hoffnung.
Als er die Eingangstreppe des Präsidiums herunter joggt klingelt sein Handy. Nachricht von einer unbekannten Nummer. Er liest den Text und muss sich hinsetzen. Die Treppenstufen sind eiskalt. Sein Magen zieht sich zusammen. Es ist, als ob sich plötzlich ein Filter vor die Wintersonne geschoben hätte. Alle Formen in seiner Umgebung, Menschen, Autos, die barocken Bauten der Altstadt, haben ihre Konturen verloren.
Er kennt diese Frau. Im Studium war sie seine beste Freundin. Das offenherzigste und lebenslustigste Mädchen in der Clique. Anna.
Einen ganzen Sommer lang hatten sie auf das Wasser gestarrt wie auf die unendliche Zeit. Sie tranken Rotwein und lachten bis in den späten Abend. Nie war er unbeschwerter gewesen. Im Studium schwamm er so durch, Termine gab es nicht und Zukunft und Erwachsensein waren noch ganz weit weg. Dass es für sie anders war, bemerkte er zu spät. Anna Winter hatte Pläne, sie wollte schnell eine Familie gründen, sie wollte geordnetes Glück. Im zweiten Sommer kam sie nur noch selten zu den Elbwiesen.
Und nun liegt sie in einem Krankenhaus, denkt Decker. Er schleicht die Wilsdruffer Straße entlang, bei Glätte ist das Heck des alten Bocks nur schwer beherrschbar. Dabei sieht er so gut wie Nichts. Dort, wo die Windschutzscheibe des Benz nicht vereist ist, ist sie beschlagen. Die Heizung des Oldtimers macht vor allem laut aber selten warm.
Möglicherweise ist Anna nun eine andere. Vielleicht halb tot oder für immer entstellt. Wenn es sich denn wirklich um die Anna Winter handelt, die er gekannt hatte. Er muss sie sehen.
Theodor Decker verlässt den grauen Fahrstuhl im sechsten Stock des KÖ25, des Kreativraum am Kraftwerk Mitte. Er überquert den Flur und öffnet die hellgrüne Tür aus Pressspan. Sie führt in eine ehemalige Produktionshalle. Hier, wo früher Webmaschinen standen, ist heute die Nachrichtenredaktion von Saxonews. Der Raum ist weit. Nur in den vier Ecken sind Büros und ein Serverraum untergebraucht. Die meisten Mitarbeiter sitzen über die Halle verteilt in winzigen Arbeitszellen.
In der Content-Abteilung sind alle Plätze leer. Schon wieder zu spät. Auch Deckers Chefin, Cecile Filipp, ist nicht an ihrem Tisch. Er blickt durch die Glasfront in den Konferenzraum am anderen Ende der Halle. Dort steht sie vor einer Wandprojektion von www.saxonews.de, ihr gegenüber lümmeln seine Kollegen. Auf ihrem Kopf leuchten die wasserstoffblonden Haare, dazu trägt sie ein Kostüm, Farbe Textmarkerpink. Ihr Gesicht ist rot. Mit ihren langen Armen zeigt sie auf Bilder und Überschriften.
Decker hetzt an Trennwänden und Drehstühlen vorbei quer durch den Raum.
»Theo, willkommen zu unserer Redaktionsbesprechung!«, ruft Cecile, als sie ihn durch die Tür kommen sieht.
Er setzt sich schnell zwischen die anderen Redakteure. Miriam Wolf streicht sich eine Strähne ihres dichten, rot-braunen Haares aus dem Gesicht, lächelt und flüstert ihm ins Ohr: »Dein Fehlen ist schon negativ aufgefallen.«
Bevor er ihr antworten kann ruft Cecile in seine Richtung: »Und, Theo? Willst du uns nicht verraten, was unsere liebe Polizei zu verkünden hatte? Wir könnten eine gute Kriminalgeschichte als Aufmacher gebrauchen.« Sie klatscht in die Hande als würde nun etwas ganz Großes folgen müssen.
Da erst bemerkt Decker eine Figur in der Ecke des Raumes. Jürgen Renger. Keinerlei Expertise in Sachen Journalismus und kein Angestellter bei Saxonews. Braucht er auch nicht, ihm gehört der Laden. Renger war früher Immobilieninvestor, dann sprang er auf die digitale Welle. Erst Softwareentwicklung und Onlinehandel, vor zwei Jahren hat er ihr Web-Tageblatt gekauft. Lokale Nachrichten im Internet als Wachstumsmarkt.
Renger blickt von seinem Smartphone auf. »Wissen Sie, Herr Decker, wir schicken Sie nicht zum Spaß zu einer Pressekonferenz. Wo ist der Text, wo sind die Fotos?«
»Du weißt schon, dass ich den Text erst schreiben muss, Jürgen? Allein meine Anwesenheit produziert noch keine Artikel.«
Renger tritt vor, beugt sich zu ihm herab und stemmt die Arme auf den Tisch. »Es soll ja Menschen geben, die nehmen sich ein Notebook mit und tippen gleich etwas vor Ort? Nennt sich: arbeiten. Schon mal gehört?« Er blickt auf und nickt in die Runde, als hätte er eine profunde Weisheit auf sie losgelassen.
»Kann man machen.«, antwortet Decker. »Wenn man an einer inhaltsleeren Meldung interessiert ist.«
»Ach so, Sie meinen also, es gäbe nichts zu berichten? Komisch, dabei haben wir schon einen Text veröffentlicht.«
Decker schaut fragend in die Runde. Peter Maas, wie immer im Holzfellerhemd und dem Gesichtsausdruck eines gealterten Windhundes, schiebt ein Laptop herüber und zuckt mit den Schultern. Offenbar hat er aus den wenigen Infos, die Decker in den Chat gestellt hatte, bereits einen eine Meldung getrickt.
Wieder eine Vergewaltigung in Dresden, Polizei geht von einem Serientäter aus!
Es folgen die wenigen bekannten Tatsachen. Das Opfer konnte fliehen, der Täter läuft weiter frei herum. Außerdem der Hinweis, dass es im letzten Jahr mehrere vergleichbare Fälle gab und die Beamten einen Zusammenhang sehen. Gegen Ende verdunkelt sich Deckers Mine:
»… gibt es seitens der Polizei keine Auskünfte dazu, ob es sich bei dem Täter oder den Tätern möglicherweise um Flüchtlinge handelt. Nachdem es in der Silvesternacht am Hauptbahnhof in der Domstadt Köln zu einer Serie sexueller Übergriffe durch Asylsuchende gekommen war, hatte der sächsische Innenminister, Dr. Norman Albig von der konservativen Regierungspartei, in einem Interview betont: Wir werden alles tun, damit so etwas in Sachsen nicht passiert. Ich arbeite mit den Kollegen der anderen Bundesländer an einer Verschärfung des Strafrechts und wir werden darüber hinaus mit der ganzen Härte des Rechtsstaates gegen diese Täter vorgehen.“
»Wie Sie sehen, Decker, haben wir mehr als genug Infos. In der letzten halben Stunde mehr als 2.000 Klicks. Was noch fehlt, ist ein Foto vom dicken Kolbe oder der roten Xanthippe. Das können Sie gleich hochladen und wenn Sie fertig sind will ich, dass sie zusammen mit den anderen alle Hebel in Bewegung setzen, um den Namen der Frau herausfinden, die der Täter gevögelt hat.«
»Er hat sie nicht gevögelt.«, sagt Decker mit leiser Stimme.
»Wie bitte?«, fragt Renger.
»Ich sagte, der Täter hat sie nicht gevögelt.« Decker presst die Worte zwischen seinen Zähnen hervor während er sich an der Tischkante festhält »Die Frau konnte fliehen bevor es dazu kam! Und überhaupt, der letzte Absatz,« er zeigt auf den Bildschirm, »das kann doch nicht euer ernst sein?Die Polizei hat das Wort Flüchtling oder sonst einen Zusammenhang mit Ausländern mit keiner Silbe erwähnt.«
»Jedes einzelne Wort entspricht den Tatsachen!«, sagt Renger. »Keine Lüge, alles wahr. Und so aufgeschrieben, dass die Leute es auch lesen werden. Tja, Herr Decker, wir hatten leider keine Zeit auf dich und dein wohltemperierten Gedanken zu warten. Du trödelst, also machen andere deinen Job. Nebenbei auch noch gut. Noch mal für die ganz Langsamen: Bei Saxonews geht es um Geschwindigkeit, spannende Inhalte, Klickzahlen, Werbeeinblendungen, Geld verdienen. Du bist seit zwei Jahren hier. Länger als ich. Könntest es langsam verinnerlicht haben.« Er verschränkt die Arme vor der Brust.
»Die Rechtfertigungen kannste stecken lassen, Jürgen. Mit so einer Gülle gießen wir Oel ins Feuer. Noch mehr Menschen werden die Flüchtlinge verantwortlich machen. Wir spielen den Nazitrotteln in die Hände.«
Cecile stellt sich zwischen die beiden. »Theo, jetzt reiß dich mal zusammen. Du weißt genau, dass der Jürgen recht hat. Wir brauchen den Traffic.«
Decker weiß nicht, ob sie das ernst meint oder ihm nur den Job retten will.
»Meine Fresse 'Cile! Klar, Hauptsache Kohle, die Folgen sind egal oder was? Anstand, journalistische Berufsehre? Kennen wir nicht! Ich fand unsere Art des Lokaljournalismus immer gut. Es war lesbar, dran an den Menschen, ehrlich. Scheiß auf die Tittenbilder und die Schleichwerbung, von mir aus, wir wollen alle was essen. Aber wenn wir weiter solches Zeug schreiben, wird es nicht mehr klappen, nach Feierabend abzuschalten. Zwei Gläser Rotwein aufs Schamgefühl schütten und ab ins Bettchen? Vergiss es!«
Cecile presst die Lippen zusammen. »Es kann nicht jeder so ein arrogantes Arschloch sein Theo. Ich schlage vor, du haust jetzt ab und überdenkst mal dein Verhalten. Morgen erwarte ich dann Pünklichkeit.«
Decker greift sich seinen Mantel von der Stuhllehne und läuft betont langsam an ihr vorbei aus dem Raum. Ist das Mitleid in ihrem Blick? Hinter der Glasscheibe ruft Renger etwas in seine Richtung. Sein Gehirn entscheidet sich dazu, es nicht zu verstehen.
»Ertränkst du dein Selbstmitleid?«
Miriam verzieht den Mund. Decker starrt mild lächelnd auf ihre Grübchen. Sie ist ihm ins Café »Einlass« gefolgt, neuerdings Deckers Lieblingslokal. Das Café befindet sich auf dem Gelände des alten Heizkraftwerks, direkt gegenüber des DDR-Plattenbaus, in den sich Saxonews eingemietet hat. Er mag besonders die großen, bleigefassten Fenster und die knarzenden Holzdielen. Es gibt hervorragenden Espresso und auch Stärkeres.
Diesen Blick kennt er. Miriam versucht sich zu entscheiden, wie sehr sie ihm nun eine Standpauke halten soll. Er wird es ertragen, wenigstens das ist er ihr schuldig. Seine Lieblingskollegin, genau wie er Redakteurin in der Onlineredaktion. Eine überflüssig lange Bezeichnung, die ihn jedes mal ein wenig schmunzeln lässt. Eine andere Redaktion, als die für den Onlineauftritt, gibt es bei Saxonews natürlich nicht.
»Bier am Montagvormittag. Das ist selbst für deine Verhältnisse früh, Theo.«, sagt sie und setzt sich auf den Holzstuhl gegenüber.
Gesundheitsfanatikerin. Zweifelsohne ist es das, was ihn am meisten nervt, wenn er an Miriam denkt. Dass sie ihm ständig die eigenen Vorstellungen aufdrücken will und sein Verhalten kritisiert. Und immer so kerzengerade steht und diese gesunde, rosige Haut, als würde sie den ganzen Tag an der frischen Luft verbringen, auf einem Pferdehof oder in einer Gärtnerei. Obwohl sie sonst ja ganz nett ist. Er weiß nicht, ob sie früher häufiger Alkohol getrunken hat aber sie hat Decker Bilder gezeigt und hatte mal deutlich mehr auf den Rippen. Nur an ihrem Gesicht kann man noch erahnen, das sie einmal runder war. Ihre Züge sind weich, was sie immer sehr freundlich und offen erscheinen lässt, wozu auch die vielen Sommersprossen beitragen.
»Du bist vorhin entlassen worden, hast du das eigentlich mitbekommen?« Sie lässt sich im Stuhl zurückfallen und verschränkt die Arme.
Decker blickt zu ihr auf und schüttelt den Kopf.
»Ja, Renger hat es dir hinterher gebrüllt: Du bist gefeuert, Decker, nimm dein Zeug und verschwinde!«
Sie ahmt die männliche Stimme nach und hebt spöttisch den Zeigefinger.
»Cecile hat ihn dann noch etwas beruhigen können und alle deine beruflichen Glanztaten aufgelistet. Die Texte zum Skandal mit den Eigentumswohnungen am Hafen oder die Tatsache, dass du selten mehr als zwei Stunden zu spät bist.« Sie grinst höhnisch.
»Haha. Der hätte mich schon nicht wirklich rausgehauen.«, bemerkt er.
Sie zieht die Augenbrauen nach oben. »Sei da nicht so sicher.«
»Ok.« Er nickt in sein Glas.
Miriam beugt sich nach vorn. »Da du offensichtlich den ersten Platz auf Rengers Abschussliste inne hast, solltest du dich besser auch bewerben. Zum Beispiel bei der Zeit, so wie ich. Dann kann ich dir die schönen Ecken meiner Heimatstadt zeigen oder vielleicht auch die schäbigsten Bars, wenn dir das besser gefällt.«
Decker lacht. »Suchen die neuerdings händeringend nach ungelernten Schreiberlingen mit fragwürdiger Arbeitsmoral?«
»Vielleicht.«, antwortet Miriam und schmunzelt.
Du bekommst das schon alleine hin, denkt Decker. Miriam war nach dem Studium nur für ein Praktikum zu Saxonews gekommen. Als Renger ihr eine Festanstellung anbot, hatte sie nur für sechs Monate unterschrieben. Daraus sind schon zwei Jahre geworden. Er glaubt nicht, dass sie in Dresden glücklich ist. Doch wenn sie geht, verliert er seine einzige Verbündete.
Sie fährt fort: »Was ist denn passiert, Theo? Auf der Pressekonferenz?«
»Ehrlich gesagt gar nichts. Sie haben nur die Pressemitteilung vorgelesen und um Mithilfe gebeten. Ich habe bei meiner Quelle bei der Polizei nachgefragt … «
Er macht eine Pause, schaut in sein Bierglas und überlegt, ob er Annas Namen wirklich aussprechen kann. Ein Teil von ihm glaubt, dass es nicht stimmen kann, dass die Polizei sich geirrt hat und wenn er nun ihren Namen sagt, wenn er Tat und Anna verknüpft, dass es erst dann wahr werden wird, dass er dann Tatsachen schafft.
»Ich kenne sie, weißt du. Die Frau, die …« Miriam schaut ihn an. Unter seinen Augen haben sich blaß-blaue Schatten gebildet.
Nachdem er eine Weile nichts sagt: »Wer ist sie?«
»Ich hole mir mal ein Neues. Willst du auch was?«
»Ja, bitte. Kakao mit Sahne.«
Als er zurück ist, erzählt er ihr von Anna Winter. Erstes Semester Politikwissenschaft an der Technischen Universität. Anna der Sonnenschein, der Klassenclown.
Sie ist lustig, derb, hat immer einen frechen Spruch auf den Lippen. Kein Wunder, bei vier älteren Brüdern. Decker merkt, dass er immer noch schwärmt, wenn er von ihr spricht. Anna war immer Genuss, Hoffnung und Lebenslust.
»Wart ihr damals ein Paar?«
»Nein. Nie. Sie war schon vergeben. An ihre Jugendliebe aus dem Gymnasium. Kurz vor Ende des Studiums haben sie geheiratet. Ein Ingenieur. Arbeitet bei Porsche in Leipzig. Sehr netter Kerl. Zwei Kinder.« Miriam spricht leise. »Das tut mir so leid. Auch für dich, Theo. Jetzt verstehe ich natürlich, dass du nicht willst, dass sie auf unserer Webseite erscheint.«
»Anna nach so einer Tat. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für sie ist.« Er schüttelt den Kopf.
»Was willst du jetzt tun?«
Er schaut auf, ist noch blasser als sonst. »Hinfahren. Darf man das? Ich weiß nicht, ob sie mich sehen will und ich hoffe sie denkt nicht, dass ich aus beruflichen Gründen komme. Um über sie zu schreiben.«
Miriam berührt seinen Unterarm. »Natürlich darfst du. Vielleicht will sie dich auch sehr gerne sehen. Wenn du es nicht versuchst, wirst du es nicht erfahren.«
Decker nickt. »Gut.« Er steht auf und schüttet den Rest des Glases runter. Während er seinen Mantel überwirft sagt er: »Wir müssen rausfinden, was die Polizei noch weiß, Miri. Ich will wissen, ob die ordentlich arbeiten.
Was wurde bisher ermittelt? Wie hängen diese Taten zusammen. Gibt es bereits Tatverdächtige und wenn ja, wer sind sie usw.«
»So sehr ich dich verstehe, Theo, aber das ist nicht unser Job.«
»Über Polizeiarbeit zu berichten ist durchaus unser Job. Wenn sie die beschissen machen, dann müssen wir darüber schreiben!«
Vor der Tür empfängt ihn der Winterwind. Er muss sich unbedingt eine richtige Jacke besorgen. Sein Kurzmantel flattert traurig um seinen Körper wie ein eingefallenes Segel.
Decker schnallt sich ab und sucht im Fußraum der hinteren Sitze nach einem Regenschirm. Nichts als leere Fast-Food-Packungen und Getränkedosen. Wieder einmal nimmt er sich vor, ganz bald den Innenraum zu entrümpeln. Unter Opas Herrschaft hatte der Wagen wesentlich besser ausgesehen.
Anna hatte ihm schnell auf seine Facebooknachricht geantwortet. Er war überrascht gewesen, dass sie bereits zu hause ist. Der Überfall war keine 5 Tage her.
Sie wohnt immer noch in Strehlen. Hier residieren die besseren Einkommensgruppen. Nah am Großen Garten, der größten Parkanlage der Stadt mit dem barocken Sommerpalais in der Mitte. Im Stadtteil finden sich noch einige Villen aus der Zeit vor den Weltkriegen, Gründerzeit und Belle Époque. Annas Wohnhaus aber ist ein Nachkriegsbau, ein Arbeiterhaus mit dicken Ziegelwänden und ohne die stuckverzierten hohen Decken.
Er wartet, starrt zehn Minuten durch die Windschutzscheibe auf die Eingangstür der Nr. 10, überlegt hin und her. Dazu ein Trommelkonzert auf dem Autodach. Furchteinflößende Wassermassen stürzen aus einem unansehnlichen Himmel, als müssten auch die Straßen, Häuser und ihre Bewohner mal grundgereinigt werden. Im Radio singt Morrissey von glücklicheren Zeiten.
»Gehts noch deprimierender? Was für eine Scheiße!« Er dreht am Radio bis es verstummt.
Wann hat er Anna das letzte mal gesehen? Ein Samstagnachmittag bei einer ehemaligen Kommilitonin mit Luftballons, Geburtstagshüten und schreienden Kindern. Das könnte es gewesen sein. Jahre her. Sie war gewesen wie immer, vielleicht mit ein paar Fältchen mehr um die Augen, vielleicht etwas müder, unaufmerksamer, aber immer laut und fröhlich. Von Urlauben hat sie berichtet, mit Freunden an die Ostsee, von dem ganzen banalen Zeug und Decker hat keine Ahnung, was er ihr darauf erwidert haben mag. Etwas freundliches, nichtssagendes. Er kennt diese Art Leben nur von anderen und für ihn hört es sich immer ein wenig nach Ausharren an, nach einem Warten auf … ja, auf was eigentlich?
Er findet keinen Schirm und gibt die Suche auf. 50 Millisekunden nach dem Öffnen der Tür bereut er, nicht doch noch ein wenig länger gesucht zu haben. Ein kurzer Sprint über die Straße und dann die Rettung im Bogen über der Eingangstür. Klingelt. Über die Gegensprechanlage kommt nur ein leises Klacken und dann ist die Tür entriegelt. Drin riecht es nach Hausmannskost und altem Wischwasser. Er weiß nicht, in welches Stockwerk er muss und läuft Treppe um Treppe, bis sie plötzlich vor ihm steht, mit Sommerschal, weißem T-Shirt und Jeans.
»Theodor Decker in Strehlen.« Ihre Stimme ist rau. Aus der Wohnung dringt Licht in den dunklen Hausflur und strahlt Anna von hinten an, sodass er ihr Gesicht kaum sehen kann. Er hat Bandagen erwartet, eine gebrochene Frau. »Na komm schon rein.« Warum klingt sie so positiv?
Anna geht voran in ein großes Wohnzimmer. Parkett. Weiße Wände, Ikea und antike Möbel, Familienbilder an den Wänden. Er schaut sich um. »Bist du allein?«
Jetzt steht sie vor ihm und er sieht die blau-roten Stellen in ihrem Gesicht. Purpurn um beide Augen, auf den Wangenknochen. Drumherum schimmert die Haut gelb wie bei einer Leiche. Der Schal verbirgt ihren Hals. Ihre Augen sind azurblau wie immer, jedoch von dunklen Schatten umgeben. Die Risse in ihren Lippen sind noch nicht ganz verheilt.
»Leonie und Niklas sind im Kindergarten, Johannes wieder arbeiten.« Sie fährt sich mit der Hand ins Haar, stoppt und lässt den Arm wieder nach unten fallen.
Er betrachtet sie. Es ist, als würde die Zeit langsamer vergehen hier in diesen dunklen Räumen. Obwohl sie gleicher Jahrgang sind, sähe sie ohne die Verletzungen wahrscheinlich deutlich jünger aus als er. Ihr Haar ist blond gefärbt und zu einem Bob geschnitten. Kleine Perlenohrstecker als einziger Schmuck.
Was soll er ihr sagen? In seinem Kopf formen sich Sätze aber jeder von ihnen klingt wie ein Vorwand für seinen Besuch. Sie kommt ihm zuvor: »Ich würde dich fragen, wie du es erfahren hast aber ich vermute mal, die Nachrichten sprudeln bei euch nur so rein. Oder hat die Polizei geplaudert? Ihr arbeitet ja sicher auch mal zusammen. Was berichtenswert ist, wird seinen Weg zur Presse schon finden, stimmt es nicht?«
Er fühlt sich ertappt obwohl er gerade nicht für die Story hier ist. »Anna ich werde auf keinen Fall über dich schreiben! Deshalb bin ich nicht hier.«
Sie nickt, vielleicht unsicher, er kann es nicht einschätzen. »Danke. Danke aber … mach dir keine Gedanken, ok? Ich lebe ja noch.«
Was soll diese Gefasstheit von der sie beide wissen, dass es nicht stimmt? Vielleicht braucht sie noch etwas Zeit. »Ok.«
Sie setzen sich auf eines dieser modernen, harten Sofas. Dass hier zwei Kinder leben, sieht man nur an den Kinderstühlen am Esstisch. Spielzeug liegt nicht herum. »Wie geht es dir? Dieser Job für die Webseite - ich habe gegoogelt - das klingt spannend. Als würdest du viele interessante Menschen treffen.«
Fast hätte er gelacht.»Naja. Es … es ist ok.« Er überlegt, was er noch sagen könnte. »Ich habe nette Kollegen, Spaß an den Geschichten und ich mag die Verantwortung. Man muss sich überlegen, was man schreibt. Viele tausend Menschen lesen uns. Für jeden Fehler gibt es gleich einen negativen Kommentar. Für den ich mich dann auch noch bedanken darf.« Sie lächelt. »Die Menschen haben Vertrauen in das, was geschrieben wird. Ich versuche also sauber, ehrlich zu arbeiten.« Es soll ein Scherz sein, Anna lächelt mitleidig. »Hast du große Schmerzen?«, fragt er.
»Nein.« Er überlegt, ob er weiter fragen soll. Sie sagt nichts, lässt ihn aber nicht aus den Augen. Es vergeht eine Minute, zwei.
»Ach, der Tee!«
Über das Brodeln des Wasserkochers fragt sie: »Weißt du noch, die Medizinerparty im 3. Semester. Ich fand diesen Frank so toll. Du hast noch versucht mich zu retten und mich an Johannes erinnert aber ich war einfach zu betrunken und in Stimmung.«
Er schüttelt den Kopf als hätte er vergessen.
»Frank ist heute Notarzt und raucht wie ein Schlot. Wie dem auch sei: Am nächsten Tag bin ich in seiner Wohnung aufgewacht. Bis heute weiß ich nicht, was da eigentlich gelaufen ist. Ich lag im Wohnzimmer allein auf der Couch. Im Bad lief noch das Wasser, der Boden war überschwemmt. Ich war so müde, mein Magen spielte verrückt und ich konnte meine Sachen nicht finden. Und dann hast du mich abgeholt, weißt du noch? Damals noch mit diesem klapprigen Peugeot. Den ganzen Tag haben wir auf der Wiese an der Elbe verbracht. In meinem Fall fast ausschließlich schlafend.«
Er erinnert sich. Später Frühling. Gänseblümchen, ganz weiß im Sonnenlicht. Es war Mitten in der Woche, nur ab und zu kam ein Jogger vorbei.
»Ich war so voller Selbstmitleid an diesem Tag, obwohl es eigentlich ein herrlicher war und du mein Retter.« Sie lächelt und streicht sich mit der rechten Hand die Haare hinter das Ohr. »Mir geht es so wie damals. Das will ich sagen. Ich fühle mich elend und ich weiß auch nicht mehr so genau, was … was am Donnerstag geschehen ist. Alle Erinnerungen von diesem Tag sind wie, wie entrückt. Ich weiß, dass sie sich irgendwo verstecken, kann sie fühlen aber ich komme nicht ran.« Sie reibt sich mit der Hand über das Gesicht. »Entschuldige, ich habe dich gar nicht gefragt, ob du überhaupt Tee magst. Mir war danach. Soll ich einen Kaffee machen?«
»Tee ist perfekt.«, lügt er.
Sie bringt eine rote Kanne mit Blütenmuster, dazu Butterkekse und setzt sich neben ihn. »Ich bin trotzdem … Es ist eine große Traurigkeit in mir.«
Er spürt es wie eine unbestimmte Bedrohung. Wie alte Geister, die sich in der Dunkelheit hinter den Vorhängen verstecken, und auf den richtigen Moment warten, um sich dann als Schatten aufs Herz zu legen.
»Jede Kleinigkeit zieht mich nach unten. Heute morgen bin ich ausgeflippt, weil keine Butter im Haus war. Am schlimmsten ist, dass die Kinder es mitbekommen. Meinst du, es wird schlimmer? Ich habe Angst, dass ich mich irgendwann nicht mehr vor die Tür traue. Davon liest man ja immer.«
Sie lehnt sich zurück, schließt die Augen, reibt sich die Nasenwurzel. Decker schenkt Tee ein und reicht ihr eine Tasse. Er beschließt, nichts mehr zu fragen. Sie braucht Ruhe. Ab und zu nimmt er einen Schluck. Kamille. Der Regen prasselt gegen die Fenster. Annas Schulter berührt die seine. Er würde ihre Hand nehmen. Was für eine Scheiße.
»Es war auf dem Heimweg… .«, beginnt sie. »Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Bauch. Mitten auf der Straße. Das war kalt, kann ich dir sagen!«
Schweigen. Hilflosigkeit. Ein kurzer Blick. Er sieht keine Tränen.
Anna nimmt einen Schluckt vom Tee. »Er saß oder kniete auf mir. Meine Hände waren gefesselt. Also ich nehme das an. Ich konnte mich keinen Millimeter bewegen. Aufgewacht bin ich wohl, weil er mir mit aller Kraft die Luftröhre abgedrückt hat. Es hat sich angefühlt, als würde mir der Kopf vom Hals getrennt. Ich war so sicher, dass es gleich vorbei sein würde. Und ich war so … traurig. Das war das Schlimmste. Ich wollte mich wehren, war aber wie gelähmt und es hat mir so leid getan. Um mich. Um Leoni und Niklas. Um Johannes.«
»Die Polizei hat gesagt, dass du fliehen konntest?« fragt Decker.
»Ja. Ich war schon fast im Dunkel, fast dahin und plötzlich hat er nachgelassen. Ich habe so nach Luft gejapst, fast meine Zunge verschluckt. Dann kam die Drohung. Umbringen würde er mich, meine gesamte Familie und alle Freunde, einfach alle, wenn ich ihn verrate. Da wusste ich, dass ich leben würde. Dann war er fort und ich bin losgerannt. So wie ich war. Ich hatte immer noch Todesangst. Beim erstbesten Wohnhaus habe ich mit der Nase jeden Klingelknopf gedrückt.«
»Konntest du sehen, wie er aussah?«
»Seine Skimaske, mehr nicht.«
Ihre Augen sind feucht. Sie tupft sich mit einem Taschentuch die Wangen ab.
»Ich bin sehr froh, dass du es geschafft hast.«, sagt er.
»Habe ich das? Eigentlich hat er gewonnen. Wenn es sein Ziel war, mich fertig zu machen, eine Frau zu erledigen, dann hat er es geschafft. Mein Leben ist aus den Fugen geraten. Erst das Krankenhaus und nun sitze ich hier alleine rum. Mir tut alles weh und diese Scham und Schuldgefühle für etwas, dass ich weder provoziert noch sonst auf eine Art zu verantworten habe. Ich wünschte manchmal, ich könnte meinen Körper ausziehen, am besten für immer!«
Sie ballt die Fäuste und das Taschentuch und schaut ihm fest in die Augen. »Ich bin eigentlich anders erzogen worden, evangelisch, aber ich will nichts mehr, als dass dieses Schwein gefunden und fertig gemacht wird. Ich will, dass er für immer weggesperrt wird und im Dunkel verrottet.« Dann erst weint sie.
Auf dem Weg zurück in die Innenstadt. Auf Höhe des Großen Gartens reißt es an seinen Eingeweiden. Decker krümmt sich zusammen, lässt die Stirn aufs Lenkrad fallen. Mit einem Schlag kommt der Wagen auf dem Bürgersteig zum stehen. Er kurbelt hastig das Fenster herunter und kotzt Magensäure.
Nachher lässt er keuchend und zusammengekrümmt den Motor laufen. Blut staut sich pochend in seinem Kopf. Mit beiden Händen hält er fest das Lenkrad umfasst, seine Knöchel sind weiß und mit tiefen Zügen atmet er die kalte Luft ein. Und aus. Und ein.
Noch nie hat jemand so heftig geweint in seinen Armen und noch nie war er so sprachlos gewesen. So ohne Worte des Trostes. Bevor er gegangen ist, hat er Anna etwas versprochen. Nun fragt er sich, wie er dieses Versprechen einlösen will.
Er stoppt den Benz als sein Handy klingelt.
»Hallo Theo. Gehst du heute?«
»Klar, kennst doch meinen Masochismus.« Er glaubt, er kann sie schmunzeln hören. »Was machst du?«
»Ich schreibe eine Werbeanzeige für die Hochzeitsmesse im April. Aktuelle Brautmodenkollektionen, traumhafte Hochzeitstorten und stilvolle Trauringe. Der Traum eines jeden Mädchens! Und Jungens. Das solltest auch du dir nicht entgehen lassen.«
Er lacht. »Vielleicht nächstes Jahr.«
»Wie geht es deiner Freundin? Hast du sie besucht?«, fragt Miriam.
»Den Umständen entsprechend. Wollen wir uns nachher noch einmal zusammensetzen?«
»Gerne.«
»Ich melde mich.«
Er legt auf und fokussiert auf die Szene vor der Windschutzscheibe.
Polizisten reiben sich die Hände und treten von einem Bein aufs andere. In kleinen Gruppen stehen sie mitten auf der Kreuzung am Pirnaischen Platz. Über ihren Köpfen steigt der Atem wie Rauchzeichen in den grauen Himmel. Als Kulisse dient ein Zug aus blau-weißen Einsatzwagen, ordentlich in Reih und Glied, wie man es bei Spielen von Dynamo gewohnt ist. Es sind null Grad. Laut Wetterbericht wird es noch Schneeregen geben.
»Mein Beileid.«, murmelt Decker.
Eine Beamtin in dicker schwarzer Schutzkleidung tritt vor und winkt ihn durch.
Die Wilsdruffer Straße in Richtung Altmarkt und Zwinger ist bereits abgesperrt. Er flucht und fährt bis zum Terrassenufer, stellt das Auto unter der Carolabrücke ab. Heftiger Wind weht die Elbe hinauf. Sein Mantel kann nichts ausrichten. Es ist, als würde die Kälte mit einer dünnen Nadel direkt in jede Zelle injiziert. Schnell läuft er los. Seine Gliedmaßen sind schwer. Ein Schnaps könnte helfen, sein Blut wieder in Fahrt zu bringen. Gegen die Betäubung hätte er auch nichts.
Ein paar Montagstouristen sind schon unterwegs. In dick gefütterten Jacken und mit zusammengerollten Transparenten. Decker folgt einem Double-Date. Zwei Pärchen mittleren Alters. Sie scherzen und trinken dampfenden Glühwein aus einer Thermoskanne.
»Heute kommen bestimmt nicht so viele bei dem Wetter.«, stellt eine der Frauen fest.
»Glaub ich nicht.«, sagt ihre Freundin. »'Waren doch letzte Woche wieder in der Tagesschau. Das zieht. Wir haben doch alle die gleichen Sorgen.« Mir hom olle de gleischen Sorgn.
Über die Brühlsche Terrasse geht es in Richtung Theaterplatz. Auch heute wird die große Kundgebung wieder vor der Semperoper stattfinden. Am Schlossplatz hört er zuerst die Gegendemonstranten. Sie stehen rechter Hand auf der Augustusbrücke vor einer Polizeisperre. Dabei ein paar echte Linke, komplett mit roten Fahnen, Hoodies und vermummten Gesichtern. Der Großteil rekrutiert sich jedoch aus der normalen Bevölkerung. Studentinnen in Haremshosen, Rentnerpärchen und, hagere Ökoväter mit kleinen Kindern. Theo Decker schätzt, dass es ca. 2.000 Leute sind.
Genau wie letzte Woche. 2.000 Menschen gegen 10.000 patriotische Europäer, so stand es deutschlandweit in den Zeitungen. Die Dresdner würden sich nicht wehren. Sie würden es gutheißen, dass die Rechten die Stadt vereinnahmen.
Er hatte Miris Meinung einholen wollen. Als Zugezogene hält sie sich zwar zurück Als er sie jedoch fragte, ob so etwas in Hamburg möglich sei, verneinte sie sofort.
Er glaubt, dass es die Last der Geschichte ist und die fehlende Erfahrung mit der Demokratie, die die große Mehrheit der Dresdner in ihren Häusern hält. Knapp eine halbe Millionen Einwohner hat die Stadt. Er kann sich nicht vorstellen, dass die Mehrheit die ausländerfeindlichen Aufmärsche gutheißen. Oder dass es ihnen egal ist, was hier jede Montag passiert.
Der Theaterplatz ist gleich nebenan. Hier drängen sie sich bereits zu Tausenden. Vor allem Männer in der Standardausstattung des ostdeutschen Rentners mit Schiebermütze und beiger Jacke. Dazwischen mal ein paar Jüngere. Die einen tragen Trainingsanzüge und Fussballschals, andere sehen eher wie Maschinenbaustudenten aus. Sie kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Laut Umfrage der TU überdurchschnittlich männlich, über 40 und mit mittlerem Bildungsniveau. Es sind enttäuschte Wähler, Politikverdrossene, DDR-Verherrlicher oder Wendeverlierer. Dazu gibts ein paar Dynamo-Hools und auch radikale Nazis.
Sie alle stehen plaudernd zusammen oder drängen nach vorn zur kleinen Bühne, von der die erste Brandrede schallt. Wenn eines der Schlagwörter fällt, stimmen sie in den Chor der Entrüsteten ein. Lügenpresse, Lügenpresse! schallt es in rauem Ton die alten Mauern hoch. Volksverräter! wird skandiert, sobald der Name eines Politikers fällt. Der Groll sitzt tief und tief sind auch die Männerstimmen.
Dabei recken sie die selbst gebastelten Schilder.
ALIBABA und die 40 Dealer -Ausweisung sofort!
Schluss mit der Staatspropaganda, GEZ abschaffen!
Merkel muss weg!
Von der Gegendemo bekommt man hier nichts mehr mit. Die einzige Gegenrede flattert in Form eines Transparents vom Dach der Semperoper.
Augen auf, Herzen auf, Türen auf - Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Die Polizisten am Rand der Versammlung tragen gepanzerte Einsatzanzüge. Protektoren, Helm und der sogenannte Einsatzmehrzweckstock am Gürtel. Man geht vom Schlimmsten aus.
Decker schießt ein paar Fotos mit dem Smartphone. Per App sendet er die Bilder an die Cloud der Redaktion. Falls sich sonst keiner kümmert, wird er später schnell den Text dazu tippen.
Die Kollegen meiden die Montagsdemo, er geht fast immer hin. Zu Beginn nur, um aus erster Hand berichten zu können. Als noch nicht klar war, was das hier ist. Als der Schock noch tief saß. Regelmäßig werden die größten Deppen auf die Bühne gelassen. Plumpe Faschos und bekannte Verschwörungstheoretiker - hauptsache unmenschlich, gefährlich und verrückt. Vor zwei Wochen war es ein ehemaliger Krimiautor, der der Politik vorwarf, sie betreibe eine Umvolkung, sei Gauleiter gegen das eigene Volk und lasse eine Moslemmüllhalde in Deutschland zu.
Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. , so hatte er seinen Bericht für die Webseite beendet. Dabei hat er Nietzsche im Studium gehasst. Der hatte selbst nicht alle Latten am Zaun.
So genau weiß er nicht, warum er sich den Unsinn jeden verdammten Montag antut, zumal im Winter. Vielleicht, um nichts von dem zu verpassen, was in ganz Deutschland Thema ist. Chronisten zu spielen. Auf jeden Fall würde er eines gerne begreifen: Woher kommt dieser Hass? Wo war er, all die Jahre?Warum sind seine Dresdner auf einmal Hetzer, empören sie sich hemmungslos, brüllen ihre Wut heraus und werden gar gewalttätig, als hätten sie den gesellschaftlichen Konsens aufgekündigt, über die Regeln des Zusammenlebens den Notstand ausgerufen.
An der Mauer der Hofkirche versucht einKamerateam sein Glück. Decker hat die Reporterin schon mal irgendwo gesehen. Bei den Öffentlich-Rechtlichen? Sie hat ein einnehmendes, sehr schönes Gesicht. Große Augen, lächelt selbstsicher. Ein älterer Herr erklärt, warum er heute teilnimmt. Decker weiß schon, was kommt. Er fühlt sich ungerecht behandelt, hätte keine Mitspracherechte, die da oben bereichern sich am Volk, es gibt zu viele Asylschmarotzer usw.
Früher waren es Hartz-4-Schmarotzer, denkt Decker. Hauptsache auf irgendjemandem rumhacken, dem es noch schlechter geht. Nach einem Jahr Montagsdemos hat er sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass diese harmlos aussehenden älteren Herren, man möchte Opas sagen, mitmachen und der Sache zum Erfolg verhelfen. Sie erinnern ihn an seinen Großvater und er kann sich diesen stolzen Mann vor dieser Bühne hier nicht vorstellen. Er hätte die Sprache nicht ertragen, das Rohe, die Kulturlosigkeit, diesen ganzen verfluchten Gottesdienst der selbsternannten Zurückgelassenen.
Feuchte, schwere Flocken fallen nun zu Boden. Es werden Schirme gezückt. Deckers Haare sind bereits nass.
Er bahnt sich seinen Weg. Zehn Meter vor durch die Meute in Richtung Bühne, bis die Wand aus Menschen undurchdringlich wird.
»Darf ich mal durch, bitte.«
Der Mann vor ihm besteht hauptsächlich aus Rückenfleisch. Er dreht den Kopf leicht zur Seite, grummelt: »Wir wären auch gerne weiter vorn.«
Sein Nachbar stimmt ein: »Hinten anstellen!«
Bevor Decker erwidern kann, bekommt er hinten einen Stoß und fällt, Kinn voraus, in den Gorillarücken.
Der dreht sich um und lächelt. Kurzgeschorene Haare, Jeansweste über einer Lederjacke und ein Bier in der Hand.
Kacke. »Entschuldigung, ich wurde gestoßen.«, sagt Decker. Als vom Großen nicht gleich eine Antwort kommt spricht er eilig weiter. »Ich bin Journalist und würde gerne etwas weiter nach vorn kommen um zu hören, was gesagt wird. Damit ich darüber berichten kann.«
Geplapper, dass er sofort bereut. Mittlerweile haben sich auch die Gestalten rechts und links neben dem Großen zu ihm gewandt. Hooligans mit Bierdose und einer hässlichen Visage.