Stahlblaue Nacht - Tetsuya Honda - E-Book

Stahlblaue Nacht E-Book

Tetsuya Honda

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Beschreibung

Die Kult-Serie aus Japan: Der zweite Fall für die Tokioter Ermittlerin Reiko Himekawa In einem Außenbezirk von Tokio wird in einem Kleinlaster eine abgetrennte Hand gefunden. Ein Bauarbeiter meldet seinen Boss als vermisst, in dessen Garage finden die Ermittler eine große Blutlache. Schnell scheint klar, dass die Hand zu Ken'ichi Takaoka gehört, einem kleinen eigenständigen Bauunternehmer. Aber wo ist die restliche Leiche? Als Reiko Himekawa ein Foto des Vermissten einem alten Schulfreund von Takaoka zeigt, führt das ihre Ermittlung plötzlich in eine völlig andere Richtung. Denn der Freund behauptet, dass der Mann auf dem Foto überhaupt nicht Takaoka ist. Aber wer ist es dann? Und wo ist Takaoka? Spannend, hart und nervenaufreibend: Reiko Himekawa und ihr Team entdecken ein brutales mafiöses System, das seit Jahren Menschen ausbeutet und in den Tod treibt.

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2017

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TETSUYAHONDA

Stahlblaue Nacht

Reiko Himekawa ermittelt in TokioThriller

THRILLER

 

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

 

Über dieses Buch

 

 

Reiko Himekawa: Sie ist cool - sie ist tough - sie ist die beste Ermittlerin in Tokio!

 

In einem Außenbezirk von Tokio wird in einem Kleinlaster eine abgetrennte Hand gefunden. Ein Bauarbeiter meldet seinen Boss als vermisst, in dessen Garage finden die Ermittler eine große Blutlache. Schnell scheint klar, dass die Hand zu Ken’ichi Takaoka gehört, einem kleinen eigenständigen Bauunternehmer. Aber wo ist die restliche Leiche?

Als Reiko Himekawa ein Foto des Vermissten einem alten Schulfreund von Takaoka zeigt, führt das ihre Ermittlung plötzlich in eine völlig andere Richtung. Denn der Freund behauptet, dass der Mann auf dem Foto überhaupt nicht Takaoka ist. Aber wer ist es dann? Und wo ist Takaoka?

Spannend, hart und nervenaufreibend: Reiko Himekawa und ihr Team entdecken ein brutales mafiöses System, das seit Jahren Menschen ausbeutet und in den Tod treibt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tetsuya Honda ist einer der erfolgreichsten Autoren in Japan. Mit der Figur der Reiko Himekawa schuf er die jüngste Ermittlerin der Tokioter Mordkommission und eine der erfolgreichsten Serien: über 4 Millionen verkaufte Bücher, zwei Fernsehserien, ein Kinofilm und ein TV-Special. Bisher sind vier Bücher in dieser Serie erschienen, "Blutroter Tod" ist der erste Band. Der Autor lebt in Tokio.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Personen der Handlung

Prolog

TEIL I

1 Bezirk Chiyoda, Tokio Polizeipräsidium Tokio, Keichi-Cho

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5 10.07 Uhr Freitag, 5. Dezember

TEIL II

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4 Samstag, 6. Dezember

5. Kapitel

TEIL III

1. Kapitel

2 Sonntag, 7. Dezember 10.40 Uhr

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

TEIL IV

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4 Donnerstag, 18. Dezember, 10.30 Uhr Gloria Yutenji Apartments, Apt. 302 Yutenji, Bezirk Meguro

5. Kapitel

TEIL V

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

TEIL VI

1. Kapitel

Personen der Handlung

Hashizume – Direktor der Mordkommission der Keishi-cho, des Polizeipräsidiums der Präfektur Tokio

Kawada – Hauptkommissar und leitender Chefermittler der Polizei Kamata

Einheit 10:

Haruo Imaizumi – Chef der Einheit 10, Mordkommission

Reiko Himekawa – Hauptkommissarin und Teamleiterin

Kazuo Kikuta – Kommissar in Himekawas Team

Shinji Otsuka – Polizeibeamter in Himekawas Team

Kohei Yuda – Polizeibeamter in Himekawas Team

Mamoru Kusaka – Hauptkommissar und Teamleiter

Hiromitsu Ioka – Streifenpolizist, Reiko Himekawa als Partner zugeteilt

Einheit 5:

Kensaku Katsumata – Hauptkommissar und Teamleiter von Einheit 5 der Mordkommission in der Keishi-cho

Noboru Kitami – Hauptkommissar und Anwärter auf ein Amt im höheren Dienst, dem Bezirk Kameari zugeteilt

 

Sadanosuke Kunioku – Gerichtsmediziner, Institut für Rechtsmedizin Tokio

Weitere Personen der Handlung:

Kenichi Takaoka – Architekt

 

Tadaharu Mishima – Bauarbeiter

Kosuke Mishima – sein Sohn

 

Nobura Nakagawa – Bauarbeiter

Michiko Nakagawa – seine Tochter

 

Makio Tobe – Kleinkrimineller

 

Kazutoshi Naito – Bauarbeiter

Asuko Naito – seine Frau

Yuto Naito – sein Sohn

Prolog

Ich hab mal irgendwo gelesen, dass Gefangene in der Todeszelle kurz vor der Hinrichtung eine Zigarette und ein Daifuku zugesteckt bekommen.

Tadaharu Mishima hockte etwas abseits und verspeiste ein Daifuku. Jemand musste die mit Bohnenpaste gefüllten Reiskuchen während der Nachmittagspause um drei an die Arbeiter verteilt haben, und Mishima hatte den seinen entweder aufgehoben oder sich einen zweiten geschnappt. Er war außen weiß und pudrig und innen cremig weich.

Ich konnte es nicht ertragen, ihm beim Essen zuzusehen, also wandte ich mich ab und starrte aus dem Fenster. Die Arbeit war für heute zu Ende, und die Sonne schien geradewegs in das Gebäude. Wir waren im neunten Stock, auf gleicher Höhe mit der Spätnachmittagssonne.

Das Gebäude war wie ein großer schwarzer Schatten: ein gewaltiger Grabstein im riesigen Friedhof Tokio. Trotzdem hörte ich das Zirpen der Zikaden … Oder spielte mir das Gedächtnis einen Streich?

Ich wandte mich vom Fenster ab und blickte im Zimmer umher. Aufgrund des jähen Kontrastes erschien mir alles wie zu einer einzigen dunklen Masse verschmolzen – die Wände aus nacktem Beton, die Jutesäcke voller Schutt, Mishima, der daraufhockte.

Ich sah nichts als die Umrisse eines Gesichts, das – wortlos und bedächtig – die Umrisse eines Kuchens verspeiste.

Ich zündete mir eine Zigarette an, um mir Mut zu machen. Ich spürte ihre Glut an der Nasenspitze. Ich sog den Rauch ein und stieß ihn wieder aus.

»Kannst du … na ja … kannst du da gar nichts tun?«, fragte ich.

Die Kiefer hielten in der Bewegung inne. Gleich darauf kauten sie weiter, als hätte Mishima eine Idee gehabt, sich dann aber anders entschieden. Sein Gesicht war ruhig und unbewegt. Seine Augen hatten kein Ziel. Sein Blick wanderte im leeren Raum umher, hinaus auf den Flur und von dort weit, weit fort.

»Nein. Es ist aussichtslos.«

Er seufzte die Worte eher, als dass er sie sagte.

»Aber du musst doch irgendetwas tun können. Und wenn du Privatinsolvenz anmeldest? Ich spreche mit Herrn Tobe, wenn du willst.«

Mishima biss bedächtig in sein Daifuku.

»Privatinsolvenz? Das hab ich schon mal versucht  … vor Jahren. Hat nicht funktioniert. Ich brauchte Geld und hatte am Ende noch mehr Schulden … Sieh mal, die Art von Typen, mit denen ich es zu tun hatte … ich wusste, worauf ich mich da einließ … Ich meine, egal, Mann. Ist keine große Sache.«

Mishima sah mich unverwandt an. Sein Gesicht war voller Dreck und Staub. Der Schweiß auf seiner Stirn war fast trocken.

»Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt? Mein Kleiner hat Hunger, und das Einzige, was ich zustande bringe, ist ein ›Tut mir leid, Junge, heute haben wir nichts Essbares im Haus‹. Der Junge ist so hungrig, dass er das Stroh aus den Tatami-Matten zupft und sich den Scheiß in den Mund steckt – bis ich ihm eine runterhaue. Ich schlag ihm auf die Finger, auf den Kopf, oder verpass ihm einen Tritt in den Hintern.« Mishima hielt inne und blickte zu Boden. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und sah wieder zu mir auf. »Nur eines tu ich nie, ihm ins Gesicht schlagen. Niemals. Schlägst du ein Kind ins Gesicht, hat es blaue Flecken, die jeder sehen kann. Dann kommt einer daher und macht Stunk wegen Kindesmisshandlung, und bevor du’s kapierst, haben sie dir dein Kind weggenommen. Immer wieder sag ich mir: ›Wenn du den Jungen schon schlagen musst, dann schlag ihm ins Gesicht. Es ist besser für ihn.‹ Aber ich kann es nicht. Am Ende streichle ich den verdammten Kerl, anstatt ihn zu schlagen …«

Mishima senkte den Blick und starrte auf den halb aufgegessenen weißen Reiskuchen in seiner Hand.

»Kinderwangen sind so weich und glatt. Und sie duften so süß. Wenn ich meinen Jungen umarme und mein Gesicht an dem seinen reibe, muss ihm das weh tun. Ich hab Bartstoppeln, außerdem ist mein Gesicht immer dreckig … Und weißt du, was der Junge zu mir sagt? ›Warum weinst du, Papa?‹ Was kann ich tun? Ich sag nur: ›Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich so ein beschissener Vater bin.‹«

Meine Zigarette war bis zum Filter heruntergebrannt. Ich schnippte die Kippe aus dem Fenster, zog die Schachtel heraus und hielt sie Mishima hin. Als er Nein sagte, nahm ich mir selber eine.

Er sah zu mir auf und zögerte kurz, ehe er mich fragte: »Wann hast du’s rausgefunden?«

»Eigentlich schon, als du hier angefangen hast.«

»Du hast’s also gewusst?«

Ich nickte. Die Rauchwolke, die vor mir schwebte, zitterte und zerfiel allmählich.

»Genau. Ich konnte nicht anders. Ich meine, wer arbeitet in deinem Alter noch als Gerüstbauer? Ich hab nur Gerüchte gehört. Nichts Konkretes.«

»Ach ja?«, seufzte Mishima. »Wenn du so viel weißt, wieso glaubst du dann, dass ich Alternativen hätte?«

Ich suchte nach Worten, fand aber keine.

Ein Wust an Erinnerungen wallte in mir auf, legte sich wie eine schwere Last auf meine Brust. Aber ich konnte Mishima nicht meine eigene Geschichte erzählen. Dazu hatte ich kein Recht.

Hast du an die Konsequenzen für deinen kleinen Jungen gedacht?, wollte ich ihn fragen. Dumme Frage. Natürlich hatte er daran gedacht. Er hatte sich zweifellos das Hirn zermartert, bevor er die Entscheidung traf. Weiß Gott, ich kannte den Gedankenprozess, den er durchgemacht hatte – besser als irgendjemand sonst.

»Ich will dir doch nur helfen, Mann.«

Mehr fiel mir dazu nicht ein.

Mishima schnaubte verächtlich.

Ich schämte mich entsetzlich. Was ich gesagt hatte, klang so billig und simpel. Doch was hätte ich sonst sagen sollen, verflucht?

»Also schön, dann geh jetzt lieber«, murmelte ich.

Mishima rappelte sich auf und stopfte sich den letzten Bissen in den Mund. Er klopfte sich den Staub aus dem Hosenboden, bückte sich und hob einen zerbeulten Schutzhelm auf.

»Hör zu, Mann, tut mir echt leid, dass ich dir den Schlamassel eingebrockt habe«, sagte ich. »Und jetzt geh.«

Die Balken knarzten, als Mishima aus dem Zimmer trottete. Als er den Flur erreichte, änderte sich das Geräusch seiner Schritte; Sand rieb über Zement, als er widerstrebend davonschlurfte.

Ich stand nur da und sah zu, wie meine Zigarette herunterbrannte.

Neben meinen Füßen stand eine leere Getränkedose. Ich ließ die Kippe hineinfallen und hörte das traurige Zischen, als sie erlosch.

Beim Scheppern von Metall steckte ich den Kopf aus dem Fenster. Drei Fenster von mir entfernt stand Mishima auf dem Gerüst. Er hatte den Helm aufgesetzt, ohne sich die Mühe zu machen, den Kinnriemen festzuzurren. Er schaute hinauf zu einer Gerüststange über seinem Kopf, streckte den Arm danach aus und setzte den Schraubenschlüssel an.

Regungslos verharrte er eine Weile in dieser Position. Er schraubte überhaupt nichts fest, starrte nur auf seine Hand.

Ein warmer Windstoß fegte über den Abendhimmel.

Schließlich schob sich Mishimas rechter Fuß leise nach vorn. Einen Zentimeter. Zwei Zentimeter. Dann nur einen Millimeter oder zwei.

Wenn ich weiter zusah, bestand die Gefahr, dass ich aufschrie, bevor er getan hatte, was er tun musste. Was ich auf keinen Fall tun durfte – schon ihm zuliebe nicht.

Als der Absatz seines rechten Fußes schließlich ins Leere glitt, überlief es mich eiskalt, und ich presste mir beide Hände auf den Mund.

Sein Rücken kippte langsam nach vorn. Der Helm rutschte ihm vom Kopf und fiel geradewegs nach unten. Er verlor endgültig den Halt und stürzte vom neunten Stock in die Tiefe.

Es dauerte nur wenige Sekunden. Sie fühlten sich lang und kurz zugleich an. Die Schwerkraft trieb ihr grausames Spiel mit ihm auf dem Weg nach unten: Er stieß gegen das Gerüst, prallte davon ab, überschlug sich und stürzte weiter.

Mit einem dumpfen Geräusch, als hätte man einen Sack Zement umgeworfen, schlug er zu Boden.

Sein Körper lag der Länge nach im Staub.

»Um Gottes willen!«

Der Vorarbeiter, der Sicherheitsmann und eine Handvoll Arbeiter rannten auf ihn zu.

»Er ist abgestürzt«, rief ich hinunter. »Von dort drüben.«

Ich war drei Räume vom Ort des Geschehens entfernt. Niemand hatte irgendeinen Grund, mich zu verdächtigen. Es war alles nach Plan gelaufen.

 

Trotz des Unglücksfalls begann die Arbeit tags darauf pünktlich. Die Ermittlungen oder Nachforschungen, oder wie immer man es nennt, waren in weniger als vierundzwanzig Stunden abgehandelt, und alles ging seinen gewohnten Gang.

Zwei oder drei Tage später spähte ich aus demselben Fenster und dachte gerade, dass der Sonnenuntergang der gleiche war wie an dem besagten Tag, als ich am Tor zur Baustelle eine kleine Gestalt bemerkte.

 

An meine Mutter kann ich mich nicht erinnern. Vater erzählte mir, sie sei krank geworden und gestorben. Ich hab das nie geglaubt. Sie war ihm vermutlich davongelaufen. Und weil mein Vater so war, wie er war, war Davonlaufen wohl das Klügste, was sie tun konnte.

Mein Vater war ein totaler Versager, ein notorischer Spieler, der nie auch nur einen roten Heller gewann. An den meisten Tagen hatten wir noch nicht mal ein Reiskorn im Haus. Wenn Vater ausnahmsweise mal mit Essen nach Hause kam, war es allenfalls eine Dose Huhn. Er machte viel Aufhebens darum, aber ich wusste, dass er sie in einer Spielhalle gewonnen hatte. Einige dieser Orte dürfen keine Geldgewinne auszahlen, also verteilen sie stattdessen Sachpreise.

Mein Vater arbeitete meistens auf dem Bau. Er hat vermutlich die Drecksarbeit erledigt – den Müll rausgeschafft, Baumaterial zu den Leuten hochgetragen oder ohne Pause den Wachdienst übernommen. Was auch immer, er hatte eben keinerlei Know-how und war auch kein gelernter Bauarbeiter.

Ich war damals noch ein Kind, aber trotzdem war mir klar, dass mein Vater sowohl körperlich als auch moralisch ein Schwächling war. Er war ein Versager, der sich nie zu irgendetwas aufraffen konnte. Der Mann hatte einfach kein Rückgrat, keine Eier in der Hose.

Als ich noch in den Kindergarten ging, war er gar nicht mal so übel. Alles ging erst so richtig den Bach runter, als ich in die Schule kam. Der Typ konnte mir nicht mal ein anständiges Schulmäppchen kaufen. Ein paar Stifte, ein Radiergummi, ein Notizheft – das allein fraß das gesamte Budget meines Vaters auf.

Er war auch nicht gerade der ideale Kunde. Er trug eine schmutzige Trainingsjacke und eine ausgefranste Arbeitshose. Er war unrasiert und sonderte diesen säuerlichen Geruch nach Ruß und Schweiß ab – außerdem stank sein Atem nach billigem Fusel, wann immer er den Mund aufmachte.

Die Verkäuferin sah angeekelt drein, und obwohl ich noch ein Kind war, war mir die Sache unendlich peinlich.

»Das hier kostet dreihundert Yen«, sagte die Verkäuferin. »Es ist das billigste Mäppchen, das wir führen.«

Am Ende gab mein Vater die Idee einfach auf, und ich hielt meine Stifte mit einem Gummi zusammen.

In der zweiten und der dritten Klasse wurde das Leben halbwegs normal. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht hatte Vater Geld gewonnen – oder jemand hatte ihm welches geliehen. Wie auch immer, ich bekam Taschengeld und trug neue Kleider statt der alten, zerschlissenen. Es gab genügend Reis im Haus und dazu sogar ein wenig Fleisch und Fisch!

Es ging nicht lange gut. Als ich in die vierte Klasse kam, hatten wir schon wieder nichts mehr zu essen. Vater konnte mir normalerweise zwar Geld für mein Schulessen mitgeben, aber zu Hause gab’s zum Frühstück nur Brotkrumen und zum Abendessen getrockneten Tintenfisch.

Natürlich wurde ich in der Schule gehänselt.

Die anderen Kinder nannten mich »arm«, »verstunken« und »dreckig«. Danke, Leute, das braucht ihr mir nicht zu sagen, dachte ich dann.

Und ich hab es ihnen heimgezahlt.

»Na schön. Eure Beschimpfungen tun mir nicht weh. Aber wenn ich euch auf die Schnauze haue, spürt ihr das, wetten?«

Beschimpft zu werden tat mir sehr wohl weh. Ich hatte nur angegeben, was Kinder eben so tun.

Ich war nicht groß, aber ich war flink und hatte Mut, also machte es mir nichts aus, mich mit den anderen zu prügeln. Trotzdem achtete ich darauf, es nicht zu übertreiben. Es ging mir dabei weniger um die anderen als um mich selber: Ich hatte einfach nicht die nötige Kraft.

Nach der Schule ging ich in das schäbige zweistöckige Holzrahmenhaus zurück, in dem wir zur Miete wohnten, und versuchte, meinen Vater dazu zu bewegen, mir etwas zu essen zu machen. Wenn er nicht zu Hause war, haute ich mir selbst was in die Pfanne. Und wenn er da war, hieß das natürlich noch lange nicht, dass es auch was zu essen gab.

»Tut mir leid, Junge … ich hab überall gesucht, aber wir haben nichts Essbares mehr im Haus … Tut mir leid, Junge.«

Ich nickte dann mitfühlend und dachte dabei: Ja, schon klar. So wie du riechst, gab’s aber ’ne Menge Hochprozentiges.

Während ich in die tröstliche Welt der Tagträume abglitt, zupfte ich das Stroh aus den Tatami-Matten.

Plötzlich war Mutter wieder bei uns und machte mir einen Hambagu und dazu eine dampfende Schale Reis. Lecker! »Du solltest kommen und bei mir wohnen«, pflegte Mutter in meinen Träumen zu sagen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie aussah, also gab ich ihr das Gesicht von Schauspielerinnen, die ich aus dem Fernsehen kannte. Meinetwegen brauchte sie nicht niedlich oder hübsch zu sein. Ich wollte jemand, der tough genug war, um die Tiefschläge des Lebens zu bewältigen.

Da schlug plötzlich eine Hand nach mir und holte mich jäh aus meinen Tagträumen.

»Was soll das werden, Junge?«

Ich schlug die Augen auf. Ohne es zu merken, hatte ich einen Strohhalm aus der Tatami-Matte gezupft und in den Mund gesteckt.

»Oh«, stammelte ich. »Tut mir leid, Papa.«

»Isst du vor lauter Hunger jetzt schon Tatami?«

»Nein, Papa.«

»Bist du wirklich so hungrig?«

Um ehrlich zu sein, ja.

»Nein, ist schon gut«, antwortete ich dann. »Ich hab mir beim Mittagessen in der Schule noch einen Nachschlag geholt.«

»Lüg mich nicht an.«

Komm schon. Musst du mich wirklich schlagen?

»Es geht mir gut. Ehrlich.«

»Halt den Mund, Junge.«

Und schon ging’s wieder los. Mein beschissener alter Vater war pleite und ließ seinen Frust an mir aus. Er war ein Versager, der austickte, sobald er einsehen musste, dass er ein Versager war. Ich wusste, was kommen würde, und wappnete mich.

Meine beste Strategie bestand darin, mich so klein wie möglich zu machen. Ich zog die Knie an die Brust, rollte mich zu einer Kugel ein und schützte mein Gesicht. Mein betrunkener Vater war eine solche Niete, dass er es nicht mal schaffte, seinem kleinen Sohn eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen.

Sein Zorn verzog sich genauso schnell wie ein Gewitter, dann hob mein Vater mich hoch und drückte mich an sich.

»Tut mir leid, Kosuke. Tut mir leid, dass ich so ein lausiger Vater bin.«

Du Versager! Ich will auf keinen Fall werden wie du! Es ist das Einzige, was du mir beibringen kannst. Du bist schwach und feige. Nicht mal die Prügel ziehst du durch: Wenn du mich schlagen willst, dann fang nicht mittendrin an, mich zu umarmen.

»Warum weinst du, Papa?«

Du hast doch mich geschlagen! Wenn hier jemand weinen müsste, dann ich, Papa!

»Kosuke.«

Musst du mich umarmen? Du stinkst. Ich will nicht, dass sich dein Gestank auf mich überträgt.

Es wäre mir lieber gewesen, von den anderen Kindern in eine Turnmatte eingerollt und mit Tritten traktiert als von Vater umarmt zu werden.

 

Wie auch immer, mein Vater starb im Sommer, als ich die fünfte Klasse hinter mich gebracht hatte. Er stürzte bei der Arbeit vom neunten Stock eines Wohnblocks.

Unser Telefonanschluss war schon vor ewigen Zeiten gekappt worden, und so erhielt ich die Nachricht von einem Polizeibeamten, der persönlich vorbeikam. Während ich ihm trockenen Auges zuhörte, strich er mir übers Haar und nannte mich einen tapferen kleinen Burschen.

Dabei hatte es überhaupt nichts mit Tapferkeit zu tun. Ich war völlig von den Socken. So erbärmlich schwach war ich damals.

Sicher, du warst ein beschissener Vater, aber du hast wenigstens versucht zu arbeiten, damit wir etwas zu essen kaufen konnten. Sicher, du bist regelmäßig ausgerastet und hast mich verprügelt, aber bis zum Schlafengehen hatten wir uns wieder versöhnt. Wie soll ich denn jetzt ohne dich zurechtkommen? Ein Schulkind kann sich doch nicht an den Spielautomaten setzen. Und auf Baustellen kann ich auch nicht arbeiten. Soll ich vielleicht Zeitungen austragen? Darf man das als Fünftklässler?

Ich nahm an, sie würden mich ins Waisenhaus stecken. Ein Waisenhaus wäre wahrscheinlich besser als diese beschissene Wohnung, in der es keinen Krümel zu essen gab. Sogar mit Sicherheit. Wie kam ich in eines rein? Wer würde mich hinfahren? Sollte ich einen meiner Lehrer bitten? Würde sich der Polizeibeamte darum kümmern?

Zum damaligen Zeitpunkt brauchte ich mir darüber noch nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie brachten mich zu einer Art Krankenhaus in Otsuka. Es war aber kein normales Krankenhaus. Ich sah überhaupt keine Krankenschwestern, dafür wimmelte es von Polizisten.

»Du bist der einzige Angehörige deines Vaters, Junge«, sagte jemand. »Es tut mir leid, aber du musst ihn identifizieren.«

»Na gut«, sagte ich. Was hätte ich sonst tun sollen? Sie führten mich in diesen kahlen weißen Raum, zu einem Bett, das mit einem weißen Leintuch bedeckt war.

Plötzlich hatte ich Angst.

Der Polizist, der bei mir gewesen war, hatte gesagt, dass Vater vom neunten Stock gestürzt war. Vom neunten Stock! Das war dreimal höher als meine Schule!

»Sein Gesicht ist ein bisschen … na ja … Ich zeig dir lieber seinen Bauch und die Brust. In Ordnung?«

Ich fragte mich, was genau das heißen sollte, sein Gesicht wäre »ein bisschen … na ja …«, als das Tuch aufgeschlagen wurde.

Ich musste würgen, schnappte nach Luft.

Der Körper meines Vaters sah ganz grünlich aus. So erinnere ich mich daran. Es gab mehrere Stellen an der Leiche, die mit schwarzem Faden vernäht waren. Wie soll ich das da bloß identifizieren?, war mein erster Gedanke. Dann sah ich genauer hin und erkannte die Brusthaare meines Vaters und seinen runden, hervorstehenden Nabel, der unversehrt geblieben war.

»Ja, das ist er«, flüsterte ich. »Das ist mein Papa.«

Mehr brachte ich nicht zustande, ehe mich ein zweites Mal die Übelkeit überkam.

 

Zwei Tage später erreichte mich in der Schule eine Nachricht.

Sie kam von der Baufirma Kinoshita Construction, für die Papa gearbeitet hatte. Ich sollte hinkommen und seine Sachen abholen.

»Ist das in Ordnung? Kannst du dort ganz allein hingehen?«

Mein Lehrer, Herr Masuoka, war ein sehr netter Mann. Er kopierte einen Stadtplan für mich und lieh mir das Geld für die Zugfahrt. Ich bedankte mich und ging los. Ich bin nicht stolz darauf, aber obwohl ich noch ein Kind war, hatte ich irgendwie die Hoffnung, dass ein wenig Geld für mich drin wäre.

Die Instruktionen, die ich erhalten hatte, führten mich zu der Baustelle, auf der mein Vater gestorben war. Ich ging ängstlich vor dem großen metallenen Sicherheitsgitter am Eingang auf und ab, als der Wachmann aus seinem kleinen Container trat.

»Bist du Tadaharu Mishimas Junge?«

Als ich bejahte, führte mich der Wachmann zu einem anderen, größeren Container, in dem die Klimaanlage voll aufgedreht war. Da waren vier oder fünf Erwachsene, und alle trugen sie identische hellgrüne Arbeitsoveralls – alle bis auf einen. Er war anders gekleidet. Er trug ein weißes Hemd, aufgeknöpft bis zur Brust, und eine schwarze Hose. Er hatte einen Bartschatten und trug eine kleine braune Sonnenbrille. Ich weiß noch, wie ihm die Zigarette von den Lippen hing, und wie sein kurzgeschnittenes Haar vom Kopf abstand.

»Danke, dass du hergekommen bist, Junge. Ich bin beeindruckt. Wirklich beeindruckt.«

Der Mann bemühte sich, freundlich zu sein.

»Das hier ist doch der Seesack deines Vaters. Richtig?«

Ich nickte. Der Mann forderte mich auf, den Inhalt durchzusehen. Ich erkannte alles darin wieder. In Papas Brieftasche war sogar ein wenig Geld – sechshundert Yen.

»So, Junge, den Beutel nimmst du mit nach Hause. Und nimm das hier auch mit. Es ist Räuchergeld, von der Firma gespendet. Damit wollen wir zum Ausdruck bringen, dass uns dein Verlust leidtut. Du wirst für das eine oder andere Geld brauchen. Geh klug damit um.«

Sie hatten auch den Betrag dazugelegt, den sie Papa für Überstunden und anderes schuldeten.

»Vielen Dank. Auf Wiedersehen.«

Ich nahm das Geld, verneigte mich und verließ die Hütte.

Nach wenigen Schritten öffnete ich den Briefumschlag, um hineinzuspähen. Er enthielt hunderttausend Yen. Wahnsinn! Ich war hin und weg – aber auch nervös, weil ich so viel Bargeld bei mir hatte.

Ich ging zurück zum Eingangstor, drehte mich um und warf einen letzten Blick auf die Baustelle.

Das Gebäude war elf Stockwerke hoch und voll eingerüstet. Mein Papa war von der neunten Etage gestürzt. Der Polizist sagte mir, er habe das Gerüst aufgebaut und sei dabei abgerutscht.

Das Metallgerüst glänzte im Licht der untergehenden Sonne. In meiner kindlichen Phantasie sah es aus wie ein riesiger Käfig für ein gigantisches Monster.

Hatte das Monster meinen Papa gefressen? Oder war Papa gesprungen, um dem Monster zu entkommen?

Bring mich hier raus! Bring mich raus! Hilf mir! Kosuke, hilf mir!

Ich stellte mir meinen Vater vor, wie er flennte, das Gesicht angstverzerrt. Plötzlich tat er mir leid. Die hunderttausend Yen, die ich bei mir hatte, waren der Preis für sein Leben.

Ich weinte nicht. Doch aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich entsetzlichen Durst.

Die Metallplatten, die sie für die Lastwagen auf den Boden gelegt hatten, waren nass. Sie hatten sie mit Wasser bespritzt, um den Staub zu binden. Es musste also ein Zapfhahn in der Nähe sein.

Als ich mich umsah, hörte ich eine Stimme.

»He, bist du Mishimas Junge?«

Ich fuhr herum. Bevor ich antworten konnte, redete der Mann schon weiter.

»Natürlich bist du das. Du hast die Augen deines Vaters.«

Musst du das jetzt sagen?, dachte ich.

Der Mann ging vor mir in die Hocke und sah mir ins Gesicht. Er sah gut aus, hatte eine auffällige Nase. Ich vermutete, dass er hier arbeitete, aber er war nicht so schmutzig wie mein Papa.

Schweißgeruch wehte aus dem Kragen seines Polohemds. Doch seltsamerweise ekelte ich mich nicht.

»Dein Papa und ich waren Kumpel. Wir haben zusammengearbeitet.«

Es war das erste Mal, dass ich mir meinen Papa mit Freunden vorstellte.

»Ich nehme an, du bist allein hergekommen? Nun ja, ich bin auch allein. Wie wär’s, wenn wir beide zusammen essen gehen? Du kannst dir deine Lieblingsspeisen bestellen. Auf meine Rechnung.«

Mir knurrte der Magen. Es tat richtig weh, als hätten sich meine Eingeweide verknotet.

»Na komm, gehen wir. Ich habe nicht vor, dich zu kidnappen, weißt du. Wenn du Angst hast, dann geh vor. Geh in irgendein Lokal und bestell, was du willst. Wie hört sich das an? Klingt das gut?«

Ich hatte keine Angst, dass er mich entführen könnte oder so was. Wenn jemand so dumm war, mich zu entführen, gäbe es niemanden, der auch nur einen Yen Lösegeld für mich berappen würde. Die hunderttausend Yen in meiner Tasche hatte ich total vergessen.

»Also abgemacht. Wie heißt du denn?«

Kosuke, sagte ich ihm.

»Kosuke, wie? Hübscher Name. Ich heiße Takaoka. Kenichi Takaoka. Sehr erfreut, dich kennenzulernen.«

Und so machte ich Bekanntschaft mit dem alten Mann.

TEIL I

1Bezirk Chiyoda, Tokio Polizeipräsidium Tokio, Keichi-Cho

Reiko Himekawa und Kazuo Kikuta saßen in der Kantine im 17. Stockwerk des Polizeipräsidiums Tokio und tranken Kaffee. Kikuta gehörte zu Himekawas Team und war nur ein wenig älter als sie.

»Was ist, Chefin? Warum das lange Gesicht?«

»Och, einfach so.«

Es war Donnerstag, der 4. Dezember, drei Uhr nachmittags. Die Kantine bot einen Blick auf das Gelände des Kaiserpalastes. Es war so hell und sonnig, dass man leicht vergaß, wie kalt es draußen war.

»Haben Sie immer noch diese Träume von Otsuka?«

Reiko sah auf. Kikuta hatte den Kopf in die Hände gestützt und blickte ihr in die Augen. Die Haltung war untypisch für ihn.

Shinji Otsuka hatte zu Himekawas Team gehört. Am 25. August war er bei einer Mordermittlung getötet worden. Er war erst siebenundzwanzig gewesen. Zwei Jahre jünger als sie.

Kikuta hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

»O ja.« Nach kurzer Pause sagte sie: »Er taucht in letzter Zeit andauernd in meinen Träumen auf. Und immer sind wir in Ikebukuro, wo ich ihn zum letzten Mal gesehen hab. Zur Rushhour. Otsuka hat keine Ahnung, was auf ihn zukommt, als er aus dem Zug steigt und sich durch die Menge drängt. Und dann – hier löst sich der Traum von der Wirklichkeit – dreht er sich noch einmal um und winkt mir zu, mit diesem trotteligen Grinsen im Gesicht …«

Reikos Stimme zitterte.

Trink einen Schluck und reiß dich zusammen.

Ihre Hand wollte ihr nicht gehorchen, und die Worte strömten unkontrolliert aus ihr heraus.

»Ich sage ›Geh nicht, Otsuka, geh nicht‹. Doch aus irgendeinem Grund kann er mich nicht hören, also geht er weiter, immer noch mit diesem trotteligen Grinsen im Gesicht.«

Die Bedienung kam herüber, und Reiko wandte sich diskret ab, um ihr Gesicht zu verbergen.

»Es heißt doch immer, ich hätte den sechsten Sinn. Alles Quatsch! Wenn es nur so wäre! Dann hätte ich ihn warnen können.«

»Sie quälen sich also noch immer, Chefin.«

Kikuta hielt ihr ein Taschentuch hin. Reiko schüttelte den Kopf und kramte in ihrer Handtasche. Sie fand aber kein Taschentuch, noch nicht einmal ein Kleenex. Sollte sie die Serviette benutzen?

»Ich nehm es vielleicht doch.«

Kikuta, der eben im Begriff war, das Taschentuch wieder einzustecken, hielt in der Bewegung inne und überließ es ihr grinsend.

»Dieses ständige Grübeln ist ungesund.«

Kikutas klobige Finger legten sich um den Henkel seines Bechers. Er besaß volle, leicht spröde Lippen, und sein Kinn war von dunklen Stoppeln bedeckt. Diese schlichte, kraftvolle Männlichkeit hatte etwas Gewinnendes an sich.

»Was meinen Sie?«

»Na diese Träume. Es ist doch nicht Ihre Schuld. Wenn Sie in diese Richtung denken, tragen letztlich Direktor Hashizume und Erster Hauptkommissar Imaizumi die Verantwortung. Die haben Otsuka schließlich nach Ikebukuro geschickt.«

»Darum geht es doch gar nicht.«

»Aber es ist doch dasselbe. Denken Sie daran, was Sie uns immer sagen: Schuld hat nur der Täter, sonst niemand! Sie dürfen sich nicht die Schuld geben, Chefin. Aber genau das tun Sie. Otsuka hätte das bestimmt nicht gewollt. Er war gern Polizist, und er hat seinen Beruf ernst genommen – auch diese letzte Ermittlung. Das ist vermutlich der Grund, warum er in Ihren Träumen immer grinst. Sie sehen ihn doch immer lächeln, oder nicht?«

»He, geht’s auch ein bisschen leiser? Sie brüllen ja.«

»Tut mir leid«, murmelte Kikuta. Seine kleinen schwarzen Augen, die so gar nicht in sein flaches, fleischiges Gesicht passen wollten, huschten besorgt im Raum umher.

Reiko fand, was Kikuta gesagt hatte, urplötzlich ziemlich komisch und presste sich das Taschentuch auf den Mund.

»Sie sind so ungefähr der Letzte, von dem ich so etwas erwartet hätte.«

Kikutas Augen weiteten sich.

»Was meinen Sie denn?«

»Ich meine dieses esoterische, spirituelle Zeug: Otsuka lächelt mir zu im Traum …«

Kikuta stellte den Becher mit verschämtem Grinsen auf den Tisch.

»Vielleicht, weil ›dieses Zeug‹ gerade so beliebt ist.«

»Glauben Sie an so was, Kikuta? An Spiritismus? Kommunikation mit dem ›Jenseits‹?«

»Nicht wirklich. Und Sie, Chefin? Ihr Frauen seid normalerweise empfänglicher dafür als wir Männer.«

»Wir Frauen? Ich eigne mich nicht sonderlich für solche Verallgemeinerungen.«

Glaubte sie daran oder nicht? Interessante Frage.

Natürlich dachte sie an die Menschen, die sie geliebt hatte und die gestorben waren. Hieß das, dass sie an die Geisterwelt glaubte? Wohl kaum. Sie hatte nicht das Gefühl, dass es da draußen unsichtbare Wesen gab, die ihr den Weg ebneten. Wenn sie zum Familiengrab ging, bedankte sie sich immer bei ihren Vorfahren, weil es sich so gehörte. Doch tief im Inneren war sie der festen Überzeugung, alles aus eigener Kraft erreicht zu haben.

Was die Vorstellung eines persönlichen Schutzgeistes anbelangte – die lehnte sie rundheraus ab.

»Hmmm … ich bin vermutlich nicht gerade ein gläubiger Mensch …«, meinte sie.

»Das dachte ich mir schon.«

Reiko war etwas irritiert.

»Wollen Sie damit sagen, dass ich keine normale Frau bin?«

»So hab ich das nicht gemeint.«

»Wie haben Sie’s dann gemeint?«

»Ich dachte nur, dass eine skeptische Haltung besser zu Ihnen passt, Chefin. Das ist alles.«

»Und wieso?«

Kikuta sah verwirrt drein.

»Was soll dieses Verhör? Die Reiko Himekawa, die ich kenne, tendiert dazu, skeptisch zu sein und die Dinge eher distanziert und rational zu betrachten. Die Reiko Himekawa, die ich kenne, würde sich wegen Otsuka nicht so viele Gedanken machen – immer dieses Was-wäre-wenn –, das ist ja ein Fass ohne Boden. Nein, die Reiko Himekawa, die ich kenne, würde einfach sagen: ›Der Einzige, der hier Schuld hat, ist der Mörder – und damit basta.‹«

Reiko spürte, wie sie ärgerlich wurde.

Ach, so denkst du also über mich?

Andererseits … Wenn man sie für forsch, entschlossen und sachlich hielt, dann doch nur, weil es das Bild war, das sie gern nach außen vermittelte. Als junge Frau in der Keichi-cho hätte sie ohne sorgsame Imagepflege doch nicht die geringste Chance, die Karriereleiter nach oben zu steigen.

Kurz nachdem Reiko es mit siebenundzwanzig Jahren zur Hauptkommissarin gebracht hatte, war sie zur Teamleiterin in der Mordkommission befördert worden. Es war eine fast beispiellose Leistung, aber trotzdem, in einem Arbeitsumfeld wie dem der Polizei konnte man als Frau nicht wirklich Frau sein. Man musste männlicher sein als die Männer, wollte man nicht zur Lachnummer werden.

Trotzdem …

Vor Kikuta – wenn auch vor niemandem sonst – bemühte sich Reiko, auch ihre weibliche Seite zu zeigen. Sie glaubte, dass sie beide sich dafür nah genug standen, dass er sie mochte.

So richtig geklappt hat es nicht. Er versteht mich kein bisschen.

Sie wusste sehr wohl, dass Kikuta in puncto Einfühlsamkeit keinen Preis gewinnen würde. Seine emotionale Stumpfheit ging ihr zwar auf die Nerven, aber sie war doch bereit, sie als liebenswerten Fehler abzutun und darüber hinwegzusehen. In Wirklichkeit war sie durchaus verletzlich und brauchte seinen Rückhalt. Sie hatte geglaubt, er würde ihre Bedürfnisse zumindest erahnen können, ohne dass sie explizit zu werden brauchte.

So ein Mist!

Sie würde sich seinetwegen nicht völlig umkrempeln, plötzlich total anhänglich werden und zum kleinen Mädchen mutieren. Dazu war sie viel zu stolz, außerdem verpflichtete ihr Dienstgrad sie zu einer gewissen Förmlichkeit. Manchmal jedoch hatte sie das Gefühl, als hätte sie einen Stock verschluckt.

»Vielleicht sollten wir los«, sagte Reiko mit einem Blick auf ihre Longines-Uhr. Kikuta schnappte sich die Rechnung und sprang auf.

»Das übernehme ich, Chefin. Gehen Sie ruhig vor.«

Wie einfühlsam du sein kannst, wenn es sich um unwichtiges Zeug handelt, dachte Reiko.

»Ist schon okay.«

»Im Ernst. Gehen Sie ruhig vor.« Kikutas großer Kopf neigte sich plötzlich zu ihr herunter. »Sie müssen Ihr Make-up in Ordnung bringen. Jeder kann sehen, dass Sie geweint haben.«

Reiko erschrak. Die Haut um ihre Augen brannte.

War Kikuta gerade einfühlsam oder unsensibel? Sie wusste es nicht so recht. Na toll, so weit war es also schon mit ihr gekommen, dass er ihr sagen musste, sie solle ihr Make-up auffrischen!

***

 

Als Reiko in das weitläufige Großraumbüro im sechsten Stock zurückkam, saßen alle an ihren Schreibtischen.

Kommissar Tamotsu Ishikura, mit siebenundvierzig der Älteste im Team, hatte seine Nase wie üblich in der Zeitung vergraben.

Wachtmeister Kohei Yuda brütete schläfrig über einem Buch für sein bevorstehendes Beförderungsexamen. Seit Otsuka fort war, hatte er einen etwas besseren Stand in der Gruppe.

Otsukas Ersatzmann war Wachtmeister Noriyuki Hayama. Er studierte eine alte Fallakte.

Hayama war ausgesprochen tüchtig. Er war gleich nach der Oberschule zur Polizei gegangen und mit nur fünfundzwanzig Jahren in die Mordkommission berufen worden. Er war groß und gutaussehend, bildete sich aber nichts darauf ein. Wenn er an einem Fall arbeitete, ging er die Sache ruhig und methodisch an. Er war erst seit drei Monaten in Reikos Team, und, soweit sie das beurteilen konnte, ein geradezu vorbildlicher Ermittler.

Wollte sie allerdings pingelig sein, war Hayama vielleicht einen Tick zu ernst. Wenn sich die Kollegen zu einem gemeinschaftlichen Besäufnis trafen, lächelte oder redete er kaum. Nicht einmal wenn Yuda so voll war, dass er sich in einer gewagten Pinhead-Imitation Essstäbchen in Nase, Mund und Ohren steckte, war Hayamas einzige Reaktion ein ernstes Nicken. Er wusste, wie man den anderen die Stimmung vermieste.

Er hatte auch etwas an sich, das ein wenig nach Aufmüpfigkeit roch. Es war nichts Konkretes, nur eine etwas irritierende Überheblichkeit. Er hatte Reiko damit schon dermaßen genervt, dass sie ihn unverblümt gefragt hatte, ob er zufällig ein Problem damit habe, dass sein Chef eine Frau war. »Ein Problem? Nein«, hatte er ausdruckslos erwidert. Reiko beschloss, vorerst keine schlafenden Hunde zu wecken und es dabei zu belassen. Vielleicht würde er ja noch auftauen.

Kikuta war das vierte und letzte Mitglied in Reikos Team. Einheit 10 der Mordkommission der Keichi-cho bestand aus zwei Teams: das von Himekawa und das von Kusaka – und in letzterem gab es noch ganz andere Spinner.

»Chefin?«

Ishikura schob seine Zeitung beiseite und sah Reiko vielsagend an. Er wollte ihr eine vertrauliche Mitteilung machen.

Reiko ging um die zusammengeschobenen Schreibtische herum, bis sie neben Ishikura stand. Kikuta am anderen Ende spitzte diskret die Ohren.

»Was gibt’s, Tamotsu?«

Ishikura, der viel älter war als seine Teamkollegen, verströmte ganz andere Schwingungen. Reiko waren sie nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Neuerdings fand sie die Behäbigkeit von Männern mittleren Alters zunehmend attraktiv.

»Toyama führt irgendwas im Schilde«, murmelte Ishikura. »Vorhin ist er mit Kusaka nach draußen gegangen. Vielleicht hat sich in der Angelegenheit von heute Morgen was getan.«

Toyama gehörte zu Kusakas Team. Die ›Angelegenheit von heute Morgen‹ war ein Gerücht, das besagte, Direktor Hashizume habe einen Gegenstand aus dem Revier Kamata im Stadtbezirk Ota mitgebracht.

»Haben Sie rausgekriegt, was es war?«

»Es war in einer Kühlbox. Hashizume hat es ins Labor gebracht und dem Leiter der forensischen Abteilung tüchtig Feuer unterm Hintern gemacht. Mehr weiß ich auch nicht.«

Im Augenblick war nur die Einheit 10 der Mordkommission auf Stand-by. Es gab drei Stufen von Bereitschaft: A, B und C. Stufe A sah vor, dass sich die Beamten im Präsidium bereithielten, Stufe B, dass sie zu Hause auf Abruf blieben; und Stufe C, dass sie zwar auf Abruf blieben, sich dabei aber um die eigenen Belange kümmern konnten.

Stufe C war fast wie Urlaub. Seit der Abteilung jedoch das Budget gekürzt worden war, war Stufe C vorübergehend außer Kraft gesetzt, und so hatte man in den letzten drei Tagen beide Teams von Einheit 10 an die Schreibtische verbannt, auf Stufe A, während Einheit 3 sich auf Stufe B bereithielt.

Das würde bedeuten, dass Reikos Team, falls heute irgendwo in Tokio ein Mord geschehen würde, gemeinsam mit Kusakas Team ermitteln müsste. Das wäre problematisch. Die beiden Teams standen miteinander auf Kriegsfuß; genauer gesagt konnte Himekawa ihren Kollegen Kusaka nicht ausstehen.

Gründe dafür gab es eine Menge. Sie verabscheute alles an Kusaka, sein Aussehen, seine Stimme, die Art und Weise, wie er seine Fälle handhabte. Sie konnten von Glück sagen, dass sie in den vergangenen Monaten nichts miteinander zu tun gehabt hatten. Leider sah es nun ganz danach aus, als wäre dieser glückliche Trennungszustand bald zu Ende. Reiko würde es klaglos hinnehmen müssen.

»Was ist denn los in Kamata, irgendeine Idee?«

»Das versucht Toyama herauszufinden. Ich nehme an, die haben eine Nachrichtensperre verhängt.«

Bevor schließlich eine Sonderkommission zustande kam, wurde hinter den Kulissen gemauschelt wie verrückt – zwischen den verschiedenen Abteilungen der Keichi-cho, zwischen der Keichi-cho und örtlichen Polizeirevieren und zwischen der Polizei und den Medien. Die Tatsache, dass die Ermittler noch nicht offiziell informiert worden waren, bedeutete entweder, dass die Angelegenheit zu unbedeutend war für eine Sonderkommission oder so heikel und komplex, dass man nur langsam vorankam. Letzteres Szenario hielt Reiko für wahrscheinlicher – und auch für wünschenswerter.

Um sich innerhalb der Mordkommission einen Namen zu machen, war es weitaus besser, einen großen Fall zu lösen, als sich mit einem Haufen weniger bedeutender Fälle herumzuschlagen. Die großen Fälle zogen die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, und je mehr Aufhebens die Medien um einen machten, desto besser wurde der eigene Ruf innerhalb der Polizei. Am besten löste man im Alleingang einen Fall, der Schlagzeilen machte, wie die Mizumoto-Park-Morde im vergangenen Sommer.

Nur schade, dass dafür ein anderer die Meriten eingestrichen hat.

Reiko ließ den Blick über die vielen Schreibtischreihen schweifen. Unweit des Kaffeeautomaten neben der Tür am anderen Ende des Raums steckten einige Männer die Köpfe zusammen: Kommissar Mizoguchi sowie die Wachtmeister Shinjo und Itoi – Mitglieder von Kusakas Team.

»He, Tamotsu, haben Sie unseren Chef gesehen?«

Reiko sprach vom Ersten Hauptkommissar Imaizumi, dem Leiter von Einheit 10.

»Er ist vor zehn Minuten rausgegangen.«

»Ist jemand hier gewesen, um ihn zu holen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Während Reiko und Ishikura miteinander redeten, tauchten Kusaka und Toyama wieder in der Tür auf. Die Stimmen absichtlich gedämpft, schienen sie ihre Teamkollegen mit Informationen zu versorgen.

Hatten sie die Absicht, was immer sie herausgefunden hatten, für sich zu behalten, damit sie, falls eine Sonderkommission gebildet würde, einen gewissen Vorsprung hätten?

Komm schon, Reiko! Warum musst du von anderen immer nur das Schlechteste denken?

Reiko ging auf die Gruppe zu. Sie hörte Kikutas Schritte direkt hinter sich.

»Na, Kusaka, was gibt’s Neues aus der Gerüchteküche?«

Kusaka starrte sie aus seinen kleinen schwarzen Reptilienaugen unverwandt an. Wie immer waren seine schmalen Lippen zu einer geraden Linie zusammengepresst.

»Neues? Wieso fragen Sie?«

Diese Stimme – tief, schwer, freudlos.

»Ich weiß doch, dass ihr Informationen zusammentragt. Was haben Sie herausgefunden?«

»Sie haben da was missverstanden. Ich war nur auf der Toilette.«

»Ach ja? Ich wusste gar nicht, dass bei euch neuerdings gemeinschaftliches Pinkeln angesagt ist?«

»Obacht, Himekawa. Wenn Sie so schmutzig daherreden, finden Sie nie einen Mann.«

Reiko erhaschte den Anflug eines Grinsens.

»Danke für die Eheberatung, aber hier am Arbeitsplatz sollten wir das Thema besser meiden.«

»Entschuldigung. Soll nicht wieder vorkommen.«

Wachtmeister Itoi, der vor Kusaka stand, gluckste in sich hinein. Reiko ignorierte ihn.

»Also, was gibt’s Neues? Aus dem kriminaltechnischen Labor, meine ich?«

»Wie gesagt, ich war nur auf dem Klo –«

»Ein Mann Ihres Kalibers, Kriminalhauptkommissar Kusaka – der kann sich die Informationen doch sogar aus der Kloschüssel fischen.«

Kusaka zuckte zusammen und schnaubte angeekelt. Reiko ließ ihn nicht aus den Augen.

»Hören Sie, Himekawa, wenn Sie so erpicht auf Informationen sind, warum beschaffen Sie sich dann nicht selber welche? Stufe-A-Bereitschaft beinhaltet nicht, sich an seine Untergebenen ranzuschmeißen, sie zum Kaffee einzuladen und die schöne Aussicht mit ihnen zu genießen.«

Dieser Mistkäfer! Er muss mich mit Kikuta gesehen haben!

»Das beweist doch, dass ich recht hatte. Sie waren überhaupt nicht auf der Toilette.«

»Hab ich behauptet, dass ich Sie gesehen hätte? Ich hab die Schnauze voll von diesem Geplänkel. Es ist Zeitverschwendung.«

Kusaka tippte Toyama auf die Schulter und ging hinüber zu seinem Schreibtisch.

»Moment mal. Wollen Sie mich abschütteln?«

Kusaka funkelte Reiko böse an.

»Sie versuchen hoffentlich nicht, den Terrier zu imitieren, Himekawa. Sie sind viel zu jung, um Informationen aus mir herauszupressen. Versuchen Sie’s in zehn Jahren noch mal.«

Kusaka machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.

Ich und den Terrier imitieren?

»Terrier« lautete der Spitzname von Hauptkommissar Kensaku Katsumata, Teamleiter von Einheit 5. Er war früher im Bereich Öffentliche Sicherheit tätig gewesen und ein klassischer Bulle alter Schule – im schlimmsten Sinne des Wortes. Seine Ermittlungsmethode war eine Kombination aus Kraftausdrücken, Gewalt und Bestechung – und er brillierte in allen drei Bereichen.

Katsumata ist der Letzte, mit dem ich verglichen werden möchte!

Reiko hörte Schritte draußen im Flur, und als sie sich umwandte, standen Direktor Hashizume und Erster Hauptkommissar Imaizumi in der Tür.

»Alle herhören«, verkündete Imaizumi. »Wir werden eine Sonderkommission zusammenstellen. Drüben in Kamata ist jemand ermordet worden. Alle begeben sich unverzüglich in diesen Bezirk.«

Direktor Hashizume sah aus wie die Katze, die den Kanarienvogel verspeist hat, und konnte es kaum erwarten, das Wort zu ergreifen.

»Was ist passiert, Herr Direktor?«, fragte Reiko.

Hashizume räusperte sich ein wenig theatralisch und meldete: »Ich hab denen in den Arsch getreten und sie aufgefordert, einen Gang zuzulegen. Sie würden mindestens neun Stunden brauchen, sagten sie. Dabei wusste ich, dass sie es auch in sieben schaffen können, wenn sie wollen.«

»Was denn schaffen, Herr Direktor?«

»Die DNA-Analyse. Von ein paar Blutspuren und einer Hand. Und siehe da, die DNA stimmt überein.«

Allmählich ergab alles einen Sinn. Dieses »Etwas«, das Direktor Hashizume in der Kühlbox mitgebracht hatte, war eine menschliche Hand.

»Drüben in Kamata erfahren Sie mehr. Sie begeben sich am besten alle dorthin«, sagte Hauptkommissar Imaizumi. »Es ist schon 15.20 Uhr. Wenn es dunkel wird, geht uns ein ganzer Tag verloren.«

2

Das Polizeirevier Kamata war etwa fünf Gehminuten vom Bahnhof entfernt.

Als Reiko und ihr Team dort eintrafen, fuhren sie im Aufzug in den sechsten Stock, gingen an der Cafeteria vorbei und in ein großes Konferenzzimmer. Reiko legte den Mantel ab und sah sich um.

Schon alles vorbereitet.

Die Schreibtische waren in langen Reihen hintereinander angeordnet worden, mit Blick zum vorderen Teil des Zimmers. Etwa zwanzig Ermittler – vermutlich aus Kamata und den benachbarten Revieren – waren bereits anwesend.

»Hallo, Frau Kriminalhauptkommissarin Reiko.«

Ich glaub’s einfach nicht! Hiromitsu Ioka, ausgerechnet!

»Was tust du denn hier, Scheiße nochmal!«, knurrte Kikuta.

Reiko musste sich zwischen die beiden stellen und Kikuta davon abhalten, Ioka an den Kragen zu gehen.

»Jetzt mal sachte, Kikuta. Ioka, was tun Sie hier in Kamata? Sie waren doch drüben in Kameari?«

Ioka bleckte die vorstehenden Zähne, wurde rot bis hinter die Segelohren und starrte Reiko aus seinen runden Käferaugen an.

»Ich bin wieder versetzt worden. Seit Oktober bin ich jetzt hier.«

»Sie machen Witze. Das gibt’s doch nicht. Jetzt sind Sie schon zum dritten Mal in diesem Jahr in einen Stadtbezirk versetzt worden, in dem mein Team ermittelt. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.«

Ioka wand sich auf seinem Stuhl und rieb sich die Hände. Der allzu vertraute Anblick ließ Reiko schaudern.

»Wissen Sie, warum das so ist, Reiko-san? Weil das Schicksal uns füreinander bestimmt hat. Das lässt sich doch wohl nicht bestreiten, oder?«

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand. Und nennen Sie mich nicht beim Vornamen, ich hab es Ihnen schon mal gesagt.«

»Sie sind so süß, wenn Sie schüchtern sind.«

»Ioka!«, blaffte Kikuta, dunkelrot vor Wut. »Kaum wird jemand ermordet, bist du zur Stelle! Wie kommt das? Begehst du die Verbrechen selbst, nur um einen Vorwand zu haben, Himekawa zu sehen?«

O bitte. Jetzt mach aber mal halblang, dachte Reiko. Ioka dagegen schien ganz ruhig.

»Kaz Kikuta, alter Kumpel.«

Kaz?

»So redest du nicht mit mir, du –«

Vermutlich hatte Kikuta sagen wollen, dass solche Vertraulichkeiten einem einfachen Wachtmeister wie Ioka nicht zustanden, als dieser ihn mit einer Geste unterbrach. Er langte in seine Brusttasche, holte seine Polizeimarke heraus und hielt sie Kikuta ostentativ vor die Nase.

»Nur dass du’s weißt, man hat mich vor kurzem zum Kommissar befördert. In anderen Worten, Bruder, wir beide stehen jetzt auf einer Stufe.«

Kikuta zog ein finsteres Gesicht, räusperte sich und verfiel in Schweigen.

Das erklärte Iokas Anwesenheit. Jeder Polizist, der die Prüfung bestand, wurde automatisch mit einer Versetzung belohnt.

»Mag ja sein, dass du’s endlich zum Kommissar gebracht hast, aber ich bin trotzdem zwei Jahre länger dabei als du –«, blaffte Kikuta.

»He, ihr zwei, jetzt haltet endlich den Rand«, belferte Hauptkommissar Imaizumi und übertönte damit das Ende von Kikutas Schimpftirade.

Die Anwesenden wechselten vielsagende Blicke und zuckten mit den Schultern.

Reiko ließ den Kopf hängen. Sie wusste noch nichts über den Fall, hatte aber schon jetzt ein schlechtes Gefühl.

***

 

Einige Minuten später kam der Transporter der Keichi-cho an. Ihre gesamte Ausrüstung – Telefone, Computer und Funkgeräte bis hin zu simpler Büroausstattung – wurde in den sechsten Stock geschafft.

Mittlerweile waren über vierzig Ermittler im Raum und warteten darauf, auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Abgesehen von den beiden Teams von Einheit 10 der Mordkommission waren Mitarbeiter der Mobilen Einheit sowie Polizisten des Reviers Kamata und der angrenzenden Polizeireviere vor Ort. Die hohen Tiere saßen ihnen gegenüber an einem Tisch.

»Guten Tag, alle zusammen. Ich bin Direktor Hashizume von der Mordkommission. Erster Hauptkommissar Imaizumi hier wird uns den Fall erläutern, also möchte ich, dass Sie alle gut zuhören. Bitte, Herr Imaizumi.«

»Danke, Herr Direktor«, begann Imaizumi. »Heute Morgen wurde auf der Ladefläche eines weißen Kleintransporters die linke Hand eines männlichen Erwachsenen gefunden. Das Fahrzeug war ein Subaru Sambar mit dem Kennzeichen Shinagawa 480-Hi-2956. Es stand im Stadtviertel West-Rokugo im Bezirk Ota im absoluten Halteverbot.«

Warum nur eine Hand?, fragte sich Reiko, während sie ihren Notizblock aufschlug und pflichtbewusst die Details hineinkritzelte.

»Dank der Fingerabdrücke und dank der Zeugenaussage desjenigen, der uns zu der Hand führte, konnten wir nachweisen, dass sie einem gewissen Herrn Kenichi Takaoka gehörte, dreiundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Hope Mansions, Rokugo Mitte, hier in diesem Bezirk. Takaoka ist unverheiratet und lebt allein. Die Hand befand sich in einer fest verschlossenen Plastiktüte, die aus einem Minimarkt stammt. Die große Menge an Blut im Kleintransporter legt den Schluss nahe, dass der Blutverlust tödlich war. Das Team der Spurensicherung untersucht derzeit das Fahrzeug und entnimmt Proben. Wir teilen Ihnen die Ergebnisse mit, sobald sie uns vorliegen.

»Lassen Sie mich erklären, wie wir auf den Fall aufmerksam wurden.« Imaizumi blätterte auf die nächste Seite in seinem Ordner. »Kurz nach sechs Uhr morgens erhielt Kommissar Toshimitsu Iwata aus dem Polizeirevier Kamata eine Textnachricht. Es ging um eine große Blutlache, die in einer Mietgarage in Rokugo Mitte entdeckt worden war, nämlich von einem gewissen Kosuke Mishima, zwanzig Jahre alt. Mieter der fraglichen Garage ist ein Herr Kenichi Takaoka. Herr Takaoka betreibt eine eigene Firma, Takaoka Construction, die als Subunternehmen bei großen Bauprojekten mitwirkt. Kosuke Mishima ist Takaokas Mitarbeiter.

Mishima kam an diesem Morgen früh zur Arbeit. Als er die Garagentür öffnete, bemerkte er, dass der Kleintransporter fehlte, den sie für die Arbeit benutzten, und dass der Betonboden der Garage nass war. Er bemerkte außerdem einen seltsamen Geruch. Da er ihn nicht gleich als Blutgeruch identifizierte, betrat er ahnungslos den Tatort. Sobald ihm klarwurde, dass er in einer Blutlache stand, rief er Takaoka auf dem Handy an, aber der meldete sich nicht. Er ging dann zu Takaokas Wohnung, doch zu Hause war er auch nicht. Also wandte er sich direkt an die Polizeidienststelle Zoshiki. Kommissar Iwata hörte ihn an und verständigte dann das Revier Kamata. Das vermisste Fahrzeug schrieb er zur Fahndung aus.«

Verdammt! Sie hatte vergessen, sich die Adresse von Takaokas Wohnung aufzuschreiben. Reiko riskierte einen Blick in Iokas Notizen und schrieb diskret von ihm ab.

»Ein Beamter des Polizeireviers West-Rokugo hatte um zwei Uhr morgens auf der Dammstraße am Tama ein falsch geparktes Fahrzeug bemerkt. Da sich niemand über den Falschparker beschwert hatte, warteten die Beamten bis um fünf Uhr früh, bevor sie warnende Kreidelinien um die Reifen zogen. Um sechs Uhr siebzehn hörte Hauptkommissar Hideo Tanaka, der im Revier West-Rokugo den Polizeifunk überwachte, die Meldung zu dem vermissten Fahrzeug und rief die Polizeiwache von Kamata an, um sie über dessen Standort in Kenntnis zu setzen. Um sechs Uhr zweiundfünfzig ging Hauptkommissar Tanaka mit Kosuke Mishima, der einen Zweitschlüssel für den Kleintransporter besaß, zu dem Fahrzeug, um es zu inspizieren. Dabei entdeckte der Hauptkommissar im hinteren Bereich der Ladefläche die Plastiktüte mit Kenichi Takaokas Hand. Ich sollte noch hinzufügen, dass die Elektrosäge, die vermutlich benutzt wurde, um die Hand vom Arm zu trennen, später in der Garage gefunden wurde.«

Reiko erstellte für sich eine kurze Chronologie der Ereignisse: Am frühen Morgen verständigte der zwanzigjährige Kosuke Mishima einen Polizisten vor Ort, dass der Minivan seiner Firma nicht in der Garage und die Garage voller Blut war. Das vermisste Fahrzeug war um zwei Uhr morgens oder schon früher an der Dammstraße des Flusses Tama abgestellt worden. Als die Polizei den Van am Morgen öffnete, fand sie darin eine Plastiktüte, die eine abgetrennte Hand Kenichi Takaokas enthielt.

»Wir haben sowohl in der Garage als auch im Fahrzeug Blutproben genommen, auch von der abgetrennten linken Hand. Sämtliche Proben waren Blutgruppe A, und die DNA