19,99 €
»Dieses Buch nimmt Eltern an die Hand und zeigt ihnen, wie sie sich, ihr Kind und ihre Familie nach belastenden Geburtserfahrungen stärken können.« Herbert Renz-Polster
Von ungeplantem Kaiserschnitt oder mütterlicher Gewalterfahrung bei der Geburt über Stille Geburten und Frühgeburten zu allein überlebenden Zwillingen und Regenbogenbabys – schwierige Erlebnisse rund um Schwangerschaft und Geburt sind für die Eltern und auch für die Neugeborenen belastend.
Die Erziehungswissenschaftlerin und erfahrene Familientherapeutin Inés Brock-Harder bietet Familien und professionellen Begleiter*innen eine fundierte Einordung und heilsame Strategien zum Umgang mit belastenden Geburtserfahrungen. Eltern werden darin gestärkt, sich mit diesen tiefgreifenden Erlebnissen konstruktiv auseinanderzusetzen und ihre Kinder von Anfang an bestmöglich begleiten und gemeinsam eine starke Bindung aufzubauen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 286
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über das Buch
Von ungeplantem Kaiserschnitt oder mütterlicher Gewalterfahrung bei der Geburt über Stille Geburten und Frühgeburten zu allein überlebenden Zwillingen und Regenbogenbabys – schwierige Erlebnisse rund um Schwangerschaft und Geburt sind für die Eltern und auch für die Neugeborenen belastend.
Die Erziehungswissenschaftlerin und erfahrene Familientherapeutin Inés Brock-Harder bietet Familien und professionellen Begleiter*innen eine fundierte Einordung und heilsame Strategien zum Umgang mit Geburtserfahrungen. Eltern werden darin gestärkt, sich mit diesen tiefgreifenden Erlebnissen konstruktiv auseinanderzusetzen und ihre Kinder von Anfang an bestmöglich zu begleiten und gemeinsam eine starke Bindung aufzubauen.
Über die Autorin
Dr. Inés Brock-Harder ist Erziehungswissenschaftlerin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, systemische Familientherapeutin und Lehrsupervisorin. Sie bildet Psychotherapeut*innen u. a. zum Schwerpunkt Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett aus und ist in der Hochschullehre für Psychologie mit Lehr- und Forschungsschwerpunkt prä-, peri- und postnatale Psychologie tätig. Sie ist Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie e.V. (bkj) und arbeitet an der neuen S3-Leitlinie »Peripartale psychische Störungen« mit. Als Expertin erscheint sie regelmäßig in diversen Medien.
Inés Brock-Harder
Starke Bindung trotz schwierigem Start
Belastende Erfahrungen rund um die Geburt verarbeiten für eine gelingende Eltern-Kind-Beziehung
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Hinweis: Obwohl das Buch versucht, ressourcenorientiert zu sein und Lösungs- und Heilungsperspektiven aufzuzeigen, ist nicht auszuschließen, dass sich Leserinnen und Leser an dramatische Ereignisse rund um die Geburt erinnern, die in ihnen starke Gefühle auslösen.
Copyright © 2025 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © GettyImages / ljubaphoto
Redaktion: Ralf Lay
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-31914-4V001
www.koesel.de
Für meine Enkelin Jolanda und ihre Generation.
Mit Dank an meine Mutter, die mich geboren hat, meine vier Kinder, die mich bereichert haben, und inspirierende Menschen wie Michel Odent, Frédérick Leboyer und Eva Reich, die ich persönlich kennenlernen durfte.
Inhalt
Vorwort
Einleitung
GEBURTSERLEBENUNTERWIDRIGENUMSTÄNDEN
Mütterliche Gewalterfahrung
Kaiserschnitt
Frühgeburt
Wenn ein Zwilling allein überlebt
Stille Geburt und Fehlgeburt
Kinder nach Kinderwunschbehandlung
Geboren während der Pandemie
PSYCHODYNAMIKDERGEBURT – ZUMPSYCHOLOGISCHENVERSTÄNDNIS
Der Übergang zur Mutterschaft
Aus der Perspektive des Kindes
Die Rolle der begleitenden Väter
Veränderungen in der Familie
POSITIVEGEBURTSERFAHRUNGENERMÖGLICHEN
Die Vorbereitung auf eine (kritische) Geburt
Die Vermeidung einer negativen Geburtserfahrung
DASLEBENNACHEINERDRAMATISCHENGEBURT
Auf der Neonatologie
Bonding und Bindungsförderung
»Schreibabys« und frühe Regulationsstörungen
HEILSAMESTRATEGIENFÜRDIEFAMILIE
Entwicklungsförderung in der Familie
Psychologische Verarbeitung
Das Kind beim Aufwachsen begleiten
Die Familienentwicklung nach der Geburt
Epilog
ANHANG
Glossar
Weiterführende Literatur und Quellen
Über die Autorin
Vorwort
Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und früheste Kindheit sind Themen, die mich seit 35 Jahren beschäftigen und nie losgelassen haben. Ich habe zehn Jahre in einer Erziehungs- und Schwangerenberatungsstelle gearbeitet und auch Geburtsvorbereitungskurse für Paare geleitet, eine Babysprechstunde aufgebaut und junge Eltern in allen Fragen begleitet. In dieser Zeit habe ich selbst vier Kinder zur Welt gebracht, zwei noch in der DDR im Krankenhaus, einen Sohn im Geburtshaus, das ich 1992 in Halle (Saale) mitbegründet habe, und mein jüngstes Kind war eine geplante Hausgeburt in Mecklenburg.
Die Verbindung von persönlicher und beruflicher Erfahrung hat mich motiviert, zu verschiedenen Aspekten dieser Lebensphase wissenschaftlich zu forschen. So habe ich bis heute in der Hochschullehre in Klinischer Psychologie und bei der Ausbildung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen und Psychologischen Psychotherapeut*innen immer wieder einen Schwerpunkt auf den Bereich der prä-, peri- und postnatalen Psychologie gelegt.
Als tiefenpsychologisch arbeitende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin faszinieren mich die unbewussten Langzeitwirkungen des Lebensbeginns, die ich auch bei meinen Patient*innen spüre. Als Erziehungswissenschaftlerin interessieren mich auch immer die Bedürfnisse und Auswirkungen der Erfahrungen der Eltern.
Alles, was ich hier zusammentrage und schreibe, basiert einerseits auf meinen beruflichen Erfahrungen, speist sich aus der Wissenschaft (Hebammenwissenschaft, Psychologie und anderen Fachdisziplinen), aus psychodynamischen Psychotherapien und dem Erfahrungsaustausch mit vielen Expert*innen, die diese Lebensphase begleiten. Als 2017 in Deutschland das nationale Gesundheitsziel »Gesundheit rund um die Geburt« verabschiedet wurde (Bundesministerium für Gesundheit 2017), habe ich begonnen, mich auch für die Umsetzung der vielen sinnvollen Empfehlungen zu engagieren. Dass es in Halle (Saale) zwei hebammengeleitete Kreißsäle gibt, ist unter anderem meinem Engagement in den Jahren zuvor zu verdanken.
Zur Vorbereitung dieses Buches habe ich zusätzlich Interviews mit Müttern und Vätern geführt und auf neonatologischen Intensivstationen hospitiert.
Vielen Dank an alle, die mich an ihren beruflichen und persönlichen Erfahrungen und wissenschaftlichen Ergebnissen teilnehmen ließen.
Einleitung
Dieses Buch richtet sich an Eltern, aber auch an Fachkräfte, um die Geburtserfahrung zu reflektieren, zu verarbeiten und eine seelisch gesunde Zukunft für die Familie zu gestalten.
Anlass für dieses Buch war tatsächlich die Pandemie. Kaum jemand ist sich bewusst, was Schwangere und ihre Familien in den verschiedenen Phasen der Pandemie erlebt haben, denn Geburten konnten nicht aufgeschoben werden, sondern die Kinder wollten/mussten zur Welt kommen, auch wenn die Situation in den Geburtskliniken und auf den Wochenstationen zum Teil irrational war und jedem geburtshilflichen und psychologischen Standard widersprach. Aus psychotherapeutischer, also auch meiner Sicht heißt dies aber nicht, dass damit alles vorbei ist. Vielmehr geht es mir auch darum, die Langzeitfolgen zu reduzieren und die Eltern zu ermutigen, diese Erfahrungen in ihre Biografie zu integrieren.
Bereits vor der Pandemie kam in Deutschland fast jedes dritte Kind durch eine operative Schnittentbindung – den Kaiserschnitt – zur Welt. Während der Pandemie stieg diese Zahl weiter an, obwohl es seit 2017 nationales Gesundheitsziel ist, diese Rate auf ein medizinisch vertretbares Maß zu senken. Auch wenn die Frühgeborenenrate leicht gesunken ist, war die Versorgung in den Perinatalzentren teilweise beeinträchtigt, insbesondere was die Einbeziehung der Eltern betrifft.
Da aber auch in den Jahren nach der Pandemie Kinder unter widrigen Umständen geboren werden, Mütter und Väter nicht nur gute Erfahrungen machen, greife ich Perspektiven und Themen auf, die unterschiedliche Ereignisse in dieser Lebensphase betrachten. Es geht darum, die psychischen Prozesse zu verstehen und wie Eltern und vor allem Kinder bei der Verarbeitung des Geburtserlebnisses unterstützt werden können. Ich möchte Familien empowern und Geburtshelfer*innen dafür sensibilisieren, wie wichtig psychologische Aspekte bei einer Geburt sind – nicht nur für Mütter und Väter, sondern auch für Geschwisterkinder und ganz besonders für das Neugeborene.
Um betroffene Familien zu stärken, Langzeitfolgen abzumildern und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geburtsgeschichte einzuladen, bedarf es einer möglichst ressourcenorientierten Argumentation und keiner Schuldzuweisungen. Die Zeit der Schwangerschaft, das Geburtserlebnis und die ersten Stunden, Tage und Wochen prägen unsere Psyche stärker, als die meisten Menschen glauben – das belegen neue Erkenntnisse der Hirnforschung. Spätestens ab der 26. Schwangerschaftswoche bilden sich vorsprachliche Erinnerungen, und die Erfahrung mit Frühgeborenen lehrt, dass auch sie die Bedingungen ihres Lebensbeginns im Unbewussten speichern. Die Epigenetik – ein Teilgebiet der Biologie, das als Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und den Genen gilt – spricht sogar davon, dass Stressmuster und psychische Verarbeitungsprozesse, Widerstandskraft (Resilienz) und emotionale Traumata aus der gesamten Zeit vor, während und nach der Geburt den Menschen lebenslang prägen können.
Besondere Aufmerksamkeit wird auch den interaktiven Aspekten des Lebensbeginns gewidmet. Die Mutter-Kind-Dyade als wichtigste Primärerfahrung ist für den Säugling überlebenswichtig. Die Vater-Mutter-Kind-Triade ist dann die Matrix, in der die Kinder aufwachsen, und schließlich die ganze Familie mit Geschwistern und Großeltern. Das bedeutet eben auch, dass die psychische Gesundheit des Kindes vom Handeln der Eltern abhängt – aber ebenso von deren seelischen Verletzungen und unbewussten Projektionen. Diese intersubjektiven Einflüsse bilden sich intrapsychisch ab – was ein Kind am Anfang seines Lebens mit seinen Bezugspersonen erlebt, kann nicht einfach abgeschüttelt werden.
Die positive Botschaft ist, dass Traumata verarbeitet und negative Erfahrungen psychisch integriert werden können. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Erfahrung einer ungestörten natürlichen Geburt einen immensen Unterschied zu einer Kaiserschnitterfahrung macht, aber nicht, dass es einen Automatismus gibt und jedes Kaiserschnittkind psychisch geschädigt bleibt. Auch bei Traumata ist es so, dass jeder Mensch eine andere Art hat, mit traumatisierenden Erfahrungen umzugehen. Das heißt, es kommt auf die individuelle Wahrnehmung an; und das macht uns Menschen so unterschiedlich. Was die eine Gebärende als Anregung empfindet, kann die andere als übergriffig wahrnehmen – und beides hat seine Berechtigung.
Das Buch nimmt sowohl die Perspektive der Schwangeren und Mutter sowie des Vaters als auch die des Kindes ein. Ich zeige Ihnen, wie negative Geburtserfahrungen aufgelöst werden können, damit es allen Familienmitgliedern seelisch (wieder) gut geht. Ich erkläre, was Sie dafür ganz konkret tun können und wo Sie Unterstützung finden.
Gerade das Geburtserlebnis und der Bindungsaufbau nach der Geburt haben noch Jahre später wissenschaftlich nachgewiesene Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern und ihren Eltern. Insbesondere frühe Störungen und Bindungsstörungen wirken bei den Kindern oft lebenslang nach, und manchmal werden spätere Symptome gar nicht mehr mit diesen frühen Erlebnissen in Verbindung gebracht. Kinder lernen vielleicht nicht, allein einzuschlafen, fühlen sich in Freundschaften manchmal als Last für andere und können schlecht mit plötzlichen Veränderungen umgehen. Alle zukünftigen Beziehungen können von Verlustängsten, übermäßigem Trennungsschmerz oder nüchterner Distanz geprägt sein.
Bei Müttern, die keine selbstbestimmte Geburt erleben konnten, und bei Vätern, die (in der Schwangerenvorsorge und in den Geburtskliniken) mit ihren Bedürfnissen nicht ernst genommen wurden, kann es zu Langzeitfolgen in der Familiendynamik kommen. Viele postpartale Depressionen bei Müttern und Vätern werden nicht erkannt und behandelt. Auch dafür möchte das Buch sensibilisieren und aufzeigen, wie eine Depression nach der Geburt erkannt und behandelt werden kann.
Dramatisch erlebte Geburten gab es schon vor der Pandemie und wird es leider auch weiterhin geben. Ich möchte Ihnen Wege aufzeigen, wie das seelisch gesunde Aufwachsen von Kindern nach ungünstigen Geburtserfahrungen und Störungen am Lebensbeginn gefördert werden kann, und praktische Hinweise für Eltern und Fachkräfte geben. Wer Unterschiede im Geburtserleben anerkennt, reflektiert und bearbeitet, kann daraus heilsame Erfahrungen gewinnen.
Dieses Buch basiert auf der Grundüberzeugung einer tiefenpsychologisch arbeitenden Psychotherapeutin, die in mehr als hundert Psychodynamiken die Auswirkungen früher Störungen verstanden und viele davon behandelt hat. Als systemische Familientherapeutin habe ich erfahren, wie wichtig und komplex die Wechselwirkungen der Bindungen in der Primärdyade – der Mutter-Kind-Bindung – und in der Familie sind. All dies ist aber auch wissenschaftlich fundiert und durch Fachliteratur belegt. Sie finden am Ende des Buches zu jedem Kapitel ein Literaturverzeichnis mit Publikationen, in denen Sie bei Interesse nachlesen können, um Ihre Kenntnis der einzelnen Themen zu vertiefen.
GEBURTSERLEBEN UNTER WIDRIGEN UMSTÄNDEN
Selten hat sich das medizinische Verständnis innerhalb weniger Jahrzehnte so stark verändert wie in der Geburtshilfe. Ging man vor fünfzig Jahren noch davon aus, dass Säuglinge keine Schmerzen empfinden, dass Frauen auf dem Rücken gebären sollten, damit die Geburtshelfer besser arbeiten können, und dass das Stillen nach einem Zeitplan erfolgen sollte, so bemühen sich heute nahezu alle Professionen um eine einfühlsame Geburtsbegleitung. Es gibt neben der medizinischen Gynäkologie und Geburtshilfe eine etablierte Hebammenwissenschaft, es gibt medizinische Leitlinien, die die neonatologische Versorgung sanfter gemacht und mehr für die elterliche Mitwirkung geöffnet haben. Bonding – der enge Hautkontakt zwischen Mutter (Vater) und Kind direkt nach der Geburt – ist in vielen Kliniken Standard, auch bei Kaiserschnitt. Auf den Wochenbettstationen ist Rooming-in selbstverständlich, das Neugeborene verbringt also die meiste Zeit im Zimmer der Mutter und schläft dort. Mancherorts gibt es Familienzimmer. Auch wenn die außerklinische Geburt nach wie vor die Ausnahme ist, hat sich die Bewegung für eine sanfte und natürliche Geburt seit den 1970er-Jahren auch auf die Geburtskliniken ausgewirkt. Die Kreißsäle sind heute ansprechend eingerichtet, oft mit Gymnastikbällen, Seilen, Wannen und Gebärhockern.
Frühgeborene überleben nicht nur häufiger, auch Folgeschäden konnten reduziert werden. Die Eltern werden frühzeitig in die Pflege einbezogen und können »kängurun«, was sowohl die Bindung als auch den Gesundheitszustand des Frühchens fördert: Bei der sogenannten Känguru-Methode legt man das Neugeborene, das nur mit einer Windel bekleidet ist, für einige Stunden auf die nackte Brust der Mutter oder des Vaters. Es ist dabei mit einem warmen Tuch bedeckt. So erfährt es die Eltern mit allen Sinnen, es nimmt nämlich deren Herzschlag, Wärme, Atmung und Geruch wahr.
In den letzten Jahren ist auch das Thema »Gewalt in der Geburtshilfe« in den Fokus gerückt und Frauen wehren sich zunehmend gegen menschenunwürdige Behandlung und Bevormundung.
Schließlich hat auch die Väterforschung gezeigt, dass Väter keine Geburtshelfer sind, sondern emotional stark involvierte Akteure, deren Bedürfnisse jedoch vielerorts noch wenig berücksichtigt werden.
Was bedeutet es, unter widrigen Umständen zu gebären und geboren zu werden? Welche negativen Erfahrungen tauchen immer wieder auf? Und welche Bedingungen sind dafür verantwortlich? Um all dies soll es im folgenden Kapitel gehen.
Mütterliche Gewalterfahrung
Die Psychotraumatologie geht von einem sehr individuellen Traumaempfinden aus. Angenommen, jemand stürzt im Galopp vom Pferd, weil das Pferd vor einer Hornisse scheute, dann ist das ein Moment absoluter Hilflosigkeit, man ist dem Pferd ausgeliefert und kann die Situation nicht kontrollieren, dazu kommt die Bedrohung von Leib und Leben und der erste Schock danach. Außer leichten Blessuren ist dem Reiter nichts passiert. Der eine ruft das Pferd, schüttelt sich innerlich, steigt wieder auf und signalisiert dem Pferd, dass es einen Fehler gemacht hat. Die andere Reiterin bleibt erst einmal liegen, sortiert sich, denkt über die Situation nach, in der auch das Pferd überrascht war, überwindet ihre Angst und führt das Pferd zurück in den Stall. Am nächsten Tag steigt sie auf und startet mit leichtem Trab, um ihr Vertrauen zu dem Pferd zurückzugewinnen. Eine weitere Reiterin vermeidet in Zukunft das Reiten, weil sie glaubt, dass diese Abhängigkeit vom Verhalten anderer nicht zu ihr passt; sie träumt manchmal davon und bekommt Herzklopfen beim Anblick eines Pferdes. Wieder ein anderer Reiter ist danach so stark beeinträchtigt, dass er bei jeder Gelegenheit, bei der er sich ausgeliefert fühlt, wieder in eine lebensbedrohliche Angstsituation zurückfällt, sein Arbeitsalltag ist so belastet, dass er die einfachsten Dinge nicht mehr bewältigen kann; seine Hilflosigkeit reaktualisiert sich immer wieder. Er kann sich kaum noch einem Pferdehof nähern.
Alle vier haben das Gleiche erlebt, aber nur die letzten beiden sind traumatisiert, er mehr als sie.
Diese Metapher soll verdeutlichen, dass es von den psychischen Bewältigungsmöglichkeiten, der inneren Konstitution und letztlich auch von den Vorerfahrungen abhängt, ob ein Ereignis als traumatisch erlebt wird oder nicht. Deshalb muss alles, was eine Frau unter der Geburt als übergriffig oder gar gewalttätig empfindet, ernst genommen und vermieden werden. Die beteiligten Geburtshelfer haben die Pflicht, jede Gebärende bestmöglich zu begleiten und dabei auch die Bedürfnisse des Kindes zu berücksichtigen.
Unter gewaltfreier Geburt wird die Vermeidung von psychischer und physischer Gewalt verstanden. Dabei sind die körperlichen Übergriffe leichter zu beschreiben, da hierunter alle unnötigen, nicht einvernehmlichen und/oder unnötig schmerzhaften Eingriffe fallen. Aber auch bei einer an sich interventionsarmen Geburt kann sich eine Frau unter Druck gesetzt oder unverstanden fühlen, im schlimmsten Fall beschimpft, allein gelassen, mit der Gesundheit ihres Kindes erpresst oder gedemütigt werden. In den letzten Jahren ist ein neues Bewusstsein entstanden, das von betroffenen Frauen in die Öffentlichkeit getragen wird. Insbesondere Hebammen wissen, dass nur eine sensible, individuelle, frauenzentrierte und väterfreundliche Geburtsbegleitung verhindern kann, dass die Gebärende die Geburt als gewaltsam erlebt. Dazu gibt es inzwischen eine gute, auch selbstkritische hebammenwissenschaftliche Forschungslage.
Die Häufigkeit von Traumatisierungen liegt je nach Studie zwischen 10 und 30 Prozent aller Geburten. Die Häufigkeit von Gewalterfahrungen wird mit bis zu 50 Prozent angegeben. Bei circa 800 000 Geburten pro Jahr, einschließlich Fehl- und Totgeburten, bedeutet das rund eine viertel bis halbe Million betroffener Mütter und Kinder jährlich. 4 Prozent der Mütter zeigen Symptome einer klinisch relevanten posttraumatischen Belastungsstörung. Viele von ihnen entwickeln eine postpartale Depression, die aber auch andere Ursachen haben kann (Hartmann und Kruse 2022).
Die Geburt ist ein existenzielles Ereignis, das von den Schwangeren, aber auch von den sie begleitenden Personen als überwältigend empfunden werden kann. Wünschenswert ist eine positive Überflutung durch die Kraft der körperlichen Vorgänge, das Vertrauen in die eigene Kraft und ein schützendes Umfeld, das Sicherheit gibt. Für die meisten Eltern ist die Geburt ihres Kindes einer der glücklichsten Momente in ihrem Leben. Das beeinflusst natürlich auch das Erleben des Kindes, das ebenfalls einen existenziellen Übergang erfährt, der sich tief ins Unterbewusstsein einprägt.
Sprechen wir hier noch einmal konkreter über die als gewalttätig und übergriffig erlebten Geburten aus der Perspektive der Mütter. Hinzu kommt eine biografische Perspektive. Wenn eine Frau bereits in ihrer Kindheit oder als Jugendliche Missbrauchs- oder andere Ohnmachtserfahrungen gemacht hat, kann es sein, dass sie unter der Geburt eher durch Übergriffe und Untersuchungen getriggert wird als ein Mädchen, das ein hohes Selbstwertgefühl entwickeln konnte. Aber auch das hat keine Vorhersagekraft. Gerade die selbstbewusste Frau kann den Geburtsvorgang so erleben, dass sie sich einer überwältigenden Entwertung ausgesetzt fühlt oder zum ersten Mal erfährt, dass sie keinen Einfluss auf den Verlauf eines Erlebnisses nehmen kann, und sich dadurch ohnmächtig, ausgeliefert und traumatisiert fühlt. Und vielleicht hat die Frau, die Gewalt erlebt hat, die psychischen Folgen gut verarbeitet und erlangt während der Geburt das Gefühl, Macht über ihren Körper zu haben, und geht gestärkt aus der Geburtserfahrung hervor.
Insofern hat jede Schwangere ihre eigene Geschichte, die sie in die Geburt mitbringt. Dies sollte immer bedacht werden, wenn Gewalt in der Geburtshilfe erlebt und beschrieben wird. Es entbindet die Geburtshelfer aber nicht von ihrer Verantwortung, denn keine Frau kann etwas dafür, dass sie in der konkreten Situation nicht resilient ist. Das würde aber auch bedeuten, dass zumindest eine psychologische Grundausbildung in der Geburtshilfe selbstverständlich sein müsste, um diese Ausnahmesituation angemessen begleiten zu können.
Informieren und kommunizieren
Wenn nur weniger als 10 Prozent aller Geburten interventionsfrei verlaufen, was bedeutet es dann, wenn die eine Frau mit den medizinischen Interventionen gut umgehen kann, die andere aber traumatisiert in die postnatale Anpassungsphase geht? Hier kommt dem informed consent eine besondere Bedeutung zu: Wurde die Frau mitgenommen, aufgeklärt, hatte sie die Möglichkeit einzuwilligen und wurden ihre Wünsche und Bedürfnisse akzeptiert? Die Versuchung der Geburtshelfer ist groß, ihre Eingriffe mit der Gesundheit des Kindes zu rechtfertigen, denn welche Schwangere würde nicht allem zustimmen, was der Gesundheit ihres Kindes dient?
Häufig sind Gewalterfahrungen auf mangelnde Information und Kommunikation zurückzuführen. Zugegebenermaßen ist es auch nicht einfach, in schwierigen Phasen der Geburt den »Kopf einzuschalten« und das Gesagte zu verstehen. Hier kommen die Väter ins Spiel, die ebenfalls gut informiert und einbezogen werden müssen, weil sie die Einwilligung zu bestimmten Interventionen übernehmen müssen, wenn die Gebärende dazu nicht in der Lage ist. Deshalb ist es wichtig, als Paar vorher zu besprechen, welche Interventionen wann akzeptiert werden.
Das Anschreien als psychische Gewalt und der Kristeller-Handgriff – Druck auf die Gebärmutter während der Wehen, um die Geburt zu beschleunigen – als körperliche Gewalt werden oft als schmerzhaft und übergriffig empfunden. Solche Formen der Missachtung in der Geburtshilfe haben Auswirkungen auf die perinatale psychische Gesundheit der Mutter. Gesundheit bedeutet eben nicht nur körperliche Gesundheit, sondern auch subjektive gesundheitsbezogene Lebensqualität. Gerade die intime Situation einer Geburt ist anfällig für Stigmatisierung und Diskriminierung. Eben weil eine Geburt ein hohes Maß an Intimität voraussetzt und auch mit einem natürlichen Kontrollverlust einhergeht, ist es so wichtig, dass dies von einer Atmosphäre der Sicherheit und Geborgenheit getragen wird.
Da aber jede Geburt ihre eigene Dynamik hat, die auch vom Kind mitbestimmt wird, ist das Risiko für Gewalterfahrungen hoch. Das fängt schon bei der Geburtseinleitung an. Aus welchen guten Gründen ist das notwendig oder sind die Argumente eher dem klinischen Ablauf geschuldet? Wird ein Kaiserschnitt empfohlen, weil es dem Kind wirklich schlecht geht oder weil ein Schichtwechsel ansteht? Wird ein Dammschnitt ohne Not ausgeführt? Diese und viele andere Fragen entstehen auch durch den Stress im Kreißsaal. Personalmangel und die Überlastung des Personals können leider dazu beitragen, dass die Bedürfnisse der Gebärenden und des Kindes in den Hintergrund treten. Hauptsache gesund?
Viele Frauen sind unmittelbar nach der Geburt dennoch überglücklich, ihr Neugeborenes in den Armen zu halten, und bereit, alles vorher Erlebte zu vergessen, und oft reagiert auch das persönliche Umfeld so, als sei es egal, wie die Geburt verlaufen ist.
Eine dreistufige Strategie
Und genau hier möchte ich ansetzen. Sowohl für die Mutter als auch für das Kind kann eine als dramatisch erlebte Geburt Spuren hinterlassen. Auch wenn es der Mutter zunächst gelingt, die negativen Erinnerungen zu verdrängen und sich auf ihr Baby zu konzentrieren, wirkt es oft lange nach, wenn Gewalterfahrungen eine Rolle gespielt haben. Auch für den Säugling macht es einen Unterschied, wenn die Mutter sich nicht für seine Bedürfnisse öffnen kann, weil sie psychisch damit beschäftigt ist, Erinnerungen abzuspalten, um die Bindung zu ihrem Kind nicht zu gefährden. Deshalb möchte ich hier für eine dreistufige Strategie plädieren:
Psychologische Nachbesprechungen des Geburtserlebnisses sollten auf allen Entbindungsstationen angeboten werden. Eine unabhängige Fachkraft, die selbst nicht zum medizinischen Team bei der Geburt gehört hat, kann sich neutraler und empathischer auf die subjektive Wahrnehmung der jungen Mutter einlassen. Allein die Möglichkeit, darüber zu sprechen, kann oft sehr hilfreich sein, um Grenzverletzungen zu verarbeiten und vielleicht auch zu akzeptieren, dass eine natürliche Geburt ohne Eingriffe nicht möglich war. Psycholog*innen oder Seelsorger*innen, die das Gespräch suchen, wären ein erster Schritt zur Heilung.Geburtshilfe braucht eine Fehlerkultur, die über die medizinischen Notwendigkeiten hinaus in der Lage ist, das eigene Handeln zu reflektieren. Urteile über »schwierige« Mütter oder Schuldzuweisungen an andere behindern eine qualitative Weiterentwicklung. Auch Geburtshelfer brauchen Supervision und mentales Coaching. Medizinische Leitlinien und Patientenrechte rechtfertigen dies. Dies kann der Beitrag der Klinik sein, um Übergriffe zu vermeiden und darüber zu sprechen.Den Müttern sollten Angebote im Wochenbett und darüber hinaus gemacht werden, wo sie sich einerseits mit anderen Müttern austauschen können und andererseits psychosoziale Unterstützung erhalten. Das kann auch durch eine einfühlsame Hebamme bei den Nachsorgeterminen geschehen. Dies können Beratungsstellen sein, die sich auf die entwicklungsspezifische Beratung am Lebensanfang spezialisiert und dabei auch die Perspektive des Säuglings im Blick haben. Eine dramatische Geburt kann dem Neugeborenen das Ankommen erschweren, insbesondere wenn es merkt, dass die Mutter von Erinnerungen überflutet ist und sich nicht vollständig auf die Bedürfnisse ihres Babys einstellen kann. Betroffene Mütter brauchen diese Unterstützung, solange es nötig erscheint.Die gute Nachricht aus der Persönlichkeitsforschung ist, dass sich die meisten Menschen von traumatischen Ereignissen erholen. Ein positives soziales Umfeld und eine optimistische Grundhaltung können dazu beitragen. Manche Menschen gehen sogar gestärkt aus einer überstandenen dramatischen Situation hervor. Fast die Hälfte der Betroffenen berichtet von einem mittleren bis starken Wachstum nach traumatischen Ereignissen. Dies wird als »posttraumatisches Wachstum« bezeichnet und äußert sich in gestärkten Beziehungen, geklärten Sinnfragen, gewachsener persönlicher Stärke und größerer allgemeiner Reife.
Aber auch das kann niemand vorhersagen und es ist auch keine persönliche Schwäche, wenn es nicht gelingt.
Wenn eine Frau nach der Geburt über die erste Zeit im Wochenbett hinaus von Flashbacks, Albträumen, Schlafstörungen und Panikattacken berichtet, depressive Symptome entwickelt oder die negativen Geburtserlebnisse zu einer allgegenwärtigen, nicht zu übersehenden seelischen Belastung führen, wäre es wichtig, eine psychotherapeutische Diagnostik aufzusuchen, um bei einer nachgewiesenen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) rasch in Behandlung zu kommen. Für die Mutter-Kind-Bindung ist es wichtig, dass sich die Schuldfindung nicht auf das Kind überträgt. Aber auch für die Frau und ihren Partner ist es wichtig, über die Geburt zu sprechen, die negativen, aber auch die positiven Erfahrungen zuzulassen und zu sortieren: Was kann ich so stehen lassen, auch wenn nicht alles so war, wie ich es mir erhofft hatte? Was braucht die junge Mutter, um sich ihrem Neugeborenen so zuwenden zu können, dass die gemeinsam erlebte Geburt als ein Ereignis in der Biografie betrachtet werden kann, das so, wie es war, nicht viel anders hätte verlaufen können, und was brauchen beide, um eine gute Bindung zueinander aufzubauen? Gerade das private Umfeld sollte die subjektive Wahrnehmung der Mutter respektieren, damit sie sich verstanden fühlt und ihre Erfahrungen psychisch integrieren kann.
Kaiserschnitt
Mit immer noch knapp 30 Prozent aller Geburten ist die Sectio caesarea, der Kaiserschnitt, in Deutschland eine so häufige Entbindungsform, dass jedes dritte heute geborene Kind davon betroffen ist. Nun könnte man sagen, dass es normal ist, auf diese Weise das Licht der Welt zu erblicken, und schon in Aufklärungsbüchern für Kinder steht, dass man durch die Scheide oder durch den Bauch geboren werden kann. Dies ist aber nicht die von der Natur vorgesehene Methode für den Übergang in ein selbstständiges Leben außerhalb des Mutterleibs, und zwar aus mehreren Gründen.
Der geplante Kaiserschnitt (primäre Sectio), für den ein Termin ohne Wehen vereinbart wird, bedeutet für das Kind, dass es seinen Geburtstermin nicht selbst bestimmen kann, denn es ist das Kind, das durch die Verbindung mit dem Blutkreislauf der Mutter das Signal für den Beginn der Wehen gibt, es ist also möglicherweise noch nicht bereit für den Übergang. In diesem Fall wird das Kind auch ohne Vorwarnung innerhalb weniger Minuten aus dem Mutterleib geholt. Hier kommt es häufiger zu Anpassungsstörungen, die unter Umständen lebensbedrohlich werden können, weil dem Neugeborenen die Atmung nicht selbstständig gelingt.
Bei der Entscheidung für einen Kaiserschnitt unter Wehen (sekundäre Sectio) hat das Kind den Vorteil, dass es durch die gemeinsame Arbeit an den Wehen vorbereitet wird. Dem neugeborenen Kind wird dann aber dieser erste wesentliche Schritt zur Autonomie nicht ermöglicht.
Es gibt zwei verschiedene Szenarien: Einerseits kann ein Säugling während der Geburt einen Sauerstoffmangel erleiden und in diesem Fall ist es eine Lösung, die sein Leben retten kann und möglichen Behinderungen vorbeugt. Andererseits kann die Entscheidung aber auch getroffen werden, weil die Mutter zum Beispiel durch eine Geburtseinleitung nach vielen Stunden Wehen so erschöpft ist, dass sie einem Kaiserschnitt zustimmt. Für das Kind bedeutet dies, dass es den begonnenen Weg nicht zu Ende gehen kann.
Gründe für den Kaiserschnitt
Was sind die Gründe für einen Kaiserschnitt? Es gibt sogenannte harte Indikationen, die lebensrettend sind. Dazu gehören eine Querlage des Kindes, eine drohende Plazentaablösung, Schwangerschaftserkrankungen wie Präeklampsie oder das HELLP-Syndrom.
Präeklampsie ist eine schwangerschaftsbedingte Erkrankung, die durch Bluthochdruck und Eiweiß im Urin gekennzeichnet ist. Das HELLP-Syndrom ist eine schwere Komplikation der Präeklampsie mit Zerstörung roter Blutkörperchen, erhöhten Leberenzymen und niedriger Anzahl von Thrombozyten (Blutplättchen).
Für manche Frühgeborene ist es der schonendste Weg, zu früh auf die Welt zu kommen. Auch wenn der Muttermund durch die Plazenta verschlossen ist, ist die Möglichkeit einer Sectio lebensrettend für Mutter und Kind. Bereits bei drohendem Sauerstoffmangel beginnt die Kompetenz des Geburtshelfers, wenn die Entscheidung dann im Einzelfall abgewogen werden muss.
Interessant sind die weichen Indikationen. Nehmen wir die Beckenendlage (BEL), bei der statt des Kopfes das Gesäß oder die Füße des Fötus im Mutterleib nach unten zeigen. Da die meisten BEL heute von vielen Gynäkolog*innen nicht mehr sicher beherrscht werden, obwohl es eigentlich ein professionelles Handling dafür gibt, wird vielen Müttern in diesen Fällen zum Kaiserschnitt geraten. Gleiches gilt für Zwillinge, die bei entsprechender Lage des vorn liegenden Kindes durchaus vaginal entbunden werden können. Auch die ärztliche Empfehlung, mit der Geburt des zweiten Kindes bis zu einer Stunde zu warten, wird nicht immer befolgt und führt manchmal noch zum Kaiserschnitt beim Zweitgeborenen.
Geburtsverläufe sind komplex und sehr individuell. So hängt es oft von der Erfahrung und Kompetenz des Geburtshelfers ab, ob und wann ein Kaiserschnitt angeraten wird. Häufig spricht man von »Interventionskaskaden«. Das bedeutet, dass der erste Eingriff oft weitere Interventionen nach sich zieht, an deren Ende der Kaiserschnitt steht. Die Unterschiede in den Geburtskliniken sind sowohl in Deutschland als auch in Europa – bei vergleichbarem Bevölkerungsprofil – immens. Das liegt nicht an den Frauen, sondern am Chefarzt oder an der Politik. Insofern ist es wichtig, bei der Auswahl eines Kreißsaals nicht nur auf die Ausstattung zu achten, sondern sich auch über die dortige Sectio-Rate zu informieren.
Ein Teil der Kaiserschnitte – in Deutschland geht man von 4 Prozent aus – wird durch geburtsbedingte Ängste der Mutter ausgelöst. Dies wird als »Fear of Childbirth« (FoC) bezeichnet und rechtfertigt eine operative Entbindung, obwohl keine medizinische Indikation vorliegt. Der Eingriff wird dann fälschlicherweise »Wunschkaiserschnitt« genannt, tatsächlich zahlt die Solidargemeinschaft aber nicht für unnötige Eingriffe, sodass laut Indikation nicht der Wunsch allein, sondern die Angst den normalen Geburtsverlauf verhindert.
Als Psychotherapeutin frage ich mich dann immer, woher der für die Entscheidung befugte Geburtshelfer die Qualifikation nimmt, eine Art Angststörung zu diagnostizieren. Ich bin davon überzeugt, dass diese nicht ausreicht, Ängste zu erklären und eventuell zu behandeln.
Jede Mutter will das Beste für ihr Kind, und damit es gesund zur Welt kommt, nehmen Schwangere vieles in Kauf, was sie eigentlich mit Skepsis betrachten. Deshalb lassen sie sich auch schnell überzeugen, wenn ein Kaiserschnitt empfohlen wird. Damit geben sie letztlich einen Teil ihrer Verantwortung ab und es entsteht das mächtige Narrativ »Es war ja notwendig«.
Folgen für das Kind
Um die Folgen aus der Sicht des Ungeborenen genauer zu betrachten, ist es – glaube ich – hilfreich, sich in die Lage des Kindes unter der Geburt zu versetzen, um ansatzweise zu verstehen, was es bedeutet, per Kaiserschnitt geboren zu werden.
Bei einem geplanten Kaiserschnitt ohne Wehen wird das Kind wie gesagt ohne Vorwarnung aus einer Situation der Rundumversorgung mit Plastikhandschuhen durch einen engen Schnitt geholt und soll nun ganz schnell alle Lebensfunktionen übernehmen. Wo sind die Wärme der Mutter, ihr vertrauter Herzschlag und ihr liebevoller Blick, den ich als Erstes sehen möchte?
Bei einer Periduralanästhesie (PDA) – eine Form der regionalen Betäubung, bei der ein Schmerzmittel in den Bereich um das Rückenmark injiziert wird – spürt das Kind keine Resonanz mehr, seine körperliche Kommunikation ist unterbrochen. Muss ich jetzt alles allein machen?
Eine Notsectio kann das Baby aus einer Nahtoderfahrung retten, aber auch frustrieren: Jetzt habe ich stundenlang geholfen, mich in den Geburtskanal hineinzudrehen, und warte auf den letzten Druck, der mich auf die Welt bringt. Ups, plötzlich werde ich zurückgezogen und alles ist ohne Finale vorbei.
All diese Erinnerungen sind vorsprachlich gespeichert und oft gerade deshalb so mächtig, weil sie sich dem Verstehen entziehen. Wenn es dann aber gut läuft und sich eine sichere Primärbindung entwickeln kann, können auch diese Irritationen heilen, aber nicht immer. Säuglinge nach Kaiserschnitt zeigen häufiger Regulationsstörungen und exzessives Schreien. Bei manchen Kindern, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen wird von verschiedenen Angstskripten berichtet. Schreckhaftigkeit, mangelndes Selbstvertrauen, erlernte Hilflosigkeit, aber auch Körperwahrnehmungsstörungen und Selbstunsicherheit können auftreten.
Die Forschung zu den kindlichen Folgen nach einem Kaiserschnitt findet sich in verschiedenen Disziplinen und zeigt ein um 20 Prozent erhöhtes Risiko für Asthma, 9 Prozent für Adipositas und 10 Prozent für Magen-Darm-Infektionen. 2019 wurden im TK-Kindergesundheitsreport erstmals auch psychische Risiken erfasst (TK – Die Techniker 2019). Auch hier sind die Risiken bis zum Alter von acht Jahren jeweils erhöht: für ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom) um 8 Prozent, für Verhaltens- und emotionale Störungen um 10,9 bis 20 Prozent (bei Mädchen), für Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Funktionsstörungen um 25 Prozent und für neurotische und somatoforme Störungen (körperliche Störungen, für die keine organische Ursache gefunden werden kann) um 16 Prozent.
Bedenken Sie jedoch immer, dass ein erhöhtes Risiko nicht bedeutet, dass es auch eintritt. Wichtig ist aber der Hinweis, dass zum Beispiel ein erhöhtes Risiko für Diabetes bedeutet, dass diese Erkrankung häufig mit psychischen Belastungen einhergeht, die Kinder überfordern können, wenn etwa lebenslange Einschränkungen zu erwarten sind oder bereits in der Kindheit erwachsene Bewältigungsstrategien gefordert sind.
Folgen für die Eltern
Aus der Perspektive der Mutter bedeutet ein positives Geburtserleben, dass sie in die Bewertung und alle Entscheidungen bezüglich des Geburtsprozesses einbezogen wird und dass es durch die kontinuierliche Unterstützung der Hebamme beeinflusst wird. Negative Geburtserlebnisse entstehen durch medizinische Interventionen, mangelnde Aufklärung und respektloses Verhalten der Geburtshelfer.
Interessant ist, dass die subjektive Gesundheit (SGH) und die gesundheitsbezogene Lebensqualität (GHLQ) acht Wochen und auch sechs Monate nach der Geburt durch eine sekundäre Sectio am stärksten beeinträchtigt sind und die Lebenszufriedenheit der Mutter auch zehn Jahre nach der Geburt geringer ist als bei einem positiven Geburtserlebnis. Die Rate der Frauen, die eine postpartale Depression entwickeln, ist auch ohne Vorerkrankung erhöht, sodass darauf geachtet werden sollte, wenn die Traurigkeit über einen längeren Zeitraum anhält und das Selbstwertgefühl so stark herabgesetzt ist, dass die Funktionsfähigkeit in der Mutter-Kind-Einheit gefährdet ist.
Gerade deshalb ist es für die Mutter sehr wichtig, sich mit der Geschichte der Geburt auseinanderzusetzen. Wie gesagt reichen die Geburtsnachgespräche der Gynäkologen und Gynäkologinnen dafür oft nicht aus. Gerade hier wäre psychologisch geschultes Personal auf der Wochenstation wertvoll. Jedes verständnisvolle Gespräch kann helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Manche Frauen fühlen sich in Selbsthilfegruppen wohl. Neben der körperlichen Heilung sollten immer auch eine seelische Reflexion und Heilung stehen, auch wenn es nur das vage Gefühl ist, etwas nicht geschafft zu haben. Schuldgefühle, die nur verdrängt und nicht wahrgenommen werden, können sich auf die Bindung zum Neugeborenen auswirken und den Aufbau einer sicheren Bindung erschweren.
Auch das Erleben des Vaters ist zu berücksichtigen, da er, wie ebenfalls schon gesagt wurde, insbesondere bei einer Entscheidung unter der Geburt, kaum vorbereitet ist. Möglicherweise sieht er seine Partnerin stundenlang leiden, fühlt sich hilflos und ist selbst an der Grenze seiner Belastbarkeit. Vielleicht wird er sogar um seine Zustimmung gebeten, wenn die Gebärende als nicht einwilligungsfähig eingeschätzt wird. Und tatsächlich führt die Anwesenheit eines gestressten Vaters zu einer schnelleren Entscheidung für einen Kaiserschnitt. Er erlebt den mehr oder weniger hektischen Wechsel von Raum und Personal und findet sich plötzlich in einem Operationssaal wieder. Seine Partnerin wird in örtlicher Betäubung oder in Vollnarkose auf dem Operationstisch fixiert, um unwillkürliche Bewegungen auszuschließen. Er muss sich selbst OP-Kleidung anziehen und steht oder sitzt mit Mundschutz, wahrscheinlich schwitzend und stark gestresst, am Kopfende des Tisches, wo ein Sichtschutz angebracht ist. Von der Angst um seine Frau und sein Kind überwältigt, ist er Teil eines Szenarios, in dem er seine Rolle neu finden muss. Vielleicht wird ihm das gesunde Neugeborene in die Arme gelegt, damit seine Frau versorgt werden kann, vielleicht folgt er dem Neonatologen, der es untersucht, vielleicht muss das Kind reanimiert oder intubiert und auf die Intensivstation verlegt werden.
Er hat noch in den Ohren, dass er beim Kind bleiben soll, das hat ihm seine Frau eingetrichtert. Da muss man schon ein Mann sein, der seine Gefühle gut regulieren kann und der es schafft, zwischen der Rührung über sein Kind und der Sorge um seine Frau noch auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten, zum Beispiel etwas Wasser zu trinken, wenn alles etwas länger dauert.
Die Väterforschung stellt dazu zwei wesentliche Dinge fest: Zum einen sind Väter emotional stark involviert und erleben Angst, Ohnmacht und Kontrollverlust, zum anderen ist das medizinische Personal nicht immer gut darauf vorbereitet, auch den Vater anzuleiten, ernst zu nehmen und einzubeziehen, das heißt, auch ihn in der Situation aufzufangen. Manche Väter sind damit überfordert und geraten entweder körperlich aus dem Gleichgewicht und/oder können das Erlebte nicht angemessen verarbeiten. In den letzten Jahren hat man deshalb auch die Väter in den Blick genommen und festgestellt, dass sie ebenfalls posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen im Zusammenhang mit der Geburt entwickeln können, die jedoch noch zu oft unentdeckt bleiben, da das Wohl von Mutter und Kind in den ersten Wochen im Mittelpunkt steht.
