Starless - Philipp Jaeger - E-Book

Starless E-Book

Philipp Jaeger

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Beschreibung

Eine wunderbare Ehefrau, ein behütetes Zuhause und ein liebevolles Umfeld: Max genießt ein angenehmes Leben in einem Chicagoer Vorort. Nur eine Sache fehlt dem charismatischen Idealisten zu seinem Glück - ein Sitz im amerikanischen Kongress. Nach einer bitteren Wahlschlappe nimmt der aufstrebende Politiker nun einen neuen Anlauf. Doch je mehr der Wahlkampf an Fahrt aufnimmt, desto verworrener wird sein Weg. Die Karriereleiter wird zu einem Labyrinth, in dem man sich allzu leicht selbst verliert. Die Nächte sind dunkel, die Schatten lang, der Himmel sternenlos. Wer hat in diesem Land wirklich das Sagen? Welche Hände muss man schütteln? Wem kann man vertrauen? Die Karriere wird zum Nervenspiel.

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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 1

Maximilian Morrow starrte hinaus in mitternächtliches Schwarz. Den Kopf gegen das kalte Flugzeugfenster gepresst. Kleine blinkende Lichter an den Tragflächen gaben in regelmäßigen Abständen den Blick auf vorbeiziehende Wolken frei. Der Rest blieb von Dunkelheit umhüllt.

Seine feuchten Augen taten ihr Übriges, das Gesehene in ein verschwommenes, abstraktes Gemälde voller Leere zu verwandeln. Er war sicher niemand, den man als rührselig bezeichnen würde. Doch ob der Umstände seiner Reise dachte er wieder und wieder darüber nach, wie er hierher gelangt war. Eine einsame Träne lief seine Wange hinunter. Er fing sie vorsichtig auf und sah zu, wie sie seinen Daumen benetzte.

Seit Jahren war er der Vergangenheit erfolgreich ausgewichen. Aber in diesem Moment überwältigte sie ihn mit all ihrer Wucht. Er schüttelte sich, kämpfte dagegen an, versuchte sich zu wehren. Gelingen wollte es ihm nicht. Und so irrten seine Gedanken ziellos durch die pechschwarze Nacht. Bereit sich an alles zu klammern, das ihn fernhielt von der nostalgischen Pein. Gleichwohl vermochte er sich ihrem Sog nicht zu entziehen. Sie hatte ihn hergetrieben und sie würde ihre Peitsche nicht kampflos senken.

Natürlich war nicht alles schlecht gewesen. Aber die guten Erinnerungen waren flüchtig und von kurzer Dauer. Sie wurden immer wieder verdrängt von denjenigen an all die falschen Pfade, die zu beschreiten er einst beschlossen hatte. Er kam, während sich seine Reise unaufhaltsam dem Ziel näherte, nicht umhin festzustellen, dass Reue und Bedauern die Oberhand gewannen. Sie redeten auf ihn ein, hefteten sich an seinen Geist und legten Stück für Stück mit schonungsloser Ehrlichkeit die Wahrheit seiner Geschichte frei. Eine Wahrheit, die er stets vor sich selbst zu verstecken versucht hatte.

Die Tränen mehrten sich. Er spürte, wie sie sanft sein Gesicht entlang rannen. Sie sammelten sich an seinem Kinn und tropften in seinen Schoß. Blanke Panik wühlte seinen Magen um. Er sprang auf und sprintete durch die Reihen zur Toilettenkabine. Er riss Klodeckel und Brille hinauf.

Nachdem er sich übergeben hatte, richtete er sich auf. Der Spiegel vor ihm zeigte nicht den Mann, der er einst gewesen war. Verquollene Augen starrten ihn an. Um das Braun seiner Iris war das Weiß an vielen Stellen roten Einblutungen gewichen. Er füllte seine zitternden Hände mit Wasser und versuchte, den Kummer aus seinem Gesicht zu waschen. Vergeblich. Die Adern auf seiner Stirn pulsierten. Er streifte durch sein dunkelblondes Haar und schloss die Augen. Er konnte den Anblick nicht länger ertragen. Mit aller Macht schlug er in den Spiegel. Er zersprang. Seine Knöchel fingen an, zu bluten.

Das Flugzeug ruckelte. Er verlor das Gleichgewicht. Sein Kopf donnerte gegen die Wände an. Er flüchtete aus der schmalen Toilettenkabine. Es hatte begonnen. Angeschlagen taumelte er zum Sitz zurück und sank ermattet nieder. Er zitterte. Er wollte an etwas anderes denken. Aber er war längst nicht mehr Herr seines Verstandes. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu jenen Tagen. Er unternahm einen letzten Versuch, doch das Gewicht wog zu schwer auf seinen kraftlosen Schultern. Allmählich fiel seine Rüstung. Gepiesackt vom Wissen um Unumstößlichkeit und Vergänglichkeit drückte die Last ihn nieder. Unaufhörlich ließ er Revue passieren, was nicht mehr zu ändern war.

Akzeptanz machte sich breit. Akzeptanz, die von Resignation nicht zu unterscheiden war. Er war nicht länger imstande, sich zu widersetzen. Er gab nach. Gewissensbisse hinterließen tiefe Wunden. Schuldgefühle schnürten ihm die Kehle zu.

Er fiel. Und er fiel lange – hinein in Zeiten, die einfacher waren, oder zumindest unschuldiger. Er hatte es genau so verdient. Da konnte er sich nichts mehr vormachen. Zu welchem Zweck auch?

Kapitel 2

Max wartete geduldig hinter den Kulissen. Seine Schulter an die schwarze Fassade gelehnt, tippte er entspannt auf seinem Handy herum. Kaum ein Wort vernahm er von der lauten Stimme, die auf der anderen Seite die Leute unterhielt.

Das plötzliche Getöse des Publikums holte ihn wieder ins Hier und Jetzt. Eine groß gewachsene Frau mit langem, blonden Haar bedeutete ihm lächelnd, sich bereitzumachen. Max lächelte freundlich zurück und nickte ihr bestätigend zu. Mehr und mehr verstummte die Menge, bis der Geräuschpegel in einem einsamen Klatschen verebbte. Die Stimme übernahm wieder.

„Und mein Gast heute Abend ist der demokratische Kandidat für die Kongresswahlen im fünften Wahlbezirk, Illinois... Maximilian Morrow!“.

Max schritt die schwarze Wand ab. Die LED-Scheinwerfer des Studios warfen ihr gleißendes Licht auf ihn, als er hinter den Kulissen hervortrat. Breit grinsend steuerte er geradewegs winkend auf das Publikum zu. Sein Haupt deutete dankend eine Verbeugung an.

Rechts von ihm spielte eine Akustikband auf. Links wartete Sam Wilkins, der Gastgeber der Show Talknight, auf ihn. Die dunkle Schmalztolle des Showmasters wippte aufgeregt auf und ab, während er applaudierte. Sie lächelten sich an. Max ging auf ihn zu. Nach einer freundlichen, beiläufigen Begrüßung ließen sich beide in weiße Ledersessel zurückfallen.

„Guten Abend Mr. Morrow! Es ist mir eine Freude, Sie bei uns zu haben!“, eröffnete Wilkins, nachdem der Applaus verstummt war.

„Guten Abend! Die Freude ist ganz meinerseits! Sie können mich aber auch gerne Max nennen“, erwiderte er freundlich. Bewusst versuchte er, darauf zu achten, die Lockerheit und Nahbarkeit, für die ihn die Leute schätzten, auszustrahlen.

„Sehr gerne! Dann nennen Sie mich aber auch bitte Sam!“

„Ich versuche es, ich kann nichts versprechen. Schließlich bin ich Politiker“, sagte Max verhaltend lachend.

Er schaute in die auflachende Menge. Am Rande des Studios erspähte er, hinter einem Kameramann stehend, seine Frau. Ihr herzhaftes Lachen infizierte ihn augenblicklich mit Frohsinn. Ihre Lippen. Ihre Grübchen. Aber vor allem diese Augen! In das vertraute Braun mischte sich eine leicht grünliche Färbung. Für einen Moment war er woanders. An einem schöneren Ort. Bis sich diese großen braunen Augen zusammenkniffen und ihr energisch wippender Kopf ihm bedeutete, sich auf die Show zu konzentrieren.

Max wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. Abwartend blickte er ihn an. „Ich bitte um Entschuldigung, Sam! Ich war gerade wohl kurz abwesend.“

Wilkins lachte heiter auf. „Macht doch nichts! Also ich wollte nur wissen, wie Sie mit den Reaktionen der Menschen umgehen. Sie sind ja durchaus einer der Kandidaten, die polarisieren. Besonders häufig wird kritisiert, dass sie erst 32 Jahre alt sind, was sie zu einem der jüngsten Kongressabgeordneten im Repräsentantenhaus machen würde. Viele behaupten sogar, Sie hätten bei der Wahl vor zwei Jahren nur wegen Ihres Alters verloren. Sie seien schlicht zu unerfahren. Was möchten Sie solchen Leuten entgegnen?“

Max fuhr sich über die Stirn. Er war noch nicht wieder voll da. „Zunächst einmal steht es mir nicht zu, irgendeine Entscheidung zu kritisieren. Die hat jeder frei zu treffen, nach den Gründen, die ihm belieben.“

„Aber stört es sie nicht, aufgrund fehlender Erfahrung Stimmen zu verlieren?“

„Wieso ich vor zwei Jahren verloren habe, ist schwer zu sagen. Mein Alter kann ich natürlich auch nicht gänzlich ausschließen. Allerdings sollte man beachten, dass ich in den Umfragen damals ja lange vorne gelegen habe. Zusätzlich war das Ergebnis extrem knapp. Jüngere Politiker sind für Amerikaner also bestimmt nicht unwählbar.“

„Dennoch ist ihr Alter immer wieder Thema. Was würden Sie einem Wähler sagen, der Bedenken diesbezüglich hat?“ Wilkins streichelte gespannt über sein Kinn.

„Dass Alter keine Garantie für gute Politik ist! Genauso muss Erfahrung keine sein! Ich habe das Gefühl, dass wir in vielerlei Hinsicht heutzutage vor Problematiken stehen, die eine unheimliche Dynamik mitbringen. Klimawandel, soziale Ungleichheit oder die digitale Revolution sind nur einige Beispiele, die neue, frische, innovative Antworten erfordern. Erfahrung ist dabei sekundär, kann uns vielleicht sogar dazu verleiten, zu lange an unserem jetzigen Status quo festzuhalten. Die Wucht des derzeitigen Wandels birgt durchaus die Gefahr, uns zu überrollen, wenn wir an veralteten Methoden festhalten. Visionen sind meiner Meinung nach viel wichtiger als bloße erfahrungsbasierte Patentlösungen.“

Wilkins nickte. „Kehren wir ins Hier und Jetzt zurück“, begann er aufs Neue. „Wir haben schon darüber gesprochen, dass Sie die Wahl vor zwei Jahren überaus knapp und trotz zwischenzeitlich hohen Vorsprungs verloren haben. Stand heute führen Sie in den Umfragen sogar noch deutlicher. Wir reden von geschätzten 61 Prozent. Sind Sie siegessicher oder besorgt, doch wieder eine Führung aus der Hand zu geben?“

„Sagen wir, ich bin optimistisch. Aber die Wählerinnen und Wähler entscheiden und bis zu den Kongresswahlen ist es noch lange hin.“ Max zuckte beiläufig mit den Achseln.

Wilkins warf einen flüchtigen Blick hinunter auf seine Moderationskarten. „Sie haben im Anschluss an Ihr Studium bei Amnesty International gearbeitet. Sie sind aber nach kurzer Zeit schon in die Politik gewechselt. Wieso haben Sie Ihren ersten Arbeitgeber so ungewöhnlich früh verlassen?“

„Aus demselben Grund, aus dem ich überhaupt erst zu Amnesty International gegangen bin. Ich habe bestimmte Ideale und will mich für sie einsetzen.“

„Sie waren, in anderen Worten, auf der Suche nach Macht, die Sie im non-profit Bereich nicht gefunden haben?“ Wilkins fixierte Max mit hochgezogenen Augenbrauen. Süffisant lächelnd biss er sich auf die Unterlippe.

Max runzelte die Stirn. „Ich habe sicher nicht nach Macht gesucht um der Macht Willen. Man sollte nicht Politiker werden, um gewählt zu werden. Damit führt man ein Amt ad absurdum. Man sollte aber sehr wohl seine Ideen zur Wahl stellen und damit hoffen, die Welt ein Stück weit zu verbessern. Anders ausgedrückt: Ein erfolgreicher Politiker verbessert die Welt und wird nicht möglichst oft gewählt. Aber gewählt zu werden ist eben doch der Hebel, den man braucht, um überhaupt Veränderung zu erreichen.“

„Ein schöner Satz! Verbessern wir also gemeinsam die Welt!“, setzte Wilkins wieder an. „Was muss denn dringend weltpolitisch verändert werden? Oder was ist für sie das größte, politische Problem auf globaler Ebene?“

Max gab kurz vor, zu überlegen. „Der Klimawandel ist vermutlich die größte globale Bedrohung.“

„Und national gesehen?“

Max fuhr über die Stoppeln seines Dreitagebartes. „Das größte Problem unseres Landes ist, denke ich, die soziale Ungleichheit. Wenn man sich anschaut, wie unsere Wirtschaft immer weiter wächst, aber immer weniger Menschen in unserem Land an diesem Erfolg beteiligt werden, dann muss man feststellen, dass etwas grundlegend schief läuft. Das schürt verständlicherweise Wut und Angst in der Bevölkerung. Viele unserer Konflikte lassen sich meiner Meinung nach genau darauf zurückführen. Wenn aber …“

„Nehmen Sie es mir nicht böse“, fuhr ihm Wilkins über den Mund. „Aber wir wollen nicht zu weit abschweifen. Unsere Sendezeit ist leider begrenzt. Mir brennt eine Frage auf den Lippen: Sie sprachen eben von digitaler Revolution. Was würde Maximilian Morrow in dieser Hinsicht angehen? Wo sehen Sie Stolpersteine?“

Max griff fest in die gepolsterte Armlehne des Sessels. Höflich war anders. Er schluckte einmal und schon lockerten sich seine Finger wieder. Er beugte sich vor, um einen Schluck Wasser zu trinken. Seine Pause war bewusst gewählt.

„Was das Hier und Heute angeht, kann man ja noch nicht von digitaler Revolution reden. Da stecken wir noch in den Kinderschuhen. Von daher wissen wir derzeit auch nicht, wie diese Technologien welche Bereiche unserer Gesellschaft verändern könnten und was für Gefahren vielleicht in Zukunft lauern... Deshalb sollten wir unseren Tech-Giganten genauer auf die Finger schauen! Wir müssen sie besser und strenger ins Steuersystem integrieren! Auch seltene Erden und deren faire, legale Beschaffung sollte eine größere Rolle in der öffentlichen Debatte spielen! Hauptthema, Stand heute, ist aber mit Sicherheit, dass wir einen guten Weg finden, mit den immensen Datenströmen umzugehen, die das Silicon Valley generiert. Es ist nicht abzusehen, was Unternehmen mit diesen Daten alles bewirken können. Viele Ihrer Dienste sind jedenfalls sicher nicht zufällig kostenlos...“

Der Rest des Interviews plätscherte so dahin. Vieles drehte sich um die Absichten, die Max für seinen Wahlbezirk vorschwebten. Dort verliefen die letzten Jahre jedoch eher unspektakulär, ohne große, dringliche Krisen. Viel gab es also nicht umzuwerfen. Entsprechend seicht schmolz die restliche Sendezeit dahin.

So beendete Max seinen Auftritt mit einem ordentlichen Gefühl. Nach einer betont freundlichen Verabschiedung verschwand er wieder hinter den Kulissen. Fernab der Kameras, der Lichter und des Applauses. Er entledigte sich seines Mikrofons, bedankte sich bei den Mitarbeitern und setzte sich in den Garderobenraum ab.

Er nahm sich den Bügel mit seiner dunkelblauen Übergangsjacke darauf. Als er gerade seinen rechten Arm hinein gewunden hatte, sprang ihm jemand lauthals lachend auf den Rücken. Er versuchte, das zusätzliche Gewicht auszugleichen, fiel aber nach einigen ausufernden Schlenkern mitsamt dem unbekannten Angreifer in den Kleiderständer hinein.

Große braun-grünliche Augen leuchteten ihn an. Allie unterdrückte ein Lachen, während sie sich eine ihrer lockigen Strähnen aus dem Gesicht streichelte und ihre sanften Gesichtszüge frei wurden. Ein Mitarbeiter, offensichtlich erschreckt von ihrem geräuschvollen Aufprall, schlug die Tür auf. Mit skeptischem Blick sah er einen zukünftigen Kongressabgeordneten halb von Jacken bedeckt in der Ecke liegen. Während auf seinem Bauch eine unschuldig grinsende Frau saß. Der Mann schwirrte genauso wortlos wie verstört wieder ab. Max und Allie brachen in gellendes Gelächter aus.

„Du bist bequem“, stellte sie vergnügt fest, als sich die beiden aufrappelten.

„Und du bist …“, setzte Max an, aber Allie unterbrach ihn augenblicklich.

Schwungvoll warf sie sich um seinen Hals und küsste ihn. „Der Wahnsinn? Zu gütig, Abgeordneter Morrow!“

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und drückte seine Lippen auf ihre Stirn. „Eigentlich wollte ich kindisch sagen“, schickte er hinterher.

Sie prustete los. „Sagt ein Mann, der erst gestern das Haus seines besten Freundes in Klopapier eingewickelt hat!“

„Hey! Das hat er selbst zu verantworten.“

„Selbstverständlich. Er hat dich praktisch gezwungen“, meinte sie ironisch.

Max verdrehte die Augen.

„Ich mache doch auch nur Spaß. Kindisch gefällst du mir eh am besten“, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Max grinste zufrieden. Die Mischung aus Grün und Braun strahlte so warm, vertrauenserweckend und treu. Als könnte man direkt in Allies Seele blicken.

„So jetzt aber zackig!“, riss sie Max aus dem tranceartigen Moment heraus. „Johnny wartet bestimmt schon.“

„Geh du ruhig schon mal raus und ruf ihn an! Nicht, dass er sinnlos draußen vor unserer Tür steht. Ich kümmere mich um die Jacken.“

Allie wandte sich ab, wurde aber von Max zurückgehalten. Er griff sie bei der Hand. „Ich liebe dich!“, schickte er hinterher.

„Ich dich auch“, entgegnete sie, woraufhin sie beschwingt summend den Raum verließ.

Max machte sich hektisch daran, die Jacken wieder auf die Garderobe zu hängen. Die Letzte war auffallend widerspenstig. Die Schultern waren eng geschnitten, weshalb es einiger Versuche bedurfte, sie über den breiten Bügel zu ziehen. Endlich gelang es ihm. Nach einem kleinen Seufzer begutachtete er sein Werk. Er griff sich seine Jacke und verließ den Garderobenraum.

Er trat auf einen schmalen Gang. Rechts führte er unüberhörbar Richtung Studio. Sam Wilkins´ laute Stimme raunte noch immer durch die Hallen. Max drehte sich nach links. Circa 20 Meter trennten ihn vom Mitarbeiterausgang, der auf den Parkplatz führte. Ein Oberlicht über der Tür warf das blasse Licht der Parkplatzlaternen ins Gebäude. Direkt vor der Tür lehnte die Silhouette einer Person mit dem Rücken an der Wand. Schemenhaft waren lange Beine im Schimmer zu erahnen. Sie ragten in den Gang hinein.

Max schritt Richtung Ausgang. Der Schatten löste sich stoisch von der Mauer und wandte sich ihm zu. Mit dem schwachen Laternenschein im Rücken blieb sein Gesicht zwar verborgen, aber langsam erkannte Max, dass es sich um einen Mann handelte.

Max stoppte ab. Ihm gefiel es nicht, sein Auftreten durch zu viele Privilegien aufzuplustern. Er beanspruchte keinen Chauffeur oder Sonstiges. Sicherheitspersonal nur dann, wenn er es für nötig hielt. Einen Ausflug in das vermeintlich sichere Studio einer Fernsehshow zählte er nicht zu derlei Notwendigkeiten.

Langsam kam der dunkle Umriss auf ihn zu. Schritt für Schritt sah Max klarer und klarer, bis das diffuse Licht die Gestalt vollständig frei gab. Vor Max stand ein glatzköpfiger Mann in einem Nadelstreifenanzug. Der dunkle Anzug setzte sich stark von seinem überaus hellen Teint ab. Eisblaue Augen thronten über einer spitzen Nase. In der rechten Hand hielt er einen braunen Umschlag, in der linken einen schwarzen Hut mit einem roten Band darum.

„Einen schönen guten Abend, Mr. Morrow!“ Seine Stimme war ruhig, aber kratzig.

„Guten Abend! Kennen wir uns?“, fragte Max stockend.

„Nein, nein, Junge.“

Vergeblich wartete Max darauf, dass er fortfuhr. Doch er tat es nicht. In aller Seelenruhe musterte er Max. Schließlich beendete dieser das Schweigen. „Darf ich fragen, wie Sie heißen?“

„Das dürfen Sie! Aber eine Antwort verdienen Sie leider trotzdem nicht“, sagte der Mann hart.

Max war etwas verwundert ob der plötzlichen Unhöflichkeit. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“, wollte er zögernd wissen.

„Das bleibt abzuwarten.“ Er lächelte Max schief an. „Charismatischer Auftritt heute! Sie gefallen mir.“

„Ah, Sie haben sich die Sendung angeschaut. Vielen Dank! Aber die Show läuft ja noch. Wieso sind Sie schon draußen?“

„Glauben Sie mir: Was mich interessiert hat, habe ich bereits gesehen.“

„Interessieren Sie sich für Politik?“, fragte Max stutzig.

Der Unbekannte winkte mit dem braunen Umschlag in der Hand ab. „Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Junge. Ich bin in Ihrem Wahlbezirk nicht wahlberechtigt.“

„Es geht mir nicht um Stimmenfang. Ich wollte mich lediglich mit Ihnen austauschen“, verteidigte sich Max.

„Ich wollte Ihnen nichts unterstellen. Ich bin lediglich jemand, der auf sehr positive Weise beeindruckt von Ihnen ist. Ich denke, Sie werden einen ordentlichen Kongressabgeordneten abgeben... vorausgesetzt ich sorge dafür, dass Sie gewählt werden.“ Der scharfe Blick des Unbekannten wanderte von unten nach oben über seinen Körper.

Die Falten auf Max‘ Stirn wurden tiefer. „Verzeihen Sie mir bitte meine Direktheit! Dürfte ich vielleicht erfahren, für wen Sie arbeiten?“

Der Mann winkte ab. „Ach, Arbeitgeber sind schnell vergessen, Junge. Es sollte Ihnen zunächst reichen, zu wissen, dass ich Ihnen helfen möchte.“

„Ich habe bereits Sponsoren, falls Sie in diese Richtung denken. Auch mein Wahlkampfteam ist voll besetzt. Und Berater beschäftige ich nur, wenn ich mich in einem Metier nicht ausreichend auskenne“, meinte Max zaghaft.

„Wieso?“

„Ich möchte mir selbst ein Bild machen und mich nicht zu sehr beeinflussen lassen.“

„Eine romantische Vorstellung, Junge“, meinte der Mann mit einem fahlen Lachen. „Putzig, aber irgendwie auch naiv, um nicht das Wort dumm zu benutzen.“

Das dürfte eine Unhöflichkeit zu viel gewesen sein! Max schickte sich an, den Sticheleien des Unbekannten etwas zu erwidern, hielt dann jedoch inne. Das Aufspielen der Band verkündete im Hintergrund das Ende der Show. Max wandte sich um.

Sam Wilkins bog eilig um die Ecke auf den Gang. Erst wollte der Showmaster in den Garderobenraum abbiegen, bewegte sich dann aber doch geradewegs auf Max und seinen Gesprächspartner zu.

Auch Max drehte sich wieder zu dem mysteriösen Unbekannten.

Er setzte sich den Hut mit dem roten Band auf und streckte Max die rechte Hand hin. „Hat mich gefreut Mr. Morrow!“, sagte er.

Vorsichtig erwiderte Max den Handschlag. Er war froh, nichts weiter sagen zu müssen. „Einen schönen Abend!“, wünschte er seinem anmaßenden Gegenüber floskelhaft.

„Schöner kann er schwerlich werden“, grinste der Mann.

Mit einem verlegenen Lächeln löste Max seine Hand aus der des unheimlichen Fremden.

„Lassen Sie sich nicht beeinflussen, Junge! Wir sehen uns schon bald wieder“, blitzte er ihn an. Seine Stimme war plötzlich fest und autoritär. Er steckte den braunen Umschlag in die Innentasche seines Sakkos und schritt zügigen Tempos Richtung Parkplatz. Ohne sich umzudrehen, war er entschwunden.

Max stierte ihm noch versteinert nach, als die Tür bereits zugefallen war.

„Schön, dass ich Sie noch erwische! Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht zu sehr auf den Zahn gefühlt“, sagte Sam Wilkins gönnerisch in seinem Rücken.

Max fixierte immer noch regungslos den Ausgang.

„Mr. Morrow?“, hakte der Moderator nach.

Endlich löste er seine Gedanken von der merkwürdigen Begegnung. „Ja, nein… tut mir leid. Wirklich gar kein Problem. Es war ein angenehmes Interview. Ein bisschen Würze hier und da gehört ja dazu.“ Er lächelte flüchtig.

„Sehr gut! Ich hoffe, ich habe Ihren Mitarbeiter nicht vertrieben.“

„Der Mann arbeitet nicht für mich“, erwiderte Max.

„Ach so? Ich dachte nur, weil er das Interview heute arrangiert hat.“

Max schaute Wilkins konsterniert an. „Sie haben sich doch bei mir gemeldet.“

„Ja, im Auftrag des Eigentümers unseres Senders. Der wiederum kam auf Sie, weil der Herr, der soeben ging, Sie bei ihm ins Spiel gebracht hat. Die beiden kennen sich offensichtlich. Er hat ihn hier heute höchst persönlich hinter den Kulissen herum geführt, ist vor der Show aber wieder gegangen.“

„Wissen Sie, wie er heißt?“, platzte es aus Max heraus.

„Ich habe ihn gefragt, aber er meinte, das sei nicht wichtig. Da wollte ich nicht weiter nachhaken. Eigentümlicher Kerl!“

„Das kann man wohl sagen“, murmelte Max.

Für einen kurzen Moment versank Max tief im Morast seiner Gedanken. Ein nebulöser Mann, der aus dem Nichts Termine für ihn arrangierte. Sein Habitus, seine Stimme, diese unterschwellige Dominanz. Ganz wohl war ihm nicht dabei.

Vielleicht war er aber auch nur überarbeitet und steigerte sich unnötig in die Sache hinein. Vielleicht hatte er nur einen neuen Sympathisanten, so bizarr er auch sein mochte. Ja vielleicht war es ein völlig normales Gespräch gewesen.

„Geht es Ihnen gut“, zog Wilkins ihn in die Realität zurück.

„Ja! Entschuldigen Sie, bitte!“ Max schaute auf die Uhr, obwohl er genau wusste, dass er spät dran war. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, aber ich muss dringend los!“

„Das macht doch nichts“, sagte Wilkins freundlich und gab ihm die Hand.

„Auf Wiedersehen“, verabschiedete sich Max.

Wilkins nickte.

Max wandte sich ab und marschierte den Gang hinab. Er gab sich alle Mühe, hektisch auszusehen. An der Tür angekommen, drückte er die kalte Metallklinke und sie schwang auf. Der Parkplatz war weitestgehend leer. Wieso brauchte die Produktionsfirma überhaupt derart viele Stellplätze? Nur die vorderen zwei Reihen waren besetzt.

Direkt dahinter erspähte er Allies Hinterkopf über die Autos hinweg. Sie telefonierte. Max hüpfte elegant die drei Stufen des eisernen Podestes hinab, welches zum Ausgang hinaufführte. Er spazierte lässig, vor sich hin pfeifend durch die Autoreihen, als müsse er sich selber davon überzeugen, wie entspannt und gelassen er war.

Allie beendete ihr Telefonat und steckte ihr Handy in ihre Jackentasche. Sie drehte sich um. Max‘ Miene versteinerte sich. Sein Pfeifen verstummte. In der Hand hielt sie einen braunen Umschlag.

„Den hat mir so ein Mann mit Hut für dich gegeben.“

Kapitel 3

„Wann seid ihr denn circa hier?“, fragte Johnny entspannt in sein Handy hinein.

Es störte ihn nicht, zu warten. Immerhin war er es normalerweise, der die Geduld der anderen auf die Probe stellte. Nein, Jonathan Perine hatte wahrlich keinen Hang zur Pünktlichkeit.

„Maximal 20 Minuten! Max wurde aufgehalten, aber wir kommen, so schnell wir können. Versprochen!“, antwortete Allie.

Ihr entschuldigender Ton war ihm nicht verborgen geblieben. „Alles klar! Dann fahre ich jetzt los. Bis gleich!“

„Wir freuen uns auf dich!“

Johnny legte auf und warf sein Handy schwungvoll zurück in die Mittelkonsole seines in die Jahre gekommenen Wagens. Er war längst bei Max und Allie angekommen, aber er belastete die, die er liebte, nicht gerne unnötig. Es bestand kein Grund, jemanden zu hetzen. Das würden die beiden schon zu Genüge tun.

Er stieß die Autotür auf. Ein kleiner Fetzen Toilettenpapier löste sich von seinem Schuh, als er mit einem Ruck seine Beine aus dem Wagen hievte. Er schmunzelte.

Seit nunmehr sieben Jahren ließen er und Max sich allerlei Blödsinn am ersten Juni einfallen. Der Juni war ihr April. Leider war Max an jenem Tag nicht gerade zimperlich gewesen. Es hatte für Johnny eine Höllenarbeit nach sich gezogen, sein Zuhause wieder zu befreien. Wenn das die Leute wüssten! Ein zukünftiger Kongressabgeordneter wickelt das Haus seines besten Freundes in Toilettenpapier ein.

Ein milder, sommerlicher Wind blies den Fetzen auf die Straße. Johnny ging hinterher, um ihn aufzuheben. Er begutachtete das unscheinbare Stück Papier und musste schmunzeln. Max war trotz allem immer noch derselbe. Ihr Vater wäre stolz auf ihn. Da hatte er keinen Zweifel.

Allie bog in ihre Straße ein.

„Ich sag es dir jetzt zum zehnten Mal: Du kannst morgen schauen, was auf dem USB-Stick ist! Du wirst ja schon ganz paranoid.“ Sie liebte Max mehr als alles andere, aber diese Sturheit würde sie irgendwann in den Wahnsinn treiben.

„Paranoid?!“ Max schnaubte empört. „Würde gerne mal sehen, wie du reagierst, wenn dich so ein Irrer zu irgendeiner Fernsehshow lockt, um dir aufzulauern!“

„Na, ein Irrer muss es jetzt nicht gewesen sein. Vielleicht wollte der Mann etwas völlig Alltägliches von dir. Manche Menschen kommen eben befremdlich rüber.“

„Nenn mir einen Grund, wieso ich nicht mal kurz schauen sollte, was auf dem Stick ist!“

„Heute geht es um George!“ Allie schaute ihn eindringlich an. „Um euren Paps“, fügte sie hinzu.

Max seufzte. „Na schön“, gab er klein bei. „Heute Abend kann ich wohl noch abwarten.“

Allie nickte triumphierend. Was sollte man schon Dringliches an einem Samstagabend per USB-Stick überreichen?

Sie passierten gerade den Park, der direkt an ihr Haus grenzte. Da fielen die Scheinwerfer auf einen Mann, dessen breite Schultern von einem schlabbrigen, ausgetragenen Shirt bedeckt wurden. Seine gleichermaßen ausgeleierten Shorts waren voller unentfernbarer Farbflecken und Löcher. In aller Seelenruhe betrachtete er mitten auf der Straße ein winziges Stück Papier.

Max ließ sein Fenster herunter. „Was zum Teufel machst du da?!“, rief er Johnny lachend zu.

„Ich wollte mich für das Klopapier bedanken.“ Johnny wich grinsend zur Seite.

Max betätigte den Sender, der das Garagentor öffnete. Es fuhr unter ächzendem Knarzen nach oben. Allie lenkte den Wagen gekonnt die kurze, aber steile Zufahrt hinauf. Die beiden stiegen aus.

Johnnys klappriges, altes Auto stand direkt gegenüber der Einfahrt am Straßenrand. Er hatte es nicht weit bis zur Eingangstür, die links neben der Garage ins Haus führte. In der Zwischenzeit war er mit einem Sixpack Bier in der Hand zu den beiden hinaufmarsschiert und wartete schon mit vorfreudigem Lächeln auf seine Freunde. Die drei begrüßten sich herzlich.

Nachdem Max und Allie ihre vornehme Kleidung gegen etwas Bequemeres eingetauscht hatten, fanden sie sich auf der überdachten Terrasse hinter dem Haus ein. Grillen zirpten in der Stille der Dämmerung. Mitten auf den Terrakottafliesen stand ein hölzerner, runder Gartentisch mit Blick auf einen unauffälligen Garten. Genau genommen war es nur eine Grasfläche mit vereinzelten Blumen, hinter der ein dichter Wald aufragte. Eine Außenlaterne warf ihren orangenen Schein in die Runde und befreite die Gesichter von der Dunkelheit.

Stunden vergingen unter lautem Gelächter, das von den Bäumen aus widerhallte. Gläser klirrten und all die alten Geschichten wurden erzählt, ohne dass man sie einem der Anwesenden hätte ins Gedächtnis rufen müssen. Über ihre gemeinsamen Zeiten auf der Uni, wie sich Max und Allie ineinander verliebt hatten und auch, wie Johnny ihnen einen Schubs gegeben hatte, weil sich beide nicht trauten, den ersten Schritt zu tun. Gute und reine Nostalgie war es, die mit jedem Erzählen ausgeschmückter zu werden schien, aber nie ihren Zweck verfehlte.

Es wurde spät. Es war weit nach Mitternacht, als Allie begleitet von einem langen Gähnen aufstand.

„So Jungs, ich muss jetzt echt ins Bett!“

„Komm schon! Es ist doch gerade so lustig“, sagte Johnny mit bettelndem Unterton.

„Ich würde ja gerne... Aber während die ganze Welt sonntags frei hat, muss ich morgen früh um neun an der Schule sein.“

„Meld´ dich einfach krank! Ist doch nur ein Schulausflug“, empfahl Max.

„So kurzfristig springt keiner für mich ein und die meisten Schüler freuen sich richtig auf den Ausflug. Das kann ich ihnen nicht kaputt machen. Außerdem liebe ich meinen Job. Sonntags zugegebenermaßen ein bisschen weniger, aber ich liebe ihn.“

„Aber wir haben noch nicht auf Paps angestoßen. Dafür musst du definitiv bleiben!“, warf Johnny ein und schüttete einen kleinen Schluck Wein nach.

Ohne ein weiteres Widerwort setzte sie sich wieder hin und nahm ihr Glas.

„Sieben ist ungerade. Das heißt, du bist dran“, sagte Max in Richtung seines Freundes, als er ihm noch eine Flasche Bier in die Hand drückte.

Johnny hielt kurz inne. Die ausgelassene, alberne Stimmung verflog mit jeder Sekunde, die er zögerte.

Johnnys Stimme war von jetzt auf gleich zittrig: „Paps, du sollst wissen, wie sehr du uns allen fehlst. Ich erlebe täglich so viele Momente, in denen ich an dich denken muss. Das macht mich auf der einen Seite traurig, weil ich dich natürlich vermisse. Auf der anderen bin ich aber auch froh um diese Momente, weil sie zeigen, dass du nach sieben Jahren noch immer bei uns bist. Du hast Mom, Max und mir ein unbeschreiblich schönes Leben geschenkt und das macht mich unendlich dankbar. Wir lieben dich und werden dich niemals vergessen.“ Johnny schaute mit feuchten Augen in die Runde. „Auf Paps!“, fügte er an.

Sie nahmen einen Schluck. Sie sprachen, aber sagten nichts. Vorsichtig, fast geräuschlos fanden Gläser und Flaschen wieder ihren Platz auf dem Tisch. Es folgte feinfühlige Stille. Verschwiegene Ruhe. Andächtiges Innehalten. Geduldig warteten sie, bis sich die aufdringliche Erregtheit legte.

Nach einer Weile stand Allie auf, umarmte Johnny innig und verabschiedete sich mit einem leisen Flüstern von ihren Jungs. „Gute Nacht!“ Sie erntete nur ein kurzes Kopfnicken und zog sich ins Haus zurück.

Die beiden Verbliebenen schauten sich noch eine Weile an. Sie nippten immer wieder wortlos an ihrem Bier. Irgendwas war auf einmal anders.

Max hatte genug gewartet. „Was ist los Johnny?“

„Ich schäme mich, Max.“ Johnny nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche. „Ich sitze hier und rede darüber, wie sehr ich ihn vermisse. Weißt du, wie es mich früher zerrissen hat an Paps zu denken?“ Er schaute Max eindringlich an. „Das ist nicht mehr so. Natürlich hätte ich ihn gerne bei mir, aber der Schmerz ist nicht mehr derselbe. Dad verblasst stetig mehr, auch wenn ich dagegen ankämpfe.“

„Der Schmerz ist halt nicht mehr frisch“, reagierte Max verwundert. „Es ist normal, dass er nachlässt. Das hat nichts mit Paps zu tun. Guck doch, was wir jedes Jahr machen, was wir jetzt gerade machen! Das ist genau, was er gewollt hätte und nicht, dass du trauerst.“ Max suchte mit einem Lächeln auf den Lippen nach einer Regung in Johnnys Gesicht.

Er schmunzelte halbherzig zurück. Max legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes. Manchmal war das Beste, was man sagen konnte, einfach nur gemeinsam zu fühlen. Verwirrende Worte kannten die Klarheit der Ruhe nicht.

19 Jahre waren sie gewesen, als ihr Paps verstorben war. Bis heute lief es Max kalt den Rücken herunter, wenn er sich an seine letzte Begegnung mit ihm entsann.

„Trauert nicht um die Toten“, hatte er ihnen mitgegeben, als klar wurde, dass er nach langer Krebs-Erkrankung die kommenden Tage nicht überstehen würde. „Wenn ich nicht mehr bin, fühle ich weder euren Schmerz noch euer Mitleid. Ihr sollt keine Emotion unterdrücken, aber lacht, so viel ihr könnt, so früh ihr könnt – am besten sofort. Ich will nicht, dass ihr trauert, um der Trauer Willen oder um zu zeigen, wie viel ich euch bedeutet habe. Wenn ich euch etwas bedeutet habe, dann genießt das Leben ohne Wehmut. Denn nichts war mir wichtiger als euer Glück. Nichts würde ich lieber sehen als fröhliche Söhne und nichts macht weniger Sinn, als das Unveränderliche zu betrauern. Versprecht mir, dass ihr es versucht!“

Bis heute konnte Max seine Stimme hören. Bei den Worten war er sich nicht mehr ganz sicher. So oder so ähnlich mussten sie gewesen sein.

Johnny und Max hatten sich jedenfalls entschieden, seinen Todestag nicht zu betrauern, sondern sein Leben zu feiern. Es hatte einige Jahre gedauert, aber dann an einem ersten Juni erhoben sie die Gläser auf ihren Paps und füllten den Tag mit Blödeleien. Auch wenn Tränen nicht immer vermeidbar waren. Vor allem Johnny schien die emotionalen Ausbrüche hin und wieder zu brauchen, um sich von mancher Last zu befreien. Doch sie lachten, so viel sie eben konnten, und das wiederholten sie jedes Jahr.

„Also ganz normal war er ja auch nicht.“ Johnny schüttelte zaghaft lachend Kopf. Es blieb ihm sogleich wieder im Halse stecken.

„Paps wird dich nie verlassen“, meinte Max sanft, während er Johnnys Hand ergriff. Max lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und musterte seinen Kumpel. Süffisant führte er sein Bier zum Mund. „Das kann er eigentlich auch gar nicht, weil du praktisch er bist“, stieß er aus, bevor er einen Schluck nahm.

„Wie meinst du das?“

„Schau dich doch an! Du siehst aus wie er und du bist quasi er. Deine Sturheit, deine nicht vorhandene Eitelkeit, deine Weltverbesserei – das ist alles Paps!“

„Und du hast sein Gelaber abbekommen.“ Johnny grinste schelmisch.

Max spürte, wie die Nacht sich von den Ketten der Anspannung befreite. Sie redeten noch eine ganze Weile, bis sie vor Müdigkeit kaum sprachfähig waren. Johnny hatte dann doch etwas viel getrunken, weshalb Max ihn zum Gästezimmer begleitete. Johnny ließ sich ins Bett fallen und war sofort eingeschlafen. Max blickte in der Tür stehend auf ihn zurück.

Er fühlte unheimliches Glück, ihn seinen Freund nennen zu dürfen. Wobei eigentlich waren sie mehr als Freunde. Sie waren im selben Haus aufgewachsen, nachdem Max‘ leibliche Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. So landete Max bei den Perines. Sie hatten ihm eine Kindheit beschert, an die er gerne zurückdachte. Nicht in einem einzigen Moment hatten die besten Freunde seiner Eltern ihn spüren lassen, dass er keine leibliche Familie mehr hatte. Max sah George und Elizabeth als Vater und Mutter an und Johnny als seinen großen Bruder. Und das, obwohl sie fast gleich alt waren.

Sie ähnelten sich in so vielem. Aber Johnny hatte etwas, was Max schlicht beneidete. Er war konsequenter, richtete sich stets nach dem, was er wollte, egal, wie schwierig der Weg dadurch wurde. Jede seiner Entscheidungen war zu hundert Prozent er selbst, mit aller Aufopferungsbereitschaft, die erforderlich war, und aller Uneitelkeit, die es bedurfte. Er war, wenngleich manchmal sprunghaft und impulsiv, voller geradliniger Tatkraft. Max bewunderte ihn dafür. Zufrieden warf er einen letzten Blick auf Johnny und zog die Tür behutsam zu.

Das Schloss klickte. Er gähnte ausgiebig. Hundemüde stand er da und sehnte sich danach, sich der Nacht zu ergeben. Ohne sein abendliches Ritual würde er aber selbst in seinem heutigen, abgekämpften Zustand keinen Schlaf finden. In jungen Jahren hatte er von seinen Zieheltern ein Teleskop geschenkt bekommen und warf seither fast jeden Abend einen Blick ans Firmament.

Es erfüllte ihn mit Demut und Ruhe zu wissen, wie klein er und seine Probleme eigentlich waren. So schlich er sich noch schnell in sein Arbeitszimmer, wo sein Spielzeug schon auf ihn wartete. Gemächlich drückte er sein Auge auf das Guckrohr und wanderte das Himmelszelt ab, bis er wieder an diesem einen Stern hängen blieb. Der Sternenhimmel veränderte sich zwar stetig, aber dieser eine spezielle, leuchtende Ball schien unverrückbar seinen Platz zu halten. Obgleich das wissenschaftlich vermutlich gar nicht möglich war.

Er strahlte heller, schien sogar eine andere Form zu haben. Als würde er sein Licht nach seinen eigenen Gesetzen ins All schießen. Bis auf Allie hatte er nie jemandem von seinem bizarren Spleen erzählt. Ein erwachsener Mann, der besser schlafen konnte, wenn er seinen Lieblingsstern gefunden hatte – ein bisschen peinlich war ihm das schon.

Zufrieden erhob er seinen Kopf. Er ließ das Teleskop sinken und stapfte befreit Richtung Bett. Sein Magen knurrte, als er vor seiner Schlafzimmertür stand. Nach kurzem Überlegen drehte er um, um sich auf den Weg in die Küche zu begeben. Mit so leerem Bauch hätte er unmöglich einschlafen können. Etwas wackelig schritt er den mit Teppich ausgelegten Gang entlang, der ihn ins Wohnzimmer führte. Die weiche Wolle sorgte für ein angenehmes Gefühl an seinen blanken Füßen, bis diese auf die kalten Fliesen der Küche trafen. Im Halbschlaf betätigte er den Lichtschalter, was die Sicht auf die ihm gegenüberliegende Arbeitsfläche frei gab.

Max war mit einem Schlag wieder wach! Sein Hunger war verflogen. Auf dem Teak der Arbeitsplatte lag der braune Umschlag. Langsam trat er auf ihn zu und nahm in ehrfürchtig an sich. Ein rot-schwarzer USB-Stick glitt aus dem papiernen Kuvert direkt in seine Hand. Sein Laptop wartete bereits auf dem Esstisch auf ihn.

Es ging alles wie von selbst. Er vernahm ein kaum hörbares Klicken, nachdem er einen kleinen, runden, schwarzen Knopf betätigt hatte. Der Computer fuhr hoch. Widerstandslos glitt der Stick in den USB-Port. Der Cursor machte sich auf, die Datei zu öffnen. Max zögerte, klickte dann aber zweimal auf die linke Maustaste.

Ein Foto seines eigenen Selbst sprang ihm entgegen, als sich das Dokument öffnete. Sein Antlitz thronte rechts oben in der Ecke. Darunter folgte eine Textdatei. Viele Stellen waren geschwärzt. Ein ungutes Gefühl fuhr ihm in die Magengrube. Was er dort vor sich sah, schien ein Bericht über ihn zu sein. Er musste schlucken.

Er scrollte hoch und runter. Immer schneller. Panik keimte in ihm auf. Am Ende des Reports waren Graphiken abgebildet. Sterndiagramme ordneten Max ins politische Spektrum ein, zeugten von psychologischen Analysen und gewichteten spezifische Standpunkte, die er vertrat.

War er von dem glatzköpfigen Mann observiert worden? Zu jedem dieser Themen gab es ein Diagramm pro Quartal über die letzten zwei Jahre seit seiner ersten verlorenen Wahl, die genauestens seine Entwicklung protokollierten. Anscheinend hatte ihm jemand genau auf die Finger geschaut. Max hatte noch immer keine Ahnung, was er mit dem Skript anzufangen hatte. Er schüttelte sich schaudernd.

Es dauerte ein wenig, bis seine Nervosität sich Stück für Stück legte und er begann, sich die Graphiken näher anzuschauen. Sie waren auf unheimliche Weise präzise und ihm teilweise extrem unangenehm. Dem Klimawandel hatte er beispielsweise laut den frühesten, aufgelisteten Diagrammen eher indifferent gegenüber gestanden. Vielleicht hatte er damals einfach zu wenig darüber gewusst, folgte vielleicht aber auch einfach unterbewusst dem menschlichen Wunsch, dass sich eh schon alles von alleine regeln würde.

Max schämte sich. Er wandte seinen Blick aufgebracht ab von den Diagrammen und ließ ihn an die Decke streifen. Er wollte gar nicht weiter lesen. Was war das für ein Spiel?!

Energisch erhob er sich von seinem Stuhl, wobei dieser krachend nach hinten umfiel. Aufgewühlt schritt er mit verschränkten Armen um den runden Esstisch herum, seinen Laptop fest im Blick. Er sah das kalte Lächeln des unheimlichen Mannes vor sich. Entschieden klappte er den Rechner zu. Mit dem Ergebnis irgendeiner Überwachungsperversion würde er nicht seine Zeit verschwenden!

Was wollte der Glatzkopf überhaupt von ihm? Alleine der Gedanke an ihn hinterließ ein mulmiges Gefühl. Wollte er ihm aus seiner politischen Vergangenheit einen Strick drehen? Ihn unglaubwürdig erscheinen lassen?

Max schaute aus dem Fenster und atmete tief durch. Langsam beruhigte er sich. Eventuell war es ja auch ein lobender Bericht? Vielleicht musste er sich nicht schämen. Vielleicht war er kein Fähnchen im Wind, sondern konnte vielmehr stolz darauf sein, sich über die Jahre weiterentwickelt zu haben.

Max stand wie angewurzelt vor seinem Rechner. Wem wollte er etwas vormachen? Er würde die Datei so oder so untersuchen. Er würde gar nicht anders können. Schließlich schossen ihm genug Fragen durch den Kopf, die ihm keine Ruhe lassen würden. Und wenn er Antworten finden konnte, dann auf dem USB-Stick. Er klappte seinen Computer wieder auf. Er scrollte hoch zum Beginn der Datei und machte sich daran, zu lesen:

Maximilian Morrow gefährdete die Operation 05-IL 2022. Operation erst nach Eingriff erfolgreich. Die Berichte vor der Suggestion (2022) sind eher grob, da die Analyse erst nach der Wahl begonnen hat. Abschlussberichte nach der Suggestion (2024) sind präzise und vielversprechend:

Psychologische Grundlage 2022: Morrow hat eine große Wirkung auf die Menschen. Er wirkt authentisch, charismatisch und überzeugend. Ziel: psychologisches Gutachten konkretisieren, um psychologische Trigger für Suggestion zu finden!

Psychologische Grundlage 2024: Trigger sind vor allem Altruismus und Gerechtigkeit. Familiäre Themen haben ebenso große Wirkkraft auf ihn.

Politische Richtung 2022: Moderat links. Seine Einordnung ins politische Spektrum ist wählbar und bedarf keiner Anpassung. Starke humanistische Ideale könnten zu fehlender Kompromissbereitschaft führen, sind aber auch ein Grund für seine Glaubwürdigkeit. Von daher nur dezente suggestive Aktivität empfohlen!

Politische Richtung 2024: Morrow hat seinem Idealismus eine pragmatische Komponente hinzugefügt und diesen damit leicht abgeschwächt. Er hat erkannt, dass er ansonsten nicht in eine Position kommt, Veränderung zu bewirken. Fazit: Ziel erreicht!

Politische Inhalte 2022: Zwei große Schwachstellen erkannt: 1. Klimawandel (Durch das steigende Umweltbewusstsein wird sich eine Enthaltung in Sachen Klimawandel langfristig auf die Stimmen auswirken. Ziel: Morrow muss sich diesbezüglich klar positionieren) 2. Mangel an Patriotismus (Morrow mag kein Antinationalist sein, aber seine oft globale Perspektive wird ihn in den USA nationalen Rückhalt und Stimmen kosten. Ziel: Patriotisches Auftreten verstärken!)

Politische Inhalte 2024: Die Bekämpfung des Klimawandels hat für Miller mittlerweile hohe Priorität. Außerdem hat er die Notwendigkeit eines patriotischen Auftrittes erkannt, ohne sich jedoch mit diesem vollkommen zu identifizieren. Fazit: Ziel erreicht!

Mit weit aufgerissenen Augen saß er da. Seine Gedanken überschlugen sich. Das konnte nicht wirklich das sein, für das er es hielt. Suggestion, psychologische Trigger und Operation 05-IL 2022? Fieberhaft versuchte er, sich einen Reim darauf zu machen, aber die Rastlosigkeit in seinem Kopf sabotierte seine Fortschritte. Immer wieder schweifte er ab. Nach einem tiefen Atemzug stand er auf und schlurfte zur Spüle.

Er hob den Hebel des Wasserhahns. Eiskaltes Wasser füllte seine Hände. Sofort führte er sein Gesicht in das erfrischende Nass. Er wiederholte den Vorgang einige Male, bevor er befreit aufschnaufte und seine feuchten Finger durch sein Haar strichen. Die kleinen Dinge hatten oft die größte Wirkung.

Er schwenkte seinen Kopf nach links. Die Zeiger zeigten fast vier Uhr morgens. Er schlenderte ins Wohnzimmer, wo er vor dem bis zum Boden reichenden Panoramafenster stehen blieb und seinen von der Dunkelheit halb verborgenen Garten begutachtete - mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen.

Es war offensichtlich, wofür das Kürzel 05-IL 2022 stand. IL war die offizielle Abkürzung für den Bundesstaat Illinois. Von daher musste die Fünf davor den Wahlbezirk darstellen - Max‘ Wahlbezirk, den fünften Wahlbezirk Illinois. Das wäre nur sinnvoll. 2022 war er dort zur Wahl angetreten und hatte lange geführt. Damit hatte er anscheinend jemandem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Man hatte ihn verlieren sehen wollen.

Was sollte es aber bedeuten, dass die Operation erst nach einem „Eingriff“ erfolgreich gewesen war? Möglicherweise waren die Urheber das Wahlkampfteam seines heutigen und damaligen Konkurrenten William Richardson. Aber diese hätten wohl kaum erst eingegriffen, als dieser hinten gelegen hatte.

Es machte alles keinen Sinn. Er fing von vorne an. Immer und immer wieder. Die gleiche Abfolge von Gedanken schoss durch seinen Kopf, ohne Neues mit sich zu bringen. So beschloss er, seine Überlegungen vorerst zu verwerfen und sich damit abzufinden, dass jemand froh war, dass er 2022 nicht gewonnen hatte und sich zumindest einbildete, dies mittels eines angeblichen „Eingriffs“ irgendeiner Art geschafft zu haben.

Was das auch für ein „Eingriff“ war, er konnte nichts mit der „Suggestion“ zu tun haben, die immer wieder erwähnt wurde. Diese hatte dem Bericht zu Folge erst nach der Wahl 2022 angefangen. Außerdem hielt Max es schlichtweg für unmöglich, dass ihn wirklich jemand aus der Ferne suggestiv zu dem Wandel hätte manipulieren können, den er zwischen 2022 und heute vollzogen hatte. Genau das musste das Wort „Suggestion“ im Kontext der Datei aber bedeuten. Da hatte er keinen Zweifel.

Dazu das Gerede über psychologische Trigger. Als ob man so etwas wie eine Fernbedienung für ihn gefunden hätte. Das konnte und wollte er sich nicht ausmalen. Es schien ihm vielmehr eine überzogene Selbstüberschätzung oder einfach nur Kauderwelsch zu sein. Max überlegte länger hin und her, bis er das kalte Grinsen des glatzköpfigen Mannes vor seinem inneren Auge sah. Seine letzten Worte hallten in Max‘ Kopf nach: „Lassen Sie sich nicht beeinflussen, Junge! Wir sehen uns schon bald wieder!“

Max erschauderte bei dem Gedanken. So merkwürdig der Mann aufgetreten war, so hatte Max ihn nicht für irre gehalten. Andererseits wem würde man seinen Wahn schon anmerken? Lange wägte Max ab, ob der Bericht für bare Münze zu nehmen war. Es musste sich ja nicht einmal um Größenwahn handeln.

Eventuell war es der absurde Versuch eines Störfeuers. Der letzte Strohhalm, an den sich Richardson klammerte. Das schien ihm alles logischer, als dass es jemand geschafft hatte, ihm irgendwelche Ideen einzuimpfen. Egal, was es mit all dem auf sich hatte, er würde sich nicht länger von einer abstrakten Fantasie in seinem Kopf in Aufruhr versetzen lassen. Bei genauerem Nachdenken schien es wie blanker Unsinn, die Echtheit seiner eigenen Manipulation ernsthaft in Betracht zu ziehen. Der Report hatte ihn so oder so genug Nerven, Zeit und Energie gekostet. Er würde mit diesem Kapitel abschließen, keinen Gedanken mehr daran verschwenden.

Er hatte ihn praktisch schon vergessen. Er zückte sein Handy und googelte den Verlauf der Wahl 2022. Sein Vorsprung war in der Tat groß gewesen. Zu groß, um ihn einfach so zu verspielen? Aber er dachte ja nicht mehr daran... ignorierte diesen Unsinn... schenkte dem Ganzen keine Beachtung... es war praktisch schon raus aus seinem Kopf. Unbehaglich war ihm trotzdem zu Mute.

Während Max‘ andauernder Gedankenspiele hatte der Tag im unendlichen Wechselspiel von Hell und Dunkel schon fast wieder die Oberhand gewonnen. Die Löcher in den Baumkronen spalteten das stärker werdende Sonnenlicht. Auf dem gepflegten Rasen zeichnete sich dadurch ein spektakuläres Mosaik aus Schein und Schatten ab. Genießen konnte Max den atemberaubenden Anblick nicht. Dafür hatte die Ermattung zu schnell wieder Besitz von ihm ergriffen. Seine Augenlider wurden schwer und so wandte er sich von dem Naturschauspiel ab. Sein Bett rief nach ihm.

Wie auf Schienen steuerte er ins Schlafzimmer. Auch hier begrüßte ihn das erste Tageslicht. Es wurde von den leicht lichtdurchlässigen Vorhängen am Fenster gedämpft. Doch es reichte aus, um Allies bildhübsches Gesicht abzuzeichnen. Max genoss den Anblick einen Moment, drückte ihr zärtlich einen Kuss auf die Stirn und ließ sich zufrieden grinsend unter seine Bettdecke gleiten. Trotz aller Erschöpfung fiel es ihm schwer, gleich einzuschlafen. Nur gut, dass er nicht mehr an den USB-Stick dachte...

Kapitel 4

Eine nur zu bekannte Tonfolge riss Max aus dem Schlaf. Eine Melodie, die er partout nicht ausstehen konnte. Entspannt, aber dennoch penetrant schallte sie jeden Morgen durch das Schlafzimmer. Zum Glück schaltete Allie den Wecker, wie jeden Morgen, schnell aus und robbte sich, wie jeden Morgen, an ihren Mann heran, um ihn zärtlich zu umarmen. Ab diesem Punkt war das unangenehme Summen stets vergessen.

Allie und Max standen wie gewohnt zusammen auf und besprachen beim gemeinsamen Frühstück den Ablauf des Tages, der darauf wartete, von ihnen mit Leben gefüllt zu werden. Wie üblich machte sie sich früher auf. Ein Kuss zum Abschied und schon hatte sie das Haus verlassen. Durch das Küchenfenster sah er ihr, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, nach. Da hatte sie sich längst auf ihr Fahrrad geschwungen und war zur Schule davon geradelt.

In aller Ruhe trank Max seinen Wachmacher. Danach zückte er in aller Seelenruhe sein Handy. Sein eigener Wagen befand sich in der Werkstatt. Also öffnete er die App uRide und bestellte sich einen Fahrer. Max wartete kurz die Bestätigung ab. 15 Minuten – dann wäre er da. Das Smartphone wanderte wieder in seine Tasche.

Nachdem er sich Schuhe, Hose und Sakko angezogen hatte, zog er sich hinters Haus zurück. Er genoss es, wie der morgendliche Wind den Geruch des Waldes in Richtung Terrasse blies. Entspannt zog er sich einen der Stühle ran. Der Holzstuhl knarzte unter seinem Gewicht. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Es hatte etwas Friedfertiges, die Freiheit des Geistes auszukosten, das eigene Denken ohne Vorgaben auf eine Reise zu schicken und zu schauen, wo sie enden würde.

Doch seit er vor zehn Tagen diesen USB-Stick bekommen hatte, blieb Max leider viel zu oft an jenem schwarz-roten Stück Plastik hängen. Es beraubte ihn seiner Unabhängigkeit. Er wollte die ganze Geschichte nicht in seinen Kopf lassen. Aber es gelang ihm nicht, sich von alledem zu lösen. Dabei hatte er schon mehrfach versucht, sich selbst von der Unmöglichkeit des Berichtes zu überzeugen. Gelungen war es ihm nicht. Und dass, obwohl auch Allie daran zweifelte, dass ihn jemand derart hätte manipuliert haben können.

Dabei tat sie sich normalerweise leicht damit, ihn zu beruhigen. Es war ein verrücktes Gefühl, aber wenn er sich ihr anvertraute, schien die halbe Last bereits von seinen Schultern zu weichen. Auch deshalb hatte er den inneren Drang, ihr jedes kleine Detail mitzuteilen – wissend, dass ihr Rat der sein würde, den er brauchte.

Es war das alte Klischee: Sie kannte ihn besser als er sich selbst. Wenn er darüber nachdachte, klang es abstoßend kitschig, aber er hatte keine Zweifel, dass es wahr war. Allie wusste auf eine Art stets, mit welchen Entscheidungen er würde leben können und welche ihm zusetzen würden.

Sein Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Sein Fahrer war da. Zufrieden grinsend stellte er fest, dass Allie seine Gedanken nun doch eine Runde hatte drehen lassen, ohne dass sie an den Stick gefesselt waren. Er schob den Stuhl wieder an den Gartentisch, zog die Schiebetür zur Terrasse zu und schritt zügig durchs Haus.

Seine Augen weiteten sich, nachdem er auf der anderen Seite die Haustür hinter sich zugezogen hatte. Eine Stretch-Limousine wartete am Straßenrand. Er hatte die App schon des Öfteren benutzt, aber so ein Luxus hatte noch nie vor seiner Tür gewartet. Er bewegte sich langsam die Einfahrt hinunter, direkt auf den langen Blechkasten zu. Das polierte Schwarz blitzte in der Sonne. Die hinteren Fenster waren dunkel getönt und damit praktisch blickundurchlässig. Leicht irritiert schritt er an die Vordertür und schaute den Fahrer fragend an. Mit freundlicher Miene presste er seine Plakette an die Scheibe und deutete auf die Rückbank.

Max streckte den Daumen in die Luft und schlich wieder nach hinten. Er griff überstürzt an den heißen Türgriff und zog daran. Schreckhaft wich seine Hand zurück. Die Karosserie hatte in der morgendlichen Frühsommersonne beachtlich an Hitze absorbiert. Er begutachtete das Innere des Wagens. Gleich zwei komfortable Ledersitzbänke boten sich ihm an.

Er würde lieber in Fahrtrichtung sitzen. Die Illusion von Kontrolle vermittelte sich seinem Gehirn leichter, wenn er sah, wohin er sich bewegte. So duckte er sich hinein und zog in derselben Bewegung die Tür hinter sich zu.

Max ließ seinen Blick über die protzige Ausstattung wandern. Was für eine Verschwendung! Bevor man Geld für Limousinen, Getränkekühler und extra lange Sitzbänke ausgab, hätte man damit sicher Sinnvolleres anstellen können. Er streckte die Beine von sich. Selbst wenn ihm gegenüber jemand gesessen hätte, so hätten sich beide wohl ausufernd in die Sitze fläzen können.

Er gewöhnte sich schnell an die annehmliche Fahrt, lehnte sich zurück und sah zu, wie der Wagen durch den Wald brauste. Nach kurzer Zeit blieben die vorbeiziehenden Bäume schlagartig stehen. Max löste sich aus seiner horizontalen Sitzposition. Sie waren keine fünf Minuten unterwegs. Sie konnten unmöglich schon am Büro sein. Verwundert schaute er hinaus. Sie waren nicht einmal in der Stadt angekommen. Einen Grund für die Zwischenpause fand er nicht. Es war nichts Spektakuläres zu sehen. Weder eine Ampel noch sonstige Verkehrshindernisse versperrten ihnen den Weg.

Auf der anderen Seite der Limousine öffnete sich die Tür. Eine Frau mit mittellangen blonden Haaren in einem aufreizenden dunkelblauen Kleid stieg ein, um sich Max direkt gegenüber zu setzen. Sie zog einen betörenden Duft hinter sich her. Auf einem Hitzeschwall wurde er hinein getragen. Selbst die Klimaanlage konnte nicht verhindern, dass Max leicht ins Schwitzen geriet. Dezenter Schmuck hing über ihrem Dekolleté, lange Beine endeten in hochhackigen Schuhen und glänzende Ohrringe umrandeten ein markantes Gesicht. Feinsäuberlich gemachte Nägel rundeten ein gepflegtes Äußeres ab. Die Tür schloss wie von Geisterhand mit einem dumpfen Schlag. Blaue Augen schauten Max selbstbewusst an.

Max stellte sich der erregenden Herausforderung, den Blick zu erwidern. Sein Herz pochte. Hätte er nicht irritiert sein sollen?

„Guten Tag Mister Morrow! Ich hoffe, mein plötzlicher Überfall kommt nicht ungelegen“, sagte die Frau mit einem Mal.

Woher kannte sie seinen Namen? Der Trommelrhythmus in seiner Brust verklang mit einem Mal. Max schaute nur konsterniert drein.

Mit einem weichen Schmunzeln auf den Lippen sah sie ihn an und streckte ihm die Hand entgegen. Der Charme der Fremden lieferte sich einen erbitterten Kampf mit Max‘ perplexer Orientierungslosigkeit.

„Ich muss zugeben, ich bin schon etwas irritiert. Darf ich fragen, wer Sie sind?“, fragte er zögerlich.

„Selbstverständlich! Wie unhöflich von mir! Ich bin Doktor Emma Johnson.“ Ihr freundliches Lächeln klang ab. Schuldbewusst senkte sie ihren Kopf gen Boden. „Ich sollte vielleicht, bevor Sie sich wundern, noch anfügen, dass dieses Treffen nicht unbedingt ein Zufall ist.“ Eine Reaktion abwartend hob sie ihren Blick wieder. Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern.

Max runzelte die Stirn. Das leichte Grinsen, mit dem er sich zuvor angesteckt hatte, wich langsam aus seinem Gesicht. „Darf ich fragen, wie ich das zu verstehen habe?“

Die Frau rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Angespannt faltete sie die Hände zusammen. Es fiel ihr offensichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden.

Ihr Schweigen dauerte eine Weile an. Ungehalten platzte es aus Max heraus. „Lauern Sie mir auf?“

„Ich weiß ja selber, dass das Procedere nicht gerade einen idealen Eindruck macht. Ich würde Sie aber bitten, sich davon zu lösen! Ich bin nur hier, um Ihnen zu helfen.“

Ähnliche Worte hatte er vor Kurzem schon einmal von einem Fremden gehört. Max wollte sich nicht durch Dr. Johnsons freundliche Art weichspülen lassen. Bewusst versteinerte er seine Gesichtszüge.

„Antworten Sie bitte auf meine Frage!“ Max Ton war rau und bestimmend.

„Wir lauern Ihnen mit Sicherheit nicht auf... Es ist nur so, dass ich Ihren Fahrer ganz gut kenne. Außerdem hat mein Arbeitgeber eine Art Kooperation mit YourRide. Deshalb kannten wir Ihre Abfahrtszeit und Route.“

Max bemühte sich nicht, seine Empörung zu verbergen. „Das ist Illegal! Das ist so ziemlich die Definition von Auflauern. Die können doch nicht so ohne weiteres meine Daten an Sie weitergeben!“

„Da mein Arbeitgeber der Firma in gewisser Weise vorsteht, hat er auch die Möglichkeit, Daten einzusehen. Das ist – theoretisch – alles konform mit den Datenrechtsbestimmungen. Obwohl es schon eine Grauzone ist. Womit Sie allerdings vollkommen Recht haben ist, dass wir diese nicht dazu hätten nutzen dürfen, Sie derart zu überfallen. Ich möchte mich aufrichtig für unsere Verfahrensweise entschuldigen! Mir ist auch nicht wohl dabei, aber es wurde mir nun einmal genauso aufgetragen.“

Max pustete tief durch, um seinen verspannten Körper zumindest ein wenig aufzulockern. Sie wirkte vertrauenswürdig. So unbestreitbar dreist das Zusammentreffen zustande gekommen sein mochte, sollte er seine Verärgerung darüber vermutlich nicht an Dr. Johnson auslassen.

„Sie machen ja nur Ihren Job“, befand er versöhnlich, bemühte sich jedoch, seine Verstimmung weiter offen zur Schau zu stellen. „Könnten Sie mir denn eventuell verraten, wieso wir uns hier auf diese Weise treffen? Wenn es kein Zufall ist, nehme ich an, es gibt einen Grund...“

Max schwante, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde, und seine Ahnung missfiel ihm. Der schwarz-rote USB-Stick und der unheimliche Glatzkopf geisterten durch den den Innenraum der Limousine.

„Wir möchten Ihnen helfen“, wiederholte sich Johnson.