Start der Insel-Krimi-Reihe um Ermittler Visser: »Norderney-Flucht« und »Norderney-Rache« (2in1-Bundle) - Manfred Reuter - E-Book

Start der Insel-Krimi-Reihe um Ermittler Visser: »Norderney-Flucht« und »Norderney-Rache« (2in1-Bundle) E-Book

Manfred Reuter

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Beschreibung

Band 1 und 2 der Insel-Krimi-Reihe im Bundle Norderney-Flucht: Endzeitstimmung auf der Insel – Gent Visser, Band 2 An einem Sonntagabend im Mai erreicht die letzte Fähre des Tages die Nordseeinsel Norderney. Doch bei der Ankunft bietet sich den Passagieren ein verstörendes Bild: Die Insel scheint menschenleer, alle Kommunikationsverbindungen sind unterbrochen. Zurückgelassene Gegenstände deuten auf eine überstürzte Flucht hin. Oberkommissar Gent Visser übernimmt die Führung und macht sich mit den verbliebenen Urlaubern auf die Suche nach Antworten. Als sie auf eine Leiche stoßen, ist klar: Einer von ihnen ist ein Mörder ... Norderney im Ausnahmezustand. Vor dem Hintergrund eines apokalyptischen Szenarios entfaltet sich in diesem ungewöhnlichen Ostfriesland-Krimi ein hochspannender Fall voller überraschender Wendungen. Norderney-Rache: Ein fesselnder Insel-Krimi voller düsterer Geheimnisse und unerwarteter Wendungen – Gent Visser, Band 3 An einem stürmischen Abend auf Norderney kehrt eine wohlhabende Ferienhausbesitzerin nicht von ihrer Yogastunde zurück. Ist sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen? Während Oberkommissar Gent Visser die Insel von einer Hundertschaft der Polizei absuchen lässt, beginnt für die Frau ein unvorstellbares Martyrium. Wenige Tage später wird eine Leiche am Strand gefunden – doch es ist nicht die Entführte. Die Insel steht unter Schock. Norderney-Rachenimmt die Leserinnen und Leser mit zu einer ebenso mörderischen wie unheimlichen Reise auf die sonst so idyllische Nordseeinsel. Fesselnd bis zur letzten Seite.

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Seitenzahl: 708

Veröffentlichungsjahr: 2025

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© 2025 Emons Verlag GmbHAlle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine DerrerUmschlagmotiv: neypix/hotocase.com/ts-fotografik.deUmschlaggestaltung: Tobias DoetscheBook-Erstellung: Bookwire GmbHISBN 978-3-98707-346-5
Insel KrimiOriginalausgabe                
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Manfred Reuter, Jahrgang 1957, stammt aus der Eifel und arbeitet als Journalist in Ostfriesland. Er lebt mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in der Nähe von Aurich. »Norderney tut mörderisch gut. Diese Insel ist ein Meilenstein in meinem Leben.«www.manfredreuter.dewww.facebook.com/norderneykrimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: neypix Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-299-9 Insel Krimi Originalausgabe

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Für meine Kinder Lena, Nils und Lars

 

Es ist die Hoffnung,

die den schiffbrüchigen Matrosen

mitten im Meer veranlasst,

mit seinen Armen zu rudern

obwohl kein Land in Sicht ist.

Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.), römischer Schriftsteller

EINS

Schon seit Stunden entlud sich die Stimmung in fiebriger Freude, und das energiegeladene Gejohle Tausender Kehlen wollte und wollte nicht erlahmen. Dabei kesselte die Hitze nicht nur das Stadion, sondern die ganze Stadt erbarmungslos ein. Schwüler Dunst, gelb und undurchdringlich, hatte sich wie eine bleierne Haube über die Kölner Bucht gelegt. Und obwohl es erst Anfang Mai war, stand ein kühler, Sauerstoff spendender Regenschauer nicht nur auf den Wunschlisten der älteren und kreislaufkranken Menschen ganz oben. Was würde erst der Sommer bringen?

Eine etwa zehnköpfige Horde ebenso gut gelaunter wie erwartungsfroher Fußballfans in Rot und Weiß nahm eiligen Schrittes Kurs auf den Eingang zur Südtribüne, als Kristina Jansen und Tim Knipprath das Kölner Stadiongelände aus Richtung Junkersdorfer Straße betraten. Im Sog der anderen Gäste waren sie wie immer über die große Wiese gelaufen, nachdem sie ihr Auto auf der schmalen Grundstückseinfahrt eines befreundeten Paares am Salzburger Weg abgestellt hatten. Tim nahm Kristina nun fester an die Hand und zog sie näher an sich. Der Beschützerinstinkt funktionierte. Kristina quittierte die Geste mit einem dankbaren Lächeln.

»Nie mehr zweite Liga«, stieß einer der bereits arg alkoholisierten Fans mit heiserer Stimme hervor. Der pausbackige Blondschopf mit dem hochroten Kopf, den glasigen Augen und den Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe hatte die zwanzig vermutlich gerade eben überschritten. Es bereitete ihm einiges an Mühe, seinen Fahnen- und Bierdosen schwenkenden Kumpels zu folgen. In der blauen Jogginghose, die vorwiegend aus Polyamid zu bestehen schien und in der Abendsonne glänzte wie eine Speckschwarte, rieben sich sirrend die wippenden Fettpolster seiner voluminösen Oberschenkel; fehlte nur noch, dass sie Funken sprühten. Sein massiger Oberkörper war in ein Trikot des 1. FC Köln gepresst, das sich aufgrund der körperlichen Anstrengung insbesondere an Brust und Rücken sowie im Achselbereich bedrohlich dunkel verfärbt hatte. Doch nicht nur deshalb zählte die Vereins-Devotionalie nicht mehr zu den frischesten ihrer Art. Während auf der Brust der Werbeschriftzug »Pepsi« prangte, wies die rückseitige Schulterpartie den Namen »Polster« mit der Rückennummer Neun aus. Ja, das waren noch Zeiten, dachte Tim, der den österreichischen Stürmer Toni Polster nur vom Hörensagen kannte und noch ein Kind gewesen war, als dieser im damaligen Müngersdorfer Stadion für die Geißböcke auf Torjagd ging – in der ersten Bundesliga, wohlgemerkt. Ja, in der Tat: Die Zeiten hatten sich geändert.

Heute Abend ging es einmal mehr darum, mit einem Sieg gegen den MSV Duisburg vielleicht doch noch den Wiederaufstieg in das Bundesliga-Oberhaus zu schaffen. So würde dieser Spieltag für den FC zu einem – wenn auch kleinen – historischen Ereignis avancieren. Für Kristina und Tim war dies schon längst geschehen. Ihr erster gemeinsamer Urlaubstag hatte sie am Morgen zu einem Juwelier in der Schildergasse geführt, um ihre Trauringe abzuholen. Mit glänzenden Augen hatten sie die schlicht gehaltenen gelbgoldenen Schmuckstücke anprobiert, die ihr bevorstehendes Treueversprechen auf der Nordseeinsel Norderney besiegeln würden. Morgen in einer Woche sollte es so weit sein. Für das große Fest war längst alles vorbereitet: Die Standesbeamtin würde sie im historischen Badekarren vor der romantischen Kulisse des Westbadestrands in den Stand der Ehe berufen. Im direkten Anschluss würde die kleine, aber feine Hochzeitsgesellschaft aus der Domstadt im Strandhotel Georgshöhe das Festessen genießen. Und um Punkt achtzehn Uhr sollte schließlich der Fotograf am malerischen Spülsaum der Weißen Düne die Hochzeitsfotos dieses unvergesslichen Tages aufnehmen. Sogar die Wetterprognose verhieß nur Gutes: siebzehn Grad Lufttemperatur, wolkenfreier Himmel und eine milde Nordseebrise. Was soll da noch schiefgehen?, dachte Kristina.

Welch absurde Gedanken sich zur gleichen Zeit in den Köpfen anderer Menschen abspielen, und was Todesangst und blanker Horror wirklich bedeuten, ahnte die junge Frau zu diesem Zeitpunkt nicht.

Von Karl-Heinz Zöllner hatten sie die Karten für die VIP-Loge erhalten. Kristinas Stiefvater war von Geburt an Mitglied im Verein und gönnte sich seit vielen Jahren die Bequemlichkeiten und Vorzüge auf der Westtribüne. »Solang isch mir dat leisten kann, tue isch dat auch. Man lebt schließlich nur einmal«, pflegte er zu sagen und stieß auf der Prominententribüne auch gerne mal mit einem Geschäftsfreund oder Bekannten an, bevor er und Kristinas Mutter Heike auf den opulent gepolsterten Klappsesseln Platz nahmen und sich vom Spiel ihrer Mannschaft verzaubern ließen – oder auch nicht. Heute hatte Zöllner geschäftlich zu tun, da lag es nahe, die Karten an das Brautpaar weiterzureichen. Denn wie Zöllner waren auch Kristina und Tim leidenschaftliche Fans des, wie sie immer wieder betonten, einzig wahren Traditionsvereins vom Rhein.

Als Kristina und Tim die VIP-Lounge betraten, stand Malte Richter breitbeinig und seine Worte mit weit ausholenden Armbewegungen untermalend am Tresen. Die goldblond gelockten Haare bedeckten seine Ohren nahezu komplett. Die blauen Augen zuckten nervös. Seiner Gestik nach unterhielt er sich mit seinem etwas älteren Gesprächspartner über ein Thema von existenzieller Bedeutung, zumindest konnte man diesen Eindruck gewinnen, wenn man die eingefrorenen Gesichtszüge, die geballten Fäuste und die angespannten Halssehnen entsprechend interpretierte. Sein fischlippiger Mund bewegte sich scheinbar unaufhörlich.

Bis zum Anstoß war noch eine halbe Stunde Zeit.

Während Richter sein Gegenüber weiter zutextete, genossen Kristina und Tim das Ambiente, probierten von den Kanapees und nippten am Prosecco. Eben war Kult-Karnevalist Guido Cantz an ihnen vorbeigelaufen, ein paar Tische weiter unterhielt sich Wolfgang Overath mit einer älteren Dame, die sie nicht kannten. Dem Aussehen nach musste sie allerdings ebenfalls dem gehobenen kölschen Adel angehören. Darauf ließ nicht nur das auffallend figurbetonte, knielange Kleid schließen, das alles andere als von der Stange kam, sondern auch der unverfälschte Dialekt. Beides wurde begleitet vom süßen Duft des mit äußerstem Nachdruck aufgetragenen Parfums aus dem Hause Chanel.

»Ich liebe dich«, hauchte Tim Kristina ins Ohr. Dabei strich er mit der Hand ihr langes blond glänzendes Haar zur Seite und küsste sie sanft auf den Mund. Kristina schmiegte sich an ihn, während er seine auffallend breit eingefasste Brille zurechtrückte und den Blick über Tische und Stühle schweifen ließ.

Malte Richter redete immer noch auf den Anzugträger mit den dunklen Haaren und der Höckernase ein. Er schien im Laufe des hitzigen Gesprächs einen weiteren Knopf seines blütenweißen Hemdes mit blau abgesetztem Stehkragen geöffnet zu haben. Zumindest quollen nun Heerscharen graubrauner Brusthaare daraus hervor, in denen sich ein silberfarbenes Amulett von der Größe eines Fünf-Mark-Stücks regelrecht zu verlieren drohte. Beide Männer hielten Kölschgläser in der Hand, was der Intensität der Unterredung jedoch keinen Abbruch tat.

»Siehst du den Wichtigtuer da?«, fragte Tim.

»Ja. Ich kenne den sogar«, antwortete Kristina. Tim schaute fragend und fuhr sich mit der Hand über den mit Anfang dreißig bereits bemerkenswert hohen Haaransatz. »Mein Stiefvater hat ihn mir mal vorgestellt. Ich weiß nicht mehr, wo das war. Der Typ kommt jedenfalls auch aus der Baubranche. Richter heißt der. Genau. Malte Richter.«

»Sieht aus wie so ein Stehaufmännchen. Mal insolvent, mal nicht insolvent, und dann zur Abwechslung nur ein bisschen insolvent.«

Kristina lächelte. Ihr gefiel Tims flapsiger, intelligenter Humor. »Ja, das glaube ich auch. Er scheint so ziemlich jeden zu kennen – und umgekehrt. Ein bunter Vogel.«

Tim nahm einen Schluck von seinem Prosecco und drückte Kristina einen weiteren Kuss auf die Stirn. Dann schaute er wieder zu Richter, legte ein breites Grinsen auf und sagte: »So, wie der sich gibt, glaubt er jedenfalls, mindestens so wichtig zu sein wie das komplette Clubpräsidium, die Torlatten, die Werbebanden und die Elfmeterpunkte zusammengenommen.«

»Sei nicht so frech, Tim«, entgegnete Kristina, die ein verschmitztes Lachen trotzdem nicht unterdrücken konnte.

»Kennst du denn auch den Typ, auf den dieser Richter pausenlos einquatscht?«, fragte Tim. »Der sieht aus, als würde er den Ehrenfelder Mallorca-Toaster nur im absoluten Notfall verlassen.«

»Tim, bitte. Wenn dich einer hört. Die schmeißen uns raus.«

»Keine Panik, mein Schatz. Sag mir lieber, was das für einer ist. Schau dir mal den Pornobalken unter dem Riechkolben an.«

Kristina stupste ihren Bräutigam in die Seite. »Also echt, Tim, hör endlich mit diesen platten Bemerkungen auf. Es heißt nicht Pornobalken, sondern Schnurrbart. Und Riechkolben ist auch nicht gerade nett.« Sie schaute Tim in die funkelnden Augen, hielt sich die Hand vor den Mund und quiekte vor Lachen. Als sie sich gefangen hatte, sagte sie: »Kann gut sein, dass mein Stiefvater mir den auch mal vorgestellt hat. Ich weiß allerdings nicht mehr, wie er heißt. Nur dass er wohl auch irgendein Unternehmer ist. Wegen der dunklen Haut, der schwarzen Haare und dem schwarzen Oberlippenbart nennen sie ihn den ›Türken‹.«

Tim brach in schallendes Gelächter aus. Sie stellten ihre Sektgläser auf einem der Stehtische ab, Tim nahm Kristina an der Hand, und sie gingen raus auf die Tribüne. Der Schiedsrichter hatte das Spiel angepfiffen.

ZWEI

Auf dem Hafengelände von Norddeich gab das ebenso vertraute wie teils ohrenbetäubende Surren und Klackern der Rollkoffer den Ton an. Dabei waren es nur an die siebzig bis achtzig Touristen, die sich an diesem Sonntag um kurz nach achtzehn Uhr über die Fußgängerbrücke auf die Fähre begaben. Die »Frisia IV«, das Paradeschiff aus der »Weißen Flotte« der Reederei, die praktisch seit Menschengedenken den Inselverkehr zwischen Norddeich und Norderney sowie nach Juist sicherstellte, ragte stolz aus dem Hafenbecken hervor. Der Stahlkoloss glänzte erhaben in der frühen Abendsonne. Auf dem Autodeck wiesen zwei Matrosen und der Steuermann die Fahrzeuge ein. Einige Urlauber reisten mit dem Wagen an, um sich auf der Insel das Umsteigen in Taxen oder Busse zu ersparen. Andere Fahrgäste kamen mit dem Regio-Zug aus Hannover direkt auf der Mole an, wieder andere mit dem Taxi: Insulaner, die entweder von einem kleinen Wochenendausflug oder von einer Geschäftsreise zurückkehrten.

»He, Michael, alte Keule. Da bist du ja. Pünktlich wie einer, der vor Sehnsucht nach der Insel am liebsten auf der Stelle losschwimmen würde.« In gewohnt tiefer Tonlage begrüßte Oberkommissar Gent Visser seinen Kollegen Michael Voss. Sie umarmten sich freundschaftlich und verpassten sich gegenseitig einen Klaps auf die Schulter. Voss, auch heute wieder in Jeans, mit bis zur Armbeuge aufgekrempelten Hemdsärmeln und braun-weiß kariertem Halstuch unterwegs, hatte vor dem Reederei-Gebäude auf Visser gewartet, so, wie sie es vereinbart hatten. Bereits seit zehn Jahren kam Voss alle zwei Jahre für etliche Wochen als sogenannter Inselverstärker der Polizei Niedersachsen nach Norderney. Das beschauliche, knapp sechstausend Einwohner zählende Eiland verwandelte sich im Sommer zu einer bis zu fünfzigtausend Menschen zählenden, pulsierenden Stadt. Da hatte alles zu funktionieren, und auch Ordnung und Sicherheit mussten gewährleistet sein.

Voss tat seinen Dienst normalerweise bei der Polizei in Wolfsburg, und wie sein Norderneyer Kollege stand auch er im Range eines Kriminaloberkommissars. Im Laufe der Jahre waren die beiden zu echten Freunden geworden. »ViVo«, wie man das polizeiliche Sommergespann in Kollegenkreisen auf der Insel scherzhaft nannte, verband nicht nur die Arbeit, sondern auch die grundlegende Einstellung zum Leben; eine angenehme Seelenverwandtschaft also.

Um exakt achtzehn Uhr fünfzehn ließen die in flatternde Blaumänner gekleideten Matrosen die mächtige Fahrzeugbrücke hochfahren, klappten die Fußgängerbrücke weg und zogen die an klobigen Tauen befestigten Stahlbolzen quietschend aus den Halterungen des Hafenbeckens. Es war praktisch windstill und ungewöhnlich leise, als sich die Fähre kurz darauf majestätisch langsam in Bewegung setzte, fast so, als würde sie über das Wasser schweben.

Der Blick auf Norderney schien unwirklich. Über der Insel lag wie eine Glocke trüber, gelbgrauer Dunst. Aus der lediglich vier Kilometer messenden Entfernung waren nur die unteren Konturen der Insel zu erkennen, während der Blick auf das westlich gelegene Juist nahezu befremdlich frei und ungetrübt war.

Gent Visser und Michael Voss nahmen mit rund fünfundzwanzig weiteren Passagieren auf dem Sonnendeck Platz, darunter auch Kristina Jansen und Tim Knipprath. Das Brautpaar saß am Bug des Schiffes auf einer der roten Kunststoffbänke. Kristinas Mutter Heike und ihr Stiefvater Karl-Heinz waren auf einen Kaffee in den Salon gegangen, ebenso die Trauzeugen Elvira und Klaus sowie Kristinas beste Freundin Silke und Tims Schwester Katrin mit dem kleinen dreijährigen Filip. Kristina schmiegte sich an Tims Schulter, das seidig glänzende, glatte Haar hatte sie aus der Stirn gestrichen. Mit geschlossenen Augen wandte sie ihr Gesicht der Abendsonne zu, die in knapp drei Stunden – heute wie auf Bestellung mit dem Tidehochwasser – sanft im Meer versinken würde.

Während Gent Visser vom Wochenendbesuch bei seinem kranken Vater in Osnabrück erzählte und seinem Freund in euphorischen Worten erklärte, wie sehr er sich auf die bevorstehende Silberhochzeit mit seiner Frauke freue, standen Tim und Kristina wenig später gut gelaunt von der Bank auf, um das Schiff ein wenig näher zu inspizieren.

Auf dem Autodeck waren lediglich zehn bis zwölf Fahrzeuge abgestellt, allesamt äußerst gepflegte Karossen aus der gehobenen Mittelklasse. Da fiel der breite graublaue Lieferwagen des Inseltischlers schon auf, den Kristina und Tim gerade passierten, als eine heftige Windböe wie aus heiterem Himmel das Halstuch der Braut zur Seite flattern ließ und Tim beinahe die Brille von der Nase geweht hätte. Gleichzeitig klatschte eine mächtige Welle von Steuerbord gegen die Fähre. Tim und Kristina schauten sich fragend an, für einen winzigen Moment war ihr Dauerlächeln einem erschrockenen Augenaufschlag gewichen. Ein einzelner Windstoß von dieser Qualität und dazu dieser eine, heftige Wellenschlag – ja, das war schon recht merkwürdig.

Ein Blick in den Transporter des Tischlers brachte die gute Laune nicht zurück.

»Was ist das?«, fragte Kristina und öffnete die blauen Augen weit. Sie hatte die beiden Holzkisten in dem Handwerkerfahrzeug zunächst für überdimensionierte Werkzeugkoffer oder irgendwelche schlichten Möbelstücke gehalten. Doch bei genauem Hinschauen entpuppte sich der Inhalt als überaus makabere Überraschung. Es handelte sich nämlich um zwei massige, dunkel lackierte Särge, die auf dem Weg zur Insel waren.

»Särge, mein Schatz. Särge. Eine durchaus schauerliche Fracht«, antwortete Tim, als er genauer hingesehen hatte und nicht nur Kristina, sondern auch ihm die Gänsehaut auf die Arme und in den Nacken getreten war.

Wie gut, dass Tamme Schweers die Verunsicherung in den Blicken der Gäste bemerkte und gleich für Aufklärung sorgen konnte.

»Keine Angst«, rief er mit klarer, aber auffallend hoher Stimme. »Hier geht alles mit rechten Dingen zu. Nur brauchen wir hin und wieder Nachschub. In den elementaren Dingen des Lebens und des Todes unterscheiden wir Insulaner uns nämlich in nichts von den Menschen auf dem Festland.« Er trat näher an sie heran. »Gestern ist auf Norderney ein alter Herr gestorben, damit war der letzte Sarg aus dem Lager. Und immer, wenn das eintritt, mache ich mich unverzüglich auf den Weg zu einem Kollegen aufs Festland, wo ich Nachschub besorge, um diesen bei nächster Gelegenheit dem Bestatter zu übergeben. Auch das gehört zum insularen Tischlerleben.« Tamme legte die Stirn in Falten. Man könne außerdem nie wissen, wann es einen selbst erwische, ergänzte er und zuckte mit den buschigen Augenbrauen. Das eine oder andere Mal habe er mit Blick auf die Särge und deren feine Verarbeitung sogar schon darüber nachgedacht, dass womöglich er es sein könne, der – wenn auch plötzlich und unerwartet – als Nächster in einen dieser Holzanzüge gesteckt werden müsse. Er setzte ein breites Grinsen auf. Dann richtete Tamme den Blick mit weit geöffneten Augen und fest zugekniffenem Mund geradeaus in Richtung Insel, um nüchtern die kategorische Feststellung zu treffen: »Da steckt man halt nicht drin.«

Während der Tischlermeister mit seinen einfachen Worten noch ein wenig mehr über Vorhandenes und Vergängliches philosophierte, strahlte er Braut und Bräutigam freundlich an.

»Ach, so läuft das«, reagierte Tim ein wenig verhalten, während Kristina nach wie vor die Worte fehlten.

»Also«, rief Tamme, rückte seine Brille gerade und nahm seine Fotokamera mit dem riesigen Objektiv wieder in Anschlag. »Sie können unbesorgt sein. Alles normal und in Ordnung. Auf der Insel werde ich die Kisten schnell verstecken, Sie werden sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Überfahrt und einen angenehmen Aufenthalt auf Norderney.«

»Danke«, entgegnete Kristina, die ihr Lächeln zurückgewonnen hatte. Dann zog sie Tim am Arm, und sie machten sich auf den Weg in den Salon.

Oben auf dem Sonnendeck war es inzwischen deutlich stiller als bei der Abfahrt. Die meisten Passagiere schwiegen, und die, die sich unterhielten, taten dies in leisem Flüsterton. Je näher die Fähre Norderney kam, desto tiefer kehrten die Fahrgäste in sich, insbesondere die Urlauber. Sie beobachteten die langen, heute aber extrem flachen Wellen, die die »Frisia IV« in der Fahrrinne erzeugte, und sie blickten verträumt und in wohliger Erwartung auf die Insel, deren Häuser allmählich Kontur gewannen, nachdem sich die mysteriöse Dunstglocke nahezu komplett aufgelöst hatte.

Michael Voss hatte es nach der ersten angeregten Unterhaltung mit Gent Visser vorgezogen, sich die Beine ein wenig zu vertreten. Visser dagegen wollte die letzten rund zwanzig Minuten der Überfahrt in vollen Zügen genießen, denn noch nie in seinem Leben hatte er die sonst oft so wilde Nordsee derart sanft erlebt, noch nie hatte ihm die Stille einen derartigen Schauer über den Rücken laufen lassen, und noch nie war selbst der Fahrtwind so wenig spürbar gewesen wie heute. Sie hatten mittlerweile Juist passiert. Visser richtete den Blick an der Marienhöhe vorbei in Richtung Hafenspitze. Keine kreuzenden Fischkutter, keine Jachten und auch keine Segeljollen, die bei diesem traumhaften Wetter normalerweise über das Meer gehüpft wären und deren Skipper den Passagieren auf der Fähre freundlich zugewinkt hätten. Soweit Visser es überschauen konnte, waren auch auf der Promenade keine Menschen zu sehen. Und am Westbadestrand, wo sonst um diese Zeit noch ein paar Väter mit ihren Kindern Drachen in den Wind stellten, junge Feriengäste sich vor traumhafter Kulisse in die Fluten stürzten und andere Touristen das fast klischeehafte Ambiente für einen ausgedehnten Abendspaziergang nutzten, war die Insel wie leergefegt. Visser, dessen Augenlider von Sekunde zu Sekunde schwerer wurden, wischte sich mit der kräftigen Hand durch den grau-schwarzen Dreitagebart und grinste milde in sich hinein. Sicher sind die Norderneyer und ihre Gäste heute alle auf Freundschaftsbesuch nach Juist gefahren, dachte er. Sein Kinn senkte sich gemächlich auf die Brust. Die Abendsonne wärmte sein breites Genick. Mit einem wohligen, ausgedehnten Schnarcher schlief Gent Visser ein.

DREI

Es dauerte nur wenige Minuten, da hatten Kristina und Tim ihre gute Laune wiedergefunden. Sie flanierten gedankenverloren über das Autodeck, als Tim plötzlich stehen blieb und stur geradeaus schaute. »Sag mal, Tinchen. Ist das nicht der Typ, den wir am Freitag beim FC in der VIP-Lounge gesehen haben?«

Kristina löste sich von Tims Hand und verschränkte ungehalten die Arme vor der Brust. Man merkte ihr an, dass sie keine Lust auf weitere unliebsame Überraschungen hatte.

»Wo? Wen meinst du?«, fragte sie und verzog den Mund.

»Nicht böse sein, Süße. Ich kann ja auch nichts dafür. Da drüben. Der Typ neben dem fetten Audi. Das ist doch dieser Markus Richter oder wie der heißt. Was macht der denn hier?«

Kristina hatte den Mann und seinen wie geleckt aussehenden S6 inzwischen ebenfalls entdeckt. Richter öffnete gerade die Fahrertür, zupfte mit der linken Hand an seinem Hosenschritt und hielt mit der rechten sein Handy, in das er ohne Unterbrechung hineinsprach. Er trug eine dunkelgraue Anzughose und ein bordeauxfarbenes Hemd, auch heute weit geöffnet. Die aus dem Textilstück regelrecht herausschäumende Brustbehaarung musste er am Morgen eingeölt haben; zumindest schien es so, denn sie reflektierte die Strahlen der Sonne wie die Haut einer Ölsardine.

»Ja, das ist er. Richter. Aber der heißt nicht Markus, sondern Malte. Was der hier macht, ist mir allerdings vollkommen egal. Und wenn es krumme Geschäfte sein sollten. Ich weiß nur, dass ich heiraten und glücklich sein möchte«, sagte Kristina. »Davon werde ich mich von niemandem abbringen lassen. Auch nicht von Herrn Richter. Also vergessen wir ihn mal recht flott und denken ab jetzt nur noch an schöne Dinge.«

»So soll es sein«, erwiderte Tim. Er streichelte ihr mit dem Zeigefinger zärtlich über die Wange und ergänzte: »So, meine kleine Inselkönigin. Nun entführe ich Sie in den Salon zu einem Prosecco. Was halten Sie davon?«

Kristina lächelte und hakte sich bei Tim ein.

Im Salon angekommen, war es jedoch schon zu spät, um eine Bestellung aufzugeben. Die Stewards und Stewardessen hatten längst kassiert, und von der Brücke meldete sich über Lautsprecher Kapitän Jens Hilgersen: »Verehrte Fahrgäste. In wenigen Minuten erreichen wir Norderney. Wir bitten die Autofahrer zwecks Fahrscheinkontrolle zu ihren Fahrzeugen. Die anderen Passagiere bitten wir, das Schiff über die Brücke am Salon zu verlassen. Wir verabschieden uns und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt auf Norderney.«

In die Ansage des Kapitäns mischten sich augenblicklich die üblichen Geräusche von Aufbruchstimmung. Ein paar Kinder liefen aufgeregt umher, vorne an der Theke nahm ein etwas verschlafen dreinblickender pechschwarzer Border Collie noch rasch einen Schluck aus dem Wassernapf. Ein Rentnerehepaar half sich gegenseitig in die Sommerblousons, eine junge Frau wischte beim Aufstehen mit der umgehängten Handtasche ein Bierglas vom Tisch. Auch Kristina und Tim machten sich auf den Weg zurück zu ihrem BMW. Auf der Treppe zwischen Salon und Autodeck touchierte Kristina einen Mann.

»’tschuldigung«, sagte der dunkelhaarige Anzugträger mit breitem Oberlippenbart.

»Macht nichts, kein Problem«, gab Kristina lächelnd zurück, ohne ihm größere Beachtung zu schenken. »Es ist nichts passiert.« Dann lief sie weiter hinter Tim die Treppe rauf.

Wie immer hatte der Kapitän seine Durchsage mit einem großen zeitlichen Puffer vorgenommen. Die »Frisia IV« passierte gerade mal eben den Strandabschnitt in Höhe des Hochseilgartens, als Stefan Hergersberg auf dem Sonnendeck den Verschluss einer Bierdose aufriss, dass es zischte.

»Einer geht noch«, rief er seinem Kumpel Karl zu, der neben ihm saß. Der ein wenig kurz geratene Kegelbruder, der wohl aufgrund seiner Körperfülle »Jumbo« genannt wurde, griff nun ebenfalls in den Proviantkorb, öffnete seinerseits eine Bierdose und nahm einen großen Schluck. Da wollte sich Herbert Walz nicht lumpen lassen. Auch er langte noch einmal zu, trank gierig und quittierte die Erfrischung mit einem unüberhörbaren Ventilationsgeräusch über die oberen Atemwege, was ihm einen bösen Blick seiner Frau Trudi einbrachte.

Im fünften Jahr reisten Stefan, Jumbo und Herbert nun schon mit ihren Frauen von Dortmund nach Norderney, um dort eine Woche Party zu machen. Ausgangspunkt war ihr kleiner Kegelklub, mit dessen Hilfe sie die finanzielle Grundlage legten; nicht nur für eine gediegene Unterkunft, sondern auch für reichlich Gaumenschmaus, vor allem flüssiger Art.

Während Jumbo seine Bierdose nach dem zweiten kräftigen Schluck mit erstaunlicher Routine auf dem Oberbauch abstellte und dort problemlos ausbalancierte, fragte seine Lebensgefährtin Klara: »Was sind denn das für schmale Türme da hinten? Und was soll der weiße Rauch?«

»Mein Schatz, die einen sagen, das seien die Türme vom Blockheizkraftwerk.«

»Und was sagen die anderen?«

»Dass die Norderneyer es nun endgültig geschafft haben. Nun haben sie nicht nur ihren eigenen Schinken, sondern auch ihren eigenen Papst.«

Auf der Kapitänsbrücke wich die gute Laune derweil kompletter Ratlosigkeit. Steuermann Holger Rausch, ostfriesischer Seemann mit langjähriger Erfahrung, hatte bereits seit ein paar Minuten Ausschau gehalten und nicht glauben wollen, was er sah. Besser gesagt: was er nicht sah. Keine einzige Menschenseele im kompletten Hafenbereich zu erblicken, war ihm derart grotesk erschienen, dass er zunächst nicht gewagt hatte, Jens Hilgersen davon zu unterrichten. Jetzt, da Hilgersen seinerseits mitteilte, der Funkkontakt sowohl zur Insel als auch zum Festland sei abgebrochen, stemmte er die Hände in die Hüften und ging mit weichen Knien auf den Kapitän zu. »Jens, hier stimmt was nicht. Irgendetwas läuft schief. Und zwar ganz gewaltig.«

Hilgersen legte die Hand an die Stirn und ließ den Blick schweifen. »Holger, im Hafen ist kein Mensch. Schau dir das an. Drei Taxen, zwei mit geöffneten Fahrertüren. Und da vorne der Bus. Siehst du das?«

Rausch wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er hatte das Gefühl, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. »Ich habe das schon vor ein paar Minuten gesehen. Überall herumliegende Koffer, und niemand vom Norderneyer Servicepersonal vor Ort. Keine Touristen. Das ist vollkommen unnormal.«

Hilgersen versuchte erneut, Funkkontakt aufzunehmen. »Frisia IV, hier Frisia IV. Leute, macht uns keinen Kummer. Wo seid ihr? Wir haben keine Lust auf Geisterspielchen. Wir wollen Feierabend machen. Meldet euch endlich.«

Hilgersens Ruf verhallte ungehört. Kanal 16 war tot. Kein Muckser. Er suchte nach anderen Kanälen, doch ohne Erfolg. Noch nicht einmal ein Rauschen, das in dieser Situation wie ein Lebenszeichen gewirkt hätte, war zu vernehmen.

Rausch trat noch einen Schritt auf den Kapitän zu, sein Mobiltelefon in der Hand. »He, Jens. Auch das Handy funktioniert nicht. Kein Kontakt. Totenstille. Es kommt nichts an, und es geht nichts raus.«

Ein heftiges Klopfen am Fenster riss die beiden aus ihrer Schockstarre. Sie schauten auf. Zusammen mit einem Matrosen war Heidi Hansen auf der Brücke erschienen. Hilgersen und Rausch kannten Heidi schon seit vielen Jahren. Sie arbeitete auf Norderney als Grundschullehrerin und war sehr beliebt. Auch in der Kommunalpolitik hatte sie sich einen Namen als geradlinige und seriöse Ratsfrau gemacht, die selbst in kritischen Situationen stets die Ruhe behielt. Ihr Erscheinen hier bedeutete, dass Hilgersen und Rausch sich nichts einbildeten und auch nicht von einem bösen Traum fehlgeleitet wurden, das wurde ihnen in diesem Moment klar. Die bittere Realität hatte sie fest im Griff.

»Hier stimmt was nicht«, rief Heidi. »Schaut euch das an.« Sie zeigte auf den Platz vor dem Nationalpark-Haus, wo ein Personenwagen mit Norder Kennzeichen gegen einen Mauervorsprung geprallt war. Das musste mit hoher Geschwindigkeit geschehen sein. Mehrere Fahrräder hatte das Auto mitgeschleppt.

»Da laufen Öl und Benzin aus«, sagte Rausch. »Der Unfall kann erst vor wenigen Minuten passiert sein.«

Heidi ruderte mit den Armen, als wollte sie das von Holger Rausch Gesagte ins Reich des Absurden verbannen. »Jungs. Schaut doch mal genau hin. Zwischen Mauer und Frontschürze liegt ein Mensch. Ich müsste mich sehr irren, wenn es nicht so wäre. Und was da unter dem Auto abläuft, ist nicht nur Öl und Benzin, sondern auch …«

»Blut«, hauchte Rausch und blickte Hilgersen mit unübersehbarem Entsetzen in den Augen an.

Für Hilgersen, Rausch und die Mannschaft galt nun schlicht und ergreifend, die Ruhe zu bewahren, soweit dies angesichts der unfassbaren Situation überhaupt möglich war. Um Zeit zu gewinnen, drehte Hilgersen zunächst eine kleine Ehrenrunde an der Wattseite der Insel. Gleichzeitig teilte er den Passagieren über Lautsprecher mit, dass es an Land ein kleines technisches Problem mit der Fußgängerbrücke gebe – ein Defekt, der in wenigen Minuten behoben sei. Er riet ihnen, sich bis zum Anlegen der Fähre vielleicht noch mit einem Getränk zu versorgen oder an Deck den in Kürze beginnenden Sonnenuntergang zu genießen. Dann gab er Rausch den Befehl, die Crew zusammenzutrommeln, und wies die Besatzung an, falls sich die Lage nicht noch grundlegend und zum Positiven ändern sollte, in rund zwanzig Minuten alle Passagiere im Salon zu versammeln. Er wolle persönlich zu den Fahrgästen sprechen und detaillierte Informationen und Anweisungen über den Fortgang der Dinge geben. Das Servicepersonal beauftragte er, den Fahrgästen ab sofort Freigetränke anzubieten, um die Stimmung aufrecht und kontrollierbar zu halten.

Nachdem es der Mannschaft auch nach Ablauf der zwanzig Minuten nicht gelungen war, Kontakt zur Insel oder zum Festland herzustellen, manövrierte Hilgersen den Stahlkoloss unter dem Rauschen der vier mächtigen Dieselmotoren souverän an den Anleger. Die Maschinen liefen weiter, während in Ermangelung des Hafenpersonals ein Matrose über die Reling kletterte und mit einem mutigen Satz an Land sprang. Dort lag die mobile Fußgängerbrücke, die für den Einstieg in spezielle Schiffe und Boote der Küstenschutzbehörde sowie für den Notfall vorgesehen war.

In Hilgersens Gesicht hatten sich inzwischen rote Flecken ausgebreitet, ein deutliches Zeichen für hochgradigen Stress. Ihm war klar, dass er hier vor der nicht nur beruflich größten Herausforderung seines Lebens stand. Mit zusammengepressten Lippen, kontrolliert durch die Nase atmend und mit durchgedrücktem Rückgrat ging sein Blick noch einmal kurz hinüber zur gespenstischen Kulisse des Hafengeländes. Dabei gestand er sich ein, nie in seinem Leben derart hilflos gewesen zu sein wie in diesem Moment. Ein neuerlicher Versuch, Funkkontakt zu irgendeinem Reedereimitarbeiter aufzunehmen, scheiterte ebenfalls. Und weil auch per Handy immer noch keine Verbindung zur Außenwelt möglich war, strich er sich mit der Hand durch das glatte braune Haar, setzte sich die Kapitänsmütze auf, richtete das aus der Hose gerutschte schneeweiße Hemd mit den schwarz-goldenen Schulterklappen und machte sich auf den Weg in den Salon.

Dort schien die Situation bereits zu eskalieren. Natürlich hatten die Passagiere das Chaos auf dem Hafengelände längst bemerkt und mit Schrecken zur Kenntnis genommen, dass der Kontakt zur Außenwelt abgebrochen war.

Schon auf der Treppe hörte Hilgersen die Schreie mehrerer Menschen. Im Salon schwoll der Geräuschpegel weiter bedrohlich an. Er warf sich vor, dass er vor dem Anlegen des Schiffes keine weitere Durchsage gemacht hatte, mit der er das Gros der Fahrgäste hätte beruhigen können. Doch was nützte es? Nun war es zu spät. Er durchquerte den Salon, wo sich Gent Visser, den Schlaf noch in den Augen und von der plötzlich ausgebrochenen Hektik an Bord überrumpelt, gerade über eine ältere Frau beugte. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie atmete nur noch schwach. Sehr schwach.

»Hol Dr. Westwald, der ist an Bord, ich hab ihn eben da drüben gesehen«, forderte Visser Hilgersen auf und zeigte in Richtung Restauranttheke.

Er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da kam Westwald schon um die Ecke und kniete sich vor die vollkommen apathisch wirkende Frau, um ihren Blutdruck zu messen. Ihm zu Hilfe kam der Steuermann, der an Bord für die medizinische Betreuung zuständig war und auf diesem Feld als ausgesprochen firm galt. Im hinteren Salonbereich nahm die Lärmkulisse weiter zu. Gleich am Eingang stritt sich ein Ehepaar, weiter hinten weinten Kinder. Eine Stewardess, die mit hochrotem Kopf ein voll beladenes Tablett durch die Menschen hindurchjonglierte, herrschte einen jungen Mann an, der partout den Gang nicht frei machen wollte, und auf der anderen Seite des Restaurants kläfften sich zwei Hunde an.

Kaum hatte Hilgersen die Mitte des Raumes erreicht, sah er sich von zehn, zwölf aufgebrachten Touristen umringt. Während einer auf der Stelle seine Fahrtkosten erstattet haben wollte, fragte ein anderer, wann sie denn bitte das Schiff verlassen könnten. »Lassen Sie endlich die Autobrücke runter, ich möchte mit meiner Frau ins Hotel. Von diesem Hokuspokus hier habe ich allmählich genug«, schrie er Hilgersen an und riss dabei den Mund so weit auf, dass sich quallig wabernde Speichelfäden zeigten.

Hilgersen wandte den Kopf zur Seite. Er bemerkte Gent Visser, der im Laufschritt auf dem Weg zu ihm war, begleitet von Michael Voss. Sie mussten sich durch die Menge drängen, die einerseits immer aufgebrachter auf die Situation reagierte, gleichzeitig aber auch von Angst und tiefer Sorge ergriffen war. Hilgersen holte tief Luft, doch ehe er auf die Vorwürfe des immer noch wutschnaubend mit weit geöffnetem Mund vor ihm stehenden Mittvierzigers reagieren konnte, verpasste ihm dieser wütend einen Fausthieb, der Hilgersen nach hinten straucheln ließ.

Die beiden Polizisten reagierten sofort. Während Voss den Schläger am Kragen packte und auf eine Bank zerrte, sprang Visser auf den direkt danebenstehenden Tisch, schob mit den Schuhen scheppernd zwei Kaffeetassen zur Seite und rief, nachdem er zunächst mit den Armen rudernd auf sich aufmerksam gemacht hatte: »Ich bitte um absolute Ruhe. Mein Name ist Visser. Gent Visser. Ich bin Oberkommissar bei der Polizei auf Norderney. Dies hier ist«, er zeigte auf seinen neben ihm stehenden Kollegen, »Michael Voss, ebenfalls Kriminaloberkommissar.« Er richtete sich die ein wenig von der Nasenwurzel gerutschte Hornbrille, warf einen klaren, festen Blick in die Menge und fuhr fort: »Wie Sie sicher bemerkt haben, sehen wir uns mit einer ungewöhnlichen Situation konfrontiert. Einer Situation, die weder ich und mein Kollege noch die erfahrene Mannschaft hier an Bord einzuschätzen wissen. Vielleicht betrifft sie nur den Hafen. Wir wissen es nicht. Ich bitte Sie daher, zunächst die Ruhe zu bewahren. Möglicherweise normalisiert sich alles bereits in wenigen Minuten.«

Vom Tisch vorne rechts neben der Theke, an dem in seinen wenigen Pausen normalerweise das Servicepersonal Platz nahm, kam ein unüberhörbares Murren.

»Immer noch kein Netz, was ist das denn für eine Scheiße?«, schrie ein Mann Anfang dreißig und starrte sein Handy an, als hätte es ihm den Krieg erklärt.

»Wann lasst ihr uns endlich von diesem Pott runter? Hier hinten gibt es Leute, denen ist speiübel, in diesem Gefängnis kriegt man doch Platzangst«, rief eine ältere Frau aus dem vorderen Sitzbereich, wo sich die verbrauchte Luft immer mehr staute.

Mit einem sportlichen Satz hatte sich nun auch Jens Hilgersen auf den Tisch begeben. Er rieb sich das schmerzende Kinn, wobei er den Verursacher des Faustschlags mit zur Hälfte zusammengekniffenen Augen und äußerster Entschlossenheit ins Visier nahm. Dann wandte er sich den Passagieren zu. »Meine Damen und Herren«, hob er mit sonorer und wohltuend ruhig klingender Stimme an. »Ich bin Jens Hilgersen, Kapitän der ›Frisia IV‹. Ich habe dem, was Oberkommissar Visser gesagt hat, nicht viel hinzuzufügen. Die Lage ist auf den ersten Blick sehr verworren, wir werden allerdings das Beste daraus machen und die Lösung mit Zuversicht angehen. Ich trage auf der ›Frisia IV‹ die Verantwortung, und das heißt: Solange Sie auf diesem Schiff sind, hören Sie auf mein Kommando«, ergänzte er mit Nachdruck in der Stimme. Visser nickte demonstrativ.

Wieder machte sich Murren breit.

»Und wie soll das gehen? Was heißt denn das, ›mit Zuversicht‹?«, fragte aufgeregt ein grauhaariger Fahrgast. Im selben Moment sackte neben ihm eine junge Frau zusammen.

»Ein Arzt, wir brauchen einen Arzt«, rief eine andere Frau, die gleich darauf zu schluchzen begann und ihrem Mann wild mit den Fäusten auf die Brust trommelte.

Hilgersen erkannte, dass Dr. Westwald bereits zu der kollabierten Frau unterwegs war, und hob erneut an: »Jeder, der möchte, kann das Schiff nun verlassen. Und zwar hier vorne durch diese Tür. Da wir die Fußgängerbrücke nicht herunterfahren können, was im Übrigen auch für die Autobrücke gilt, haben wir einen mobilen Notfallsteg am Schiff befestigt. Ich bitte Sie, diesen Steg vorsichtig zu betreten und Ihre Kinder fest an der Hand zu halten. Ihre Koffer lassen Sie bitte vorerst auf der Fähre. Folgen Sie unbedingt den Anweisungen des Bordpersonals. Und bitte gehen Sie mit der erforderlichen Ruhe von Bord. Wer noch ein Getränk möchte, der kann sich jederzeit bei unseren Serviceleuten melden.«

Hilgersen holte tief Luft. Er wirkte entschlossen und souverän. Und tatsächlich schien er die Lage mit seiner besonnenen Ansage und seiner beruhigend auf die Leute einwirkenden Körpersprache in den Griff bekommen zu haben. Während sich die ersten Passagiere in Bewegung setzten, steckten Hilgersen und Visser die Köpfe zusammen und tauschten sich aus. Dabei legte Visser eine Hand auf die Schulter des Kapitäns. So demonstrierten sie zusätzlich Zusammenhalt und Stärke. Hilgersen hatte Visser dessen kurz entschlossenen Auftritt von vorhin im Übrigen längst verziehen. Er war sogar dankbar, dass der Kommissar übernommen hatte, nachdem die Faust des aufgeregten Fahrgastes unversehens in seinem Gesicht gelandet war. Die beiden Männer kannten sich von Kindesbeinen an, denn auch Hilgersen war Norderneyer. Sie hatten zusammen die Grundschule an der Jann-Berghaus-Straße besucht und gemeinsam so manches prickelnde Jugendabenteuer im Insel-Osten erlebt und überstanden. Wie dieses Abenteuer hier ausgehen würde, wussten sie nicht.

Nach wenigen Sekunden nahm Visser den Arm von Hilgersens Schulter und wandte sich an die Fahrgäste. »Hören Sie bitte! Ich benötige noch einen kleinen Moment Ihre Aufmerksamkeit.« Er überprüfte seinen Stand auf dem Tisch, streckte den Rücken durch und visierte eine Gruppe von Gästen an, die von der Situation noch immer ein wenig überfordert zu sein schien. »Wir sind mit der Situation an Land noch nicht vertraut. Ich bitte Sie daher, sich oben vor dem Abfertigungsgebäude zu versammeln, bis auch die anderen Passagiere das Schiff verlassen haben. Niemand verlässt das Hafengelände auf eigene Faust, darum bitte ich Sie eindringlich! Wie ich gehört habe, befindet sich auf dem Hafenparkplatz ein Bus, bei dem der Schlüssel steckt. Mit diesem Bus werde ich Sie in die Stadt fahren. Wir werden der Reihe nach die Hotels ansteuern, die Sie gebucht haben.« Visser schluckte schwer. Schweiß war auf seine Stirn getreten. Sein grau-schwarzer Dreitagebart glänzte im Schein der Deckenbeleuchtung. Neben Hilgersen, der ungefähr einen Kopf kleiner war, wirkte er mit knapp einem Meter neunzig wie ein Hüne. Voss reichte ihm eine kleine Wasserflasche, und Visser nahm einen kräftigen Schluck, während sich Hilgersen vom Tisch schwang. »Und noch etwas«, setzte Visser nach. »Wer auf dem Schiff bleiben möchte, soll dies tun. Ich rate dies besonders den Gästen mit Kindern. Kapitän Hilgersen wird mit einem Teil seiner Crew ebenfalls hier auf der Fähre warten, bis es neue Informationen gibt.«

Obwohl insgesamt nur knapp hundert Personen das Schiff verließen, dauerte das Prozedere endlos lange. Natürlich hielt sich kaum jemand an die Anweisung des Kapitäns, das Gepäck zunächst noch auf der Fähre zu belassen. Mit weit ausholenden Schritten drängten die Passagiere zu den Gepäckregalen, wo sie nach ihren Rollkoffern und Reisetaschen griffen. Manchen sah man die Aufregung und Nervosität deutlich an. Andere schienen das Ungeheuerliche der Situation schlichtweg zu ignorieren und alles für einen dummen Zufall zu halten, der sich bald aufklären würde. Auf dem Rettungssteg wurde es derweil eng, weil sich einige Fahrgäste – ohne auch nur einen Hauch von Disziplin walten zu lassen – auf die schmale Eisenbrücke drängten und dabei andere wegschoben. Auch Vissers Anweisung, draußen vor dem Abfertigungsgebäude auf die anderen zu warten, war nicht bei allen auf fruchtbaren Boden gefallen, denn immer wieder ließen Fahrgäste in Zweier- oder Dreiergruppen das Gebäude links liegen und zogen auf eigene Faust los.

Als Visser und Voss es endlich selbst geschafft hatten, das Schiff zu verlassen, liefen sie zunächst zu dem Unfallwagen an der Mauer vor dem Nationalpark-Haus. Ob Heidi Hansen mit ihrer Vermutung, dass dort ein Mensch liegen würde, richtiglag? Immer noch tropften Öl und Benzin aus dem Fahrzeug, und die Blutlache gleich neben dem zersplitterten Scheinwerfer war nicht zu übersehen. Bezüglich der Einschätzung, dass eine Person zwischen Autofront und Mauervorsprung eingeklemmt war, hatte Heidi sich jedoch offenbar getäuscht. Obwohl auch Visser beim Verlassen der Fähre ein entsprechendes Bündel wahrgenommen hatte, lag niemand in dem schmalen Spalt zwischen Reifen und Mauer. Einzig eine unförmige dunkelbraune Blousonjacke war zu sehen. Sie klemmte in der Stoßstange fest und hing bis hinunter auf den Boden. Sie mussten sie aus der Entfernung für den Körper gehalten haben. Oder war die Person, die sie noch vor wenigen Minuten von der Kapitänsbrücke aus deutlich zu sehen geglaubt hatte, inzwischen verschwunden? Aber wie?

»Das gibt es doch wohl nicht«, stöhnte Visser, der sich auf den Boden kniete und seinen Bauch ein wenig einzog, um die Gürtelschnalle nicht zu sprengen. Das Nichtrauchen hatte bei ihm in besonderer Weise seinen Tribut gefordert. »Ich hätte schwören können, dass ich auch jemanden gesehen habe«, ergänzte er und schaute hinauf zu seinem Kollegen Voss. Mittlerweile waren auch Holger Rausch und Heidi Hansen am Unfallort, oder was dies auch immer war, eingetroffen.

»Nimm doch mal die Jacke weg«, flüsterte Heidi Hansen ihm ein wenig nervös zu. »Vielleicht ist das, was wir gesehen haben, noch darunter.«

Als Visser die Jacke vorsichtig zur Seite schob, blähten sich Heidis Augen in diffuser Vorahnung zu glibberigen Ungetümen auf, Voss schnaufte, und Rausch wandte sich einfach ab. Ihre Gesichter hatten sich, genau wie das von Visser, zu fratzenhaften Zerrbildern verzogen.

Dann die befreiende Botschaft: »Fehlanzeige. Wir haben uns geirrt. Hier ist kein Mensch«, sagte Visser. Heidi stieß vor Erleichterung einen kurzen spitzen Schrei aus und fasste sich an die Stirn.

Nach ein paar Sekunden des Innehaltens stemmte Visser seinen Körper wieder nach oben. Dann blickte er in die Runde. Die Gesichter hatten sich entspannt. Fürs Erste jedenfalls.

»Also«, sagte er, »wir gehen jetzt zu den Leuten, die sich da vorne vor dem Abfertigungsgebäude versammelt haben, und teilen ihnen mit, dass die schlimmsten Befürchtungen – zumindest an dieser Stelle – nicht eingetroffen sind. Einverstanden?«

»Einverstanden«, gaben Voss und Rausch zurück. Heidi nickte langsam. Obwohl sie keinen Toten gefunden hatten, war sie vom Stress des Augenblicks mehr als nur beeindruckt. Ihre Augen verrieten, dass sie in diesem Moment nichts mehr wahrnahm. Sie fühlte sich fremd, überfordert. Alles schien so hoffnungslos. Es war, als würde ihre Seele weinen.

VIER

Wie schon gesagt, waren nicht alle Passagiere Vissers Anweisungen nachgekommen. Einige der an Bord befindlichen Insulaner hatten sich mit ihren Privatwagen auf den Weg in Richtung Innenstadt und zu ihren Häusern in der Nordhelmsiedlung gemacht. Andere waren auf ihre am Hafen abgestellten Fahrräder gestiegen. Sie alle nahmen den üblichen, den kürzesten Weg, indem sie über den Gorch-Fock-Weg in den Habenpatt einbogen und so in gut fünf Minuten das Zentrum der Insel erreichten. Übrig blieben zweiunddreißig Fahrgäste, die vor dem Abfertigungsgebäude auf weitere Instruktionen warteten. Die meisten standen vor der gläsernen, teils stumpfen Fassade, andere lehnten sich dagegen. Ein paar jüngere Fahrgäste hatten sich aufs Pflaster gesetzt, immerhin war es erst kurz nach neunzehn Uhr dreißig, und die Sonne besaß an diesem Abend im Mai noch genügend Kraft, die Straßen und Plätze der Insel in ein warmes, frühsommerliches Licht zu tauchen. Auch Kristina und Tim saßen auf dem Boden, vor sich zwei mächtige Koffer und eine Reisetasche, auf der der kleine Filip, Kristinas Neffe, Platz genommen hatte und vor sich hin döste.

»Danke für Ihre Geduld«, begann Visser seine erneute Ansprache. »Wie ich sehe, haben auch Sie nach wie vor keinerlei Handykontakt nach außen, also müssen wir unser Vorgehen behutsam strukturieren und das Beste daraus machen.« Er winkte die etwas weiter außen Stehenden mit den Händen herbei, damit sich eine kleine Menschentraube bilden konnte und er nicht so laut reden musste. »Wir machen uns jetzt also auf den Weg in die Stadt. Ich bitte Sie, sehr vorsichtig zu sein und keine unüberlegten Handlungen anzustellen. Halten Sie bitte Augen und Ohren offen.« Er räusperte sich.

»Wie geht es denn jetzt konkret weiter?«, wollte Silke Lüders wissen. Sie gehörte zur Hochzeitsgesellschaft von Kristina und Tim und war Kristinas beste Freundin. Während sie ihre Frage stellte, stand sie neben Filip, dem sie sanft über den Kopf streichelte.

»Also, die Sache läuft folgendermaßen ab«, übernahm Vissers Kollege Voss das Wort. »Oberkommissar Visser wird gleich in den Bus da vorne steigen. Wer mit ihm fahren möchte, steigt einfach zu und sagt ihm, vor welchem Hotel oder vor welcher Pension er abgesetzt werden möchte. Ich werde beim Einstieg Ihre Personalien aufnehmen, damit wir einen ersten Überblick bekommen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wir müssen gegenseitig auf uns aufpassen. Sollten Sie merken, dass jemand fehlt, melden Sie das bitte unverzüglich.«

Visser bat die Passagiere noch, sich um einundzwanzig Uhr dreißig vor dem Conversationshaus am Kurplatz einzufinden. Dort sollten eine erste Bestandsausnahme und der Austausch wichtiger Informationen erfolgen.

»Anwesenheit ist Pflicht«, rief er den Umstehenden mit Nachdruck zu. Seine Stimme klang heiser. »Also. Auf geht’s«, ergänzte er dann und ging mit kurzen, schnellen Schritten in Richtung Omnibus.

Heidi Hansen stieg in ein allein gelassenes Taxi, drehte den Zündschlüssel und fuhr los. In das andere Taxi stieg Tamme Schweers, der Inseltischler, der es bei der Norderneyer Feuerwehr bis in die Führungsebene geschafft hatte.

»Zuerst zum Gerätehaus«, murmelte er. »Ich will mal sehen, wie es dort aussieht. Die Särge hole ich morgen vom Schiff. So viel Zeit muss sein.«

Die kurze Fahrt in die Norderneyer Innenstadt wurde für Visser und Voss und ihre äußerst verunsicherten Fahrgäste zu einem ebenso unerklärbaren wie absolut rätselhaft-schaurigen Ereignis. Auf der Anhöhe der Kreuzung von Deich- und Hafenstraße standen zwei Personenwagen mitten auf der Fahrbahn. An beiden Autos waren alle vier Türen geöffnet. Auf dem Boden vor dem ersten Wagen waren zehn bis zwölf CDs beziehungsweise DVDs ausgebreitet, daneben lagen ein roter Damenschuh mit hohem Absatz, eine Handtasche und mehrere gebrauchte Papiertaschentücher. Auf dem Dach des anderen Autos war ein Smartphone abgelegt, neben dem rechten Vorderreifen lag eine platt getretene Schachtel Zigaretten. Vor der Einfahrt in den Pamirweg fielen ihnen mehrere tote Möwen auf. Aus ihren Schnäbeln troff Blut. Nach einem kurzen Halt am Haus Schifffahrt bog Visser mit dem Bus nach links in die Weststrandstraße ein. Vor der Bushaltestelle unweit des früheren Kurmittelhauses lagen mehrere Fahrräder übereinander, darin verkeilt waren ein rotes T-Shirt, ein weißes Badetuch, das offenbar total durchnässt war, und eine Prinz-Heinrich-Mütze, auf der eine tote Möwe lag. Voss lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Bei genauem Hinsehen konnte man feststellen, dass dem Tier die Flügel fehlten. Die Fahrgäste, die dieses Detail ebenfalls wahrgenommen hatten, klebten mit weit aufgerissenen Augen an den Fensterscheiben des Busses und schwiegen sich an. An den Haltestellen stiegen die Urlauber auf Zuruf nach und nach aus. Visser erinnerte noch einmal jeden Einzelnen daran, sich pünktlich um einundzwanzig Uhr dreißig vor dem Conversationshaus einzufinden.

* * *

Der Mann wollte unter keinen Umständen auffallen. Das hätte ihm die Tour mit hoher Wahrscheinlichkeit vermasselt. Immerhin hatte er Großes vor. Deshalb hatte er den ersten Gedanken, sich allein ein brauchbares Fahrrad zu suchen oder ein Auto, in dem der Schlüssel steckte, schon nach wenigen Wimpernschlägen verworfen. Stattdessen war in ihm in Sekundenschnelle die Entscheidung gereift, in den Bus einzusteigen und damit – so gut es ging – in der Masse unterzutauchen. Mit der Sonnenbrille und dem grauen Basecap mit dem dezent wirkenden blau-weiß-roten Hilfiger-Logo befand er sich von der äußeren Erscheinung her in guter Gesellschaft. Viele Männer, selbst die im eher gesetzten Alter, machten auf der Insel gern ein wenig auf jung und ließen es von der Kleiderordnung her locker angehen. Das galt auch für die betuchten Feriengäste. Anscheinend befand sich niemand im Bus, den er kannte. Deshalb konnte er im Gegenzug davon ausgehen, dass er für die anderen Fahrgäste ebenso ein Fremder war. Mit seinem schwarzen, straff gepackten Rollkoffer hatte er sich an den Ausstieg im hinteren Drittel des Busses gestellt, denn er wollte das Gefährt bei der erstbesten Gelegenheit verlassen und den Rest seines Weges zu Fuß zurücklegen. Würde er mit den letzten Gästen aussteigen, könnten die sich sein Gesicht einprägen, hatte er sich überlegt. Grundsätzlich wäre das zwar keine Katastrophe, aber es musste auch nicht sein. Schließlich wusste er nicht, wie sich die Lage für ihn und seine Mission noch entwickeln würde.

Mit der klobigen Faust hielt er sich am Bügel einer Haltestange fest, um seinen Körper während der Fahrt auszubalancieren. Wie die meisten der anderen Passagiere nahm er schweigend zur Kenntnis, was er sah – und es irritierte ihn erheblich. Was hat das alles zu bedeuten?, fragte er sich. Er beschloss, darüber hinwegzusehen. So gut es eben ging. Denn dieses Mal wollte er nicht umsonst auf die Insel gekommen sein, dieses Mal sollte sich das bessere Ende auf seiner Seite befinden. Dafür würde er alles tun, das hatte er sich geschworen. Wirklich alles.

Als er den Bus an der ersten Station, am Haus Schifffahrt, verließ, bemerkte er, dass sich unter den Fahrgästen doch noch jemand befand, den er kannte.

* * *

Gent Visser stoppte den Bus an der Ecke Kaiserstraße/Moltkestraße, um seine letzten Passagiere herauszulassen. Dabei handelte es sich um die Hochzeitsgesellschaft von Kristina und Tim und die Fotografin Wibke Pieper-Emden. Letztere war – wie die Hochzeitsgäste – Stammgast im Strandhotel Georgshöhe und kannte sich auf der Insel bestens aus. In diesem Jahr sollte bereits ihr dritter Bildband über Norderney und seine zahllosen Naturschönheiten erscheinen. Ihr aktueller Aufenthalt auf der Insel hatte die letzten Aufnahmen zum Anlass. Entsprechend schwer war ihr Gepäck: Die Ausrüstung wog an die fünfzig Kilogramm. Kristinas Stiefvater Karl-Heinz Zöllner, Kavalier der alten Schule, packte mit an.

Jetzt hatte es Visser eilig. Er wollte nach Hause, und zwar ohne große Umwege. Alle Versuche, mit seiner Frau Kontakt aufzunehmen, waren gescheitert. Zunächst führte der Weg ihn und Voss aber zur Polizeiwache. Er lenkte den Bus in die Moltkestraße, drückte tüchtig aufs Gas und kam nach dreihundert Metern an die Kreuzung von Knyphausen- und Winterstraße. Vor dem Onnen-Visser-Platz stellte er das klobige Gefährt ab. Bis zur Wache war es von hier nur ein Katzensprung.

Die Eingangstür war angelehnt, Flur und Diensträume menschenleer. Auf dem Tresen lag ein Schlüsselbund. Wenn Visser sich nicht irrte, gehörte der dem Revierleiter. Ein erster oberflächlicher Blick in den Dienstraum lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine halb volle Kaffeetasse. Sie stand auf dem Schreibtisch neben einem Notizblock. Der offenbar dazugehörige und erst kürzlich benutzte Kugelschreiber, der für die Partei des neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten warb, war auf den Boden gerollt. Visser erkannte auf dem obersten Blatt sehr deutlich die Handschrift von Axel Stab, seinem Kumpel, mit dem er schon unzählige Schichten geschoben hatte. Seine Hände mussten stark gezittert haben, denn die Buchstaben und Wörter, die Stab zu Papier gebracht hatte, bestanden mehr aus seismografischen Zacken denn aus harmonischen Linien.

»Was heißt das?«, fragte Voss, der sich neben Visser über den Tresen beugte.

Visser nahm den Block an sich, schob die Brille auf die Stirn und studierte schweigend das Geschriebene. Dann las er vor: »Wir brauchen Verstärkung. Wenn dies nicht sofort geschieht, haben wir keine …« Die letzten Wörter fehlten, doch es bedurfte keiner besonderen Intelligenz, diesen apokalyptischen Satz zu Ende zu bringen.

»… Chance«, flüsterte Voss, der sich mit beiden Händen auf dem Tresen abstützen musste. Seine Knie zitterten in noch nie da gewesener Art. Gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.

Nach fast einer Minute des Schweigens hatte Visser sich als Erster wieder halbwegs im Griff. »Komm. Vor dem Haus steht ein Streifenwagen. Den nehme ich. Nimm du die Schramme vom Chef. Er war ja unerwartet großzügig heute. Er hat uns seinen Schlüssel dagelassen.« Er grinste, doch gleichzeitig sah man ihm an, dass er sich für diese etwas flapsige Bemerkung schämte. »Und man kann ja nie wissen«, ergänzte er. »Für den Fall des Falles sind wir auf diese Weise beide mobil.«

»Wo geht es denn jetzt hin?«, wollte Voss wissen, der nach dem Schlüsselbund des Revierleiters griff und seine Jacke lässig über die Schulter warf.

»Nach Hause«, antwortete Visser so leise, dass Voss ihn kaum verstehen konnte. »Ich muss wissen, was mit Frauke ist.«

Voss schaute ihm fest in die Augen. Doch Visser erwiderte seinen Blick nicht. Er starrte ins Leere. Voss wusste: Gent hatte Angst. Er hatte die größte Scheißangst seines Lebens. Niemals würde er es verkraften, wenn seiner Frau etwas zugestoßen wäre. Voss hatte auch Angst. Ihm graute davor, mit seinem Freund in dessen Wohnung in der Luciusstraße zu fahren.

* * *

Stefan Hergersberg, Karl Becker und Herbert Walz hatten den Ernst der Situation erkannt und waren nach der Ankunft im Hafen schlagartig wieder nüchtern geworden. Trotz der auf der Fähre genossenen Bierchen und Kleinen Feiglinge hatten die drei Kegelbrüder und ihr weiblicher Anhang den Anweisungen von Polizei und Schiffsbesatzung ohne Murren und Knurren Folge geleistet. Das für gewöhnlich so lustige und bisweilen vorlaute »Sechserpack«, wie sie ihr Dortmunder Clübchen nannten, war in der Luisenstraße ungewohnt schweigsam aus dem Bus gestiegen. Von dort hatten sie über die Strandstraße das Inselhotel König schnell erreicht. Stefan Hergersberg steuerte direkt auf die Rezeption zu.

»Hier ist auch kein Schwein«, stieß er ausgesprochen frustriert hervor. Insgeheim hatte er gehofft, dass die abstruse Situation sich irgendwie ändern und sich das Problem in Luft auflösen würde. Im »Hotel seines Vertrauens«, wie er immer zu sagen pflegte, wurde er nun jedoch eines Besseren belehrt. Seine Begleiter stellten hinter ihm das Gepäck ab und schwiegen, während Stefan Hergersberg rasch den Gang hinter den Rezeptionstresen antrat. Zu seiner Überraschung war der Computer lediglich auf Stand-by. Strom musste demnach vorhanden sein. Er griff nach dem Telefonhörer. Dauerton. Auch hier also Fehlanzeige. Er nahm die Computermaus und erhielt problemlos Zugang zum Reservierungsprogramm. Erwartungsvoll klickte er das E-Mail-System an, musste jedoch feststellen, dass es sich im Offline-Modus befand. »Scheiße«, entfuhr es ihm. Dann probierte er den Internet-Browser. Nach wenigen Sekunden kam die Rückmeldung: »Diese Seite kann nicht angezeigt werden.« Er verzog den Mund. »War ja auch nicht anders zu erwarten«, murmelte er und versuchte es noch einmal mit dem Reservierungssystem. »Da haben wir es ja: Hergersberg, Becker, Walz. Anreise Sonntag, 5. Mai. Zimmer 211, 212 und 214.« Sein Blick hatte sich etwas aufgehellt. Er spitzte den Mund, neigte den Kopf und lächelte in der Erwartung eines Kompliments. Doch seine Mitstreiter schwiegen beharrlich weiter. In einem Kasten in der Schreibtischschublade fand er nach kurzem Suchen die erforderlichen Schlüsselkarten, die er nun feierlich austeilte.

Und endlich reagierten auch die anderen. »Das hast du toll gemacht«, sagte Jumbo, und Martina, Stefans Frau, brach ebenfalls ihr Schweigen.

»Schatz, du bist ein toller Hecht. Dafür kriegst du ’ne besondere Belohnung.« Sie stellte sich auf hohen Absätzen aufreizend ins Positur, fuhr sich mit der Zunge über die mit reichlich Farbe bedachte Oberlippe und setzte ihr laszives Lächeln auf, das Stefan Hergersberg mit einem verwegenen Humphrey-Bogart-Blick quittierte.

Als die Kegelfreunde nun in Richtung Treppenaufgang liefen, verging ihnen das Lachen allerdings sehr schnell wieder. Neben einem umgekippten Beistelltisch schwammen sieben weiße Orchideen in einer Wasserlache, Scherben lagen vor der ledernen Sitzgarnitur auf dem Boden. Über dem goldfarbenen Handlauf der Treppe hing eine luxuriöse Damenjacke, ein hellgelber Janker in Handstichoptik. Ein paar Stufen höher lagen beigefarbene Pumps und ein Collier aus Weißgold, das am Verschluss gerissen war.

Klara bückte sich und griff nach dem wertvollen Teil. »Was ist das?«, fragte sie im Flüsterton. »Was klebt da, was ist das Rote?«

»Blut. Ja. Das muss Blut sein. Leg es lieber wieder hin«, riet ihr Martina. Sie setzten ihren Weg in den zweiten Stock fort. Dort fiel ihnen nichts Ungewöhnliches auf. Also betraten die drei Paare ihre Zimmer und richteten sich ein. Ein Anflug von Normalität stellte sich ein. Das Gefühl, dass aus ihrer fröhlichen Kegeltour in diesem Jahr ein Horrortrip werden könnte, befiel sie erst wieder, als sie von der Bierterrasse unten am Hoteleingang her den infernalischen Schrei eines Mannes hörten. Oder war es ein Tier?

* * *

Von der Polizeiwache war es nicht weit bis zur Luciusstraße. Überhaupt: Diese Insel war eine Stadt der kurzen Wege. Der urbane Teil mit der Fußgängerzone, Geschäften, Hotels, Tourismusangeboten und Dienstleistungsbetrieben befand sich auf dem Westkopf Norderneys, in geballter Form und heimelig aneinandergeschmiegt. Hier pulsierte die Stadt, hier drängten sich insbesondere in den Sommermonaten die Touristen dicht an dicht. In den Kneipen kamen die Kegel-, Fußball- und Freizeitclubs zusammen, um ein komplettes Wochenende durchzufeiern. Zu den Klängen etablierter Schlagergrößen wie Wolfgang Petry, Andrea Berg oder dem Wendler legten sie zu vorgerückter, bierseliger Stunde nicht selten ihre Hände an die Stimmungskanonen der mitfeiernden Clubs oder ließen andere Körperteile in ihnen verschwinden. Eine andere Klientel nutzte den Kern der Insel gern zu einem gepflegten Stadtbummel, zum Besuch eines Restaurants oder beispielsweise, um sich im Bade- und Gesundheitstempel am Kurplatz zu erholen oder sich dort eine wohltuende Schlickpackung verpassen zu lassen. Je näher man hingegen dem Inselosten kam, desto dörflicher und beschaulicher wirkte das Eiland. Wem nicht nach Feiern und Halligalli zumute war, der konnte hier den Leuchtturm besteigen oder einen unvergesslichen Marsch an die Ostspitze wagen, um mit der Besichtigung eines alten Schiffswracks belohnt zu werden.

Natürlich wusste Gent Visser um die Vorzüge des Lebens auf dieser Insel. Als gebürtiger Norderneyer wäre es ihm deshalb niemals eingefallen, seinen Lebensmittelpunkt woanders aufzubauen. Die Tatsache, dass er nach seiner Ausbildung an der Polizeischule noch drei Jahre Dienst in Hannover hatte schieben müssen, bevor er auf die Insel versetzt worden war, hatte ihm als junger Mann seinerzeit schwer zu schaffen gemacht.

Visser ahnte nichts Gutes, als er den Polizei-Passat vor seinem Haus parkte. Voss stellte den Privatwagen des verschwundenen Revierchefs gleich dahinter ab. Praktisch synchron stiegen die beiden aus und ließen ebenfalls gleichzeitig die Autotür ins Schloss gleiten. Vissers banger Blick ging zum Hauseingang. Dort sah er zunächst nichts Außergewöhnliches. Erst bei genauem Hinsehen fiel ihm auf, dass der mit Tagetes und Fuchsien bepflanzte Blumenkübel im schmalen Vorgarten umgekippt war. Er trat näher. Voss folgte ihm wortlos.

Dass die Haustür nicht verschlossen, sondern lediglich angelehnt war, ließ Visser bereits ein wenig schwerer atmen. Mit dem Fuß stieß er sie auf. Er betätigte den Lichtschalter und zuckte zurück. Zunächst gab es ein lautes Sirren und Flirren, dann eine Stichflamme, die ihn am Handballen traf. Er machte erschrocken einen Satz und fand sich mit dem Rücken an der Flurwand wieder. Dabei riss er ein gerahmtes Bild vom Nagel. Klirrend fiel es hinter ihm zu Boden.

»Ich hole die Taschenlampe«, flüsterte Voss und ging zum Polizeiwagen. Währenddessen ging Visser ein paar Schritte weiter. Neben der Wohnzimmertür öffnete er den Zählerkasten. Die untergehende Sonne spendete nur noch ein paar wenige Lichtfetzen, zumal Frauke in den meisten Zimmern die Rollläden runtergelassen hatte.

Endlich kam Voss mit der Taschenlampe. Er leuchtete in den Zählerkasten. Visser drückte mit dem Daumen den Schalter der Hauptsicherung nach oben, doch ohne Erfolg. Der Schalter klackte immer wieder zurück.

»Scheiße«, fauchte er und rief: »Frauke? Frauke, he, Liebes. Bist du da?«

Keine Reaktion.

Voss stand nach wie vor dicht hinter Visser. »Lass uns ein Zimmer nach dem anderen absuchen«, flüsterte er. Schweigend nahm Visser die Taschenlampe und ging ins Wohnzimmer. Hier gab es nichts, absolut nichts Außergewöhnliches. Das galt ebenfalls für die Zimmer im Obergeschoss. Das Arbeitszimmer im Parterre, in dem Frauke sich für gewöhnlich um die privaten Nebenkostenabrechnungen und um die Buchführung in Sachen Urlaubsgäste kümmerte, erschien Visser allerdings verändert. Die Unordnung auf dem Schreibtisch und die anscheinend in höchster Eile in die Ecke gefeuerten Hausschuhe passten so gar nicht zu Frauke.

»Was ist hier passiert?«, fragte Visser leise. Er ging in die Küche und setzte sich auf den Stuhl an der Stirnseite des Tisches. Im letzten Lichtschein der Sonne dieses Tages nahm er die beiden auf dem Tisch liegenden Aktenordner zur Hand, in denen sich die wichtigsten Unterlagen der Familie befanden. Mit dem Fuß stieß er dabei an einen Gegenstand, nach dem er blind tastete und den Kopf auf die Tischplatte legen musste, um ihn aufheben zu können. Es war das Stammbuch der Familie Visser.

»Sie musste fliehen. Sie wollte die wichtigsten Sachen mitnehmen. Dazu ist sie nicht mehr gekommen. Oh, mein Gott!« Visser schluchzte auf. Er nahm die Brille ab und schob sie über die Tischplatte, sodass sie zu Boden fiel. Wieder legte er den Kopf auf den Tisch. Er öffnete sein Seelenventil, stöhnte und weinte. Ungehemmt.

Voss trat zu ihm, nahm die Taschenlampe und richtete den Schein an die Decke, damit sie nicht geblendet wurden. Erschüttert ging er neben ihm in die Hocke und legte seinen Arm um Vissers zitternden Körper. Doch Visser entzog sich ihm, schüttelte sich kurz und stand auf. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er fuhr sich mit der Pranke durch das Haar, schob Voss zur Seite und trat mit dem Fuß gegen das Tischbein, dass es krachte.

»Warum Frauke? Warum wurde nicht wenigstens sie verschont? Das hat sie nicht verdient. Jeder hier in dieser gottverdammten Straße, aber nicht Frauke.« Visser griff nach der vor ihm stehenden Tasse und schmetterte sie gegen einen Hochschrank der Küchenzeile. Voss duckte sich erschrocken. »Was auch immer hier geschehen sein mag«, presste Visser hervor, »ich werde es herausfinden. Und wenn ich mit meinen Leben dafür bezahle. Derjenige, der meiner Frauke auch nur ein einziges Haar krümmt, wird in seinem kleinen, erbärmlichen Leben nie mehr auch nur eine winzige Freude haben.«

Nun trat Stille ein, Visser war erschöpft. Er ließ sich rücklings auf den Stuhl fallen, streckte die Beine aus, rückte den Tisch zurecht und schluchzte noch einmal auf.

Voss öffnete den Kühlschrank und stellte ihm eine Flasche Mineralwasser hin. »Hier. Nimm einen Schluck«, forderte er ihn auf.

»Entschuldigung«, hauchte Visser. »War nicht böse gemeint eben.«

»Ich weiß.«

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