Steady as she goes - Helmut Lucka - E-Book

Steady as she goes E-Book

Helmut Lucka

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Beschreibung

Unrühmlicher könnte eine Geschichte nicht beginnen. Der junge Willi Lenz langweilt sich in der Schule und versucht, mangelnde Vorbereitung mit einer Fiebererkankung zu kaschieren. Als er auch noch bei einem Diebstahl erwischt wird, verweist man ihn von der Schule. Auch in der Familie gibt es Probleme, weil der Vater mit Hilfe der Arbeitskraft seiner Söhne ein Haus in Eigenregie errichtet. Während seine Freunde das Wochenende in der Diskothek verbringen, "darf" Willi auf dem Bau schuften. Schließlich reift in ihm die Idee, eine Schiffsjungenschule zu besuchen. Auf die theoretische Ausbildung folgt eine zweijährige Praxis auf dem Schiff MS "Fryga". Es folgen spannende Abenteuer an Deck, aber auch viele fachliche Einblicke in die Seefahrt und in die sogenannte "Wirtschaftswunderzeit".

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Seitenzahl: 1038

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-209-5

ISBN e-book: 978-3-99146-210-1

Lektorat: Leon Haußmann

Umschlagfoto: Nemeziyaa | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Helmut Lucka

www.novumverlag.com

Disclaimer

Liebe Leserin, lieber Leser!

Die vorliegende Geschichte beruht teilweise auf wahre Gegebenheiten und Erfahrung des Autors selbst. Um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten und Weggefährten zu wahren, wurden die Namen aller auftretenden Personen abgeändert und fiktionalisiert.

Einzig die Lehrkräfte und Angestellten der öffentlich rechtlichen Institution „Seemännische Berufsfachschule Elsfleth/Weser“ sind mit ihren echten Namen genannt. Sie sind legendär für die hochqualifizierte Grundausbildung einer ganzen Generation an Seeleuten, denen sie das gebotene Rüstzeug für den Weg in den harten Seemannsberuf gegeben haben.

Schulabgang 1968

Grell fielen die Strahlen der warmen Frühlingssonne durch die dicken Scheiben der großen Fenster in den staubigen Klassenraum der 9A. Ungehindert bahnten sie sich ihren flimmernden Weg vorbei an den schweren beigen Vorhängen direkt auf Willis linke Wange.

Verdammt heiß für diese Jahreszeit, dachte er und sein Kopf, nur durch die rechte Hand gestützt, wurde schwerer und schwerer. Ähnlich verhielten sich seine bleiernen Augenlider, die bereits in regelmäßigen Abständen unkontrolliert zufielen, so müde war er lange nicht mehr gewesen!

Aus den halbgeschlossenen Augen blinzelnd erspähte er unzählige Staubkörner. Lustig tanzten die in einem besonders hellen Sonnenstrahl, der das trostlose Grün der dunklen Wandtafel durch einen hellgrün leuchtenden Streifen unterbrach.

Es war die Religionsstunde! Realschullehrer Paul Gruner, von den Schülern heimlich wegen seiner frommen Art kurz Paulus genannt, bemühte sich eifrig, den Schülern die altehrwürdigen Bibeltexte zu vermitteln. Mit monotoner Stimme schaute er gelegentlich über den dicken Rand der Hornbrille. Selbst gelangweilt verlas er Zeile um Zeile aus seiner Kladde. Der lederne Einband hatte sicherlich schon viele Jahre die speckigen Abdrücke seiner wurstigen Finger ertragen müssen. Der stets gleich klingende Rhythmus der vorgetragenen Sätze aus dem aufgedunsenen Gesicht des Lehrers erschien Willi, als würde ein Pfarrer von der Kanzel predigen. Öfters ertappte er sich, kurz eingeschlafen zu sein, um dann versteckt seinen schweren Kopf neu zu lagern. Der schweißnasse Handabdruck in seiner rechten Gesichtshälfte würde Beweis dieser langweiligen Religionsstunde sein.

Volker geht’s auch nicht besser, freute er sich im Stillen, als sein Blick auf den Tischnachbar fiel. Spiegelverkehrt lag dieser, mit dem Kopf auf den linken Arm gestützt, mit halbem Oberkörper auf der Tischplatte und lauschte scheinbar andächtig den frommen Ergüssen des Lehrers. Wie Willi war auch er dem Halbschlaf nahe. Nur schwebte der Schulfreund laufend in der Gefahr, nach links über die Tischkante abzurutschen und in den Mittelgang zwischen die Bankreihen zu fallen.

An Volker vorbei schaute Willi mit verschlafenem Blick auf einen kleinen Spatz, der aufgeplustert und ein wenig übereifrig auf dem Blumenkasten vor dem Fenster hüpfte und nach Nahrung suchte. Ab und zu fiel der warme Frühlingswind mit einer Böe in sein Gefieder und bauschte es weiter auf. Hektisch um sich blickend pickte er mit seinem Schnabel in der kargen Blumenerde.

Glaubt der wirklich, in dem trockenen Kasten einen Wurm zu finden, zweifelte Willi, in Gedanken weit entfernt vom Vortrag seines Lehrers. Vielleicht ist es dem Piepmatz im Schutz der Scheibe wärmer als anderswo? Die Frage beschäftigte den Schüler und ließ ihn nachdenklich noch weiter vom Unterricht abschweifen.

Der hat’s gut! Gefällt’s ihm hier nicht mehr, hebt er ab und fliegt einfach weiter! Schwups –, weg war er! Noch ehe Willi müde laut gähnend seine Gedanken beenden konnte, sah er wehmütig dem abfliegenden Vogel hinterher. Immer kleiner werdend, verschwand er hinter den kahlen Ästen des im frühen Sonnenlicht feucht schimmernden Kronengeflechts der Pappeln am Rande des Schulhofs!

„Lenz! – – – Lenz! – – – Wilfried Lenz!“ Wie aus ganz weiter Ferne drang die drohende Stimme in Willis freies Ohr und erschrocken drehte er seinen Blick zum Pult, direkt in das vor Zorn verzerrte fette Gesicht seines Lehrers.

„Aufstehen! – – – Steh auf!“, befahl die erregte Stimme weiter, „wiederhole er meinen letzten Satz!“ Leichtes Gekicher aus den Mädchenreihen belebte jetzt das Klassenzimmer und beschämt irrte Willis Blick über seine Mitschüler, bis er fragend bei Volker hängen blieb. Der presste die Lippen zusammen und drehte sich achselzuckend ab.

„Wilfried Lenz – sag er mir zusammenfassend das letzte Kapitel meines Vortrages! Wo war ich zuletzt stehen geblieben?“ Schwerfällig erhob sich Paulus aus seinem Lehrerstuhl und drohend näherte er sich der ersten Tischreihe!

„Vor dem Pult!“, hätte der Ertappte fast erschrocken ausgestoßen, doch im letzten Moment konnte sich Willi diesen Spruch verkneifen. Unvermeidlich hätte diese Frechheit zum schriftlichen Tadel mit Eintrag ins Klassenbuch geführt.

Weiterhin ratloses Schulterzucken von seinem Tischnachbar zeigte deutlich an, dass von Volker keine Hilfe zu erwarten war. Unbewusst, wie so oft in ausweglosen Situationen, wuchs in Willi blitzschnell die rettende Idee.

„Entschuldigen Sie, Herr Gruner“, presste er gequält mit zittriger Stimme tief aus seiner Brust hervor, „mir ist ganz übel!“ Träge erhob er sich langsam von seinem Stuhl, die Arme überkreuz in den Unterleib gedrückt. Leicht vorgebeugt und schwankend stand er so, als würde er jeden Moment sein Gleichgewicht verlieren! „Mir ist wirklich nicht gut!“

Zähne klappernd legte er noch so viel Leid in seinen Gesichtsausdruck, dass selbst seine Mutter ihm eine mittelschwere Fiebererkrankung geglaubt hätte. „Dürfte ich mal raus auf die Toilette?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, hastete Willi eilig durch die Stuhlreihen der verblüfften Mitschüler. Die Hände immer noch schützend vor seinem Bauch gekreuzt, lief er in Richtung Klassentür, ohne auf die zweifelnden Blicke des völlig verblüfften Lehrers zu achten.

Leider hatte Reinhold Bolte, der rechte Tischnachbar in der vordersten Schülerreihe, seine langen Beine in Ruhestellung vorgestreckt, die Willi hektisch übersah. Er stolperte, konnte sich jedoch mit der rechten Hand an der Wand abfangen. Klatschend haute er die Hand in die Hausordnung, die neben dem Ausgang hing. Laut klirrend zersprang dieses in Glas gerahmte und von allen Schülern so verhasste Regelwerk beim Aufprall auf den Boden.

„Was hat er denn?“ Ernsthaft besorgt klang die sonore Stimme vom Lehrer aus dem Klassenzimmer hinter ihm her. Schwungvoll schlug Willi hastig die Tür der Klasse 9A hinter sich zu.

„Geschafft –, – – Gott sei Dank!“ Erleichtert lehnte sich der Schüler mit dem Rücken gegen die glatt glänzende, kalte Wand des langen Korridors und atmete tief durch. Seine Augen hingen gespannt an der Klassentür – doch nichts geschah! Verwundert stellte er fest, die Tür blieb zu!

Scharf drang der Geruch von Bohnerwachs in seine Nase, dieser einzigartige und so typisch vertraute Geruch von blitzsauberen Schulgebäuden der Nachkriegszeit. Noch immer rührte sich nichts in dem langen, schmalen Gang, der die neunten und zehnten Klassen verband. Nach links führte dieser Flur zum Verwaltungstrakt. Ängstlich blickte Willi noch einmal zurück zur Klassentür.

Noch immer nichts! – Keine Regung, kein knirschendes Geräusch vom Verrücken des Stuhles, das ein Nacheilen des verhassten Lehrers vermuten ließ. Erleichtert war er und mächtig stolz auf seinen rettenden Einfall mit den Magenkrämpfen. Schmunzelnd hastete er weiter durch den dunklen Flur in Richtung Treppenhaus, dem rettenden Ausgang entgegen!

„Realschule an der Schillerstraße“ stand in großen Buchstaben aus Bronze auf roter Klinkerwand über dem Eingangsportal. Die Schwerpunkte des Unterrichts dieser modernen Lehranstalt lagen auf den „realen“ Fächern wie Sport, Kunst und Werken!

Mit diesem Angebot kreativer Gestaltungsmöglichkeit grenzte der Lehrstoff sich erheblich von der ordentlichen Mittelschule der sechziger Jahre ab. Nie vergaß Schulleiter Dr. Dr. Löscher, diesen für ihn so bedeutenden Unterschied in seinen Begrüßungsreden hervorzuheben. Ganz im Sinne von denLehrkräften in dieser Schule, konnte hier in den gut ausgestatteten Werkräumen fleißig gemalt und kunstvoll gebastelt werden. Willi mochte den Kunstunterricht. Fünf Jahre hatte er hier bereits unbeschwert seine lebhaften Fantasien in Form von beachteten Bildern und filigranen Werkstücken austoben können. Zur Freude seiner vollschlanken Kunstlehrerin, Frau Dr. Weinhold, hatte sich Willi in diesem Fach durch seine außergewöhnliche Kreativität immer wieder aus der Menge seiner Mitschüler hervorheben können! Wie sehr hatte er es immer genossen, wenn sie, mit ihren großen Brüsten wohlwollend über seine Schultern gebeugt, helfend den einen oder anderen Strich verbesserte! „So kommen wir der Eins für dieses Bild schon näher!“ hatte sie in sein Ohr gehaucht. Dabei hatte sie dicht hinter seinem Rücken gestanden und mit der linken Hand seine Schulter getätschelt. Sichtlich verlegen hatte er zu oft diese wohlgemeinte Hilfe ertragen müssen; schüchtern errötend, sehr zur Freude seiner feixenden Mitschüler. Es war ihm peinlich, doch eine gute Zensur im Nebenfach Kunst konnte dazu beitragen, seinen sonst eher miesen Notenschnitt zu verbessern! Sein Lieblingsfach jedoch war Erdkunde. Mit großem Interesse folgte er den Vorträgen des beliebten, stets korrekt gekleideten Schulleiters. Mit knallroter Fliege vor dem blütenweißen Hemdkragen hatte Dr. Dr. Löscher eine besondere Art, seinen Schülern den trockenen Lehrstoff spannend zu vermitteln. Mit einem meterlangen, mit roter Spitze gefertigten Rohrstock unterstrich er auf einer riesigen Landkarte die ungeheuer wichtige Bedeutung der Erdkunde. Dabei schlug er im kontinuierlichen Wechsel mit dem Stock auf die eigene Handfläche oder auf das am Ständer hängende Anschauungsmaterial.

Willi hatte schon immer interessiert, welches Land Rohstoffe förderte, wohin und wie diese Masse an Gütern geliefert wurde und wie Industrienationen wie Deutschland diese produktiv zu nutzen wussten! Gerade jetzt, gegen Ende der sechziger Jahre, vertiefte sich im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung das international bereits anerkannte „Deutsche Wirtschaftswunder“.

Altkanzlers Ludwig Erhard als erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik zeigte sich als Vater des Erfolges in der sozialen Marktwirtschaft und deren Auswirkung auf den rasant ökonomischen Aufstieg dieser jungen Republik in den schweren Jahren der Nachkriegszeit.

Sein durch alle Zeitungen gedrucktes Bild mit der dicken Zigarre im Mund stand symbolisch für den industriellen Fleiß dieser aufstrebenden Nation! Allerdings ahnte Willi damals noch nicht, wie stark sein beruflicher Werdegang in Verbindung zu diesem Unterricht stehen würde!

Zwölf Klassenräume lagen im linken Flügel des in L-Form verbundenen Schulgebäudes. Über drei Etagen verteilten sich diese zu jeweils vier Klassen in jedem Stockwerk. Die jungen Schüler in den fünften und sechsten Klassen begannen nach Abschluss der Volksschule ihren Einstieg in diese Art der Schulbildung im Erdgeschoss. Mit Fleiß und Disziplin konnten sie sich im Verlauf von sechs Schuljahren bis zu den zehnten Klassen „hocharbeiten“. Waren sie aufgeweckt und angepasst und genossen sie zusätzlich das „Wohlwollen“ ihrer Lehrkräfte, so konnten die drei Stockwerke im glatten Durchgang bewältigt werden. Das Endziel hieß dann Klasse 10A oder 10B zum Erreichen der Realschulreife. In den B-Klassen saßen überwiegend die Stadtkinder und in den A-Klassen die aus den umliegenden Dörfern. Das waren viele Flüchtlingskinder oder Kinder der Bauern aus den landwirtschaftlichen Betrieben. Jeden Morgen fuhren sie mit dem Bus oder dem Fahrrad aus der ländlichen Umgebung in die pulsierende Industriestadt Delmenhorst bis zu ihrer Schule.

Vorbei an langen Reihen von Mänteln, Jacken und Anoraks mit Pudelmützen, die an abgestumpften Garderobenhaken hingen, schlich Willi sich beschämt weiter durch den langen Korridor.

Er passierte die Klasse 10A. Traurig und ein wenig schwermütig dachte er an seine Mitschüler des letzten Schuljahres in dieser Klasse. Gemeinsam mit Reinhold Bolte und André Peters war er zu Ostern nicht versetzt worden, sie waren „sitzengeblieben!“

Plötzlich bemerkte er tatsächlich ein seltsames, merkwürdiges Kribbeln in der Magengegend.

Im völlig menschenleeren Flur fiel sein Blick auf den letzten Garderobenhaken der Klasse 10B.

Dort hing, weit aufgeschlagen, ein graugrüner Parka. Aus dem Futter ragte verlockend eine dicke lederne Brieftasche hervor. Schwarz glänzend, vom Licht der Flurfenster angestrahlt, drängte diese, Unheil erahnend, aber dennoch anziehend in Willis Augen.

Das ist die Gelegenheit, dachte er erregt und er spürte sein Herz immer heftiger klopfen.

Zwei Schritte noch, ein gezielter schneller Griff – sein Herz raste! Er blickte unsicher in den langen Korridor hinter sich. Nichts! – Niemand war zu sehen, niemand konnte ihn aufhalten! Mit einem Ruck zog er die Brieftasche aus dem Innenfutter der fremden Jackentasche.

Lautes, heftiges Scharren aus dem Inneren der Klasse 10B unterbrach plötzlich die angespannte Stille im Flur. Es klang, als würde ein Stuhl gerückt und eine Schülerin hustete kräftig!

Hat mich doch jemand gesehen? Panische Angst überfiel den vermeintlich Ertappten.

„Das ist Diebstahl – Kameradendiebstahl!“, flüsterte er verschämt sich selbst zu.

Mit rasendem Puls eilte er mit seiner Beute hastig in Richtung schützendes Treppenhaus.

Laut quietschend schlugen die gläsernen Flügel der breiten Verbindungstür am Ende des Korridors in ihre schwarzen Gummidichtungen. Über sein Handeln selbst fürchterlich erschrocken atmete er einmal kräftig durch. Durch das Glas blickte er noch einmal prüfend zurück in den langen Gang – doch nichts! – Nichts regte sich – noch immer war kein Schüler oder Lehrer zu sehen!

Wie von bissigen Hunden gejagt, hetzte er die Stufen der Treppe hinunter, manchmal bis zu drei Stufen in einen Satz überspringend. Das Diebesgut hielt er sorgfältig mit der linken Hand unter der Strickjacke versteckt. Mit der rechten Hand riss er sich am Treppengeländer schwungvoll durch die Kurven der vielen Zwischenpodeste. Im Erdgeschoss, am leeren Verkaufstisch für Pausengetränke vorbei, erreichte er unten völlig außer Atem den Ausgang zum Schulhof. Prüfend schaute er auf den Fluchtweg zum angebauten Toilettenhaus. „Verdammter Scheiß!“

Entsetzt erkannte er durch die Scheiben der schweren Ausgangstür den Hausmeister. Ein fröhliches Lied pfeifend, fegte dieser gerade das steinige Zwischenpodest, welches das hohe Hauptgebäude mit dem flachen Toilettentrakt verband. Geduldig bückte sich Herr Schreiber dann und wann im endlosen Kampf gegen mächtig verklebte Kaugummis und das überall herumfliegende Silberpapier dieser allseits so beliebten Kaumasse amerikanischer Herstellung.

Willi spürte sein Blut in die Fußspitzen sacken und erneut begannen seine Knie unkontrolliert zu zittern. Perfekt hätte seine momentane Gesichtsfarbe zu seiner schauspielerischen Darbietung vor nur wenigen Minuten im Klassenraum der 9A gepasst. Vorsichtig öffnete er die Ausgangstür.

„Guten Morgen, Herr Schreiber“, zwang er sich bleich vor Schreck zu grüßen und die Angst vor der Entdeckung seiner Freveltat übertrug sich auf seine Stimme.

Er stotterte und krampfhaft krallten sich seine Finger unter der Strickjacke in das verräterische Leder der fremden Brieftasche. Wieder atmete er tief durch.

Mit bewusst ruhigen und kontrolliert langsamen Schritten zwang er sich am Hausmeister vorbei.

Es gelang ihm, die rettende Eingangstür zu den Schülertoiletten unbehelligt zu erreichen.

„Moin, moin!“, grüßte der Hausmeister freundlich zurück, doch das hörte der Schüler nicht mehr. Ängstlich, von entsetzlicher Panik befallen, hatte Willi längst in der letzten Zelle der Toiletten die Verriegelung herumgedreht.

„Besetzt“ war auf rotem Grund mit schwarzen Buchstaben an der Dreharmatur zu lesen!

„Ruhig, bleib ganz ruhig!“ Schwer atmend lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Holztür, einen Fuß auf den Brillenrand gestellt. Das schockfarbene leuchtende Rot seines Strumpfes kam zum Vorschein. Irgendwie wirkte es etwas beruhigend auf den verwirrten Schüler. Hier in der kleinen Zelle war er sicher, hier fühlte er sich wohl, hier hatte er vor noch gar nicht langer Zeit seine erste Zigarette gepafft, schwer von Husten und Übelkeit geplagt.

Hier in dieser nach Urin stinkenden Enge hinter den hellgrauen Wänden, bemalt mit unzähligen Liebesbekundungen pubertierender Schüler, hier hinter der fest verschlossenen Tür – hier fühlte er Sicherheit in einem verschlossenen, geschützten Bereich.

„Verdammt!“ In aller Eile hat er vergessen die Nachbarzellen zu prüfen, waren die alle leer? Angespannt hielt er den Atem an, angestrengt lauschte er in die Stille. Nein, nichts war zu hören!

Keine Geräusche, keine schlurfenden Schritte, kein Abreißen von Papier, kein Klappern der blechernen Rollenhalter – nichts! Nur das Pfeifen des Hausmeisters klang leise von draußen herein.

Willi war allein im Toilettenhaus. Erleichtert ließ er die angehaltene Luft ab. Wie immer hatte er instinktiv die letzte Zelle der Toilettenreihe gewählt, die hinterste mit dem kleinen Milchglasfenster im oberen Drittel der Außenwand. Er konnte es öffnen und eindringende Frischluft überspülte den ätzenden Uringeruch. Voller Neugier untersuchte Willi in seinem Versteck die geklaute Brieftasche.

Nervös durchwühlte er die Fächer und durchsuchte den Inhalt.

„Hat sich die Aufregung gelohnt?“, fragte er leise sich selbst.

Ein Kamm steckte im vorderen Teil des Lederetuis. Eitler Fatzke, dachte Willi. Mit leicht zittrigen Händen suchte er weiter. Unter einer Klarsichtfolie steckte eine „Schüler-Monatskarte“ für die Bundesbahn! „Klasse 10B“ – konnte er gestempelt unter der Unterschrift des beraubten Schülers auf dem Fahrschein erkennen.

„Ein Pechvogel aus der Stadt!“ Sarkastische Zufriedenheit überfiel ihn. Wenigstens hatte er keinen Schulfreund aus dem Umland beklaut. Er kramte weiter in den Fächern der fremden Brieftasche.

Nicht nur die Schüler unterschieden damals noch mit penetranter Sorgfalt zwischen Land- und Stadtkindern und grenzten sich untereinander ab, sondern scheinbar auch die gesamte Lehrerschaft. „Chancengleichheit“ im Bildungssystem wurde das genannt, der sozialistische Beitrag der SPD in der Großen Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger.

Sorgfältig öffnete Willi langsam den Reißverschluss der Kleingeldbörse. Ein wenig enttäuscht, keine Geldscheine gefunden zu haben, entdeckte er dann ein großes Fünfmarkstück, ein weiteres Einmarkstück und drei Groschen.

„Eine Runde für die Jungs ist gesichert!“ stellte er zufrieden für sich fest. Vor Aufregung wäre ihm beinahe das Markstück in die Kloschüssel gefallen. Ungeniert freute er sich auf das tägliche gewohnte Treffen nach Schulschluss am nahegelegen Kiosk. Dort gab es eine gemütliche Nische mit einer alten Holzbank neben der kleinen Verkaufsklappe. Auf der Bank und weiteren Klappstühlen ließ sich mit den Freunden immer ungestört paffen und quasseln!

Mal sehen, wie die Jungs nachher abschnallen, wenn ich eine Runde schmeiße, Fluppen sind mit der Kohle auch noch drin! Seine Gedanken überschlugen sich in Vorfreude, später den großzügigen Krösus spielen zu können.

„So ein Mist!“ Mit Grausen entdeckte er einen Personalausweis im Sichtfach der Brieftasche.

Sein Respekt gegenüber behördlichen Papieren förderte erneut Schweißperlen der Angst auf seine krause Stirn. Gespannt öffnete er das amtliche Dokument.

„Sieh’ mal an, der Dickwanst aus Düsternort!“

Willi kannte sein Opfer und aufkommende Schadenfreude trocknete den Schweiß im Gesicht. Gebannt starrte er auf das Passfoto; erleichtert beruhigte er sich selbst.

Von dem Tollpatsch besteht kaum Gefahr auf Entdeckung, nicht bei diesem Mamasöhnchen, dachte er überheblich und suchte weiter. „Oh, was haben wir denn hier?“, flüsterte er leise.

Hastig zerrte er den versteckten grünen Zwanzigmarkschein aus dem hinteren Passfutteral. Höchst beglückt ließ ihn diese Entdeckung beinah vor Freude laut aufschreien.

„Jungs! – Das wird ein Fest“, jubelte er leise noch innerlich beherrscht, „die werden staunen!“

Er dachte an seine besten Freunde. An Reinhold Bolte, den Größten und Schönsten der Klasse. Mit seinem prächtigen Lockenkopf war er der Schwarm aller Mädchen. Sie nannten ihn „Taschi“, wegen seiner ausgeprägten Begabung, ein Taschenmesser so gezielt zu schmeißen, dass es garantiert auch stecken blieb. Wettkämpfe im Messerweitwurf gewann grundsätzlich er. „Halbblutindianer“ hatte Willi ihn wegen der etwas dunkleren Hautfarbe genannt, die ganz deutlich auf eine Abstammung von Vorfahren aus südlichen Ländern hinwies.

An André Peters, „Möchtegern“ Diskjockey und nach eigenem Bekunden „Weiberheld“. Er kannte fast alle Texte der „Beatles“ auswendig und piepste diese mit schwacher, mädchenhafter Stimme immer dann mit, wenn es keiner hören wollte!

Wer Schallplatten tauschen wollte, rief nach „Andy“. Trotz seiner erst fünfzehn Jahre durfte er nachmittags manchmal im „Bonanza“ auflegen. Der liebte und genoss diesen Aushilfsjob in der Diskothek; sehr zum Leiden seiner Eltern, die ihn immer weniger zu Hause antrafen. Er kleidete sich wie seine Idole und geriet mit einem Mikrofon in der Hand in schüttelnde Ekstase. Die weißen Schulterstücke auf seiner hellblauen Uniformjacke, provisorisch aufgenäht von seiner Schwester, erinnerten stark an Paul McCartney auf der Plattenhülle von „Sergeant Pepper“!

Sie leuchteten hell und tanzten mit ihm im flackernden Scheinwerferlicht der Disco. Diese geliebte Jacke trug er auf seinem schmächtigen Körper bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Seine dicken schwarzen Haare formten einen modischen Pilzkopf, den Willi heimlich bewunderte. Nur das ewig blasse und schmale Gesicht wollte so gar nicht zur üppigen Haartracht passen.

„Andy, wo will dein Hut mit Dir hin?“, war nur einer der vielen Sprüche neidischer Mitschüler, die ihn trotzdem umschwärmten wie Fliegen den Hundekot!

Zu dritt hatten sie letzten Ostern die Versetzung in die 10A nicht geschafft und gemeinsam den qualvollen und peinlichen Gang in die untere Klasse angetreten. Klar, dass so etwas verbindet.

Mit dieser Gruppe der „Wiederholer“ gemeinsam in der neuen Klasse gelandet, hatten sie für sich eine Art Schutzgemeinschaft gegen pöbelnde Anfeindungen der jüngeren Mitschüler gebildet.

Schnell hatten sie sich jedoch durch körperliche Überlegenheit den gehörigen Respekt der Klasse verschafft; denn Einigkeit macht stark – und einig waren sie sich immer, egal was auch geschah!

Richtig aufgenommen in der neuen Klassengemeinschaft waren die drei aber erst, als Volker, der gewählte Klassensprecher der 9A, sich zu ihnen bekannt hatte. Sein Wort in der Klasse zählte und nur er hatte die Macht, die kollektive Ablehnung der fremden „Sitzenbleiber“ aufzuheben.

Demonstrativ hatte er sich einfach zu ihnen in die vorderste Reihe gesetzt. Zu viert kontrollierten sie nun von vorne den Klassenverband; gleich neben dem Eingang platziert, immer den Fluchtweg gegen jede Lehrerwillkür sichernd!

Dröhnend schrilles Klingeln der Pausenglocke unterbrach plötzlich die unheimliche Stille im Toilettenhaus. Laut scheppernd schlug die schwere Stahltür ungebremst wiederholt in ihre Zarge. Schülerscharen stürmten in die Toilette, um sich der angestauten Notdurft zu entledigen.

Lautes Palaver der Jungs vermischte sich mit Knallgeräuschen klappender Zellentüren und dem Gurgeln der Toilettenspülungen. Erschrocken zuckte Willi in seiner Zelle zusammen, als von außen jemand heftig an seiner Tür ruckelte. Hastig stopfte er das Geld in die Hosentasche.

Wohin mit der scheiß Brieftasche, dachte er voller Panik und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, diesen verräterischen Rest seiner Beute loszuwerden.

Erleichtert hörte er Volkers vertraute Stimme.

„Willi? – eh Willi!“ Heftig wurde die Türklinke niedergedrückt. „Eh du Pflaume! – Sag was!“

„Schnauze, bin gleich fertig!“, überdröhnte Willis kurze Antwort aus dem kleinen, grauen Kabuff das Stimmengewirr der Schüler. Vorsichtig versuchte Willi, geräuschlos das kleine Lüftungsfenster im oberen Drittel der Wand weiter zu öffnen. Es gelang ihm unbemerkt. Im hohen Bogen schmiss er die fremde Brieftasche durch das Fenster in den angrenzenden Garten eines Nachbarhauses.

Eine hohe Hainbuchenhecke trennte diesen sorgfältig gepflegten Gemüseanbau in etwa zwei Meter Abstand vom Schulgelände. Er war absolut sicher, diese Entfernung mit seinem gelungenen Wurf überwunden zu haben.

Hoffentlich findet die keiner, dachte er erleichtert und schloss wieder lautlos das Fenster.

„Paulus schickt mich, wie’s dir geht und so! Musst du kotzen?“ Die besorgte Stimme des Freundes hallte durch den gefliesten Raum. Wieder hämmerte er gegen die Zellentür.

„Mach doch endlich auf!“ – „Was ist denn los?“

„Alles, was nicht angebunden ist!“, schallte es von innen laut zurück und Volker musste Grinsen. Hatte er doch die Verfassung des Kumpels richtig eingeschätzt. Er hörte, wie das Spülwasser in die Kloschüssel rauschte. Die Tür öffnete sich und der vermeintliche Kranke boxte ihm verschmitzt lächelnd gegen die Schulter.

„Astreine Vorstellung, bist auch drauf reingefallen!“, lachte Willi Beifall heischend den verdutzten Freund an und zog demonstrativ den Reißverschluss vom Hosenschlitz hoch.

„Quatsch mit Soße, wenn du dich ausgekotzt hast, sollst du dich sofort bei Paulus melden!“

Volker trat grinsend zur Seite und gab den Weg frei zu den verdreckten Waschbecken. Angewidert wusch Willi sich die Hände und schlug sie abtrocknend in die Luft.

„Was will der Arsch denn noch von mir?“ Nachdenklich und besorgt neigte er suchend den Kopf.

Handtücher gab es aus berechtigten Gründen der Hygiene auf Schultoiletten nicht. Mit der rechten Hand griff er reflexartig in die Hosentasche. Zum einen, um diese richtig abzutrocknen, zum anderen, um nachzuprüfen, ob die Beute noch sicher verwahrt war. Es fühlte sich unendlich gut an, den Geldschein in der Hand zu knittern! „Sechsundzwanzig Mark dreißig!“

Freudig erregt rechnete er mit stiller Befriedigung nach – von schlechtem Gewissen keine Spur!

„Was weiß ich denn!“ Kopfschütteln zuckte Volker mit den Schultern und kaute wie gewöhnlich nervös auf einem nicht vorhandenen Kaugummi in seinem Mund. „Hat für dich vielleicht noch ein paar fromme Sprüche drauf!“ Lässig unterstrich er diese Bemerkung mit einem freundschaftlichen Boxschlag gegen Willis Brust, wobei er die für ihn so typische Haltung einnahm. Den Kopf leicht in den Nacken gebeugt und die Augenlider halbgeschlossen taxierte er das zunehmend kalkweiße Gesicht seines Gegenübers.

„Muffe, was?“ Ohne die Sorgen und Ängste des Freundes auch nur im Geringsten zu ahnen, brachte er damit Willis Gefühle auf den Punkt!

Erneut ertönte das schrille Geläut der Pausenglocke, das unverkennbar an das Nerven zerfetzende Getöse vieler gleichzeitig betätigter Fahrradklingeln erinnerte. Die große Pause wurde eingeläutet und die Schüler drängelten sich vor der Milch- und Kakaoausgabe.

Längst hatten Volker und Willi den bevölkerten Toilettenraum verlassen und schoben sich drängelnd durch die zum Pausenhof eilenden Schülermassen. Vorbei an den fünften und sechsten Klassen im Untergeschoss strebten sie gemeinsam in Richtung Lehrerzimmer.

Gemächlich durchquerten sie den langen Korridor, gefüllt mit schallendem Gebrüll der jüngeren Schüler, die sich schubsend und lachend austobten. Alle froh, dem Unterricht für zwanzig Minuten entfliehen zu können.

Die Schüler haben in den großen Pausen bei trockenem Wetter das Schulgebäude unverzüglich zu verlassen! So stand es zu lesen in der Schulordnung Paragraf sieben, wie oft hatte Willi diesen Absatz zur Strafe abschreiben müssen!

Durch das große Foyer mit dem imposanten Haupteingang und einer über die drei Stockwerke reichenden Fensterfront gelangten die beiden in den zweiten Flügel des rechtwinklig zugeordneten Schulgebäudes. Vorbei an der breiten wuchtigen Wendeltreppe in der Empfangshalle trafen sie hier keine Schüler mehr, denn der Verwaltungstrakt durfte nur mit wichtigem Grund oder im Notfall betreten werden. Kräftigen Schrittes passierten sie im Erdgeschoss das Sekretariat mit dem angrenzenden Büro des Direktors. Die weit ausgestellten Hosenbeine ihrer modernen Schlaghosen schlugen im Rhythmus der Gangart aneinander und hallten echoartig durch das Halbdunkel des hier leeren Korridors. Auf der linken Seite lag der Zeichensaal und zum Ende des Ganges der Eingang zum Werkraum. Der penetrante Geruch von Farben drang in ihre Nasen. Rechts lag das geräumige Lehrerzimmer und daneben der Konferenzsaal.

„Klopf du!“ Willi stieß seinen Begleiter an. Er war sichtlich bemüht, wieder einen schwer leidenden Gesichtsausdruck aufzusetzen und zeigte auf die Tür zum Lehrerzimmer.

Geduldig auf seinem imaginären Kaugummi kauend konnte Volker sein Grinsen nicht verkneifen: „Immer noch Muffe – oder was?“

Er lachte sichtlich vergnügt über das Schauspiel des Freundes. Heftig klopfte er gegen die Tür und lauschte den Kopf nach vorne geneigt auf Antwort von drinnen. Nichts rührte sich!

„Hätte jetzt schön eine Fluppe durchziehen können!“, bemerkte er leise vor sich hin schmachtend und klopfte erneut etwas energischer.

Die Tür öffnete sich und Fräulein Engelbart, die schlanke hübsche Englischlehrerin, erschien vor den beiden. Leicht vorgebeugt, den freien Blick in das Lehrerzimmer verhindernd, berührte sie leicht Volkers Schulter.

„Zu wem wollt ihr denn – wen möchtet ihr sprechen?“

Lächelnd schaute sie auf Willi, der unter ihrem Blick zerschmolz. Englisch war sein Lieblingsfach! Seit der fünften Klasse war es ihm gelungen, erfolgreich die Zwei als Zensur in seinem Zeugnis zu verteidigen. Einerseits lag das an seiner Zuneigung zu der jungen, attraktiven Lehrerin, andererseits aber wohl auch an seiner Begabung für Fremdsprachen.

„Paulu … – äh, Herrn Gruner!“, stammelte Volker sichtlich verlegen.

Das Lächeln der verblüfften Lehrerin verwandelte sich in lautes, ungehemmtes Lachen. Auch sie kannte schließlich den von fast allen Schülern benutzten Spitzennamen des allgemein ungeliebten Religionslehrers. Mit einer Hand auf den Türgriff gestützt, wandte sie sich um und rief nach dem Verlangten. „Herr Gruner – bitte! Zwei ihrer Schüler aus der 9A!“

Willi fiel es zunehmend schwerer, weiterhin den Leidenden mit Bauchschmerzen vorzutäuschen!

Seltsam verschämt lächelnd eilte Fräulein Engelbart an ihren Platz zurück. Die Jungens hörten, wie Stühle gerückt wurden; sie trauten sich jedoch nicht, einen Blick in diesen ehrwürdigen Raum zu werfen. Wer als Schüler über diese Türschwelle trat, hatte in der Regel nur Unheil zu erwarten!

Entweder musste er vor der versammelten Lehrerschaft „Rede und Antwort“ zu Verstößen gegen die Schulordnung geben oder er wurde mit unangenehmen zusätzlichen Aufgaben zur „sozialen Mitverantwortung“ herangezogen.

„Konferenz“ nannten sie das – diese wurde immer dann einberufen, wenn ein Schüler mit drei Tadeln vermerkt war. Drei Tadel, das bedeutete, pro Schuljahr hatte der Betroffene dann drei Eintragungen in das allseits verhasste Klassenbuch bekommen.

Gründe für solch einen Eintrag gab es genug; Zuspätkommen, Unterricht schwänzen, unerlaubtes Entfernen vom Schulhof, heimliches Rauchen, Stören des Unterrichts und vieles mehr!

Ehrfürchtig traten die beiden einen Schritt zurück, während Herr Gruner sich näherte.

Willi presste wieder die Arme in seinen Bauch. Mit leicht vorgebeugter Haltung hoffte er auf Mitleid und Begnadigung durch die Lehrkraft. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich ein Schatten aus dem grellen Licht des Fensters vom Ende des langen Flures näherte.

„Na, was hobt’s ihr nu’ wieder ang’stellt?“ Mit unverkennbar bayrischem Akzent drang die sonore, drohende Stimme von Herrn Pfaffenhofer in die Ohren der eingeschüchterten Jungens.

Er war ihr Musik- und Klassenlehrer und fühlte sich als solcher natürlich verantwortlich für die beiden. Sein ironischer Sarkasmus war gefürchtet und die meisten Schüler fragten sich, warum ausgerechnet sie hier im hohen Norden mit diesem „Urbayern“ aus der südlichen Provinz gestraft wurden. „Hoabst ka’ Pausen net?“, entwich es dem Lehrer mit der zerschlissenen Aktentasche unter dem Arm. Ohne eine Antwort abzuwarten, drängelte er an den Schülern vorbei und stieß beinahe mit Paulus beim Eintritt in das Lehrerzimmer zusammen!

„Vorsicht, Herr Kollege!“, näselte der Angestoßene aus verschlossenem Mund und schob ärgerlich seine breiten, buschigen Augenbrauen zusammen. Seine rechte Hand legte er vertraulich auf Willis Schulter. „Komm bitte mit, Wilfried“, wandte er sich ruhig an den vermeintlich „kranken“ Schüler. „Danke, Volker! Du kannst jetzt gehen!“ Mit abweisender Handbewegung wies er Volker den Weg nach draußen.

„Dort hinein, bitte!“ Herr Gruner zeigte auf die Tür zum Besucherzimmer, das zwischen dem Lehrerzimmer und dem Sekretariat lag. Von bösen Vorahnungen geplagt ließ Willi sich in das schmale Zimmer drängen. Der Lehrer setzte sich hinter den klobigen, schmucklosen Schreibtisch.

Er deutete dem Schüler, auf dem Besuchersessel gegenüber Platz zu nehmen. Er selbst ließ sich in die gepolsterte Lehne seines Stuhles fallen. Fromm faltete er die Hände vor dem vorspringenden Bauch und über den Rand seiner Hornbrille taxierte er seinen eingeschüchterten Schützling mit eisigem Schweigen. Bleischwer wurde jetzt das geklaute Geld in Willis Tasche und das schlechte Gewissen schien förmlich in sein Gesicht zu klettern. Noch nie hatte er in diesem Raum Gutes erfahren. Zuletzt hatte er mit seiner Mutter am Elternsprechtag hier gesessen.

Der Direktor hatte von „großer Gefährdung der Versetzung“ gesprochen, aber auch von „Fleiß“ und „Hoffnung“. Wie dankbar hatten danach Mutters Augen geglänzt. Doch alle Anstrengungen waren vergeblich gewesen, die Versetzung in die 10A zum Ende des Schuljahres hatte nicht stattgefunden!

Willi spürte das gleiche Unbehagen wie damals. Immer noch starrte Friedrich Schiller, Namensgeber dieser Schule, aus seinem Ölbild an der Seitenwand mitleidig auf den Geplagten herab. Es lag eine Bedrohung in der Luft und die innere Anspannung drohte Willi zu zerreißen.

Der Lehrer räusperte sich und zerrte umständlich ein Tuch aus der Hosentasche. Ruhig nahm er die Brille von der Nase und hauchte sie an. Mit übertriebener Gelassenheit putzte er die Brillengläser, hauchte nochmals drauf und wiederholte den Putzvorgang.

Im Gesicht kalkweiß rutschte Willi auf seinem Sessel nervös hin und her; er geriet an den Rand seiner Beherrschung. Mit einem verstohlenen Seitenblick auf den zappelnden Schüler schob sich der Lehrer langsam die Brille auf die Nase zurück. Oh ja! Er genoss diesen Moment. Zu oft hatte er sich im Unterricht über diesen „Rabauken“ ärgern müssen.

„Ich habe dir wieder einen Eintrag in das Klassenbuch gegeben“, sagte er ruhig, den Sitz der Brille noch einmal korrigierend. „Es ist nunmehr der dritte Eintrag in diesem Schuljahr, somit kommst du wieder vor die Lehrerkonferenz!“ Behäbig beugte er sich vor und stützte sich mit verschränkten Armen auf der klobigen schwarzen Schreibtischplatte auf.

„Hast du tatsächlich geglaubt, dass ich deine störende Klassenkomödie von vorhin kommentarlos hinnehme? Bist du wirklich der Meinung, dass dieses ‚Schmierentheater‘ mich von einer Übelkeit und einem angeblichen Unwohlsein hätte überzeugen können?“

Bedeutungsvoll abwartend starrte er seinen Schüler an.

„Ich weiß, dann und wann ist wohl jeder mal mit den Gedanken nicht so ganz beim Lehrstoff, insbesondere bei den schweren Themen der Religionslehre, wie ich diese euch nun mal vermitteln muss! – Aber dann gleich ein solches Theater!“ Unverständnis ausdrückend schüttelte er den bulligen Kopf und starrte seinem Gegenüber fest in die Augen.

„Damit wir uns recht verstehen“, fuhr er mit gleicher monotoner Stimme fort und sein Zeigefinger klopfte zur Verschärfung der Belehrung nervös auf der schwarzen Tischplatte. „Du bekommst den Tadel nicht wegen deiner Unaufmerksamkeit, sondern wegen vorsätzlicher Unterbrechung meines Unterrichts durch dein gezeigtes Verhalten –, ist das verstanden?“

„Ja, Herr Gruner!“ Mit letzter Kraft legte er noch Leid und Reue in seine Stimme. Willi fühlte sich erleichtert und innerlich befreit von der Angst, als ein Dieb überführt zu werden. Er spürte, wie das Zittern in seinen Knien nachließ.

Nichts weiß der, schoss ihm beruhigend durch den Kopf, den er vorsichtshalber tief gebeugt hielt,

nichts von der Brieftasche, nichts vom geklauten Geld!

Selbst Friedrich Schiller an der Wand bekam jetzt einen freundlicheren Gesichtsausdruck und das enge Zimmer erschien plötzlich viel heller. Kurz und knapp, so wie er es von Paulus gewöhnt war, hörte Willi noch ein gepredigtes „Du kannst jetzt gehen!“

„Danke!“, zwang sich der Schüler gepresst zu antworten. Er hastete aus dem Zimmer, alle Qualen und Ängste hinter sich lassend.

Es gehörte natürlich eine ganze Menge Dreistigkeit dazu, einen angedrohten dritten Eintrag in das Klassenbuch mit Erleichterung aufzunehmen, doch Willi fühlte sich befreit. Die panische Angst vor der Entlarvung als Dieb verschwand wieder ins Unterbewusstsein und wich den Gedanken der Freude über den gesicherten Geldsegen in seiner Hosentasche.

Sicherlich glaubten ihm viele seiner Mitschüler die so oft gezeigte Rolle des mutigen Draufgängers, doch eigentlich war er ganz anders! Tief im inneren verkörperte er genau das Gegenteil des nach Außen gezeigten – hoch sensibel, schüchtern und völlig verunsichert.

Als Sohn eines einfachen Arbeiters vom Land war er geprägt von den Vorurteilen der Gesellschaft und deren herablassendem Verhalten gegenüber „Flüchtlingskindern“ dieser Nachkriegsgeneration!

Seine Abhängigkeit von der Meinung anderer und sein ausgeprägtes Verlangen nach Anerkennung zwangen ihn oft zu solch gewagten Auftritten, wie dem in der vergangenen Religionsstunde!

Nach solch gelungenen Streichen, meist mit Risiken verbunden, genoss und spürte er vermeintliche Bewunderung und Anerkennung durch die Klassenkameraden.

War es die gelegentliche genutzte Schwarzfahrt mit der Deutschen Bundesbahn auf dem Weg zur Schule? War es das unerlaubte Entfernen vom Schulhof während der Pausen oder das stets riskante und aufmüpfige Verhalten gegenüber den Lehrern – immer gab es etwas! – Etwas, das ihm half, die durch Angst und Schüchternheit begründeten Minderwertigkeitsgefühle zu vertuschen!

Willi ahnte nicht, dass die kommenden Tage sein Leben total verändern würden!

Beschwingt, die Hände in den Hosentaschen vergraben, schlenderte er von einer Last befreit zurück in Richtung Klassenraum.

Ihr könnt mich alle mal, dachte er frohlockend und rieb die Geldstücke zwischen seinen Fingern.

Alle Schüler dieser Lehranstalt hatten während der großen Pausen das Innere des Schulgebäudes zu verlassen. Sie durften sich draußen auf dem Schulhof frei bewegen.

„Zur körperlichen Erholung und zum Auftanken von Sauerstoff“, wie Direktor Dr. Dr. Löscher unermüdlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verstehen gab. Nur an nassen Regentagen war der Aufenthalt in Fluren und Klassenräumen erlaubt!

Durch die gläsernen Schwingflügel der schweren Tür zum Pausenhof beobachtete Willi die bunten Gruppen tobender Mitschüler. Im Genuss der ersten warmen Sonnenstrahlen des Vorfrühlings ließen diese ihrer Fantasie freien Lauf. Es wurde „Kriegen“ gespielt, geschubst und gedrängelt, sehr oft zum Ärger der Pausenaufsicht. Zwei Lehrkräfte durften täglich wechselnd diese schwere und verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen und darauf achten, dass solch Gerangel nicht ausartete. Abschürfungen an blutigen Knien und Ellenbogen gab es beinah täglich zu versorgen.

Nebenbei hatten sie auch darauf zu achten, dass Butterbrotpapier oder ähnliches in bereitgestellten Müllbehältern landete. Wie an allen Schulen in den sechziger Jahren, so war es auch an Willis Schule ein festes Ritual, dass die älteren Schüler die große Pause nutzten, heimlich zu rauchen. In der Ecke bei den Fahrradständern versteckt, verstießen sie damit bewusst gegen die Schulordnung im kollektiven Spaß am Ungehorsam. Berge von überhastet ausgedrückten Kippen, teils noch gefährlich glimmend, wurden in die benachbarten Gärten geschnippt. Ein Verhalten, sehr zur Freude der Anrainer, das bereits mehrfach zu Beschwerden bei der Schulleitung geführt hatte. Dieses Vergehen, sehr zur Freude der Schüler, wurde dann den entsprechenden Lehrkräften der Pausenaufsicht angelastet.

Im Inneren des Schulgebäudes wurde solch eine Aufsicht in den Klassenräumen für jede Etage separat von zwei ausgewählten „Vertrauensschülern“ durchgeführt. Es galt als besondere Ehre und hohe Anerkennung, durch den Klassenlehrer hierfür bestimmt zu werden. Allerdings bestand die „ehrenvolle“ Aufgabe dann vorrangig im Anschwärzen und Verpetzen von Klassenkameraden.

Entdeckten diese „Auserwählten“ einen Mitschüler während der Pause innerhalb des Gebäudes, so musste ein derartiger Verstoß gegen die Schulordnung unverzüglich im Rektorat mit Namen und Klasse des Ertappten gemeldet werden.

„Erst melden und nie nach dem Sinn der Begründung fragen!“, hieß es spöttisch in Schülerkreisen. Es ist sicherlich leicht nachvollziehbar, dass diese Aufgabe nicht ganz ungefährlich war. Oft waren heftige Schlägereien untereinander das Resultat derartiger Petze!

Die Überwachung der Reinhaltung von Fluren und der Klassenräume gehörte ebenfalls zu den anspruchsvollen Aufgaben dieser Auserwählten. Wie oft hatten sich die Putzfrauen bei Hausmeister Schreiber beschwert; denn Apfelreste, verschimmelte Pausenbrote, Apfelsinenschalen und Stummel von hastig ausgedrückten Zigaretten gehörten nun mal nicht in die Ablagen unter den Schultischen.

Willi wusste, dass in dieser Woche sein heimlicher Schwarm „Babsi“ die Aufsicht im oberen Stockwerk führte. Für ihn gab es keinen triftigen Grund, die letzten paar Minuten der großen Pause auf dem Schulhof zu verbringen. Also kehrte er um und ließ Schulhof und Schwingtüre hinter sich.

Vorbei am Hausmeisterbüro schlich er sich leise zur breiten Wendeltreppe. Zackige Marschmusik drang an sein Ohr. Hausmeister Schreiber lag ganz entspannt zurückgelehnt in seinem Bürostuhl im kleinen Hock neben dem Haupteingang. Die Beine auf einem hohen Karton ausgestreckt, lauschte er mit geschlossenen Augen den rhythmischen Klängen aus dem Radio. Gedankenverloren trommelte er im Takt mit den Fingern auf der massiven Schreibtischplatte.

„Kreuzritter Fanfarenmarsch!“, dachte Willi und setzte sanft, mit größter Vorsicht, einen Fuß vor den anderen, Stufe für Stufe die steinerne Treppe aufwärts erklimmend. Er durchquerte unentdeckt den Flur im obersten Stock und öffnete leise die Klassentür.

Babsi saß auf der breiten Fensterbank mit dem Rücken in der wärmenden Sonne. Sie las in einem Schulbuch. In ihrem braunen kurzen Kleid wirkte sie im blendenden Gegenlicht wie ein Gemälde. Ihr langes hellblondes Haar spiegelte das grelle Sonnenlicht zu einem leuchtenden Schein um die vollendete Schönheit ihres Gesichtes. Erschrocken blickte sie auf.

„Was willst du denn hier, es hat doch noch gar nicht geklingelt! Ich denke, du bist krank?“

Gleichermaßen erstaunt und fragend wendete sie sich an den Eindringling. Mit ihrer ihm so vertraut etwas heiser klingenden Stimme fragte sie interessiert weiter: „Willst du gar nicht nach Hause?“

Mit der linken freien Hand schlug sie die langen Haare aus dem Gesicht. Willi zerfloss bei diesem Anblick. Sein Plan war aufgegangen, er – völlig allein mit der von allen umschwärmten Babsi in seiner Klasse! „Nee, geht schon wieder!“, antwortete er knapp. „Paulus hat mich erwischt.“

Verlegen nahm er den nassen Schwamm und wischte die Spuren der letzten „Bibelstunde“ von der grünen Wandtafel. Ab und zu drehte er den Kopf und schaute dem bildhübschen Mädchen direkt in die Augen. Sie wich ihm aus, senkte errötend den Kopf und las weiter in ihrem Buch!

Barbara Schäfer galt als die Schönste der Abschlussjahrgänge. Jeder der pubertierenden Mitschüler warb mehr oder weniger erfolgreich um sie. Mancher Hahnenkampf auf dem Schulhof wurde nur wegen ihr ausgetragen. Sie war sich ihrer betörenden Wirkung auf die Jungs durchaus bewusst. Berechnend und mit Vergnügen wusste sie die Gunst der heranwachsenden Männlichkeit ihres Jahrgangs immer zum eigenen Vorteil zu nutzen. Wer ihr die Schultasche tragen oder ihr ein Eis ausgeben durfte, galt als äußerst bevorzugt und wurde grenzenlos beneidet. Hilfestellung bei ihren Hausaufgaben stellte den absoluten Höhepunkt des Erreichbaren dar, besonders wenn solch eine „Hilfe“ dann noch bei ihr zu Hause stattfand. Jeder lechzte danach, sie einmal in der alten Villa der stinkreichen Eltern besuchen zu dürfen. Solch eine Nachhilfe bei den Schularbeiten der blonden Schönheit ließ der Vorstellungskraft bei den nicht erwählten freien Lauf und es gab Gerüchte voller Fantasie und Leidenschaft!

„Die Jungs sind ja alle sowas von bescheuert!“, bemerkte Babsi des Öfteren gegenüber ihrer besten Freundin Dagmar. Mit schelmischer Freude im Gesicht meinte sie mit dieser Beurteilung natürlich nur die männlichen Klassenkameraden. Verbindlichen Anschluss suchte sie jedoch eigentlich in der älteren und bereits erwachsenen Gruppe der „Halbstarken“.

Willi war „bescheuert“, aber eben auch privilegiert. Auf dem letzten Wandertag der Klasse durfte er sogar ihren Mantel tragen, den sie schwitzend abgelegt hatte. Ein nicht hoch genug zu bewertender Vorteil in der Gunst des Mädchens, der von den Klassenkameraden neidisch, aber auch spöttisch beobachtet wurde – so weit hatte es bei der Schönheit noch keiner geschafft!

Der Umgang mit ihr war schwierig! Als einzige Tochter des Leiters der Stadtkämmerei galt sie als verwöhnt und eingebildet. In der schönsten Ecke der Stadt wohnte sie in einer alten Stadtvilla direkt neben dem Stadtpark – für Willi unerreichbar und doch so nah!

Es machte ihr riesigen Spaß, mit den Jungs zu flirten, besonders mit den älteren und ganz besonders mit denen, die nach Schulschluss bereits mit einem Moped nach Hause fahren konnten.

„Kreidler RS“ oder „Zündapp KS 50“ galten als unverwechselbares Statussymbol in dieser Zeit der Beatles und der Pilzköpfe. Diese PS-starken Feuerstühle durften mit Vollendung des sechszehnten Lebensjahres gefahren werden, vorausgesetzt, der Schüler verfügte über einen gültigen Führerschein der Klasse vier.

„Die verscheißert euch doch nur!“ Taschi warnte bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Er sollte es wissen! Schließlich war er der Älteste mit „einschlägig intimer Erfahrung“, wie er öfters betonte und mit eigenem Moped! Nur war es auch ihm nie gelungen, Barbaras Interesse und Zuneigung zu gewinnen.

„Hilfst du mir heute Nachmittag bei Mathe?“ Unterwürfig seufzend riss Babsi den Tafelwischer aus seinen Träumen. Willi war völlig überrascht und starrte verlegen auf ihren süßen Schmollmund; – ein Eisblock, wer da hätte nein sagen können!

„Nee, kann nicht!“, antwortete er kurz und verbittert. Enttäuscht schmiss er den Tafelschwamm in den Eimer zurück; denn er musste ihre Bitte ablehnen. Nie durfte er nachmittags von zu Hause weg. Er musste am Neubau seiner Eltern helfen. Steine schleppen und sauber aufstapeln war der Auftrag. Solange, bis das vom Vater gesetzte Pensum erfüllt war. Nur das wusste in der Klasse keiner; denn Willi schwieg aus Scham, es war ihm peinlich!

„Häusle baue – nur nicht nach den Mädle schaue!“, galt als die Familiendevise der sechziger Jahre. Leider zu oft auch als viel zu große Belastung für die Kinder der fleißigen und aufstrebenden Eltern in Zeiten des viel gerühmten Wirtschaftswunders.

Natürlich reagierte die verwöhnte Tochter reicher Eltern beleidigt.

„Nee – wie – du kannst nicht!“, ungläubig blickte sie ihn an. „Dann frag ich halt den Bolte!“ Verärgert klappte sie ihr Buch zusammen und ging zu ihrem Platz.

Das saß, das tat weh! Tief ins Innerste getroffen dachte Willi an die verhasste Bauarbeit und an das vom Vater verlangte Pensum der Drecksarbeit für den ganzen Nachmittag. Er hatte einfach keine weitere Erklärung oder Ausrede für die Angebetete parat.

Das Klingeln der Pausenglocke unterbrach die verlegene Stille zwischen den beiden. Alle Schüler hasteten wieder in ihre Klassenräume und das Getrampel und Getöse unzähliger Füße hallte durch das Schulgebäude und ließ die Stockwerke erzittern.

Andy erreichte als erster die Klasse und blickte erstaunt auf seinen Freund.

„Auch noch Zeit für die Liebe!“, bemerkte er spöttisch und nahm seinen Platz neben der Tür ein.

Willi hätte ihn wegen dieser Bemerkung erschlagen können. Er zeigte dies auch versteckt mit der Faust drohend. Durch solche Gesten ließ sich André Peters jedoch nicht mehr einschüchtern. Dafür kannte er den drohenden Freund zu lange. Zusammen waren sie in einem kleinen Vorort der Stadt Delmenhorst aufgewachsen. Seit ihrer Kindheit waren sie unzertrennlich. Gemeinsam hatten sie die Dorfschule mit den vier Grundschulklassen besucht. Schon dort hatten die beiden Jungs eine ganze Menge Blödsinn verzapft. Sehr oft hatte das zu Stockschlägen in die flache Hand durch den Lehrer geführt. Oder sie hatten den Rest der Schulstunde in der Klassenecke stillstehen müssen, den Blick starr auf den schwarzen, bulligen Feuerofen gerichtet. Der von den beiden entfachte Waldbrand, der das ganze Dorf bedroht hatte, sei hier nur am Rande erwähnt. Die Bewohner hatten es eigenhändig gerade noch so geschafft, das Feuer zu löschen. Mit nassen Säcken hatten die Frauen und Männer der gesamten Nachbarschaft damals auf die lodernden Flammen eingeschlagen. Mit letzter Kraft hatten sie die Feuersbrunst von ihren Häusern fernhalten können.

Nichts konnte die Jungs trennen, schon gar nicht Andys spöttische Bemerkung über Willis Gefühle. Als „Rechtsaußen“ in der vordersten Reihe, direkt neben der Eingangstür der Klasse, war Andy der Empfangschef für die Lehrerschaft. Seine Hauptaufgabe bestand darin, seine Mitschüler rechtzeitig vor dem Eintreffen der Lehrkräfte zu warnen. Mit einem schrillen, routinierten Pfiff über seine zwei Finger gelang ihm das immer durch Übertönen der lautstark dröhnenden Meute im Klassenraum. Anschließend durfte er dem sich annähernden Lehrer die Tür aufhalten und diesen mit einer tiefen Verbeugung begrüßen. Nach dessen Eintritt in den Klassenraum musste die Tür von Andy leise geschlossen werden. Abschließend hatte er dann unverzüglich und möglichst geräuschlos seinen Platz einzunehmen! Nach jeder Pause wiederholte sich diese Prozedur; sie verlief nie ohne lustige Faxen, vom Türsteher gekonnt komödiantisch vorgetragen. Heimlich hinter dem Rücken der Lehrkraft ließ Andy seiner Fantasie freien Lauf. Der Anblick der belustigt grinsenden Schülerschar in der 9A ließ so manch einen Pädagogen verblüfft die ungewohnt freudige Begrüßung zur Kenntnis nehmen.

Für die dritte und vierte Stunde stand Englisch bei Fräulein Engelbart auf dem Stundenplan. Sie war jedoch stets vorbereitet auf Andys Empfangsscherze. Grundsätzlich drehte sie sich beim Eintreten in die Klasse mit dem Zeigefinger warnend um.

„Good morning, boys and girls!“, rief sie lächelnd in die Klasse. „Good morning, Miss Engelbart!“, brüllte es im Chor zurück.

Schwungvoll warf sie ihre Aktentasche auf das Lehrerpult, setzte sich halbseitig auf die Pultkante und begann mit dem Unterricht. Dabei strahlte sie die erwartungsvollen Schüler mit ihrem makellos rot geschminkten Mund und den blitzend weißen Zähnen an. Ihre pechschwarzen Haare mit dem dunklen Teint ließen eine Abstammung aus südlicheren Gefilden rund ums Mittelmeer erahnen.

Mit ihrer Sitzhaltung auf dem Pult wirkte sie wie ein Topmodell vor einer Misswahl und ihr knappsitzender Minirock beflügelte die Fantasien der Jungs in der ersten Reihe!

„Your homework, please!“

Als Hausarbeit hatte Willi ein Theaterstück in der fremden Sprache vorbereiten müssen. Es sollte im Wechselgespräch gelesen werden und er durfte als Belohnung für seine Arbeit die Besetzung der Rollen bestimmen. Gründlich hatte er Zeile für Zeile der deutschsprachigen Vorlage übersetzt und die Sprechverteilung schon seit Tagen im Kopf. Klar, dass er den weiblichen Part der Hauptrollen an seine Babsi vergab. Zynisch genoss er jedes Wort, als sie zornig und immer noch beleidigt wütend in die Klasse brüllte: „I would very much appreciate to be kissed by your honorable …!“

Gewonnen, dachte Willi glücklich, sie ist doch sauer, dass ich heute nicht zu ihr kommen kann!

Vergessen waren die geklaute Brieftasche, das schlechte Gewissen, der Diebstahl, es war ein schöner Tag! Noch immer lachte die Frühlingssonne warm aus dem weiten Blau des Himmels; und ja, er machte wirklich höllischen Spaß, dieser lebendige Unterricht bei Fräulein Engelbart.

Nach Schulschluss trafen sich die vier Freunde in ihrer beliebten Nische neben dem Kiosk, keine zweihundert Meter vom Schulhof entfernt. Hier, in der aus weiß getünchten Brettern gezimmerten Ecke, hinter Hecken und Sträuchern verborgen, fühlten sie sich „sau wohl“. Wiederholt machte Volker auf die Vorzüge ihrer Fluchtstätte aufmerksam.

„Kein Schwein kann uns hier vom Schulhof aus erkennen!“, stellte er kauend fest. Gemeint waren die unter Strafe verbotenen Ausflüge in den Schutz dieses Verstecks. Trotz oder gerade wegen des entsprechenden Paragrafen in der Schulordnung rissen die Jungs regelmäßig während der großen Pausen aus. Dass „ihre Ecke“ gelegentlich aus zweifellos vorteilhaften Gründen des Sichtschutzes auch von arbeitslosen Alkoholikern besetzt wurde, störte die vier überhaupt nicht.

„Hält uns die Lehrer vom Hals!“ Über diese Vermutung waren sie sich einig.

Taschi flegelte sich wie gewohnt mit Schwung auf die Eckbank im hinteren Bereich der Nische.

Linkes Bein lang ausgestreckt auf die Sitzfläche, Rücken gemütlich gegen die Hauswand gelehnt, Arme vor der Brust verschränkt und die Augen geschlossen. „Last mich in Ruhe“, schien diese Stellung auszudrücken, nur der Knall seiner zerplatzenden Kaugummiblase ließ erkennen, dass er den Gesprächen folgte.

„Büschen stark übertrieben, dein Auftritt in Reli“, pöbelte André Peters den Kumpel an. Seine Augen wanderten unsicher und um Zustimmung bettelnd von einem Kumpel zum nächsten.

„Meinst wohl, das bringt’s, wa?“ Er vermied, Willi direkt anzuschauen. Der versuchte gerade, vier Flaschen „Florida Boy“ zwischen den Fingern balancierend auf dem Klapptisch abzustellen.

„Leck mich doch!“ Scheinbar verärgert griff der Angepöbelte zum Flaschenöffner, der an einer Schnur fest am Tisch befestigt war.

„Was hättest du denn in meiner Situation gemacht? Ich hatte keinen blassen Schimmer von dem, was Paulus geschwafelt hat!“

Gekonnt hebelte er einen Flaschendeckel nach dem anderen vom Flaschenhals ab und ließ diese klimpernd auf die Pflastersteine fallen. Mit sicherem Schwung schob er jedem Freund das köstliche Getränk zu. Keine Flasche verfehlte rutschend ihr Ziel. Stolz, seine Beute sinnvoll angelegt zu haben, reichte er dann noch eine Schachtel Lux Filter durch die Reihe und beherzt griffen die Kumpels zu.

„Na dann prost!“ Willi fühlte sich geradezu euphorisch in der Rolle des edlen Spenders; nicht einen Gedanken mehr an das bestohlene Opfer, keine Reue, kein schlechtes Gewissen!

Er war beseelt von der Anerkennung seiner Freunde hier im verschworenen Kreis, wieder einmal war er „the leader of the gang!“

Volker ließ geräuschvoll den Deckel seines Feuerzeugs aufschnappen, drehte dreimal am Zündrad und gierig zogen sie mit ihren Zigaretten an der nach Benzin stinkenden Flamme.

„So ’ne Scheiße jedenfalls nicht!“ Taschi, der Älteste und Erfahrenste, brachte es auf den Punkt.

Genüsslich ließ er wieder eine Kaugummiblase platzen und richtete sich auf.

„Wisst ihr eigentlich, dass Dagmar Meyer am Wochenende eine Party schmeißt?“

Scheinbar nebensächlich ausgesprochen ließ er seine Frage auf die unwissende Runde einwirken.

„In der großen Kantine über der Werkshalle von ihrem Alten an der Adelheider Straße!“

Eine Antwort der völlig überraschten Freunde wartete er gar nicht erst ab.

„Irmela hat mir das gesteckt und die hat’s von Gudrun gehört. Jungs darf sie auch einladen!

Saufen, Fressen – alles frei – Musik satt! Andy –, haben die dich schon gefragt wegen Platten auflegen und so?“

Resignierend konnte der Befragte nur mit den Schultern zucken. Er, der sonst über solche Partys immer bestens informiert war, musste kopfschüttelnd verneinen.

„Keine Ahnung, ich hab nicht den blassesten Schimmer!“ Der Neid in seiner Stimme war nicht zu überhören. Es traf ihn sehr, dass Taschi mehr wusste als er selber; seine absolute Vormachtstellung in allen Fragen zur Disco und Partyszene der Schule geriet ins Wanken.

„Hab meine Anlage sowieso nicht klar, da fehlen noch ein paar Lötstellen am Mischpult und an den Boxen!“ Mit abweisender Handbewegung winkte er scheinbar gelangweilt ab und nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle.

Willi sah sich für das kommende Wochenende wieder auf dem Bau seiner Eltern wühlen. Er ahnte, dass er wohl nicht dabei sein würde. Er spürte erneut die aufsteigende Wut in seinem Inneren.

„Ist Babsi auch dabei?“ Fragend blickte er auf Taschi, der ihn belustigt angrinste.

Die Frage war ihm völlig unbedacht rausgeschossen und er bereute sie bitterlich, kaum dass sie ausgesprochen war; jeder wusste, wie sehr er für das Mädchen schwärmte; er fühlte sich ertappt!

„Ist doch wohl klar, Daggi und Babsi hängen zusammen wie die Kletten! Weißt doch – beste Freundin und so!“ Verschmitzt ließ Taschi seine Worte auf die Gruppe wirken, hob bekräftigend die Augenbrauen an und ließ die Zungenspitze gekonnt mehrfach gegen die Oberlippe schlagen.

Alle wussten, was gemeint war und alle ließen ihrer blühenden Fantasie freien Lauf. Verschämt grinsten sie sich dann verlegen an.

„Ach ja – Willi und die wilde Barbara!“ spottete Volker und lachte laut aus seiner Ecke. Seine Mundwinkel näherten sich den Ohrläppchen. Er schnipste seinen Zigarettenstummel hinter die Hecke und schlug dem ertappten Kameraden freundschaftlich auf die Schulter.

„Bist wohl scharf auf die Kleine?“ Leicht errötend ließ Willi alle Frotzeleien und derben Witze seiner Freunde über sich ergehen.

„Die Stute und ihr läufiger Hengst!“, schmiss Andy obszön in die Runde, bevor er sich lachend verschluckte und dann stark hustend seine Fluppe mit dem Fuß austrat. Sein blasses Gesicht unter der schwarzen Ponyfrisur schien noch fahler als gewöhnlich!

„Keine Kippen auf den Boden und hebt die Flaschendeckel auf!“ Hinter der hochgeschobenen Scheibe am Verkaufstresen erschien die dicke Eigentümerin des Kiosks. Ihre rauchige Stimme tönte kurz und knapp im militärischen Befehlston bis in die Ecke der Schüler.

„Ihr Knaben wisst doch genau, wo der Mülleimer steht!“, schimpfte sie weiter und drohte mit dem Zeigefinger. Weit streckte sie ihren Kopf durch die Verkaufsluke und ihre pralle Oberweite hüpfte aufgeregt auf dem Verkaufstresen, sehr zur Belustigung ihrer jungen Kundschaft.

„Wird sofort aufgehoben, Frau General!“, brüllte Volker zurück. Dabei sprang er zackig von seinem Klappstuhl auf, schlug die Hacken der Schuhe aneinander und griff voller Ehrfurcht mit der rechten Hand an seine Stirn. Jeder Feldwebel in einer deutschen Kaserne hätte seine Freude an dem perfekt ausgeführten militärischen Gruß gehabt. Schallendes Gelächter der Kumpels über Volkers Mimik übertönte das knallende Geräusch der wohl wütend zugeschlagenen Fensterklappe. Durch das Glas der seitlichen Fensterfront des Kiosks war jedoch ein Schmunzeln im Gesicht ihrer rundlichen und gutmütigen „Verkaufstante“ hinter den Scheiben zu erkennen.

„Weißt du schon genau, wann’s losgehen soll?“, hakte Willi nach und schaute Taschi erwartungsvoll an. Besorgt versuchte er bereits in Gedanken eine Ausrede für den Vater zu erfinden, um doch an der Party teilnehmen zu können. Für ihn stand jetzt fest: – er würde dabei sein! – mit Sicherheit!

„Keine Ahnung!“, erwiderte der Lange und zuckte mit seinen breiten Schultern. Kräftig ausholend schmiss er sein Taschenmesser in Richtung der hohen Pappeln, die das Ufer der Delme gegen die Hauptstraße abschirmten. Von der Wucht des Abwurfs nachschwingend blieb es tief horizontal in der Rinde stecken. Er stand auf, folgte seinem Messer und zog es stolz aus dem Baum.

„Was ist denn mit deiner Musikanlage, ohne richtige Mucke kann so ’ne Fete mächtig in die Hose gehen!“ Gemächlich klappte er sein Wurfgeschoss zusammen und setzte sich rücklings vor Andy auf den schmuddeligen Klappstuhl. Der grinste geschmeichelt und meinte besorgt: „Das Mischpult ist noch nicht endverlötet, mein alter Lötkolben hat den Geist aufgegeben. Ich bin total abgebrannt und kann mir im Moment keinen neuen kaufen. Mein Alter hat das Taschengeld gekürzt – wegen der Disco! Bin letzten Samstag wieder zu spät zu Hause angetanzt und meine leichte Alkoholfahne sprach Bände; der Alte war ganz schön sauer!“

Ratlose Ruhe kehrte in die Nische ein und schweigend nuckelten die vier an ihren Flaschen.

Auf der spiegelglatten Wasserfläche der neben der Straße fließenden Delme tummelten sich ein paar Wildenten. Laut quakend stritten sie um ein paar trockene Brotkrumen, die ein alter Rentner mitleidig in die schnatternde Menge schmiss. Heftig schlugen die gespreizten Flügel im Kampf um das begehrte Futter. Willi, der gönnerhaft den Orangensaft spendiert hatte, beobachtete die Tiere in der aufspritzenden Wassergischt. Das tobende Bild dieser natürlichen Aggression vor Augen kam ihm plötzlich eine Idee für die Lösung von Andys Problem.

Bewusst hielt er sie zurück, die Idee musste wachsen, langsam reifen, wie ein guter Wein! Zweimal, dreimal drehte er den schockierenden Einfall durch seine Gehirnzellen, die auf höchsten Touren am Arbeiten waren. Mehrfach war er geneigt, seinen Einfall lautstark auszuposaunen; innerlich brannte er, sich mitzuteilen! Doch noch einmal bremste er sich im Bewusstsein, einen sehr gefährlichen Plan zu schmieden. Eine sehr gewagte Aktion, die ihm höchstwahrscheinlich weitere Anerkennung und Bewunderung durch die Kumpels bescheren würde; dessen war er sich sicher!Taschi reichte seine Zigaretten über den Tisch und alle griffen dankbar zu. Die Enten auf dem Fluss hatten längst müde ihren Kampf beendet. Tief inhalierte Willi den Qualm seiner Kippe. Dann brach er überlegen lächelnd die Stille. „Werken! – Morgen haben wir in den ersten Stunden Werken!“

Langsam und mit monotoner Stimme ließ er die Bedeutung seiner Worte auf die Gruppe wirken.

Wieder genoss er das zunehmende Interesse der Freunde; genüsslich zog er erneut an seiner Zigarette. Ja, so musste sich wohl „Al Capone“ in seiner Glanzzeit gefühlt haben. Jetzt war er am Zug! Mit seinem Plan würde er sich zum Anführer einer mutigen und bedeutenden Tat machen, die sorgfältig geplant mit einer verschworenen Gemeinschaft durchzuführen war!

Das Stichwort „Werken“ war Hinweis genug und Volker begriff als erster, was sein Tischnachbar so geheimnisvoll angedeutet hatte.

„Nee, nech! Du meinst, wir gehen in den Werkraum und klauen für Andy den Lötkolben?“

Volker schaute fragend in die Runde und ängstlich ging er auch gleich auf Distanz, als Willi ihm verschwörerische zunickte.

„Ach so, wir packen einfach einen Lötkolben und Lötzinn ein und schmuggeln das Ganze aus dem Unterricht, ohne das Pfaffenhofer was merkt? – du hast doch ’ne Macke – echt!“

Verzweifelt blickte er die anderen an. „Ohne mich, die Scheiße müsst ihr alleine durchziehen!“

Aufgebracht sprang er auf, trank zügig den Rest aus seiner Flasche im Stehen aus und stellte diese leer zurück vor die Durchreiche des Verkaufsfensters! Verlegen schnappte er nach der Schultasche und machte Anstalten zu gehen.

„Muss nach Haus, seht zu! – Bis Morgen!“ Heftig, wie immer auf einem Nichts kauend, blickte er nervös mit gesenkten Augenlidern noch einmal in die Runde und verließ die verblüfften Freunde.

„Waschweib! – Memme!“ Taschis Kommentar war vernichtend. Gereizt stieß er aus dem Mund eine Kaugummiblase aus. Willi war erleichtert! Zumindest der Lange schien seinen gewagten Plan unterstützen zu wollen.

„Und was ist mit dir, Andy?“ Energisch suchte er weitere Zustimmung für die Idee und stieß seinen Nebenmann aufmunternd mit dem Ellenbogen an. Der schmächtige Freund wirkte leichenblass, zog eingeschüchtert seinen Pilzkopf tief zwischen seine knochigen Schulterblätter, die er unschlüssig auf und ab bewegte.

„Keine Ahnung, wie das laufen soll. Der Werkzeugschrank wird von Pfaffi erst geöffnet, wenn er selbst im Raum ist. Willst du das Werkzeug unter seinen Augen klauen?“

Zweifelnd strich er sich den klebrig schwarzen Pony aus der Stirn. „Ich mein, gebrauchen könnt ich das Ding schon, dringend sogar! Bis zum Wochenende hätt’ ich dann Mischpult und Boxen klar!“

„Na also! Geht doch!“ Zustimmend haute Taschi mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Damit wäre das Musikproblem für Dagmars Party gelöst – oder wie seht ihr das?“

Demonstrativ drückte er seinen Zigarettenstummel geräuschvoll im blechernen Aschenbecher aus, eine Geste, die keinen Widerspruch zuließ. Reinhold Bolte war der Älteste und sein Wort hatte Gewicht. „Willi, du planst die Scheiße und gibst uns morgen früh Bescheid!“

Energisch erhob er sich von seinem Klappstuhl, streifte seine schwarzen Lederhandschuhe über die Finger und klemmte den verschlissenen Schulranzen auf seinen Gepäckhalter. Das Knarren seiner völlig trockenen, schlecht gefetteten Fahrradkette verriet die Kraft seines Antritts. Tief gebückt über den Ziegenbocklenker seines Sportrades verschwand er in der Ferne.

„Wollen wir das morgen wirklich durchziehen? Was ist, wenn Pfaffi uns erwischt?“ Der zaghafte Zweifel in Andys Fragen stärkte in Willi nur noch mehr den Vorsatz, diesen außergewöhnlichen Plan durchzuführen.

„Was denkst du denn – machen wir doch alles nur für dich!“ Mit fester Stimme verteidigte er seinen Vorschlag in einem Ton, der keine weiteren Zweifel zuließ! Nachdenklich schnappten sich die beiden Freunde ihre klapprigen Fahrräder, schoben kräftig an, um anschließend schwungvoll im Sattel zu landen. Täglich fuhren sie zusammen heimwärts. Über die Straßenkreuzung folgten sie dem Flussbett der Delme. Vorbei an den großen, aus roten Backsteinen gemauerten Fabrikhallen der Deutschen Linoleumwerke AG gelangten sie bis an den Stadtrand. In der Luft begleitete sie der Abgasgeruch der Produktion von weltweit bekannten Fußbodenbelägen. Er galt als unverkennbares und typisches Markenzeichen der Industriestadt Delmenhorst, der nicht zu vermeiden war.

In den für den Frühlingsbeginn viel zu dicken Winterklamotten schwitzten sie mit jedem Tritt in die Pedale. Auch heute mussten sie wieder vor den Bahnschranken halten. Gebannt verfolgten sie das Geschehen auf den vielen parallel verlaufenden Bahngleisen. Das Quietschen der Stahlräder beim Bremsen rangierender Güterzüge an den Werkshallen drang markerschütternd in ihre Ohren.

Willi blieb im Sattel seines Fahrrades sitzen und hielt sich am Andreaskreuz fest in der Balance.

Weder er noch Andy würden auf die Idee kommen, ihre Fahrräder durch den beängstigend, dunklen Fußgängertunnel unter den Gleisen durchzuschieben. Nein, dazu war das geschäftige Treiben auf den Gleisen vor ihren Augen viel zu spannend!

Nach dem Bahnübergang folgten die Schüler dem schmalen Fahrradweg immer parallel zum leicht erhöhten Damm der Bahnlinie Bremen – Oldenburg. Willi fürchtete sich vor nahenden Lokomotiven. Mit explosivstotterndem Puffen und Zischen der Dampfmaschinen und der Furcht einflößenden Vibration bei der Vorbeifahrt erschwerten diese Monster das konzentrierte Lenken ihrer Fahrräder. Für die Jungs auf dem provisorischen Schotterweg durch das Firmengelände der DLW bedeutete jede Passage der schwarzen Ungetüme eine Herausforderung an Mut und Geschicklichkeit. Eingehüllt in dicke nebelartige Rauchschwaden waren sie froh, angelehnt am eisernen Geländer der hölzernen Delmebrücke pausieren und Luft holen zu können. Hier angekommen war die Hälfte des täglichen Schulweges geschafft. Mit einem Fuß auf der unteren Stange des Geländers aufgestützt schaute Willi auf seinen japsenden Hintermann.