STECKSCHUSS - Ernst Rabener - E-Book

STECKSCHUSS E-Book

Ernst Rabener

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Beschreibung

Ein Schuss in der Nacht! Oder war es nur die Fehlzündung eines Mopeds? Drei Stunden später entdeckt der volltrunkene Fritz Bernhuber seinen WG-Mitbewohner vergiftet in dessen Zimmer. Ortspolizist Püschl unterbricht sein Liebestreiben mit Praktikantin Lena und eilt pflichtbewusst zum Tatort. Mit dem Kollegen Harlander und Lena versucht er den vertrackten Fall zu lösen. Aber der skurrile Freundeskreis des Opfers und dessen groteskes Beziehungsgeflecht ist schwer zu durchschauen: erotische Eskapaden, Alkoholexzesse und Eifersüchteleien zuhauf! Und Harlanders Neigung, überall Parallelen zu TV-Krimis zu sehen, ist auch keine rechte Hilfe. Es braucht einen genialen Einfall...

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Inhaltsverzeichnis

II 

III 

IV 

VI 

VII 

VIII 

IX 

XI 

XII 

XIII 

XIV 

XV 

XVI 

XVII 

XVIII 

XIX 

XX 

XXI 

XXII 

XXIII 

XXIV 

XXV 

XXVI 

XXVII 

XXVIII 

XXIX 

Vollständige e-Book Ausgabe 2020 

Copyright © 2020 RICCARDI-Books 

ein Imprint der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt 

Korrektorat: Theresa Riedl 

Umschlaggestaltung: Ria Raven, www.riaraven.de

Bildmaterial: © shutterstock/Gabor Kenyeres, H.J. Luntzer 

© adobe Stock/Photoflorenzo 

Alle Rechte vorbehalten 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung 

können ziviloder strafrechtlich verfolgt werden. 

(e-Book) ISBN: 9783969177846 

www.spielberg-verlag.de

Ernst Rabener (Ps.) studierte Literaturwissenschaften in München und unterrichtete lange Jahre Sprachen und Ethik im In- und Ausland. Seine Leidenschaft für die europäische Hochliteratur wurde seit jeher ergänzt durch ein ausgeprägtes Faible für Krimis in jeder Form.

Steckschuss 

Halb elf Uhr abends, ein Notruf:

»Hallo! Hören S’! Da hat grad jemand geschossen! Einen ganz lauten Knall haben wir gehört, ganz in der Näh’! Einen Schuss! Da hat jemand geschossen!«

Eine Frauenstimme, ältlich und vor Aufregung zitternd.

»Ein Schuss, aha. Bitte Ihren genauen Standort, gute Frau, damit wir…«

»Was meinen S’?! Wie meinen S’ das mit dem Stand…?«

»Nein, Ihren Standort! Wo Sie sind, muss ich wissen!«

»Ja mittendrin sind wir noch, was denken S’ denn! Mein Mann da hinten, der Alfons, der wird schon unruhig, weil er doch mit dem Fíakra…«

Kurt Wiedemann, der diensthabende Beamte, unterbrach noch einmal: »Fiaker, Schuss, Ihr Mann… Gute Frau, sagen S’ mir einfach, wo Sie sind, sonst können wir Ihnen…«

»Ja wenn ich’s Ihnen doch sag’! Mittendrin sind wir noch!«

»Ihre Adresse, bittschön!«

Kurt klang genervt und versuchte es ein letztes Mal, in gehobener Lautstärke, um endlich verstanden zu werden.

»Böhmerwaldstraß’ zwölf, warum? Ich sag’ doch, dass hier grad der Schuss war, den wo wir…!«

»Wenn S’ mir jetzt noch Ihren Namen…«

»Ja die Friedl bin ich, die Schiedmüller Friedl! Und wegen dem Alfons, meinem Mann da hinten, muss ich jetzt wirklich aufhören, sonst geht da heut’ wieder mal… Hören S’… Hören S’…?!«

Kurt legte auf und verständigte die Streife.

Friedl Schiedmüller bekam das leise Klicken nicht mit und redete noch ein Weilchen weiter:

»…weil sein Fíakra schließlich nicht ewig wirkt und er schon fuchtelt! Hören S’ nicht, wie er schon mault? Ich muss jetzt schnell zurück zu ihm, sonst können wir gleich wieder von vorn und nochmal… Hallo! Hallo!!«

Einen Augenblick lauschte sie noch, dann schimpfte sie über die Unverschämtheit, sie einfach abzuwürgen, wo sie doch hatte helfen wollen, ein Verbrechen aufzudecken oder zu verhindern, und wandte sich wieder ihrem Alfons zu.

Der winkte aber schon ab. Als sie ans Bett kam, sah auch sie den unwiderleglichen Beweis, dass heut’ nichts mehr gehen würde: Die Fortsetzung der Selbstversuchsreihe, der Grundlage für die neue Serie in ihrer Seniorenzeitschrift Machmal!, musste aufgeschoben werden, mindestens bis morgen.

Wieder einmal war etwas daneben gegangen oder, wie in diesem Fall, unvollendet geblieben, weil sie, wie ihr Alfons, einfach nicht mehr so gut hörte. Und wenn dazukam, dass sie sich zu unbeholfen oder schwer verständlich ausdrückte, ergaben sich Missverständnisse wie eben, sehr zum Verdruss der Beteiligten.

Immerhin, die Streife war mit Blaulicht unterwegs.

Den lauten Knall vorhin, den hatten beide Schiedmüllers, obwohl sie mitten im Selbstversuch steckten, nicht überhört, und die Friedl war nicht wenig stolz darauf, dass sie ihre Bürgerpflicht erfüllt und den nächtlichen Schuss sofort dem Amt mitgeteilt hatte.

»Den hast du doch grad auch gehört, den Schuss, den Schuss grad!«, fragte sie den traurigen Alfons, als sie vor dem Bett stand.

»Ja freilich hab’ ich den auch gehört, den Schuss!«, gab er ihr recht und las erleichtert aus ihrer grämlichen Miene, dass sie heut’ wohl keine Ansprüche mehr an ihn stellen werde.

II 

Um zehn vor elf war die Streife bei Schiedmüllers.

Das Blaulicht hatten Ottl und Luggi am Ortseingang ausgeschaltet, um die braven Hochwieler Bürger nicht zu verschrecken. Die beiden Alten kamen aufs erste Klingeln herunter, ängstlich, als lauere der Schütze noch irgendwo, und verbeugten sich vor den Ordnungshütern tiefer und öfter als nötig.

Die Befragung verlief ähnlich wie Friedls Telefonat mit der Notrufzentrale, weil sie und ihr Alfons wieder höchstens die Hälfte verstanden und das großenteils falsch.

Die Geschichte mit dem Fíakra ließ die Friedl diesmal weg und berichtete nur, sie hab’ auf den Schuss hin den Selbstversuch sofort abgebrochen, sei zum Fenster gelaufen, und obwohl sie keine Leich’ und keinen Mörder gesehen hab’, hab’ sie natürlich gleich angerufen, wegen ihrer Staatspflicht. Dann ließ sie sich von ihrem Alfons, der zwischendurch ohne erkennbaren Zusammenhang ein strammes »Grüß Gott, Herr Nachtmeister!« von sich gegeben hatte, erneut dreimal bestätigen, dass er den Schuss auch gehört hab’, »obwohl er eigentlich, wissen S’, Herr Kommissar, eigentlich hört er nimmer ganz so gut, mein Alfons. Aber den Schuss, den hat er g’hört. Alfons! Den hast doch g’hört, den Schuss, gell?«

Alfons nickte stumm, wie schon dreimal davor.

Dafür redete die Friedl immer aufgeregter und lauter: »Wissen S’, mein Alfons und ich, wir haben den Schuss ja ganz deutlich gehört, und wenn S’ hier mal genau nachschauen, dann finden S’ den bestimmt, den Schuss, der muss da ja noch irgendwo in der Mauer stecken, der Schuss! Ganz bestimmt steckt die noch irgendwo in ’ner Mauer hier, die Schusskugel!«

In zwei Nachbarhäusern ging das Licht im Erdgeschoss an. Für einen anständigen Hochwieler war längst Schlafenszeit. Vorhänge, sah der Luggi, bewegten sich auch.

Ansonsten: keine Spur einer Schießerei, nichts.

»Es kommt halt manchmal vor, dass die Leut’ was zu hören glauben, wo nix is’«, merkte Ottl an, nicht ahnend, was er damit auslöste.

Alfons hatte davon kein Wort verstanden, denn die Streifenpolizisten sprachen, mit Rücksicht auf die Anwohner, für Schiedmüller’sche Ohren viel zu leise. Und Friedl hatte nur »manchmal« und »hören glauben« aufgeschnappt, was in ihrem Kopf zu der fixen Idee wurde, der Herr Beamte hab’ gesagt, er »glaube von Machmal! gehört« zu haben.

Prompt reagierte sie mit einem forschen Angebot: »Wollen S’ alle zwei ein Exemplar oder zwei?«

Ottl und Luggi wussten nicht, was sie jetzt wollen sollten oder konnten, erst recht nicht, als Friedl noch ein Stück lauter ankündigte, seit Kurzem laufe die Entwicklung der Software für ihre Homepage und demnächst würden sie online präsent sein, weltweit! »Global sind wir dann mit unserem Machmal! präsent, verstehen S’, und jetzt hol’ ich Ihnen doch schnell zwei…«

Luggi legte ihr geistesgegenwärtig die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück: »Jetzt bittschön nicht, gute Frau. Sie sehen’s doch, wir haben noch viel Arbeit heut’ Nacht. Den Schuss suchen zum Beispiel, wo der steckt! Aber wir kommen auf Sie zu, halten S’ sich zur Verfügung!«

Womit sie sich, einen Finger an der Mütze, abwandten.

Alfons hatte, allein schon wegen seiner Aufgeregtheit, wieder nichts verstanden, Friedl aber: »Es kommt da was auf Sie zu!«

Und so stand sie, während er der Staatsmacht ein paar Bücklinge hinterherschickte, wie vom Donner gerührt da und sah mit bitterbösem Blick, dass die Herrn Polizisten bei den Nachbarn auf Nummer vierzehn läuteten. Und das mit der »Verfügung« konnte sie sich auch nicht zusammenreimen.

Ausgerechnet bei denen!, dachte sie, wo uns die Sauköpf ’ von vierzehn drüben schon immer alles nachsagen, seit Jahren!

Sie fasste ihren Alfons am Arm und schob ihn vor sich her ins Haus.

Vor der Bettruhe, für die man sich zu Alfons’ Erleichterung bald entschied, war sie noch wortreich damit beschäftigt, ihm klarzumachen, was ihnen soeben angedroht worden war.

Frau Wagenknecht riss, kaum hatte Luggi geklingelt, auch schon die Tür auf und schwallte sofort hemmungslos auf die Uniformierten ein: Alle Augenblicke würden die da drüben wegen allem Möglichen Zirkus machen, »die ganze Nachbarschaft treiben’s in den Wahnsinn mit ihren Spinnereien! Ich sag’s Ihnen! Spinnen tun’s, und hören tun’s auch nichts mehr! Oder wenn, dann alles falsch! Schuss! Von wegen Schuss! So ein Schmarrn!«

Das Ohr am Türspalt, hatte sie mitbekommen, dass während der Schiedmüller-Befragung das Wort Schuss gefallen war.

»Die spinnen doch! Selber haben’s ’nen Schuss!«

Herr Wagenknecht nickte beifällig, sein verkniffener Mund demonstrierte gutbürgerliche Empörung.

»Nix Schuss!«, fuhr Frau Wagenknecht in heftiger Erregung fort, »ein Mopedler war’s, der hier die Böhmerwald runtergerauscht ist! Zwei Fehlzündungen, peng und peng! Die zweite haben die da drüben doch gar nicht mehr gehört, unsre dreivierteltauben Medien-Tycoons mit ihrem Schmierblatt, ihrem Seniorenporno!«

»Was meinen S’ jetzt damit, gute Frau?« Den Luggi überkam ein Anflug von dienstlicher Neugier.

Und so erfuhren er und der Kollege erste Einzelheiten über die Schiedmüller’sche Monatszeitschrift:

»Jedem«, so die wütende Frau Wagenknecht, »drehen sie’s an, jedem, den s’ in die Finger kriegen! Überall legen sie’s aus, im Krankenhaus, im Bahnhof, in den Arztpraxen, im Altersheim: Überall liegt’s rum, das Scheißblatt!«

Die unbedachte Frage Ottls: »Warum gleich Scheißblatt?« gab den Anstoß, dass sie auch alles andere, was über Machmal! allgemein bekannt war, zu hören bekamen, abschließend eine knappe Inhaltsangabe der letzten Ausgabe, die sich, wie die vorangegangenen Nummern, kurz nach Erscheinen ungebeten in allen Briefkästen der Nachbarschaft gefunden hatte.

»Hören nichts und rufen die Polizei wegen ’ner Mopedfehlzündung, man glaubt’s nicht!«

Frau Wagenknecht hatte sich derart ereifert, dass ihr Mann Egon übernehmen musste: »Tatsächlich, meine Herrn, ein neues Level, eine neue Qualität dieses anhaltenden nachbarlichen Wahnsinns! Wir haben den verrückten Mopedfahrer schon von Weitem gehört, wie er die Straße hochgerast ist. Und dann hat’s ein erstes Mal geknallt, hier, ziemlich genau hier« – ein spitzer Finger zeigte auf die schwach beleuchtete Straße – »und ein Stück weiter oben nochmal. Dann muss er abgebogen sein.«

Erneut zog Herr Wagenknecht eine vornehm empörte Miene.

Seine Gattin war wieder zu Atem gekommen: »Und die machen draus eine Hauptund Staatsaktion, die verblödeten Spinner! Ist doch unglaublich! Wer, bittschön, soll denn in der Gegend hier schießen? Sind doch lauter ältere Leut’ ringsrum! Und das Einzige, wo’s gelegentlich Streitereien gibt, das ist, wenn die zwei da drüben es im Sommer nachts bei offenem Fenster mal wieder so laut treiben, dass sie die ganze Nachbarschaft verschrecken! Wie sie sich bloß nicht schämen, die alten Deppen! Hätten wir weiß Gott viel eher und öfter Grund, die Polizei zu holen und…«

Ottl fand’s an der Zeit, sich einem weiteren Nachbarsehepaar zuzuwenden, das sich, während die Wagenknechts redeten, dazugestellt hatte und beifällig nickte.

»Und Sie? Was haben Sie gehört?«

»Alles, nur keinen Schuss«, bestätigte Herr Schneiderhahn.

»Klar war’s ein Moped. Kam von da unten und raste da rauf, peng! Direkt hier am Eck, Fehlzündung, klarer Fall! Wie man so blöd sein kann, einen Schuss hören zu wollen, wo’s hier im Viertel friedlich ist wie nirgends sonst in Hochwiel, das…« Luggi schien genug gehört und überhaupt genug zu haben und verbat den vier Gestalten im Zwielicht der Straßenbeleuchtung ziemlich resolut jede Bescheidwisserei: »Familientragödien, Eifersucht, Erbstreitereien mit tödlichem Ausgang – was meinen S’, weswegen nicht schon alles geschossen worden ist! Und zwar überall, auch in scheinbar befriedeten Rentnervierteln wie dem hier!«

»Ein Mopedler war’s, fertig, aus!«

Noch einmal ergriff Herr Wagenknecht das Wort, in sehr bestimmtem Ton, der keinen Einwand duldete: »Kein Schuss, meine Herrn, sondern wahrscheinlich der Knall eines Mopedauspuffs, der…«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, sekundierte Frau Wagenknecht.

Das andere Ehepaar nickte heftig. »Man hat doch auch davor nichts gehört von der Straß’ her, nix! Keinen Streit, kein Geschimpfe, keinen Krach, und danach auch nichts, keinen Schrei oder so was, sondern bloß das Moped!«

»Dass ’n Erschossener noch schreit, gibt’s in Edgar-Wallace-Filmen aus den Sechzgerjahren oder beim Derrick. Bei uns nicht«, meinte Luggi und trottete grußlos mit Ottl zurück zum Auto.

»Verhaften S’ lieber die Schiedmüllers, am besten gleich alle zwei!«, rief ihnen Herr Wagenknecht hinterher und wackelte mit dem rechten Zeigefinger ungestüm in der Luft herum, »die handeln mit Pornografie, die alten Säu’!«

»Hast du ’ne Ahnung, was die vorhin mit Selbstversuch gemeint hat, die alte Dame?«

Luggi zuckte mit der Schulter: »Keine Ahnung. Vielleicht drehen’s Pornoselfies für den Eigenbedarf. Oder für ihr Blättchen, über das die andern so hergezogen sind. Sachen gibt’s!«

»Ich schreib’ nachher gleich noch den Bericht«, bot sich Ottl an, als sie im Dienstwagen saßen.

Dem Luggi war’s nicht unrecht.

III 

Kurz vor halb zwölf waren Ottl und Luggi auf dem Revier. Ottl setzte sich an den Computer und gab im Zweifingersystem ein, was ihm von der Befragung noch einfiel. Luggi korrigierte nach ’ner halben Stunde, was Ottl fabriziert hatte, und nickte. Dann las Ottl nochmals drüber und nickte seinerseits, dann nochmals der Luggi, der dem Kollegen abschließend auf die Schulter klopfte. Das Ganze speicherten sie unter Ottlbericht ab und legten für die Kollegen eine handschriftliche Zettelnotiz neben den Bildschirm: Ottlbericht anschaun!

Bis Viertel vor eins machten sie Brotzeit. Dann drehten sie ihre nächste Runde, über Peißenberg Richtung Schongau.

Ottl meinte: »Hoffentlich wird der Rest der Nacht nicht genau so stressig! Mannomann!«

Luggi nickte besorgt.

Vorsichtshalber schalteten sie schon mal ihre Diensthandys aus.

Ein paar Minuten vor eins ging im Quattro Fontane, dem Italiener am Kirchplatz, nochmals Licht an, geschlossen war seit zwölf. Eine leicht aufgebrachte Frau schob einen sturzbetrunkenen Jüngling, den Bernhuber Fritz, aus der Tür in die kühle Dunkelheit hinaus, schaute ihm, die Fäuste in den Hüften, ein Weilchen hinterher, bis er um die Ecke in die Schmitzstraße eingebogen war, und schloss ab, das zweite Mal heut’ Abend. Sie musste sich noch um ihren Mann kümmern, den Carlone, der im Hinterzimmer überm Tisch lag.

Niemand hätte hinterher von Fritz in Erfahrung bringen können, wie er nach Hause gekommen war: Totaler Filmriss.

Schon um halb elf hatte er den Weg vom Fuchsbräustüberlins Quattro Fontane nur noch instinktiv gefunden.

Um zehn nach eins tapste er schwerfällig wankend über die Schwelle des eingeschossigen Häuschens in der Schießstättstraße. Im Flur arbeitete er sich, vorbei an der Küche, in der sich das schmutzige Geschirr vom Abend stapelte, taumelnd die Wand entlang bis zum Zimmer seines WG-Bruders Georg Schöderlein.

Die Tür war verschlossen, wie jene gegenüber, durch die, das kannte er, mal wieder leise Quieker und Stöhnerchen drangen: Sissilissi, die kleinen Lesben, mit denen die beiden Jungs vor zwei Jahren hier eingezogen waren, machten Liebe. Zweimal pochte Fritz, mit der Schulter angelehnt, an Georgs Tür und lallte leise: »Schorsch-schi!«

So hageldicht er war: Er wollte noch einen Versöhnungsversuch starten, nachdem sie sich heute, wie so oft, nach dem Abendessen zu viert hier in der Wohnung in die Haare gekriegt, im Fuchsbräustüberl, wieder mal, weitergestritten und sich dort, nicht zum ersten Mal, um halb elf, als der Sepp sie rauswarf, unter wüsten Beschimpfungen getrennt hatten. Schorschi war nach Hause gegangen, er, der Fritz, wollte noch, wie er sagte oder eher schrie, zum Carlone gehen.

Als sich aufs dritte Klopfen hin nichts rührte – nur die Mädels alberten in seinem Rücken, wie er hörte, weiter lustig herum –, drückte er, stehen konnt’ er eh nicht mehr, die Klinke und ging oder besser: torkelte hinein.

Schorschi lag, in absurder Verkrümmung, auf dem Flokati vor dem Korbstuhl, aus dem er gefallen sein musste, die Gesichtszüge grauenhaft verzerrt, mit erstarrtem Blick aus den offenen Augen.

Anscheinend, so Fritz’ erster Gedanke, war der noch besoffener als er selber.

Er wollte sich zu ihm hinunterbeugen, fiel aber der Länge nach neben Schorschi hin und kam schauerlicherweise so zu liegen, dass er, entsetzlich nah, Gesicht an Gesicht, in die toten Augen des Freundes stierte.

Die sah er natürlich auch noch doppelt, ein Schock, der ihn zwar nicht nüchtern machte, aber aufschreien und so weit zu Sinnen kommen ließ, dass er merkte, er müsse was unternehmen.

Also fasste er nach jener Schulter Schorschis, die ihm näher war, bekam sie, nachdem er zwei Mal ins Leere gegriffen hatte, zu fassen und rüttelte daran. Das heißt, er schob sie ein wenig hin und her, bevor er, immerhin schon halb sitzend, abermals den Halt verlor, vornüber kippte und für ein paar fürchterliche Momente über Schorschi lag, quer, als wolle er ihn unter Einsatz seines Lebens beschützen.

Mühsam rappelte er sich auf, kam auf wundersame Weise in die Vertikale, versuchte es mit »Schorsch-schi! Schorschschi!«-Geschrei und stupste den reglosen Körper mit der Fußspitze in den Oberschenkel, wodurch er selbst erneut in bedenkliche Schräglage geriet und hinzuplumpsen drohte.

Noch einmal widersetzte er sich erfolgreich den Gesetzen der Schwerkraft und schaffte es, mit schwer schwankendem Oberkörper breitbeinig stehen zu bleiben. Die Augen, in denen sich Tränen sammelten, vor Angst weit aufgerissen, schaute er hilfund ratlos um sich und schrie noch einmal, noch lauter »Schorsch-schieee!« und im Anschluss, mit einem schweren Hickser zwischen den Silben, »Hil-fäää!«

Es klang, als bitte er seinerseits den Schorschi darum.

Fritz torkelte auf den Flur zurück, schlug schwer mit seinem vollen Körpergewicht gegen die Tür der Mädchen und sank daran in filmreifer Langsamkeit herab, von Heulen geschüttelt, wirres Zeug auf den blubbernden Lippen.

Wütend riss Sissi, durch den dumpfen Schlag in ihrem lieblichen Beisammensein mit Lissi entscheidend gestört, die Tür auf, splitternackt, und holte zu hellem Schimpfgeschrei aus.

Vor die zierlichen Füßchen aber fiel ihr der Oberkörper des Zimmernachbarn Fritz, vor dem sie wie vor einem großen Insekt erschrak: Mit einem Ekellaut auf den süßen Lippen tat sie einen eleganten Hüpfer nach hinten.

Als sie erneut zur großen Wutrede ausholte, um den Blödmann da wegen seiner Spannerei zur Sau zu machen, zog Lissi, die über die Schulter der Liebsten einen Blick in Schorschis Zimmer geworfen hatte, sie am Arm zurück und wies stumm und schreckensstarr mit den Augen auf den, der da drüben lag.

Verstört sah Sissi von Fritz auf und erblickte den Schorschi.

Entsetzt legte sie ein zartes Händchen vor den Mund, stieg, nackt, über den heulenden, jammernden Fritz und trippelte hinüber. Sie beugte sich über Schorschi, gab abermals einen schrillen Laut von sich und stürzte zurück.

Sie riss das Smartphone, das seltsamerweise mit der Schmalseite am vorderen Rand des Regals neben der Tür stand, ans Ohr, tippte zitternd Eins-Eins-Null und teilte, während Lissi in Schockstarre verharrte, atemlos mit, dass in der Schießstättstraße Nummer sieben ein Toter liege, ihr Mitbewohner, der Schöderlein Georg.

IV 

Hübsch weich und fest zugleich, das linke Brüstchen!, spürte Pauls rechte Hand, mit der er es zärtlich bedeckt hielt. In der Mitte gut zu erfühlen das Knöpfchen, hart und aufrecht, seit seine Lippen vorhin für zwei kurze Küsse drauf gelandet waren. Die Linke führte er derweil spazieren und ließ sie kraulen und streicheln, hinterm Ohr und gemütlich das Wänglein herunter…

So schwer war es nicht gewesen, mit ihr da zu landen, wo sie waren. Nach Dienstschluss hatte er sie noch ein bisschen aufgehalten und muntere Scherze gemacht und ihr im Flur aus dem Automaten ‚nen Espresso rausgelassen, doppelt wollt’ sie ihn. Und jetzt…

Ein Seufzerchen huschte gerade aus den spaltbreit geöffneten Lippen, ein leises, wie vorhin schon mal, als er bescheiden am linken Igelschnäuzchen züngelte. Schön langsam ließ er jetzt die Zungenspitze Richtung Nabel abwärtsgleiten.

Ihr munteres Nein, als er fragte, ob sie abends noch was vorhabe. Er tat, als müsst’ er groß überlegen, was sich hier in Hochwiel, dem Jammerstädtchen, groß anbiete. Sie wollte zum Italiener, ins Quattro Fontane.

Nun war abzusehen, dass in Kürze das letzte Textil den schlanken Körper verlassen wird, indem es von der Hüfte und abwärts über die Beine gleitet. Ein bisschen noch die Zunge rings um den Nabel schicken, dann zum Höschen hinunter. Möglich, dass die Zähne gleich ihren Einsatz hatten. Sieh an! Am schmalen Bund des grünen Slips ein Blümchen, ein winziges rotes Röschen aus Stoff, das einlud, mit behutsamen Zähnen das zarte Gewebe herunterzuziehen. Ein bisschen musste sie aber schon selber dazutun! Popochen und Beine heben… Für den beiderseitigen Lustgewinn war seinerseits alles in der nötigen Form und Verfassung: Das spannte und drückte und drängte längst heftig nach draußen ins Freie und wollte endlich hinein in den Born des Vergnügens…

Nach ihren ersten paar Tagen hier kannte die Lena natürlich noch nicht alle gängigen Sprüche und lachte auch da, wo der Kollege Karl längst abgewinkt hätte. Viel geplaudert, viel gelacht auch im Quattro Fontane, bei Carlones legendärer Carbonara und reichlich Chianti.

Ein weiteres Seufzerchen jetzt, als die Fingerkuppen der Rechten abwärts zum Höschenbund trippelten, um gemeinsam mit den Zähnen… Wenn der Eindruck nicht trog, würde das Röschen das schon aushalten, dass man dran ein bisschen mit den Zähnen zog, nach unten…

Einen hauchfeinen Kuss nochmal auf den Nabel, ohne das süße Trichterchen groß zu berühren… Und nun zurück zum Röschen: Beißt sachte zu, ihr Zähnchen! Und ihr, meine zarten Finger, helft ziehen am Bund, langsam, schön langsam…

Es summte. Drei Mal.

Das glaubte er jetzt nicht! Das konnte nur böse Täuschung sein! Paul, das Röschen zwischen den Zähnen, geriet außer sich, als das Handy summte: Böse Täuschung oder niederträchtige Gemeinheit! Ein gezieltes Attentat auf ein Liebespaar in Aktion, auf die Lena und ihn! Nur darum konnte sich’s handeln!

Dreimal nacheinander summte das Drecksding, kurze Pause, wieder dreimal, smm-smm-smm, Pause. Es war tatsächlich das Handy, sein verfluchtes Diensthandy, das ihn heraussummte, jetzt, um zwanzig nach eins, aus dem fast beendeten Vorspiel, kurz vor dem Hauptgang!

Was war zu tun?

Abbruch, Griff nach dem Shitphone, Aufschub des Liebesspiels. Neubeginn und Fortsetzung im Irgendwann, wenn überhaupt!

Die Stimme am anderen Ende kannte er: Kurt von der Notrufzentrale.

Bevor der ihn beschwallen konnte, maulte er zornig los:

»Was rufst denn nicht die Streife an, du Sakramenter? Ich bin…«

Rüde unterbrach ihn Kurt: »Hör mal zu, du Nachtwächter! Du hast ’nen Mord bei dir um die Ecke! Da fährst jetzt bittschön hin und holst den Harlander Karl dazu! Ich hab’ außer euch keine Leut’ mehr!«

Dann erfuhr Paul, was die Kollegen draußen, während er die Jungkollegin Lena hingebungsvoll bearbeitete, alles auszustehen und durchzumachen hatten: Die reguläre Streife sei zum Beispiel in Schongau in ’ne wüste Massenschlägerei verwickelt worden, bei der der dortige Stadtpfarrer eine zwielichtige Rolle spielte, »in Raisting, verstehst, ist ’ne Nichtabstiegsfeier von Sechzgerfans ausm Ruder gelaufen, zwei Fangruppen aufeinander los, Messerstecherei, zwei Schwerverletzte! In Magnetsried, das glaubst nicht!, ballern zwei Jungbauern, zwei Brüder, auf ’m Hof rum, die wollen ihren Vater in Schach halten, bis die Polizei kommt, hat angeblich die Mutter vergiftet, weil die’s nach der Ü-60-Party angeblich mit dem Nachbarsbauern in ’ner leeren Mülltonne getrieben hat! Stellt sich zwar raus, dass sie bloß ’ne Alkoholvergiftung hatte, aber zwei Mann natürlich! Muss auch da zwei Mann hinschicken, weil die Nachbarn mir was von ’ner Mordsschießerei ins Ohr brüllen! Und jetzt, Püschl Paul, zefix!, jetzt fährst bittschön los in die Schießstättstraße sieben, da is’ einer tot, ziemlich sicher, wie sich’s am Telefon angehört hat! Anders als vor zwei Stunden, wo zwei gestörte Alte ’s halbe Stadtviertel rebellisch gemacht haben wegen nix und wieder nix, sakra! Das junge Mädl grad eben war völlig verstört!«

Den letzten Satz hörte Paul nur noch zur Hälfte. Der mürrischen Lena, die im Halbschlaf raunzte, drückte er einen Flüchtigkeitskuss aufs Rosenwänglein und war auch schon aus dem Zimmer.

Hastig zog er sich an.

Auf der Treppe fluchte er in sich hinein und wählte Karls Nummer. Der sollte es, wenn schon ihm Liebesfreud und Nachtruhe geraubt waren, auch nicht besser haben, sondern mit ihm zusammen den Tatort begehen.

Nur die Mailbox war zu sprechen: »Polizeirevier Hochwiel, Polizeihauptmeister Harlander. Leider…«

Das kannte er, den restlichen Sermon auch. Er wollte es später nochmal probieren.

Immerhin war auf seinen Notruf-Spezi Kurt Verlass, der leitete alles Notwendige in die Wege: Der Erkennungsdienst würde so schnell wie möglich vor Ort sein, der Alfred vom Münchner EDI wohnte gottlob in Hochwiel. Und aus dem Krankenhaus war die Hallstein zu erwarten, die Rechtsmedizinerin. Die kannte er, wenn auch bisher nur flüchtig.

Kurz vor halb zwei betrat er das Haus Schießstättstraße sieben und wunderte sich über die unverschlossene Haustür. Vom Erkennungsdient war noch nichts zu sehen. Er entschied sich, die Sache fürs Erste allein in die Hand zu nehmen.

Am Ende des Flurs saß Fritz auf dem Boden, neben Georgs Zimmertür, wohin ihn Sissilissi verfrachtet hatten, lallte, die Beine gespreizt, vor sich hin und stierte auf das leere Display seines Smartphones, als erwarte er daraus erlösende Nachricht. Paul hatte er nicht bemerkt. Vor Suff und Müdigkeit fielen ihm ein ums andere Mal die Augen zu.

Auf Pauls »Hallo!« rührte er sich nicht, einzig ein täppischer Lacher entfuhr ihm. Dafür drang es von links aus dem Mädchenzimmer zaghaft und weinerlich: »Ja, hier!«

Als Paul in den Türstock trat, saßen ihm auf eng nebeneinander postierten Stühlchen die beiden gegenüber, in regenbogenfarbenen Bademäntelchen aus Seide, die Fersen auf der Sitzkante, die Arme um die Knie geschlungen, darauf das Kinn. Herzrührend schluchzten sie im Gleichklang und sahen, als sie Paul bemerkten, mit Unschuldsaugen zu ihm hin.

Sissi raffte sich zu einem halb geflüsterten »Da!« auf und zeigte mit den Augen nach gegenüber.

Paul drehte sich um und sah den Toten.

»Habt ihr was angefasst?«

Er versuchte, freundlich und rücksichtsvoll zu klingen.

Beide schüttelten synchron die Köpfchen mit den gleich langen, gleich braunen Haaren und schluchzten weiter. Sein mit unangemessener Strenge vorgetragener Befehl, sie sollten sich nicht rühren und weiterhin die Finger von allem lassen, wirkte nicht nur auf die armen Mädels befremdlich, sondern auch auf Frau Professor Hallstein: Die saß längst in Georgs Zimmer, in der Sitzecke rechts von der Tür, machte sich Notizen und krächzte rau:

»Schrei nicht rum wie ein Waldaff ’, Tölpel!«

Paul konnte sie bisher nicht bemerken, sie dagegen hatte ihn sofort gehört und rief ihm zu seinem jähen Schrecken, unsichtbar, wie sie für ihn war, mit ihrer Altweiberstimme aus dem Zimmer heraus zu:

»Herein, junger Mann, herein! Und frisch ’nen kühnen Blick gewagt ins Leichenschauhaus! Der Totenschein wartet auf dich!«

Ein unheimliches Kichern folgte.

Paul wechselte, blass und bleich, von Türstock zu Türstock und blieb stehen: Ohne Isolationskleidung konnte er den Tatort nicht betreten, ohne die hätte er vorhin vermutlich nicht mal den Gang entlang gehen dürfen.

Er schob den Kopf nach vorne und sah die Frau Professor rechterhand in ihrem weißen Ganzkörperanzug mit Kapuze, unter der, nebst ein paar rostroten Haaren, ein geradezu satanisch grinsendes Runzelgesicht hervorschaute.

Pauls zaghaftes »Guten Abend, Frau Professor!« konterte sie mit harschem Befehl:

»Bleib, wo du bist, du Frischling! Und von wegen »guter Abend«, mit ’ner Leiche zur schönsten Nachtstunde! Kennste den? ›Mami, darf ich mit Opi spielen?‹ ›Nein, mein Kind, der Sarg bleibt heute zu!‹«

Dazu lachte sie, während Paul sprachlos mit offenem Mund dastand, schrill auf, schüttelte den Kopf, als müsse sie sich über das Witzchen totlachen, und sank, so klein sie war, noch weiter in sich zusammen und ins Polster zurück.

Das Schluchzen aus dem Sissilissi-Zimmer wurde lauter, offenbar empörten sich die beiden Mädels genauso wie Paul, der freilich auch keine Silbe herausbrachte, um von der da im Eck die angemessene Pietät einzufordern.

Wieder zuckte er, als sie ihn plötzlich aus ihren kleinen Augen anblitzte und anherrschte:

»Befragen, los! Frag, wer’s von den dreien war, wer ihm das Gift reingemischt hat in den Fusel!«

Jetzt erst bemerkte Paul, dass Georgs tote Augen geradewegs auf ihn gerichtet waren, und erblickte die Zweiliterpulle billigen Soaves auf dem Tisch, daneben das umgekippte Glas in der ausladenden Weinlache über die halbe Glastischfläche.

»Gift, meinen S’, Frau Professor?«, fragte er wie betäubt. Wieder verstörte sie ihn mit ihrer Reaktion: »Arzt zur Frau: ›Zweifellos sind Sie vergiftet worden, Gnädigste.‹ Sie: ›Teufel! Womit denn?‹ Er: ›Das sehen wir demnächst bei der Obduktion.‹ Passt prima, nicht?«

Und schon ließ sie den nächsten gewaltigen Schwall hässlichen Gekichers los, das sie nur unterbrach, um erneut auf Paul einzuschimpfen:

»Befragen sollste, junger Mann! Was stehste denn sinnund tatenlos hier rum?«

Womit sie wieselflink ihr Schreibzeug verstaute, aufstand – sie war noch kleiner, als Paul vermutet hatte –, ihr Köfferchen packte und an ihm vorbeihuschen wollte.

»Wie lang ist er denn schon…«

»Nicht verwest, nicht mal in Teilen, kein Tierfraß…« Wieder schepperte kurz ihr abscheuliches Gelächter auf. »…keine witterungsbedingten Veränderungen: also ein bis drei Stunden.«

Das folgende Gekicher galt Paul, den sie damit ein letztes Mal auf den Arm nahm, ohne dass er es ihr hätte heimzahlen können.

Als sie sich an ihm vorbeidrückte, schaute sie ihm von schräg unten scharf und verstörend in die Augen, ganz kurz, und drückte ihm mit ihrem Einweghandschuh eine Schachtel Tabletten in die Hand:

»Für die zwei Hühner da drüben auf der Stange! Erleichtert das Reden. Der alkoholvergiftete Jüngling da kriegt nichts, sonst stirbt er dir weg wie sein Freund! Adieu, Püschl Paul!«

Als er verdutzt von der bunten Schachtel aufsah, war die Hallstein fort, im Zwielicht des Flurs jedenfalls nicht mehr zu erkennen: Lautlos musste sie auf ihren Plastiküberzügen davongehuscht sein.

Von draußen glaubte er ein geradezu unmäßiges Gelächter zu hören.

Hat wohl gleich noch ’nen Termin auf dem Blocksberg!, dachte er und stellte sich vor, wie sie dort unter lauten Verwünschungen und diabolischen Flüchen im weißen Ganzkörperanzug auftaucht, ihn wütend vom schrumpeligen Leib reißt und sich zu ihren schauerlichen, schlabberbusigen Mitschwestern gesellt, die dabei sind, über offenem Feuer in einem riesigen, rotglühenden Bronzetopf ein Hexenelixier zu brauen, während andere, Häme in den schwarzen Gesichtern, Hexensalben panschen und der Teufel es allen, die da vor sich hin werkeln, von hinten besorgt, einer nach der andern.

Noch immer stand Paul wie traumverloren zwischen Georgs Leiche, dem unzurechnungsfähigen Fritz und den schluchzenden Mädchen. Die Vorstellung vom sexualaktiven Beelzebub führte seine Gedanken für einen Augenblick zurück zu Lena: Ob er sie aus dem Bett läuten und herbestellen sollte, damit sie auch mal mitbekommt, wie ein echter Tatort aussieht?

Er freilich hatte bisher auch noch keinen gesehen.

Der Erkennungsdienst kam, Alfred vorneweg. Die Hand konnten sie sich wegen der Handschuhe nicht geben.

Alfred putzte Paul durch den Mundschutz hindurch erst mal kräftig herunter: Warum er hier in seiner Alltagskluft rumstehe? Hinterher sei wieder irgendwas kontaminiert, weil er gehustet oder gerotzt hab’! Und ob das der Täter sei?

Mit der Fußspitze zeigte er auf Fritz, der nach wie vor seine anhaltend zähe Apathie pflegte, aber immerhin schon wieder, wenn auch im Zeitlupentempo, auf dem Smartphone rumdrückte, blindlings. Vermutlich suchte er gar nichts Bestimmtes.

Alfred setzte den Alukoffer ab, nahm den FingerabdruckScanner heraus und machte sich damit über Fritz’ Hände her, er stellte sie willenlos zur Verfügung. Auch Sissilissi folgten brav und weinten danach noch ein klein wenig lauter. Um sich das Gejammer nicht weiter anhören zu müssen, vor allem aber, um den Mädchen den Anblick der nackten Leiche zu ersparen, zog Paul ihre Zimmertür zu. Inzwischen hatten nämlich drei aus der ED-Truppe Georgs sterbliche Hülle fasernackt ausgezogen.

Als Paul den Alfred etwas betreten anguckte, klärte der ihn auf:

»Solltest noch wissen aus deiner Ausbildung, du Dödel, dass man das mit jeder Mordoder Selbstmordleich’ macht!«

»Die Hallstein war doch schon da und hat gemeint, dass er vergiftet worden ist«, erklärte Paul seine Verwunderung.

»Was?!«

Alfred zürnte erneut und noch heftiger, der sichtbare Teil seines Kopfs begann sich dunkel zu verfärben. Dumpf klang’s aus dem Mundschutz, er schnaufte hörbar.

»Was wollte die denn vor dir, obwohl sie hier rein gar nichts verloren hat? Die hättste doch erst rufen sollen, wenn unklar ist, ob er sich selber kalt gemacht hat oder ’n anderer!«

»Ja, und? Isses dir vielleicht klar? Mir nicht!«

»Und was hat die schräge Vettel gemeint?«

»Wenn ich ihren verqueren Witz richtig verstanden hab’: Vergiftet, kein Selbstmord.«

»Und woraus hat sie das geschlossen, die Frau Professor?«

»Frag mich nicht! War eh ganz komisch drauf, die Alte!« Alfred schüttelte den Kopf und ging in Georgs Zimmer, wo einer gerade die Leiche fotografierte. Zwei untersuchten den Tisch, die Flasche und das Glas, zwei weitere nahmen alle möglichen Kleinigkeiten in Augenschein und hantierten mit einem 3D-Laserscanner. Von draußen kamen, lautlos auf ihren Überschuhen, zwei weitere, die sich in der Küche zu schaffen machten, und direkt nach ihnen drei stämmige Kerle, ebenfalls ganz in Weiß, mit dem Aluminiumsarg.

»Wer hat denn euch schon bestellt, sagt mal?!« In Alfred keimte noch heftigere Wut. »Womöglich die Hallstein?«

Alle drei nickten wortlos und machten sich daran, den toten Georg in die längliche Alu-Kiste zu legen.

Als sie verschlossen war, sah Paul dem Abtransport hinterher und stierte noch ins Leere, als Sarg und Träger schon im Freien waren.

Dann verzog er sich ins Sissilissi-Zimmer: Die beiden wollte er nun doch mal befragen. Vielleicht war hinterher sogar mit dem Fritz was anzufangen.

Mittlerweile saßen die Mädchen auf der Kante des breiten Betts gegenüber der Tür, in derselben Stellung wie zuvor auf den Stühlen. Von denen drehte Paul einen um und setzte sich, worauf Lissi so losheulte, dass Sissi sie in den Arm nahm, mit zwei Fingerchen hinterm Ohr streichelte und in dasselbe offenbar was ganz, ganz Schönes flüsterte. Jedenfalls beruhigte sich die liebe Freundin nach und nach und nahm widerspruchslos wie Sissi eine der Hallstein’schen Tabletten, die ihnen Paul weisungsgemäß hinhielt:

»Die Frau Doktor sagt, das bekommen Angehörige und Freunde von Mordopfern immer, wenn…«

Wieder bekam Paul einen heftigen Schreck, denn böse und laut fuhr ihm Sissi ins Wort:

»Sind wir total gar nicht, Angehörige und Freunde und so, wir heulen bloß, weil der so eklig ausgeschaut hat, weiß nich, und nicht, weil der irgendwie ’n Freund war!«

»Sachte, sachte, Mädels, macht mal halblang!« Paul wechselte in polizeilichen Amtston: »Freunde oder nicht, neben dem Umnachteten da draußen seid ihr diejenigen, die dabei oder in der Nähe waren, als der junge Mann im Zimmer gegenüber verstorben ist: also!«

Er war aufgestanden, hatte jeder ein Glas aus dem Wandregal in die Hand gedrückt und aus der Wasserflasche auf dem Tischchen eingeschenkt.

»Und jetzt runter mit dem kleinen Ding! Hab’ keine Lust, mir euer Geflenne bis zum Morgengrauen anzutun!«

Folgsam taten sie, was der strenge Polizist verordnete, und schluchzten tonlos weiter, während Paul in längerer Rede darlegte, was er von ihnen alles wissen müsse.

Dann fiel ihm wieder ein, dass er den Karl an den Tatort hatte bestellen wollen. Der war schließlich, wenn Rosenheim schon kein Kripopersonal hierher beordern konnte, sein Dienstvorgesetzter, jedenfalls formal.

Wieder nichts, nur die Mailbox. Und an den Festnetzapparat bei ihm daheim ging keiner, auch nicht sein Bub, der Gusti.

Das Schluchzen und Schniefen ließ während der anschließenden Befragung bald nach, offenbar handelte es sich bei diesem Sedativum der Hallsteinhexe um eine kräftige chemische Keule, die ihm dabei half, einiges über die Verhältnisse im Hause zu erfahren:

Zugesperrt hätten sie die Haustür seit einem Jahr nicht mehr, das sei megaspießig und Totalkack! Letzten Sommer seien sie durch Schottland getrampt, durch die Highlands, und da hätten sie überall total coole Leute getroffen, die überhaupt nie die Türen versperren. Das hätten sie dinogeil gefunden und dann hier durchgesetzt.

Auf Pauls Fragen nach dem Verlauf des Abends ergab sich folgendes Bild:

Die vier jungen Leute wohnen hier als WG, seit rund zwei Jahren. Alle gehören demselben Abiturjahrgang zwodreizehn an, alle studieren sie in München: Sie beide Kunstgeschichte, der Schorschi war Altsprachler, der Fritz will Arzt werden. In letzter Zeit hatten sie nicht selten, manchmal lang und laut, krassen Stress, vor allem der Fritz mit dem Schorschi. Diesen Abend gab’s, wieder mal, ’nen Schlichtungsversuch, mit ’ner Art Versöhnungsessen: Spaghetti Aioli, eine Zweiliterpulle Weißwein tranken sie dazu. Zwei davon hatte Schorschi noch kurz vor acht besorgt, die zweite nahm er nach dem Essen mit auf sein Zimmer, nachdem sie alle vier schon wieder wegen ’ner Nichtigkeit zu streiten begonnen hatten. Sie, Sissilissi, zogen sich gegen neun zurück, zum Studieren, die Jungs soffen in Schorschis Zimmer weiter und wurden gegen zehn so massiv laut, dass es durch beide Türen zu hören war. Schließlich machten sich die Jungs ins Fuchsbräustüberl davon, wo sie schon x-mal versuchten hatten, mit sich ins Reine zu kommen. Wenn sie’s früher gelegentlich hinbekamen, hielt’s nie lange vor.

Vorhin tat’s an der Tür einen dumpfen Schlag. Als sie öffneten, fiel ihnen der Fitz vor die Füße, gegenüber entdeckten sie den verkrümmten Schorschi mit seinen toten Augen. Sissi rief sofort die Notrufnummer. Seltsamerweise war dann als Erste die Frau Doktor da, die gar nicht nett zu ihnen war und sie hier in ihr Zimmer daeinscheuchte. Sie sahen aber, wie sie an dem Toten und am Tisch herumschnupperte und sich in die Ecke verzog. Den Fritz setzten sie neben die Tür, seither sitzt er da und ist weggetreten.

Wieder kam Paul sein abgängiger Kollege in den Sinn. Wieder rief er an, wieder nichts. Immerhin fiel ihm dabei ein, dass er unbedingt die Handys dieser schwer verdächtigen WG-Mitglieder einsammeln müsse. Lissi gab das ihre widerstandslos her. Auf die Idee, dass die Sissi ein eigenes haben müsse, kam er nicht, weil ihm die beiden die ganze dreiviertel Stunde über, die er sie befragte, wie eineiige Zwillinge vorgekommen waren.

Anschließend nahm er Fritz das Smartphone aus der Hand, wobei der tatsächlich eine Art Widerstand erkennen ließ, indem er es nicht nur für ein, zwei Sekunden festzuhalten versuchte, sondern auch gegen die Maßnahme anmurrte. Dann zog er sich wieder in seine alkoholische Apathie zurück. Seine Stellung mit den zwei Armen neben den Beinen und den nach oben gekehrten Handflächen hätte der eines Yogakünstlers in vollgültiger Trance gleichen können, der in rechter Versenkung seinen Hosenlatz betrachtet, hätte er nicht damit begonnen, sich von einem enormen Schluckauf tyrannisieren zu lassen, der den Burschen ein ums andere Mal ganzkörperlich erschütterte und hob, so dass er nach und nach Gefahr lief, die bislang halbwegs stabile Haltung einzubüßen, an der Wand abzurutschen und, zuletzt flachliegend, die ganze Breite des Flurs einzunehmen.

Als Paul sich wieder den Mädchen zuwenden wollte, winkte aus Georgs Zimmer, in dem noch immer rege Betriebsamkeit der Erkennungsdienstler herrschte, Alfred mit einem Asservatentütchen: Georgs Smartphone war darin.

»Fingerabdrücke von anderen sind nicht drauf. Könnt ihr euch schon mal vornehmen, das Ding.«

Warum er von »ihr« redete, verstand Paul rein gar nicht, schließlich stand er hier noch immer allein herum. Dieser Arsch von Karl war ja nicht zu erreichen.

Er probierte es ein viertes Mal, nachdem er dem Alfred knapp gedankt hatte: Ergebnis wie gehabt.

Der ist doch jeden Mittwochabend beim Karteln in München!, sagte er sich, da kommt er doch immer mit dem letzten Zug zurück und ist spätestens um halb zwei daheim! Sein Bub, der Gustav, schlief sicher längst und hörte das Festnetztelefon nicht, oder sie hatten es ganz abgeschaltet. Aber der Karl muss doch wenigstens sein Diensthandy eingeschaltet haben!

Wie blöd von ihm, dass er das seine vorschriftsmäßig angelassen hatte, als er sich an der Lena fleischeslüstern zu schaffen machte! Und grad, als das Präludium so gut wie vorbei war…

Er wollte gar nicht mehr daran denken. Und sich auch nicht vorstellen, wie das ausgehen würde, wenn er demnächst mit einem halben Notizblock voller Einträge in seine Wohnung zurückkommt und sie aufweckt, um das Liebesscharmützel von vorn anzufangen.

Wahrscheinlich schlief sie längst tiefer als tief. Oder sie war gar nicht mehr da.

Georgs Handy mitgerechnet, hatte er jetzt drei in den Jackentaschen und wusste nicht, wie und wo er mit seinen Ermittlerpflichten am Tatort weitermachen sollte.

War es ein Anflug menschenliebenden Mitleids oder das Ergebnis praxisbezogener Überlegung?

Er griff den Fritz unvermittelt unter den Achseln, versuchte vergeblich, ihn zum Aufstehen zu bewegen, und schleifte ihn ein Stück den Flur entlang ins Zimmer gegenüber der Küche, in der nach wie vor die umtriebigen EDLeute wurstelten. Mit geradezu rührender Sorgfalt legte er seine Fracht auf das Sofa, sorgte für stabile Seitenlage und deckte Fritz zu, ehe er den aberwitzigen Versuch unternahm, Antwort auf eine Frage zu bekommen:

»Wo warst denn heut’ Abend?«

Das konnte er noch so herrisch-fordernd vortragen – Fritz tat zwischen zwei Schluckaufattacken einen kurzen Lacher und würgte auf den hin so bedenklich, dass Paul sich auf den Laminatboden setzte, um ihn zu bewachen: Der war Zeuge, wenn nicht gar Verdächtiger, und es galt, alles zu tun, um ihn vor dem wahrlich nicht unwahrscheinlichen Erstickungstod zu bewahren. Wäre nicht der erste Besoffene, der an der eigenen Kotze draufgeht!

Paul wurde ein wenig bange.

Wahrscheinlich hätte er all das gar nicht gedurft: den Leuten die Handys wegnehmen, den besoffenen Fritz am Mordzimmer vorbei in das seine schleifen, und vermutlich schüttelte Alfred, obwohl er ihn gewähren ließ, ein ums andere Mal den Kopf, wenn er mitbekam, was er so alles trieb.

Nachdem er eine Weile wie eine Kindsmagd Wache gehalten hatte, sah es endlich so aus, als wär’ der Patient eingeschlafen: Er atmete gleichmäßig und tief, würgte nicht und schnarchte barbarisch, mit kurzen Unterbrechungen.

Wieder überkam Paul ein finsterer Gedanke: Was, wenn er soeben den Mörder notversorgt hatte? Der hier kam genauso infrage wie die Unschuldslämmlein nebenan, die womöglich großartig schauspielerten und in Wirklichkeit…

Er stand auf und ging nochmals zurück zum SissilissiZimmer. Es war ihm noch was eingefallen, was es abzuklären galt: Auch Karls Sohnemann Gusti gehörte doch dem Abiturjahrgang zwodreizehn an, wenn er sich nicht schwer täuschte!

»Kennt ihr den Harlander Gusti?«

Die Frage stellte er überfallartig vom Türstock aus, setzte sich wieder auf den Stuhl vor dem Bett und sah die zwei zierlichen jungen Damen scharf an.

»Den Gusti?« Sissi klang längst nicht mehr so weinerlich wie vorhin.

»Klar!« Lissi nahm ihr die Antwort aus dem Mund. »Hat mit uns Abi gemacht und ist jetzt Pharma-Studi. Manchmal sehen wir ihn halt auf der Fahrt nach München…«

»… und am Anfang wollt’ er, weiß nich, auch mal hier einziehen und so…«

»…isser aber zu spät gekommen, weil der Schorschi war schneller…«

»…und sein Dad, der andere Bulle wie du, fand’s, glaub’ ich, auch nicht so cool…«

»…wegen dem Geld und so und weil der doch eh das Haus daheim, weiß nich, das hat er für sich ja solo meistens…«

»…weil sein Dad ist ja meistens im Dienst irgendwie.«

Bemerkenswert, dachte Paul, wie sie einander ablösen: Das perfekt eingespielte Pärchen! Denen ist zuzutrauen, dass, wenn alles auf sie als Mörderinnen hinausläuft und sie quasi schon überführt sind, jede behauptet, sie sei’s gewesen, um die Verurteilung unmöglich zu machen! Dann kämen sie höchstens wegen Beihilfe in den Knast, alle zwei. Aber da würden diese Zierpflänzchen ganz sicher binnen kürzester Zeit eingehen wie die Primeln.

Er sann vor sich hin und stellte sie sich in Einzelzellen vor, wo sie herzergreifend und pausenlos nach der andern jammerten. Und großes, großes Mitleid, ja tiefes menschliches Rühren überkam ihn.

Dass ihm der Mund offen stehen blieb, hatte einen anderen Grund: Die zwei hielten die Befragung offenbar für beendet, standen ohne Vorwarnung auf, ließen gleichzeitig die Regenbogen-Mäntelchen zu Boden gleiten und huschten, nackt, wie sie waren, in ihr Doppelbettchen, Sissi von links, Lissi von rechts, und ehe Paul begriff, was und wie ihm geschah, schauten ihm über den Saum der einteiligen roten Plüschdecke zwei traurige Gesichtchen entgegen, die er so deutete, dass er doch ratzfatz mit hineinkriechen und sie beide recht nach Männerart trösten solle.

Das traute er sich dann doch nicht, einmal, weil er nicht zu Unrecht eine ebenso schmerzhafte wie schmachvolle Abreibung befürchtete, zweitens wegen der Schnüffler und Fingerwuzler gegenüber, die einen noch so flotten Dreier am Tatort mit zwei der Hauptverdächtigen in den Protokollen wahrscheinlich übel vermerkt hätten. Und drittens wär’s als Folge davon mit der Lena aus: Nicht recht vorstellbar, dass sie für derart außerplanmäßige Formen der Ermittlungsarbeit großes Verständnis aufbrächte, auch wenn auf diese Weise den zwei Süßen – er musste ja nur zu einer gewissen Höchstform auflaufen – sicher einiges mehr zu entlocken wäre als die paar dürren Daten, die sie ihm bislang in den Notizblock diktiert hatten.

Dass sich sein Meister Iste, der von der Aktion mit Lena her noch in bester Stimmung war, ausgerechnet jetzt, im unpassendsten Moment, massiv bemerkbar machte, war auch nicht erbeten, aber angesichts des soeben Gebotenen unvermeidlich. Als wirksame Gegenmaßnahme fiel ihm auf die Schnelle nur ein, zum Handy zu greifen und es wieder bei Karl zu versuchen.

Achtmal ließ er’s klingeln und schüttelte dazu doppelt so oft mit dem Kopf.

Sissi und Lissi guckten sich ängstlich fragend an, als würden sie befürchten, er rufe einen Kollegen zum Doppelzweier.

Gusti!, fiel Paul ein, während er den Hörer am Ohr hatte und hinter vorgehaltener Hand endlich zwei Sätze auf die Mailbox murmelte. Dieser Gusti! Ein paarmal hatte er ihn gesehen: ein Bub, der über all die Jahre einer geblieben war. Stark pickelig hatte er ihn in Erinnerung, mit tränenverhangenem Blick, als müsse er jeden Augenblick losheulen, und ständig vermittelte er den Eindruck, als wolle er tröstend in den Arm genommen werden. Der also war…

Nein, es war überhaupt nicht auszuschließen, dass das Bübchen irgendwie mit drinsteckte, bei seiner persönlichen Nähe zu den Mitstudenten hier und somit zum Toten: Junge, Junge, das wär ’n Ding!

Schon taten sich in seiner Vorstellung komplizierteste Verwicklungen auf: Was ergab sich aus der Befangenheit Karls, der, wenn aus Rosenheim weiterhin keiner von der Kripo kommen konnte, nach Lage der Dinge Chefermittler geworden wäre? Aber so? Dass Gusti zu den Hauptverdächtigen zählte, bedeutete nichts anderes, als dass letztlich er, Paul selbst, unmittelbar mit der Leitung der Ermittlungen betraut werden musste – ein Gedanke, der ihn kurz erschauern ließ.

Aufstehen konnte er noch immer nicht, zu nachhaltig machte ihm die Aufmüpfigkeit seines Triebkopfs da unten zu schaffen, dessen Aufstand zu bekämpfen er momentan kein Mittel fand. Und dauernd in die zwei netten Gesichtchen zu starren, die süß-traurig nebeneinander unter der Bettdecke hervorguckten und fragend zu ihm herschauten, brachte nicht einmal Linderung, geschweige denn eine Lösung.

Ein Themenfeld fiel ihm doch noch ein, das sich notfalls ausdehnen ließ, bis seine Natur sich zur Mäßigung entschloss:

»Der Gusti: Wie oft, wie regemäßig war der hier?«

»Total selten, weiß nich, und nur ganz manchmal, nicht so regelmäßig.«

Lissi klang dumpf, den Saum der Decke hatten beide unter die Näschen gezogen.

»Andere Besucher, gleich ob einmalig, selten oder oft: Namen?«

Sie schoben die Köpfe heraus und drehten die Gesichtchen einander gleichzeitig zu, Sissi das ihre nach links, Lissi das ihre nach rechts, als würden sie synchron überlegen.

»Alle paar Monate mal die Alten vom einen oder andern und so.«

Lautes Geschepper von draußen unterbrach die Unterhaltung und ließ die Mädchen zusammenfahren: Wie sich’s anhörte, war in der Küche ein großer Geschirrstapel zusammengebrochen. Mehrere Töpfe mussten dröhnend auf den Fliesenboden gefallen und ein paar Teller zu Bruch gegangen sein. Es folgte harsches Gefluche: Die Erkennungsdienstler hatten unüberhörbar Mist gebaut.

»Und sonst?«

Paul tat, als hätte der Murks, den die Kollegen draußen veranstalteten, keinerlei Bewandtnis für sie hier drinnen. Ebenso überrascht wie erfreut aber stellte er fest, dass der plötzliche Schreck, der auch ihm in die Glieder gefahren war, die beschriebene Not schlagartig beseitigt hatte.

Er nutzte die Gelegenheit sofort, um aufzustehen und im Zimmer herumzugehen, in der Hoffnung, durch diese Maßnahme einem neuerlichen Malheur vorzubeugen.

Wieder sahen sich die zwei an, wobei in ihrem Fall der kurze Schreck nichts kleiner, aber die Augen größer gemacht hatte, und antworteten in geregelter Abwechslung:

»Mal ’ne Freundin von uns…«

»…mal ’n Freund von denen, weiß nich…«

»…mal der Gusti…«

»Hatten wir schon!« Paul wurde unwirsch. »Weiter!«

»…manchmal der Jackie…«

»Heißt wie?«

»Jakob Bausemann. Den haben sie manchmal geholt, wenn…«

»…der Fritz und der Schorschi ihren Megabeef miteinander hatten und so.«

»Jetzt ist’s ja wohl vorbei mit dem Stress!«

Kaum hatte Paul den Satz gesagt, fand er ihn denkbar unpassend.

»Ja«, flüsterten beide und fingen, was er sich hätte denken können, wieder zu weinen an.

Tatsächlich schnäuzen die sich auch noch synchron!

Er konnte es nicht recht glauben, als jede wie auf Kommando ein Tempotaschentuch unter dem Kopfkissen hervorholte und hineinschniefte.

Urplötzlich fühlte er heftige Müdigkeit über sich kommen. Das war ihm deutliches Zeichen, dass es für heute Nacht genug sein musste.

Er schwenkte um: »Hört zu, ihr zwei! Sperrt euch ein, ausschlafen! Heut’ den ganzen Tag nix Uni, nix München und so: Ihr haltet euch zu unserer Verfügung. Klaro? Nix weiß nich und dergleichen! Essen in der Küche erst, wenn die Männer da draußen fertig sind.«

Schluchzend nickten sie im Takt und dem Paul noch hinterher, als er schon die Tür hinter sich zugezogen hatte.

»Wenn der nebendran wider Erwarten aufwachen sollte, lasst ihr ihn bittschön nicht gehen! Den brauchen wir morgen Früh.«

»Geht klar«, versprach Alfred, »haben hier eh noch die ganze Nacht zu tun.«

»Und dass mir keiner die Presse rebellisch macht!«

Das machte Alfred gleich wieder ungehalten: »Wir doch nicht! Wie kommste denn da drauf, du Spinner?!«

Paul zuckte mit der Schulter, hob die Rechte zum Gruß und machte sich mit drei fremden Handys in den Taschen davon.

Zum sechsten Mal versuchte er’s bei Karl: Nichts!

Lena schien tief zu schlafen und ihn nicht zu hören, als er so leise wie möglich das Schlafzimmer betrat.

Seine Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen.

Er verspürte eine geradezu perverse Lust, jetzt noch, kurz vor drei, einen ausführlichen Bericht über die Tatortbegehung in den Computer zu tippen, setzte sich hin, legte die Handys nebeneinander und den Notizblock dazu, schob die Pulloverärmel hoch und begann die Tastatur ungestüm zu bearbeiten.

Die ganze Zeit über, in der er hemmungslos seine Schreibwut austobte, guckte aus dem linken Mundwinkel die feuchte Zungenspitze.

VI 

Paul schrieb und schrieb. Die Müdigkeit kam nicht wieder, zu aufgeregt, zu begeistert war er von dem, was er in sein Word-Dokument zauberte. Das Notizbuch brauchte er so gut wie gar nicht, die Einzelheiten vom Tatort standen ihm in voller Klarheit vor Augen: Zu tief hatten sich ihm die Beteiligten eingeprägt, von der Hallstein über den sturzbesoffenen Fritz bis zu den Mädchen, deren hüllenloser Doppelakt allerdings die anderen Bilder immer wieder hartnäckig überdecken wollte.

Ob er’s doch noch mit der Lena machen sollte? Nach Abschluss des Berichts, dachte er, könnte man zur Erfrischung den erotischen Weckdienst übernehmen und es ihr wie selbstverständlich im Halbschlaf besorgen.

Den Karl anzurufen hatte jetzt, nach getaner Tatortarbeit, keinen Sinn mehr. Der hatte sich womöglich die Kante gegeben, lag in irgendeinem Münchner Rinnstein und schlief seinen Rausch aus. Oder er pennte daheim und hatte alle Telefone ausgeschaltet, er oder sein Bub, der sich womöglich mit ’ner Liebsten durch die vaterlose Nacht zu bumsen gedachte. Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen, wenn er sich das traurig-verschlafene Bübchen vor Augen führte, als welches er ihn, den Gusti, vor einem Vierteljahr auf der Dienststelle kennengelernt hatte.

Sieben eng beschriebene Seiten hatte Paul gegen Viertel nach vier fertig, druckte sie aus und überlas das Ganze nochmal auf Mängel hin. Das sollte schließlich nach Rosenheim an die Kripo gehen und nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Inhaltlich war alles vom Besten, den Ablauf der Begehung, seine Maßnahmen und die Ergebnisse der Zeugenbefragung hatte er gnadenlos präzise festgemeißelt. Sprachlich machte ihm allerdings zu schaffen, dass er partout nicht wusste, wann es das und wann dass heißen musste: Sobald er nach krampfhafter Überlegung ein das in ein dass oder, umgekehrt, ein dass in ein das geändert hatte, bekam er sofort seine Zweifel. So vertat er mit der Durchsicht eine glatte Stunde, nach der rund siebzig Prozent der das bzw. dass noch immer oder wieder verkehrt waren.

Es war kurz vor halb sechs geworden. So stolz war er inzwischen auf seinen Erstling von Mordermittlungsbericht geworden, dass er ihn nicht mehr bei sich behalten konnte: Die Lena musste ihn sich anhören, und zwar jetzt, sofort, ob sie wollte oder nicht!

Oder sollte er ihre Hörbereitschaft vorab nachhaltig auf erotischen Umwegen stimulieren? Sich zu ihr ins Bett und zwischen ihre Beine, abschließend seine wieder aufmüpfig gewordene Verhärtung ins Gröttchen zu schieben versuchen?

Er schlich, den Ausdruck in der Linken, ins Schlafzimmer, pirschte sich geräuschlos ans Bett und schob die Rechte unter die Decke, auf feinfühliger Suche nach was Rundem oder Halbrundem. Rasch stieß er, da die Lena wie gewohnt auf dem Bauch schlief, auf was Weiches unter Seidenspitzen. Die kannte er noch von vorhin, als sie kurz davor gewesen waren, entfernt zu werden, und womöglich verursachte das schöne Stoffröschen soeben eine unschöne Druckstelle über Lenas flaumigem Dreieck. Er erzeugte jetzt aber keinen wohligen Seufzer, sondern einen bäurischen Raunzer, den jeder als überdeutliche Zurückweisung aufgefasst hätte. Paul jedoch deutete ihn als Bitte um betriebsame Fortsetzung, die hinwieder bewirkte, dass die schlaftrunkene Lena garstig zu maulen anfing und ihm die begrapschte Pohälfte durch rasche Seitwärtsbewegung entzog.

Er entschloss sich zum Methodenwechsel, rüttelte mit einem aufgeregten »Lena, hör mal zu!« an ihrer Schulter und fing unvermittelt an vorzulesen.

Sie raunzte weitere zwei, drei Mal mit wachsendem Ärger und moserte abschließend, er solle mit dem saublöden Scheiß aufhören und sie in Ruhe lassen.

Paul begriff ’s noch immer nicht, ließ die Finger erneut nach dem entglittenen Weichgewebe graben und gab erst auf, als er lauten, richtig bösen Schimpf erntete: »Hör auf, du Superhirni! Wärst vorhin nicht einfach abgehauen!«

Wieder am Schreibtisch, überkam ihn die Sorge, in seinem Bericht könnten mancherlei Formulierungen stehen, die festhielten, was er alles verbockt und womit er womöglich gegen ein ganzes Sortiment von Dienstund Verfahrensvorschriften verstoßen hatte. Lieber Himmel! Den Tatort hatte er ohne Schutzkleidung betreten! Die Sissilissi-Geschichte, die ihm schon vor Ort schwere Bedenken verursacht hatte! Hätte er die Mädchen überhaupt befragen dürfen, ganz allein? Hätte er nicht abbrechen und davonlaufen müssen, als sie splitternackt in ihr Bettchen hüpften? Die Handys! Die hätte er, wie schon vermutet, gar nicht an sich nehmen dürfen, ohne richterlichen Beschluss! Und den Fritz! Hätte er den nicht über seine Rechte belehren müssen, bevor er ihm das Smartphone wegnahm? Andererseits: Wie hätte das denn ausgesehen? Er setzt sich vor ihm auf den Boden, fragt in Fritz’ Alkoholvergiftung hinein, ob er aus ermittlungstechnischen Gründen das Handy an sich nehmen dürfe, bekommt außer Gelalle und blödem Gekicher keine Antwort und hätte ihm also wegen fehlender Zustimmung das Smartphone lassen müssen! Es war allemal besser, dass die drei Handys jetzt hier auf seinem Schreibtisch lagen, nebeneinander, und wenn sie, wie anzunehmen, entsperrt waren: Warum nicht nachsehen, ganz ohne richterlichen Beschluss und rein informell, was sich mit und auf diesen Phones am vergangenen Abend, vielleicht auch den Tag über so alles getan hatte? An Schlaf war nicht mehr zu denken, hell war es auch schon. Bis er die Lena kurz nach sechs wecken musste, blieb noch genug Zeit für gründliche Recherche.

Emsig machte er sich daran, die letzten SMS und Verbindungsdaten durchzusehen und zu vergleichen, und nach einer knappen halben Stunde stand auf dem Bildschirm ein chronologisches Schema:

19.50 Anruf Georg bei Lissi (Inhalt vmtl., ob was fürs Essen fehlt)

19.52 SMS Lissi an Georg (»Olifenöhl is ale«)

19.57 Anruf der Eltern bei Fritz: nicht angenommen 

21.53 Anruf Georg bei Jackie: nicht angenommen 

21.54 SMS Georg an Jackie (»Brauchen dich mal wieder, komm ins fbs, sind auf dem Weg.«)

21.55 SMS Fritz an Gusti (»saufn im fbs kom rüba zur sesion«)

22.15 SMS Fritz an Jackie (»rür dich entlich und kom ins fbs!!«)

22.16 SMS Georg an Gusti (»Sind jetzt im fbs – melde Dich wenigstens!«)

22.19 SMS Gusti an Fritz und Georg (»schau grad n film keine lust streidet ja doch blos«)

22.22 SMS Jackie an Fritz (»ternaeres – no time tonight«)

Das alles hatte Paul in den Bericht eingefügt und druckte ihn nochmals aus. Einzig mit dem Begriff ternaeres konnte er nichts anfangen: Er verwechselte ihn mit Tertiär, was, wie er sich zu erinnern glaubte, irgendwas mit der Erdgeschichte zu tun hatte.

Wieder regten sich Zweifel, ob das, was er da gesammelt hatte, ohne Einverständnis der Handybesitzer juristisch überhaupt verwertbar war. Andererseits hatten Sissilissi das ihre… Himmel!, überkam’s ihn siedend heiß, die Sissi! Wie hatte er nur vergessen können, dass die sicher ihr eigenes Smartphone hatte, auch wenn die zwei sonst alles zusammen und gleichzeitig machten! Und dieses zweite hatten die noch immer bei sich und konnten nach Herzenslust dran herummanipulieren! Was für ein eklatantes Versäumnis! Jetzt konnte er sich was einfallen lassen, wie er an dieses zweite herankam! Allerdings hatte er auch die Computer der WG-Insassen vor Ort lassen müssen. Ob die der Erkennungsdienst kassiert hatte? Es war einfach zu lange her, dass er das ganze Verfahrenszeug in der Polizeischule gelernt hatte.

In ein paar Minuten musste er die Lena wecken und konnte sie gleich mal befragen.

Gefahr, dass er doch noch einnicken könnte, bestand nicht: Zu wirbelig ging’s in seinem Kopf zu, zu spannend war’s, was Karl und vor allem die Profikommissare von der Kripo in Rosenheim zu seiner brillanten Ermittlungsarbeit und seinem nicht weniger brillanten Bericht sagen würden.

Um nicht unbeschäftigt zu sein, machte er sich nochmals über die Smartphones her und sah die Speicher durch. Der einzige Name, der neben denen der vier WG-Mitglieder, Gustis und Jackies in allen dreien erschien, und das gehäuft, war Rosi. Der war bei der Befragung der Mädchen seltsamerweise nicht gefallen.

Einen entsprechenden Nachtrag brachte er in seiner Bericht-Datei unter. Dann ging er die Lena wecken.

Gut aufgelegt war sie nicht, als er sie stupste und ihr die Uhrzeit nannte. Immerhin reichte es zu einem knapp bemessenen, eher lustfreien Küsschen, das auch für ihn wenig Erregungspotential hatte, weil sie gestern im Quattro Fontane mit ihrem Antipasto di Mare merklich mehr an Knoblauch verzehrt hatte als er.

»Stell dir vor: Komm ich zum Tatort…«

»Was für ’n Tatort?«

Ihren Grant schob er auf die frühe Stunde. Unbedingt wollte er nun, wenn auch viel zu gehetzt, in zusammenhängender Rede berichten, was sich seit dem schmerzlichen Abbruch ihres fortgeschrittenen Liebestreibens ereignet hatte, kam aber zunächst nur bis zu seinem Eintreffen in der Schießstättstraße, weil sich die Lena wortlos ins Bad entzog und dort eine Weile saß. Währenddessen setzte er zwei Töpfe auf, fürs Teewasser und die Eier.

»Vier oder fünf Minuten, dein Ei?«, fragte er durch die Badtür, erhielt aber keine Antwort.

Nachdem sie endlich die Spülung bedient hatte, zweimal kurz hintereinander, hoffte er schon, mit seinen wichtigen Nachrichten fortfahren zu dürfen, hörte aber, wie unmittelbar danach die Dusche anging. Er schlich zurück in die Küche, um das, was der Kühlschrank hergab, aufzutischen, brühte den Tee und legte die Eier ins Wasser.

Wieder dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die Dusche abdrehte. Sofort wagte er’s, die Tür einen Spalt zu öffnen, um mit seinem Bericht fortzufahren, und kam immerhin bis zur Entdeckung der Hallstein. Jetzt begann der Fön zu lärmen – Zeit für ihn, den Tee in die Tassen zu gießen und die Eier abzuschrecken.

Abermals wartete er geduldig. Als Lena den Fön abschaltete, sprang er vom Tisch auf und war auch schon am Bad, fing mit der Schilderung der Hallstein an und hörte nach eineinhalb Sätzen wieder auf, weil das Haaretrocknen nur kurz unterbrochen und noch längst nicht beendet war.

Für eine ausgedehntere Erzählpassage – von der Unterhaltung mit der Hallstein bis zum Betreten des Mädchenzimmers – reichte es, als Lena sich mit den Requisiten ihres kleinen Notnecessaires schminkte. Ihrem Verhalten am Spiegel, das er durch die zur Hälfte geöffnete Tür verfolgte, konnte er aber nicht entnehmen, ob die Jungkollegin das alles überhaupt interessierte, zu lustlos und missgelaunt schaute sie drein.

Als sie den Lippenstift auftrug, berichtete er vom scharfen Verhör der Mädchen und wollte eben die Verfrachtung Fritzens ins Bett etwas farbiger als nötig ausgestalten, als Lena die Lippen aufeinander rieb, das verschlafene Gesicht für einen Moment sehr nah an den Spiegel schob und ein verhauchtes »Aha!« von sich gab.

Sie gingen gemeinsam zurück ins Schlafzimmer. Lena zog sich an, Paul erzählte nebenher von Alfred, den Erkennungsdienstlern und seiner Rückfahrt hierher. Aus seinem Blätterbündel vorzulesen versuchte er schon gar nicht mehr, obwohl er ständig damit herumwedelte.

Wieder gewährte ihm Lena ein übellauniges »Aha!« und begleitete ihn in die Küche, wo er hoffte, für seine ansehnlichen Frühstücksmühen ein kleines Lob einzuheimsen.

»Machst mir ’nen Espresso?«

Müde klang die Lena, sehr müde und schaute auf das Ei im Becher vor sich, als wolle sie vornüberkippen und gleich wieder einschlafen.

Paul warf die kleine Lavazza an, gab eine Kapsel ins Fach und drückte das Espresso-Symbol.

»Darf dich schon ein paar Dinge fragen, oder?« Sie gähnte das Ei an, machte dann aber einen ersten, wenn auch nicht geglückten Versuch, ihre angeborene Morgenmuffeligkeit wegzulächeln.

»Haste die Sissilissi gefragt, worüber sich die Jungs dauernd gezofft haben? War doch sicher ’n Mädl, was sonst!«

»Kann schon sein.« Paul hatte sofort das untrügliche Gefühl, was Entscheidendes versäumt zu haben. »Vielleicht… diese Rosi, die alle im Speicher hatten?«

Erstmals schaute Lena so, dass man aus ihren Augen eine gewisse geistige Aktivität, die dahinter stattfand, lesen konnte: »Anzunehmen. Und… woher hast du mitten in der Nacht die richterliche Verfügung gehabt, um die Handys konfiszieren zu dürfen?«

Das war, wie er sich selber schon zweimal zugegeben hatte, ein wunder Punkt bei seinen Maßnahmen. Er zuckte aber nur mit den Achseln und meinte: »Ging nicht anders! Und der Fritz…«

»…hat möglicherweise, wenn nicht gar wahrscheinlich, seinen Vollrausch nur simuliert: Schon drüber nachgedacht?«

Für blöd verkaufen wollte Paul sich auch nicht lassen und fing an, Fritz’ Zustand mit schmückenden Details auszumalen, nachdem er ihr das Espressotässchen hingestellt hatte. Mit einem Schwupp war’s leer. Wortlos schob sie’s zu Paul hinüber, was er richtig als »Nochmal dasselbe!« verstand.

»Also, wenn du gesehen hättest, wie der…«

»Ruf doch mal den Karl an, dass der nachher seinen Gusti mitbringt. Der steckt ja allem Anschein nach schwer in der Geschichte mit drin!«