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Inès Bayard

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Beschreibung

Inès Bayards neuer Roman über eine Frau, deren Welt aus den Fugen gerät – mitten in Berlin Steglitz

Leni Müller lebt an der Seite ihres Architekten-Mannes in Berlin ein Leben ohne Ziele und Träume. Als Kommissar Ziegler bei den Müllers auftaucht, um sie – zumindest behauptet er das – als Zeugen für einen Schusswechsel im Kiez zu befragen, gerät Lenis Welt komplett außer Kontrolle. Die Männer zwingen sie auf die Straße. Leni entwickelt ein Eigenleben.
Nach ihrem vielbeachteten Debütroman "Scham" legt Inès Bayard einen spannenden psychologischen Roman vor über eine Frau, die ihre Vergangenheit nicht länger verdrängen kann. Ein literarisches Meisterwerk, bei dem man nicht eine Sekunde lang ahnt, wohin der Weg an Lenis Seite noch führen wird ...

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Das ist das Cover des Buches »Steglitz« von Inès Bayard

Über das Buch

Inès Bayards neuer Roman über eine Frau, deren Welt aus den Fugen gerät — mitten in Berlin SteglitzLeni Müller lebt an der Seite ihres Architekten-Mannes in Berlin ein Leben ohne Ziele und Träume. Als Kommissar Ziegler bei den Müllers auftaucht, um sie — zumindest behauptet er das — als Zeugen für einen Schusswechsel im Kiez zu befragen, gerät Lenis Welt komplett außer Kontrolle. Die Männer zwingen sie auf die Straße. Leni entwickelt ein Eigenleben.Nach ihrem vielbeachteten Debütroman »Scham« legt Inès Bayard einen spannenden psychologischen Roman vor über eine Frau, die ihre Vergangenheit nicht länger verdrängen kann. Ein literarisches Meisterwerk, bei dem man nicht eine Sekunde lang ahnt, wohin der Weg an Lenis Seite noch führen wird ...

Inès Bayard

Steglitz

Roman

Aus dem Französischen von Theresa Benkert

Paul Zsolnay Verlag

1

Leni Müller lebte mit ihrem Mann Ivan Müller im obersten Stock eines Wohnhauses in der Markelstraße. Als Leni an diesem Morgen die Schlafzimmervorhänge aufzog, freute sie sich über den Schnee. Ein weißer, tiefhängender Himmel. Der Dezember in Berlin hatte gerade erst begonnen. Die Leute hatten schon den Weihnachtsschmuck an ihren Balkonen aufgehängt. Unten an der Straße klaubten die Schulkinder den Pulverschnee von den Windschutzscheiben der Autos, formten große Bälle und bewarfen ihre Eltern damit. Das Gelächter hallte durch die Fenster der Wohnung.

Leni stand immer später auf als ihr Mann, gegen acht Uhr. Sie kochte Kaffee und brachte ihm eine Tasse ins Wohnzimmer, während er die Welt las. Er saß aufrecht im Sessel und blätterte verärgert die Seiten um. Wenn ihn seine Gattin fragte, worüber er sich so aufregte, erwiderte er schroff: »Die Welt ärgert mich.« Mehr sagte er nie. Im Übrigen unterhielten sich die Eheleute im Laufe des Tages ohnehin nur sehr selten und auch abends kaum mehr. Ivan dachte, dass es so am besten sei. Er wiederholte gern, dass Schweigen immer besser sei als unnötige Worte, mit denen es die meisten Paare übertrieben. Leni machte das gar nichts aus, ganz im Gegenteil. Sie schätzte es umso mehr, sich zu äußern, wenn sie es für unumgänglich hielt.

Der Stadtteil Steglitz, in dem sich die Wohnung befand, hatte einige Besonderheiten zu bieten. Auf der einen Seite gab es die Schloßstraße, eine vielbesuchte Einkaufsmeile. Hunderte Geschäfte und drei Einkaufszentren nahmen jeden Tag die dichtgedrängte Menschenmenge auf, die vom Walther-Schreiber-Platz zur U-Bahn-Station Rathaus Steglitz strömte. Man musste jedoch nur von der Schloßstraße rechts oder links in die erstbeste Straße einbiegen, schon fand man sich in einem ruhigen, unauffälligen Wohnviertel wieder. Die Büroräume in der Französischen Straße, in denen Lenis Mann arbeitete, waren wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. In den letzten Monaten hatte Ivan Müller seinen Beruf als Architekt in einem Zimmer der Wohnung ausgeübt, in dem er auch seine Modelle zu entwerfen pflegte. Gegen zehn Uhr morgens setzte er sich an die Arbeit, während Leni hinunterging und sich um die Pflanzen im Vorgarten ihres Hauses kümmerte. Wenn die Nachbarn sie dort hocken sahen, die Hände voller gefrorener Erde, blieben sie stehen und erteilten ihr Ratschläge. »Wie kommen Sie denn darauf, bei diesem Schnee im Garten zu arbeiten!«, brachte einer vor, während er sich vor dem Drahtzaun hinpflanzte. »Mit diesen Handschuhen kommen Sie aber nicht weit!«, sagte ein anderer. Leni reagierte immer mit einem freundlichen Nicken, ließ sich aber nie auf eine Diskussion ein. Also gingen sie wieder und wünschten ihr einen schönen Tag, zufrieden oder manchmal auch verärgert über ihr Schweigen, das man für Herablassung hätte halten können. So verging der Vormittag. Später, nachdem sie sich gewaschen hatte, blieb Leni im Wohnzimmer. Sie saß am großen weißen Fenster und sah zu, wie der Schnee ihre Balkonblumen bestäubte.

Das Telefon im Flur klingelte schon seit ein paar Minuten. Die Anrufe waren nie für sie, und ihr Mann nahm den Hörer nur ab, wenn er Lust dazu hatte. Auf dem Couchtisch lagen noch die zerknüllten Blätter der Welt. Sie beäugte von weitem die erste Seite, als hätte sie Angst, sich ihr zu stellen. Es war die Fotografie eines Kinds. Gekleidet in einen roten Wollpullover, das Gesicht vom Weinen verzerrt, hielt es den Kopf in den Händen, als würde er sich jeden Moment vom Körper lösen. Hinter ihm war ein älteres Kind im Profil zu sehen, das ebenfalls weinte. Dahinter wiederum trug ein Mann im schwarzen Ledermantel ein drittes Kind auf dem Arm. Alle vier sahen aus, als wollten sie einer Gefahr entfliehen, einem Krieg wahrscheinlich. Leni starrte das Bild einen Moment lang an, dann senkte sie den Blick auf ihre Uhr. Halb eins. Sie ging durch das Wohnzimmer in die Küche und holte die Einkaufstasche aus der Abstellkammer. Als sie an Ivans Arbeitszimmer vorbeikam, hörte sie ihn am Telefon sprechen.

Leni ging für gewöhnlich zum Einkaufszentrum Boulevard Berlin, das einige Meter von der U-Bahn-Station Schloßstraße der Linie U9 entfernt war. Um zum Eingang von Karstadt zu kommen, musste sie nur der Straße folgen. Eingemummelt in ihren Mantel trat sie vor die Tür. Es schneite nicht mehr. Die Gehwege waren jetzt mit schwarzem Matsch bedeckt, der an den Schuhsohlen klebte und nach brackigem Wasser roch. Von ihrem Haus aus sah sie schon die vor Menschen wimmelnde Straße. Sie ging am dekorierten Schaufenster eines Luftballongeschäfts vorbei, und als sie die Kreuzung an der Schloßstraße erreichte, schlug ihr der würzige Geruch vom Schloss-Döner entgegen. Im Kaufhaus dann durchquerte sie die Kosmetik- und Schmuckwarenabteilung, wo sie von einem Mann im Anzug angerempelt wurde, der es nicht einmal bemerkte, bis sie endlich die Ladengalerie erreichte. Die wabenförmige Decke mit den großen Glasscheiben schien kein Licht durchzulassen. Die Dekoration und die Neonlichter reichten aus, um das Tageslicht zu ersetzen. Leni steuerte auf den Supermarkt zu, der eine Etage tiefer lag und in dem sie jedes Regal wie ihre Westentasche kannte. An der Kasse murmelte sie einen kurzen Gruß, verstaute ihre Einkäufe in der Tasche, zahlte, nahm den Beleg entgegen und wünschte der Kassiererin im Gehen einen schönen Tag. Zufrieden ging sie auf direktem Weg nach Hause.

Als sie die Tür öffnete, hörte sie Stimmen. Mitten im Wohnzimmer stand Ivan im Gespräch mit einem anderen Mann, der ein Notizbuch in der Hand hielt. Er war um die fünfzig, und oben auf seinem Schädel zeigte sich eine Glatze, die notdürftig von ein paar spärlichen graumelierten Haaren verdeckt wurde. Ein dicker schwarzer Parka verlieh seiner Gestalt seltsame Proportionen. Durch seine schwarze Hose erahnte man die mageren Beine, die aussahen, als wären sie bis auf die Knochen abgehobelt. Als Leni das Zimmer betrat, wandte der Mann sich sofort zu ihr um und musterte sie schweigend. Dann drehte sich auch Ivan um.

»Meine Frau, Leni«, sagte er, bevor er seine vorherige Haltung wieder einnahm.

»Guten Tag«, grüßte sie der Mann herzlich, wobei er die Lippen kräuselte.

Leni nickte, ohne ihm in die Augen zu sehen. Als sie im Begriff war, das Wohnzimmer zu verlassen, rief der Mann sie zurück und ging einige Schritte auf sie zu.

»Polizeioberkommissar Ziegler«, sagte er und hielt ihr seine Dienstmarke hin.

Leni starrte besorgt ihren Mann an.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, fügte Ziegler lächelnd hinzu. »Es handelt sich nur um eine Anwohnerbefragung.«

»Meine Frau ist nicht besonders redselig, Herr Oberkommissar«, erklärte Ivan.

»Verstehe«, erwiderte dieser. »Aber vielleicht hat sie ja gestern Abend etwas gehört?«

»Wenn das der Fall wäre, hätte sie mir davon erzählt, das kann ich Ihnen versichern.«

Ziegler ließ Leni nicht aus den Augen. Sie schwieg weiterhin, dann fragte sie ihren Ehemann, ob sie sich in die Küche zurückziehen könne, worin er einwilligte. Der Oberkommissar sah ihr eine Weile hinterher, dann wandte er sich wieder Ivan zu.

»In der Tat, nicht sehr redselig …«

»Haben Sie noch weitere Fragen?«, erkundigte sich Ivan.

»Im Augenblick nicht. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, haben Sie ja meine Nummer.«

»Ich begleite Sie noch zur Tür.«

»Machen Sie sich nur keine Umstände.«

Die beiden Männer gaben sich die Hand, und Ivan Müller kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Der Oberkommissar durchquerte das Wohnzimmer und trat in den Gang, hielt jedoch abrupt inne, als er vom anderen Ende her leise Lenis Stimme hörte. Es klang wie ein Summen. Vorsichtig warf Ziegler einen flüchtigen Blick ins Wohnzimmer, um sicherzugehen, dass er nicht beobachtet wurde, dann ging er aufmerksam lauschend den Gang hinunter. Auf der Schwelle zur Küche sah er Leni, die mit dem Rücken zu ihm stand und damit beschäftigt war, Gemüse zu schneiden. Neben ihr spielte ein altes Radio eine klassische Sinfonie, deren Melodie sie gut zu kennen schien. Ziegler tat so, als räusperte er sich, damit sie sich umdrehte, aber vergeblich. Leni verharrte in derselben Position. Von der Tür aus konnte er jedoch sehen, wie sie nach links schielte, um sich seiner Anwesenheit zu versichern.

»Schöne Musik«, bemerkte Ziegler. »Was ist das?«

»Schubert.«

Ziegler ging ein paar Schritte auf sie zu.

»Ihr Mann sagt, dass Sie nicht so gern reden, stimmt das?«

»Ja«, sagte Leni, während sie sich weiter ihrer Tätigkeit widmete.

»Dann will ich Sie nicht lange aufhalten«, sagte Ziegler und ging hinter ihr vorbei. »Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Leni Müller.«

»Leni Müller«, murmelte er, bevor er einen ernsteren Ton anschlug. »Haben Sie letzte Nacht verdächtige Geräusche gehört, Leni?«

»Was denn für Geräusche?«

»Schüsse zum Beispiel.«

Er zog ein Notizbuch und einen Stift aus der Tasche seines Parkas und kritzelte ein paar Wörter hinein.

»Nein«, sagte Leni.

»Das ist ein ruhiges Viertel hier, oder?«

»Ja, sehr ruhig.«

»Wie lange wohnen Sie und Ihr Mann schon hier?«

»Das weiß ich nicht.«

Ziegler hielt einen Moment inne.

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein.«

»Verzeihen Sie, aber was machen Sie?«

»Eine Suppe.«

»Ich meine, beruflich?«

»Nein.«

»Nein? Was soll das heißen, nein?«

Da erschien Ivan auf der Bildfläche. Mit verschränkten Armen beobachtete er die Szene, ohne sich zu bewegen.

»Sie sind noch da, Herr Oberkommissar?«

»Stellen Sie sich vor, ich habe mich mit Ihrer Frau unterhalten.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, meine Frau ist nicht sehr …«

»Redselig?«, unterbrach er ihn.

Ivan Müller verrutschte allmählich sein Lächeln.

»Ich geh dann mal«, sagte Ziegler und verstaute sein Notizbuch in der Jackentasche.

»Diesmal begleite ich Sie aber hinaus«, sagte Ivan.

Die beiden Männer taxierten einander kurz, dann verließ Ziegler die Küche und nickte Leni zum Abschied zu.

Leni und ihr Mann aßen am großen Wohnzimmertisch zu Mittag. Ivan tippte auf seinem Handy, während seine Frau den Schnee beobachtete, der hinter den hohen Fenstern zu Boden fiel. Nach einigen schweigsamen Minuten verkündete Ivan, dass man ihm heute frühmorgens eine Sprachnachricht hinterlassen habe. Er sei mit einem Ehrenpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Wenn ihn die Neuigkeit auch mit einem gewissen Stolz erfüllte, zeigte er sich dennoch nicht im Geringsten überrascht. »Mit der Baustelle in Prora war das ja zu erwarten«, sagte er. Leni blieb keine Zeit, ihrem Mann zu gratulieren, da er einen Anruf entgegennehmen musste und sich wieder in sein Arbeitszimmer zurückzog.

Nachdem der Tisch abgeräumt war, verspürte Leni das Bedürfnis, sich auszuruhen. Sie legte sich aufs Bett und dachte, dass sie diesen Mann, der sich mit dem Namen Ziegler vorgestellt hatte, schon einmal gesehen habe. War es dieses Jahr gewesen? Oder vielleicht sogar erst gestern? Das konnte sie nicht sagen. Sie sah jeden Tag so viele Menschen auf der Straße vorbeigehen. Wahrscheinlich war es in einer Warteschlange. Bei der Post oder im Supermarkt. So viele Orte kommen nun auch wieder nicht infrage, mein Bewegungsradius ist recht eingeschränkt, dachte sie. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt schon jemals dieses Zimmer verlassen habe. Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf wie in einer langen Schleife. Durch das viele Grübeln übermannte sie schließlich der Schlaf.

Als sie aufwachte, war die Sonne schon untergegangen. Im Zimmer war es fast dunkel, obwohl das Nachtlicht über dem Bett noch brannte. Leni richtete ihr Kleid und bürstete sich rasch die Haare, dann ging sie hinüber ins Wohnzimmer. Die große Wanduhr zeigte Viertel nach vier, und Ivan Müller war immer noch in seinem Arbeitszimmer. Leni wollte die Zeit nutzen, die ihr bis zur Zubereitung des Abendessens blieb. Sie leerte den Korb mit der Schmutzwäsche, stellte eine Maschine an und klappte für später in einer Ecke des Trockenraums den Wäscheständer auseinander. Ihr fiel wieder ein, dass sie noch nicht dazu gekommen war, ein paar Hemdknöpfe ihres Mannes wieder anzunähen, worüber er sich am Vorabend beschwert hatte. An ihrem mit Stoffresten bedeckten Nähtisch holte sie eine kleine rostige Blechbüchse hervor und stülpte sich einen Fingerhut über. Während dieser Verrichtungen dachte Leni an nichts. Die Nadel stach in den Stoff, trat in der Falte wieder hervor und stach zwei Millimeter weiter erneut ein, bis der Knopf festsaß. Danach räumte sie die Hemden in den Kleiderschrank und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Eine Stunde war vergangen. Im Winter hatte Ivan die schlechte Angewohnheit, die Heizung auf über 25 Grad hochzudrehen, sodass man kaum noch Luft bekam. Da ihr an Brust und Stirn Schweißtropfen herunterliefen, flüchtete sie einen Augenblick auf den Balkon, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Von der Schloßstraße heulte das Martinshorn eines Krankenwagens zu ihr herüber. Sie zündete sich die halbe Zigarette an, die sie auf dem Rand des Aschenbechers liegen lassen hatte, und schloss die Balkontüren hinter sich. Der erste Zug verschaffte ihr immer ein angenehmes Gefühl der Erleichterung und einer gewissen Benommenheit. Sie wusste zwar, dass die folgenden Züge nicht dieselbe Wirkung haben würden, aber sie gab sich damit zufrieden, genauso wie mit allem anderen. Ein Halbmond schimmerte über den roten Dächern. Wie immer war auf den Balkonen der Nachbarhäuser kein Mensch zu sehen. Sommers wie winters blieben die Leute hier lieber drinnen. Leni sah zu, wie der Tabakrauch über die Straße zog, bis er sich langsam über den kahlen Baumästen des Viertels verflüchtigte. Sie stand auf, um ihre Kippe auszudrücken, und warf einen Blick hinunter auf die Straße. Einige Passanten kehrten mit großen Tüten beladen zu ihren Fahrrädern zurück. Als sie gerade wieder hineingehen wollte, bemerkte Leni Zieglers Gestalt, die an einem Baumstamm gegenüber dem Scherzartikelladen lehnte. Er schien auf jemanden zu warten. Neugierig geworden, trat sie etwas vom Geländer zurück, um ihn zu beobachten, ohne dass er sie bemerken konnte. Kurz darauf stieß ein zweiter Mann zu ihm, der vor ihm stehenblieb und ihm die Hand schüttelte. Sein Gesicht wurde von einem braunen Schal und dem Kragen eines schwarzen Mantels verdeckt. Aus dieser Entfernung erschwerten die Dunkelheit und das schwache Licht der Straßenlaternen die Sicht. Nur die Oberseite seines Schädels wurde von einem gelben Lichtkreis erhellt. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte, fast wie zwei Gangster, die gerade einen Coup planen. Schließlich gingen sie wieder getrennte Wege. Während der Unbekannte in die Schloßstraße aufbrach, bewegte sich Ziegler in Richtung Hackerstraße, aber plötzlich blieb er stehen, als wäre ihm etwas Wichtiges eingefallen. Leni hatte keine Zeit, den Balkon zu verlassen, da kreuzten sich ihre Blicke schon. Er hat mich gesehen, dachte sie und duckte sich weg. Vor Schreck traute sie sich nicht, wieder aufzustehen, und als sie schließlich den Kopf zu heben wagte, war Ziegler verschwunden.

Ivan Müller las für gewöhnlich während des Abendessens Zeitung. Er bemerkte nicht, dass seine Frau etwas bedrückte. Sie stellte sich immer wieder dieselben Fragen: Wer war dieser Ziegler? Welches Ziel verfolgte er mit seiner Befragung? Er hatte von Schüssen gesprochen, aber sie hatte nichts gehört.

»Hattest du einen schönen Tag?«, fragte ihr Mann, ohne von der Zeitung aufzusehen.

»Ja, sehr schön«, antwortete Leni mit gespielt heiterer Stimme.

Damit gab sich Ivan zufrieden. Das Telefon im Eingangsbereich klingelte. Er stand vom Tisch auf, um abzuheben, und kurz darauf informierte er Leni, dass er den Anruf in seinem Arbeitszimmer entgegennehmen würde.

Leni räumte den Küchentisch ab, stellte die Spülmaschine an und ging zurück ins Wohnzimmer. Wieder allein, gab sie sich ihren Gedanken hin. Die Tage verstrichen und glichen sich. Still brach die Nacht herein. Dass die Zeit ohne Aufregungen und Überraschungen verging, genau das machte sie glücklich. Dabei wusste sie, dass sich diese alltägliche, endlose Abfolge für manch einen als die härteste aller Strafen erweisen würde. Sie hätte gern ewig den Blick auf einen einzigen Punkt gerichtet. Nadel und Faden waren hierfür die vollkommene Verkörperung. Mach, dass morgen ein Tag wie jeder andere ist, betete sie. Ich werde morgens die Augen öffnen und sie abends mit demselben Gefühl der Erfüllung wieder schließen. In der Zwischenzeit passiert hoffentlich gar nichts.

Ivan Müller wartete darauf, dass seine Frau ins Bett kam. Er setzte die Brille ab und legte sein Buch weg. Leni stellte immer ein Glas Wasser auf den Nachttisch. Sorgfältig strich sie das Laken glatt, bevor sie ins Bett schlüpfte, dann schaltete ihr Mann für gewöhnlich das Licht aus, küsste seine Frau in den Nacken und wünschte ihr eine gute Nacht. Doch an diesem Abend wich er von seiner Routine ab. Und dieser unerwartete Vorstoß löste Panik in ihr aus. Er fuhr mit den Händen unter Lenis Nachthemd, packte ihre Brust und ließ die Hand zu ihrem Unterleib hinunterwandern. Als sie sich abwenden wollte, spürte sie, wie sein ganzes Gewicht gegen ihre Schenkel prallte, mit der Wucht eines Felsbrockens, der von einem Gipfel herabstürzt. Ivan hechelte ihr ins Ohr und raunte ihr Wortfetzen zu, deren Sinn Leni nicht verstand. Draußen fiel der Schnee nun wie Puderzucker. Sie stellte sich die Kuppel der romanischen Kirche St. Marien vor und ihre mit weißem Pulver überzogenen Stufen. An der Ecke Laubacher Straße würden im Fränky’s die ersten Gäste aufkreuzen. Zwischen ihnen bewegte sich Zieglers hagere Gestalt wie ein unheimlicher Schatten. Während er den Ort inspizierte, kritzelte er ein paar Notizen in sein Buch. Wonach suchte er? Ivan stieß ein lautes Röcheln aus und ließ sich zurück auf die andere Bettseite fallen. Er schien fertig zu sein. Leni zog schweigend ihre Unterhose wieder hoch. Die Eheleute wünschten sich eine gute Nacht, und Ivan küsste seine Frau in den Nacken. Noch ist nicht alles verloren, dachte Leni.

2

Am nächsten Morgen war Ivan Müller schlecht gelaunt aufgewacht. Als er den Briefkasten öffnete, um seine Zeitung zu holen, fand er ihn leer vor. Leni bereitete in der Küche gerade das Frühstück zu. Ihr Mann drängte sie, ihm die Welt beim Zeitungshändler unten an der Straße zu kaufen, aber sie fühlte sich nicht gut. Die Nacht war ihr unendlich lange vorgekommen. Wie ein Tier, das aus seinem Bau vertrieben worden war, hatte sie pausenlos vor Angst gezittert. Mit weit aufgerissenen Augen hatte sie gesehen, wie sich an den Wänden schlangenartige Schatten wie lange Messerklingen erhoben, auf der Suche nach einem Punkt, an dem sie zustechen konnten. Gegen fünf Uhr morgens war sie vor Erschöpfung für ein paar Minuten eingeschlafen, bevor das Fieber ihren Zustand noch verschlimmerte. Kurz vor Tagesanbruch hatte sie sich auf den Balkon gesetzt und eine Zigarette geraucht. Der von der Nacht verlassene Himmel hatte sich in ein helleres Blau verfärbt. Man hörte das Zwitschern der Vögel, die sich im Geäst der Baumgruppen versteckten, und die Motorengeräusche der ersten Lieferwagen, die mit eingeschalteten Scheinwerfern Richtung Schloßstraße fuhren. Die frische Luft hatte ihr wieder etwas Energie verliehen, aber weiterhin quälte ein Gefühl der Bedrohung ihre Nerven. Sie hatte sich nicht getraut, nachzusehen, ob Ziegler da war, weil sie lieber im Zweifel verharrte, als sich einer unkontrollierbaren Realität zu stellen.

Ivan Müller nahm zehn Euro aus seiner Brieftasche und gab sie Leni, damit sie ihm seine Zeitung und Zigarillos kaufte. Außerstande, ihrem Mann irgendeinen Wunsch abzuschlagen, zog sie ihren Mantel über und ging nach draußen.

Auf der Terrasse vor dem Laden trank ein alter Mann Kaffee. Leni ging zum Verkaufsständer und nahm sich eine Zeitung. Als sie eintreten wollte, um zu zahlen, sprach der Mann sie an. Ohne von ihren Gewohnheiten abzuweichen, nickte sie lächelnd und schlüpfte in den Laden. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein Schwall warmer Luft entgegen, der sie wie eine zärtliche Umarmung einhüllte. Ganz benommen von der Feuchtigkeit, verschwamm ihre Sicht ein wenig. Sie fragte nach einer Packung Moods, während sie gleichzeitig die Zeitung auf den Ladentisch und das Geld auf den Zahlteller legte. Der Verkäufer kannte sie gut, und genau wie sie ließ er sich nicht gern ohne triftigen Grund auf ein Gespräch ein. Das schätzte Leni an ihm. Sie nahm ihre Einkäufe, und plötzlich, als sie gerade hinausgehen wollte, rief der Mann ihr noch etwas hinterher. Allerdings nicht den üblichen Gruß. Sondern etwas anderes, eine merkwürdige Erweiterung seines Satzes. Lenis Herz schlug heftiger. Sie drehte sich mit flehendem Blick zu ihm um. Er wiederholte mehrmals denselben Satz, der durch den ansteigenden Tonfall definitiv wie eine Frage wirkte. Da Leni weiter schwieg, bekam die sanfte Stimme des Verkäufers einen immer herrischeren Klang, bis er seine Beschimpfungen anscheinend nicht mehr mäßigen konnte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, ein heftiger Wutanfall kündigte sich an. Leni stammelte ein paar Worte in der Hoffnung, die Lage zu beruhigen, erzielte damit aber genau den gegenteiligen Effekt. Der Mann wurde nur noch wütender. Diesmal trat er hinter dem Ladentisch hervor, ging um die Süßwarenauslage herum und ein paar Schritte auf sie zu. Panisch wich Leni zurück, bis sie mit dem Rücken an den Kühlschrank mit dem Bier stieß. Dort konnte sie sich nicht mehr bewegen. In diesem Moment kam ein Kunde herein. Beim Anblick der Szene trat er sofort wieder hinaus, und die Ladenglocke an der Tür läutete erneut. Der Verkäufer war nur noch wenige Zentimeter von Lenis Gesicht entfernt und schrie sie weiter an. Sie presste sich die Hände auf die Ohren und flehte ihn an, diesen furchtbaren Wortschwall zu stoppen. Eine tiefe Stimme hallte durch den Raum:

»Gibt es ein Problem?«

Der Verkäufer verstummte. Ein zweiter Mann in einem langen schwarzen Mantel wartete auf der Türschwelle. Leni stand völlig ermattet da und lehnte sich reglos an die Scheibe des Kühlschranks.

»Das geht dich nichts an«, sagte der Verkäufer.

Mit einer Hand schlug der Mann beiläufig einen Zipfel seines Mantels zur Seite und enthüllte den Kolben einer Schusswaffe, die in seinem Hosenbund steckte.

»Schon gut, nun mach mal halblang«, sagte der Verkäufer und kehrte eilfertig hinter den Ladentisch zurück.

Der Mann folgte ihm mit dem Blick.

»Schon gut, ja? Dann erklär mir doch mal, warum das für mich gar nicht danach aussieht«, entgegnete er, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Stille. Sie starrten einander eine Weile an, dann fasste der Mann Leni am Arm und führte sie nach draußen. Als sie wieder auf dem Gehweg stand, war sie immer noch von ihren Gefühlen überwältigt. Der Unbekannte zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr die Packung hin, aber sie lehnte kopfschüttelnd ab.

»Wo ist denn Ivan?«, fragte er und nahm einen Zug.

Leni antwortete nicht.

»Schau mich an, wenn ich mit dir rede«, sagte er und hob ihr Kinn. »Also, wo ist dein Mann?«

»Zu Hause.«

Leni hatte ihm den Blick zugewandt, erkannte ihn jedoch nicht. Braune Haarsträhnen lugten unter seiner Mütze hervor und bedeckten den glatten Stirnansatz. Seine dunklen Augen, rund wie zwei Murmeln, fixierten sie wie ein Radargerät. Nur der Klang seiner Stimme kam ihr entfernt bekannt vor. Nach einer Weile bot er ihr an, sie nach Hause zu begleiten.

»Na, du siehst aber gar nicht gut aus«, stellte er fest. »Was ist nur mit dir los? Du zitterst ja wie Espenlaub.«

»Ach nichts«, erwiderte Leni. »Ich muss mich erkältet haben.«

»Mach dir nichts draus, dass dich dieser Idiot so angegangen ist. Ich glaub, der hat’s jetzt kapiert.«

Sie gelangten zügig zu ihrem Hauseingang.

»Ich gehe noch mit rauf«, sagte der Mann und trat in die Einfahrt. »Ich hab Ivan schon ewig nicht mehr gesehen.«

Besorgnis machte sich in Leni breit.

»Um diese Uhrzeit hat er sicher schon angefangen zu arbeiten«, meinte sie und stellte sich ihm in den Weg.

»Was machen die Geschäfte? Ich habe in der Zeitung gelesen, dass er die Baustelle in Prora gekriegt hat.«

Er hielt kurz inne, bevor er mit einem Lächeln auf den Lippen fortfuhr:

»Das ist ein verdammt großer Auftrag, den er sich da unter den Nagel gerissen hat. Hast du eine Ahnung, von wie viel wir hier reden?«

»Ivan spricht mit mir nie über seine Geschäfte.«

»Na schön«, sagte er mit gesenkter Stimme und knöpfte seinen Mantel zu. »Hast du mir sonst noch was zu sagen?«

»Nein, ich muss jetzt nach oben, ich habe noch viel zu tun.«

Leni ließ ihn stehen und ging zum Eingang.

»Und was ist mit dem Bullen?«, rief ihr der Mann hinterher.

»Mit wem?«, fragte sie und drehte sich um.

»Ich weiß, dass er gestern Morgen bei euch aufgekreuzt ist. Was wollte er denn?«

Leni stand ihm unbeweglich gegenüber und fürchtete sich vor der Wendung, die das Gespräch zu nehmen drohte.

»Er hat nur von Schüssen im Viertel gesprochen, aber ich habe ihm gesagt, dass ich nichts gehört habe.«

»Schüsse … sonst nichts?«

»Ich glaube nicht.«

Der Mann zündete sich noch eine Zigarette an.

»Ich geh dann mal«, sagte er und kratzte sich am Bart. »Sag Ivan, dass ich in der Stadt bin und er mich anrufen kann, wenn er übers Geschäft reden will. Ach ja, und erzähl ihm lieber nicht, was passiert ist, sonst macht er sich nur unnötig Sorgen.«

»In Ordnung«, antwortete Leni und senkte den Kopf.

Der Mann küsste sie auf die Wange, bevor er seines Weges ging. Leni sah zu, wie er sich entfernte, und erst, als er ganz verschwunden war, entschloss sie sich, ins Haus zu treten.

Im Wohnzimmer entdeckte sie auf dem Teppich neben dem Sessel einen großen Koffer und zwei Kleiderschutzhüllen aus der Reinigung. Ivan stand am Fenster und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Er drehte sich langsam zu ihr um, mit einem beunruhigend strengen Gesichtsausdruck. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, unterrichtete er sie, dass er am nächsten Morgen unbedingt nach Rügen fahren müsse. Er würde mindestens drei Tage dortbleiben, um gewisse Vorfälle zu klären, die sich während seiner Abwesenheit auf der Baustelle ereignet hatten. Diese Ankündigung beruhigte Leni, die sofort im Schlafzimmer verschwinden wollte, um ihre Sachen für die Reise zu packen. Doch ihr Mann bremste sie in ihrem Eifer. Er erklärte ihr, er könne sie dieses Mal nicht mitnehmen, sie müsse daher bis zu seiner Rückkehr allein in der Wohnung bleiben.