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Jizchak Kummer ist hochrangiger Offizier des Inlandsgeheimdienstes Shabak, übergewichtig, mit Brille und Narbe hinter dem Ohr. Er ist zum Islam übergetreten und von seinem letzten Einsatzort Gaza unabgemeldet verschwunden, nachdem ihm Ismail, ein palästinensischer Häftling und wichtiger Informant, entwischt ist. Die beiden verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. Doch wer ist Ismail, wer ist Kummer wirklich? Der Geheimdienst bestreitet, dass es in seinen eigenen Reihen einen Verräter geben könnte oder dass ein Mann namens Jizchak Kummer überhaupt existiert.
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Seitenzahl: 839
Veröffentlichungsjahr: 2023
Jizchak Kummer ist hochrangiger Offizier des Inlandsgeheimdienstes. Er ist zum Islam übergetreten und von seinem letzten Einsatzort Gaza unabgemeldet verschwunden, nachdem ihm Ismail, ein palästinensischer Häftling und wichtiger Informant, entwischt ist. Die beiden verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. Doch wer ist Ismail, wer ist Kummer wirklich?
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Yitzhak Laor (*1948) ist ein israelischer Dichter, Bühnenautor, Romancier und Essayist. Seine Gedichte, in denen er den Krieg im Libanon verurteilte, und seine Romane wurden von der Kritik begeistert aufgenommen. 1993 erhielt er den Bernstein-Poesiepreis, 1994 den Israelischen Literaturpreis.
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Markus Lemke (*1965) studierte Orientalistik und Islamwissenschaften in Bochum, Kairo und Tel Aviv. Seit 1995 arbeitet er als Übersetzer. 2000 und erneut 2004 erhielt er den Hamburger Übersetzerpreis.
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Yitzhak Laor
Steine, Gitter, Stimmen
Roman
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Originaltitel: Ve-im Ruchi Gevijati (1998)
© by Unionsverlag, Zürich 2023
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30805-3
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
STEINE, GITTER, STIMMEN
Erstes Kapitel (6. 6. 82) — »Je-ru-sa-lem, Je-ru-sa-lem«Zweites Kapitel (4. 11. 82) — KonfettiDrittes Kapitel (10. 3. 83) — Die Affäre SchibbolethViertes Kapitel (6. 6. 84) — Efraim kehrt zurück zur ArmeeFünftes Kapitel (6.3.81) — Der Mahdi Muhammad Bashi UtrakSechstes Kapitel (25.12.84) — Ich denke DICH, ich benenne DICH, aber ich kenne DICH nichtZitierte WerkeAnmerkungen
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»Je-ru-sa-lem, Je-ru-sa-lem«
Du Pfeife, es ist Krieg«, kollerte jemand vom Bürgersteig, wo Leute auf die Kolonne starrten, wie lange ist es her, dass Kriege weder nach Tel Aviv gekommen noch von Tel Aviv ausgegangen sind, eine lebenslustige Stadt, hier eine Krankenkasse, ein Café mit Croissants, Sonntagmorgen, man will wissen, was passiert ist, und der, der gebrüllt hat, ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, auf einen Stock gestützt, sein Körper kräftig, trainiert in einem Fitness-Studio, humpelnd, aber muskulös, zuckt mit den Schultern, hat nicht einmal die Absicht, sich zu erklären, er zieht schon nicht mehr in Kriege, aber noch ist Kraft in seiner Brust und auch ein abfälliges Knurren bringt er noch zu Stande, »Du Pfeife, es ist Krieg«, und andere scharen sich um die bereits um den Ausrufer Versammelten, stehen, betrachten die riesigen Ungetüme, die aus dem Meer gekommen sind und über die Stadt ragend einen großen Schatten werfen, gen Westen, da die Sonne noch im Osten steht und das Schaufenster blendet, auf das in der Nacht die Kotze von Besoffenen gespritzt ist und das jetzt auf seinen arabischen Arbeiter wartet, der endlich kommen soll, um es sauber zu machen, lang ist seine Anreise am Morgen, aus seinem Kellerverschlag im Süden der Stadt bis zu dem Café im Norden und nach achtzehn Stunden Arbeit wieder zurück, vielleicht werden sie ja irgendwann einmal große Literatur über ihn verfassen, liberaler Realismus, mal angenommen, eine italienische Autorin, mal angenommen, und die Menge wird immer zahlreicher, Medikamententütchen in den Händen, einer ist sogar aus der Schlange zum Labor ausgeschwenkt und hält einen Becher mit Urin in der Hand, was stört ihn die Pisse? Panzer, Panzer in Tel Aviv, mal schaut man zu ihnen, zu den Ungetümen, und mal zu dem auf seinen Stock gestützten Mann, ein Versehrtenabzeichen am Revers, sie haben einander bereits darauf aufmerksam gemacht, auf die Anstecknadel, und genickt, ein Alter ohne rechten Arm, auch er mit Abzeichen, tritt zu dem Athletischen am Stock, deutet auf seinen Jackenaufschlag, wer weiß, woher und von wann, vielleicht Mitle, vielleicht Faludja, vielleicht ein Verkehrsunfall während des Militärdiensts, ein Privileg erwirbt man durch Qualen, auch im Diesseits, angesichts dieser Panzer, und er, am Stock, das ist genau, was ihm gefehlt hat, einen Versehrtenverein aufzumachen. Und noch dazu wo? Gleich neben der Krankenkasse! Aber er ist nur hier, ein Medikament für seine Frau abzuholen, sein Mund wirkt stolz, seine Brust gedehnt, mit einer Art Vergnügen steht er auf den Stock gestützt, und schon treffen an dieser Ecke welche aus ihren entfernter gelegenen Wohnungen ein, von dort haben sie begierig die Ungetüme verfolgt, fragen mit vorsichtigen Gesten und Kopfnicken jene, die die Schaulustigen beschauen, was passiert ist, dass er so brüllt, das ist kein alltäglicher Anblick, dass ein Mann die Armee anbrüllt, als hätte er nichts anderes zu tun, als stünden hier nicht vier Ungetüme, in deren Macht es liegt, alles zu zerstören, und trotzdem – für einen Moment interessiert allein, warum der Mann mit dem Stock und dem Abzeichen gebrüllt hat, zumal sie von der gegenüberliegenden Seite die Anstecknadel nicht gesehen haben und es auch welche gibt, die nicht zwischen einer Versehrtennadel und jener für Eltern, die ihre Söhne verloren haben, unterscheiden können, doch er ist bereits verstummt, sodass man einander mit einer Kopfbewegung des Nichtwissens antwortet, als sei Sokrates hier vorübergegangen und habe sie durcheinander gebracht, er gegen die Panzer, sein Gesicht zeigt den Groll der Jungen auf die Alten, denn weiter vorne auf dem Bürgersteig, und auch auf der anderen Straßenseite beschließt man zu klatschen, hat am Morgen vom Krieg gehört und jetzt löst sich die Besorgnis auf, sorgt die kollektive Erinnerung für Gänsehaut, und wieder versuchen die riesigen Tieflader, die vier riesige Panzer auf dem Rücken tragen – vielleicht ermutigt sie das Klatschen –, sich in Bewegung zu setzen, begeben sich erneut auf eine gewundene Bahn, dröhnen, drängen Autos und Motorroller an den Straßenrand, brechen sich durch Alleebäume, vertreiben wilde Tauben, der Krieg hat begonnen, und er selbst ist nicht im Mindesten betrübt, dass sie ihn nicht holen, betastet in seiner Tasche die Schmerzzäpfchen für seine Frau, wird sich beeilen, sie in den Kühlschrank zu legen, eines wird sie sofort nehmen, die Ärmste, im Norden ist Krieg, in Tel Aviv herrscht Frieden, und das seine hat er getan, sein Bein hat was abbekommen, seine Frau schreibt in seinem Namen die Briefe an die Versehrtenabteilung, verhandelt mit denen über den niedrigen Behinderungsgrad, den ihm diese Hurenböcke zugestanden haben, und weil ihn erneut jemand fragt, warum er gebrüllt hat, macht er aufgebracht eine wegwerfende Handbewegung, wobei ihm das Für-sich-Behalten des Geheimnisses eine matte Befriedigung verschafft, zusätzlich zu der Befriedigung, die er verspürte, nachdem er den Soldaten angebrüllt hat, denn während seiner gesamten Dienstzeit in der Armee war ihm das nie vergönnt, einen Soldaten anzubrüllen, als sei er der Befehlshaber, und jetzt, mit den Zäpfchen in der Tasche, hat er es getan, weil sich der Soldat an einem Ort aufhält, an dem er nichts verloren hat, denn Bescheid weiß der ja, hat es ganz sicher gehört, und außerdem haben Panzer in Tel Aviv nichts zu suchen, kein Grund, schon am ersten Tag des Krieges verrückt zu spielen.
Die Alten geben es auf, einige bleiben trotz allem noch, würden zu gern wissen, was eigentlich los ist, wenn die Armee Panzer nach Tel Aviv schickt, gibt es bestimmt einen Grund, und andererseits – hätte er nicht gebrüllt, wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen, etwas könnte nicht in Ordnung sein, und vielleicht war er ja selbst nicht ganz in Ordnung. Wie auch immer – so ist der Anfang der Geschichte: Ungetüme sind dem Meer entstiegen, jemand hat gebrüllt, jemand anderes will wissen, was das Gebrüll soll, der Brüller will weiterreden, erstickt aber sein Verlangen, die Lust am Ersticken ist größer als die am Entfachen des Feuers, und größer als beide ist ihre Kombination, man bläst das Feuer an und erstickt es zugleich, denkt sich eine Geschichte aus, sprich: was jetzt passiert ist, in aller Kürze oder in epischer Breite, je nachdem, ob es einen Vater gibt und genug Geduld, mit diesem zu reden (oder er ist schon nicht mehr, aber man sehnt sich danach, mit ihm zu reden), oder einen Sohn und plötzlich ist er erwachsen und man erzählt es ihm, wie sehr hatte er sich einen Sohn gewünscht, einen erwachsenen Sohn, aber seine Frau wollte nicht, wenn wir einen Sohn haben, werden wir ins Ausland gehen, hatte sie gesagt, auch sie könnte Stoff für einen Bestseller liefern, mit ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Liebe zu ihm, nicht zu reden von seiner Liebe zu ihr, sie leben ja nur einer für den anderen, arbeiten und arbeiten, doch wofür das Ganze, wenn man keine Kinder hat?
Der schlampige Soldat, der, den man angebrüllt hat, bemerkt seinerseits die Menschenansammlung, hört den Rüffel, »Du Pfeife, es ist Krieg«, weiß, dass er gegen ihn gerichtet ist, blickt zögernd zu den zwanzig Soldaten, die auf den Panzern und in den Fahrerkabinen der Zugmaschinen sitzen, lachen, scherzen, die Passanten veralbern, jedem Busen nachpfeifen, jedem Hintern, und trotzdem, trotz des Rüffels, »Du Pfeife, es ist Krieg«, sucht er weiter nach einer funktionstüchtigen Telefonzelle, denn Panzer haben wir die modernsten auf der Welt, auch Atombomben und auch Heineken vom Fass, aber öffentliche Fernsprecher umso weniger, und seine Augen fallen auf den Besitzer des Stocks, der ihn angekollert hat, sieht seinen aufgerissenen Mund, erschrickt, überlegt, ob er sich wieder in der Fahrerkabine des Panzertransporters verkriechen soll, und beschließt dann, dass er keine Wahl hat, es muss getan werden, denn in Wirklichkeit ist er gar keine Pfeife und der Krieg hat tatsächlich begonnen, als ihn in diesem Moment die Kellnerin aus dem Café ruft, wo das neue öffentliche Komitee gegen religiöse Bevormundung tagt, eine Abspaltung des alten öffentlichen Komitees gegen religiöse Bevormundung, dessen Gründer ein Manifest verfassen, das in den vier Monaten der Abspaltung bereits etliche Veränderungen erfahren hat. Leidental konzentriert sich auf den Versuch, die passende Formulierung zu finden, und Smira, die Kellnerin, raucht angesichts der Panzer die nächste Zigarette und ruft ihm zu: »Komm Soldat, hier gibts ein Telefon, umsonst«, um gleich dem Inhaber zu versichern: »Ich zahle, du Geizhals.« Der Soldat dankt ihr, wegen Bürgern wie ihr, die ein gutes Herz haben, wird er es mehr oder weniger rechtzeitig zum Krieg schaffen, »Ich danke Ihnen«, und zwanzig und irgendwas Soldaten starren ihn an, als er telefoniert, bedeuten ihm auch mit den Händen, was er mit ihr machen soll, offene Handflächen schließen sich bei derben Stößen um geballte Fäuste, fick sie, und nicht nur der Mann, der ihn angefahren hat – auch sein Vater, am Telefon, verspottet ihn wie immer, sodass er nicht weiß, ob er ihm mitten im Satz den Hörer aufknallen und im Krieg sterben gehen soll, damit sein Vater an seinem Kummer krepiert, oder ihm beweisen soll, dass er auch ohne ihn klarkommen kann und mit seinen Qualen Stoff für eine Novelle abgeben könnte, dank der Charakterisierung, denn was ist die Gestalt wenn nicht eine literarische Schöpfung, und außerhalb der Literatur existieren keine Gestalten, aber mehr als alles andere will er beide Dinge zugleich, will als Toter des Nachts auftreten und im Leben das Gewissen des Vaters peinigen, will ihn in den Nächten terrorisieren und das ganze Leben lang jungenhaft und schüchtern zurückkehren, unschuldige Fragen stellen, die den Vater um den Verstand bringen werden in dem Wunsch, noch mehr Fragen zu hören und sanft auf sie zu antworten, nein, nein, jetzt ist es unmöglich zu antworten, ich verlösche wie ein Feuerwerkskörper, es reicht, ich sage ihm ein paar entschiedene Sätze und er ist so viel klüger als ich.
Jetzt dröhnen die vier Panzertransporter draußen mit ihren fürchterlichen Hupen wie Schiffe an der Hafeneinfahrt, übergeschnappte Schiffe, grüßen den Gefreiten, der mit seinem Vater spricht, grüßen Tel Aviv, die Stadt, die die Patenschaft über ganze Panzerdivisionen übernimmt und an jeder Ecke Panzer, Panzer ausstellt, kommt Kinder, Mama wartet unten, gähnt nach dem langen Arbeitstag in der Verkehrsbehörde, und der Junge, irgendein kleiner Gadi, ruft ihr von der Höhe des Geschützturms zu, »Mama, guck mal, wie ich auf dem Panzer aussehe«, ja, sie sind verloren, mein teurer Sohn, all unsere Feinde werden dran glauben müssen, und danach gehen sie einen Hamburger essen, ach Mama, Mama, wie ich dich liebe. In deinem weichen Fleisch versinken, mein ganzes Leben lang
Am Morgen, als der Befehl gekommen war, tausend Panzer in den Libanon einrücken zu lassen, hatten die Militärpolizisten am östlichen Kontrollposten gestanden und mit ihren Kollegen am westlichen und am zentralen Übergang per Funk die Zahlen verglichen, doch alles Zusammenzählen hatte immer dasselbe Resultat ergeben, 996, nur 996 Panzer waren eingerollt, sodass sie sehr bald begriffen hatten, dass vier Panzer fehlten, und es der Armee gelungen war – mithilfe des Bürgermeisters von Tel Aviv und mithilfe seiner Abteilung für öffentliche Gesundheitspflege, vor allem dank deren aufopferungsvollen Leiters, Herrn Bernstein, der aus eigener Kraft zu seiner wichtigen Funktion aufgestiegen war, obgleich sein Hebräisch voller Fehler und er zunächst Straßenfeger, danach Mitglied des Arbeiterkomitees und Vertreter im ZK der Partei gewesen war, bis er schließlich Abteilungsleiter wurde – in weniger als einer Stunde die Panzer und ihre Transporter zu orten: Am Strand im Süden von Tel Aviv lagerten ungefähr zwanzig Soldaten, entweder sonnenbadend oder auf den Marschbefehl in südliche Richtung wartend, so wie sie immer gefahren waren und wie in den Chroniken der Kriege berichtet wurde, und als sie die Anweisung des Bürgermeisters befolgt hatten, der in seinem Privatwagen eingetroffen war, begleitet vom Leiter der Abteilung für öffentliche Gesundheitspflege, eben jenem Bernstein, der schmutzige Gedichte verfasst hatte, ehe er zum Leiter ernannt wurde, und die Funkgeräte ihrer Panzer einschalteten, hatten sie (sagen wir, zu ihrer Überraschung) den Regimentskommandeur immer wieder »Mir nach!« brüllen gehört und sie mit Ausdrücken beschimpfen, die man besser nicht zu Papier bringt, sodass sie sogleich aufgesprungen waren und die Geräte abgeschaltet hatten, worauf der allmächtige Kommandeur verstummt war, ohne zu wissen, dass er nun schwieg, noch, wo sie sich befanden, und hatten sich wieder hingelegt, entweder wissend, dass irgendwo der Kommandeur »Mir nach, mir nach!« brüllte, oder aber nicht wissend, sprich: sowohl das eine als auch das andere, sein Gebrüll und die Stille zugleich genießend. Aber da hatte der Gefreite Gadi eigenmächtig das Funkgerät wieder angeschaltet und in das Brüllen hinein gesagt, »Herr Kommandeur, Herr Kommandeur«, und während dieser dort noch ›Mir nach!‹ brüllte, hatte Gadi erwidert, »Herr Kommandeur, hier spricht Gadi«, bis der Kommandeur schließlich das bläuliche Flämmchen, sprich: das Gestammel bemerkt hatte und fragte: »Du Hurensohn! Wer soll das sein, Gadi Hurensohn? Gib mir den Hurensohn von Offizier!« Gadi hatte vorsichtig gesagt: »Hier ist Gadi, Panzergrenadier für Zionismus und Geografie«, (er wollte sagen, ›hier ist Gadi, der Hurensohn‹, schreckte aber zurück), »Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie, wie kann ich Ihnen helfen, Herr Kommandeur?« Nach seinem Tod wird er seinem Vater im Traum erscheinen und sagen: Hier ist Gadi, der Hurensohn, du hast mich umgebracht, du bist selbst ein Hurensohn.
»Wie du mir helfen kannst? Welcher Zusammenhang besteht überhaupt zwischen Zionismus und Geografie? Wofür haltet ihr euch eigentlich? Ist das der Karneval in Rio oder ein Krieg? Grenadier Hurensohn, bring mir sofort den Hurensohn von deinem Vorgesetzten!«
Gadi hatte das Funkgerät in voller Lautstärke angeschaltet gelassen (sodass alle Passanten das Gebrüll hören konnten und unschlüssig waren, ob sie stehen bleiben oder weitergehen sollten, da militärische Geheimnisse keine kleine Belastung für deren Träger sind; die arabischen Reinigungskräfte suchten aus Angst vor einer umgehenden Verhaftung schleunigst das Weite und der Kommandeur, am verborgenen Ende der Funkverbindung, ließ seine Umgebung ebenfalls an dieser Frechheit teilhaben, indem er ihr von den sich versteckt haltenden Hurensöhnen erzählte, als sei dies nicht etwa seine Schuld) und war (gemeint ist Gadi, das Thema dieses Absatzes) zu dem Offizier gegangen, der wie der ehebrechende Onkel Poseidon auf dem Strand hingegossen lag, sein Hemd offen bei dem Versuch, mit zwei Fingern einen eitrigen Pickel mitten auf der Brust auszudrücken, ehe die Mädchen kämen, und hatte (er, Poseidon), ohne von dem Pickel abzulassen, zu dem überraschten Gadi gesagt, der wohl dachte, er sei unsichtbar oder so ähnlich: »Warum hast du das Funkgerät angelassen? Das ist nicht schön, du zionistischer Soldat, das ist nicht schön, dass sie in aller Öffentlichkeit wissen, was für ungehobelte Offiziere wir in der Armee haben.« Fest entschlossen, das Kommando zu übernehmen, und tatsächlich ohne Wahl war Gadi daher zum Funkgerät zurückgekehrt, wo der Kommandeur unentwegt Beschwerden und Beschimpfungen brüllte, und hatte (er, Gadi, das Thema dieses Absatzes) gerufen: »Herr Kommandeur, ich noch mal, Gadi, jetzt bin ich hier der Verantwortliche«, worauf der Kommandeur überrascht geklungen hatte, ruhiger, vielleicht war auch seine Kehle ausgetrocknet, als er fragte: »Wieso plötzlich du?«
»Ich hab den höchsten Dienstgrad hier.«
»Was? Wie ist dein Dienstgrad?«
»Gefreiter.«
»Gefreiter was?«
»Gefreiter Hurensohn.«
»Gefreiter Hurensohn was?«
»Gefreiter Hurensohn, Herr Kommandeur.«
»Wo ist der Hurensohn von einem Leutnant, wie heißt der?«
»Herr Kommandeur, die haben hier alle auf ihre Dienstgrade verzichtet. Ich habe nicht verzichtet und werde um eine Beförderung bitten.«
Der Kommandeur brüllte erneut ein bisschen, aber seine Kehle brannte, schließlich hatte er schon geraume Zeit in das schweigende Funkgerät gebrüllt, damit sie, wenn sie ihn schon nicht durch das Gerät hörten, dann eben über Berge und Schluchten hinweg, und außerdem hatte er keine Ahnung, wo sie steckten, und jetzt hatte er bloß die Möglichkeit, mit diesem Gadi zu reden oder mit gar keinem, auf die vier Panzer zu verzichten oder Meldung über sie zu machen, als seien sie bereits eingetroffen, ausgebrannt und in der Schlacht vermisst, aber er hatte nicht das Herz, so etwas zu tun, weil sie ja alle Eltern hatten, und wenn er ihren Tod bekannt gab, würden sie Kondolenzteams zu den Eltern schicken, ein Offizier, ein Arzt, eine Krankenschwester, ein Psychiater, und daher hatte er es dabei belassen und gesagt: »Wo genau befindet ihr euch?« Und eine Antwort aus Längen- und Breitengraden erwartet, aber Gadi war Zionismusgrenadier und hatte daher die Soldaten gefragt, die auf die Hitze des späten Vormittags warteten, um im Meer zu baden: »Wo sind wir?« Sie sagten ihm: »Manshije«, aber Gadi war Zionismusgrenadier und hatte einem Befehlshaber angemessen übersetzt: »Charles-Clore-Park, an der Herbert-Samuel-Straße.« Und der Kommandeur sagte: »In Ordnung, ihr habt genau eine Stunde, um zur libanesischen Grenze zu kommen.«
»Eine Stunde, Herr Kommandeur?«
»Eine Stunde minus eine Minute, Hurensohn. Und schämt euch, ihr Hurensöhne, es sind bereits Soldaten in diesem Krieg getötet worden, und ihr vergnügt euch am Strand, ihr Hurensöhne, verdammte Hurensöhne.«
Seine ganze Verachtung legte er in den Buchstaben S, ehe sie durch Vorwärts- und Rückwärtsmanövrieren die Panzer auf die Transporter geschafft hatten, dabei den nach dem bekannten britisch-jüdischen Wohltäter benannten Park verwüsteten, den Verkehr auf der nach dem bekannten britischen Hochkommissar benannten Straße zum Erliegen brachten und Gadi in die Fahrerkabine des ersten Panzertransporters geklettert war und zu dem Fahrer gesagt hatte: »Fahr.« Der Fahrer hatte ihn angelächelt und gefragt: »Wohin? Nach Süden, Norden, Osten oder Westen?« Und Gadi hatte gesagt: »Nach Westen sicher nicht, weil da das Meer ist. Aber warte, ich werds dir gleich erklären«, war ausgestiegen und gerannt, einen öffentlichen Fernsprecher zu suchen, und als er schließlich einen funktionstüchtigen Apparat gefunden hatte und seinen Vater bei der Arbeit anrief, war Wochenbeginn und sein Vater mal wieder verärgert, ein wenig ironisch, ja sogar sarkastisch, und Gadi hatte bereits die Panzer, ihre Transporter und den großen Verkehrsstau vergessen gehabt, und war ganz und gar, mit der Geschwindigkeit eines Traums, damit beschäftigt zu erraten, warum sein Vater auf ihn sauer sein mochte, doch da hatte der schon, damit seine Umgebung im Büro es nicht hörte, durch die Zähne gezischt: »Du Pfeife, es ist Krieg«, und als sie dann endlich, endlich vorankamen und der Sohn jetzt, beim dritten oder vierten Telefonat an diesem Morgen, sagte: »Papa, wir sind echt auf dem Weg in den Krieg«, fragte der Vater laut, damit das ganze Chefsekretariat in der Außenhandelsabteilung und auch die niederen Angestellten, die schon in der Lobby dazugestoßen waren, es hörten, »Toll, wo seid ihr?«, und erwartete, irgendeinen arabischen Namen wie Djabal-el-schießmichtot oder Bachr-el-schießmichtot zu hören, weil der Krieg schon fast vorbei war und sein Sohn noch immer mit Kacke spielte. Doch er bekam von seinem Sohn nur zu hören, was er immer zu hören bekam: »Papa, wir sind im Zentrum von Tel Aviv, du musst mir erklären, wie man von hier nach Norden kommt.« Und bei einem der weiteren Male, da Gadi aussteigen würde, um auf dem Weg aus dem Stadtzentrum nach Norden zu telefonieren, sollte ihn auch jener Versehrte anbrüllen, und wenn geschrieben steht, ein Vater sei nachsichtig mit seinen Söhnen, lässt sich vielleicht vermuten, dass Gadis Vater noch weitere geheime Söhne hatte, so nebenbei, und mit denen konnte er nachsichtig sein, aber Gadi gegenüber kannte er nichts dergleichen. Überhaupt wollte sein Vater nicht sein, was er war, wollte gar nichts, nur noch Urlaub nehmen. Dabei könnte er durchaus Stoff für eine Geschichte über die Midlifecrisis liefern. Bei seinem angenehmen Charakter. Leute sind gern in seiner Gesellschaft, sowohl Schriftsteller wie Philosophen, Wittgenstein, den er kennt, u.s.w.
Doch ehe es so weit war, rief der Gefreite Gadi – seine Bitte um Beförderung war abgelehnt worden – zum vierten Mal seinen Vater an, um noch ein paar Informationen über den Weg nach Norden aus ihm herauszuholen, sehr zur Freude der Soldaten in den Panzern und den Zugmaschinen, die glücklich über die Verzögerung waren, denn wenn es ihnen gelänge, noch ein paar Stunden herauszuschinden, würde der Blitzkrieg bestimmt beendet sein, würden sie genau zu den Europapokalspielen antreten müssen, um ihre Haftstrafe abzusitzen. (Sie hatten bereits ausländische Zigaretten gesammelt, um die Aufseher zu bestechen, fernsehen zu dürfen.) Aber ausgerechnet an diesem Morgen ist Gadis Vater noch ungeduldiger als sonst, beraten sich die Angestellten der Bank von Israel untereinander, werden Stadtpläne aus dem Archiv der Bank geholt, und der Sohn meint verschämt, versucht zu lächeln, denn die ganze Abteilung schaut aus der Höhe der Ungetüme auf ihn herab, »Nein, nein, wir sind erst auf dem Ben-Gurion-Boulevard«, »Ben-Gurion, ja?«, »Im Norden von Tel Aviv, immerhin«, worauf der Vater knurrt, »Der Ben-Gurion-Boulevard soll im Norden von Tel Aviv sein? Bist du auf den Kopf gefallen?« Der Soldat lächelt, damit seine Untergebenen durch das Schaufenster sehen, mit welcher Leichtigkeit er sein Telefonat führt, während sein Vater, damit nicht das ganze Büro, das auf Ergebnisse der Navigiererei wartet, mithört, leise, beinahe flüsternd in den Hörer zischt, wobei sein Gesicht freundlich strahlt, wofür man ihn liebt, denn nur mit seinem Sohn kennt er keine Geduld (aber vielleicht auch nur heute Morgen): »Das ist das letzte Mal, dass ich es dir erkläre, und ruf mich nicht wieder an, bis du nicht in Raʼs an-Nakura bist. (Dort ist die Grenze, falls du das zufällig noch nicht weißt.) Fahrt jetzt nach links, danach an der dritten Ampel, nein, nein, an der vierten nach rechts und dann weiter geradeaus und links, bis zum Ende und erst am Ende nach links, nicht wie vorher, verstanden? Danach biegt ihr nach rechts und wieder nach links ab und dann die ganze Zeit geradeaus, immer geradeaus. Los jetzt, fahr endlich in den Krieg!« Und da die Angestellten zugehört haben, reicht er noch ein Zückerchen hinterher: »Wenn die ganze Armee wie du wäre, Gadilein, würde dieser Krieg vierzehn Jahre dauern und nicht vierzehn Tage«, aber die Sekretärin schüttelte mit dem Kopf – eine herzensgute Frau, die die Familie des Bosses schon viele Jahre begleitete und selbst keine Familie hatte, aus Gründen, die für einen eigenen Bestseller garantieren könnten, darunter Liebe und ausgelebter Feminismus – weshalb er sich sehr bemühte, eine Rolle an den Tag zu legen, die zu erfüllen ihm ausgerechnet in diesem Moment höllisch schwer fiel, doch Gadi hatte inzwischen ohnehin seinen Platz neben dem Fahrer des Panzertransporters wieder eingenommen, machte ein freudiges, wild entschlossenes Gesicht und ließ seine Hände wie Windmühlenflügel rotieren, obwohl sein Herz verbittert/zerknittert war wegen des Verhaltens seines Vaters, der den toten Telefonhörer in der Hand hielt und zur Erleichterung von Smira, seiner allein stehenden und relativ feministisch eingestellten Sekretärin, in die Sprechmuschel sagte: »Fahr in Frieden und kehr in Frieden wieder, und pass auf dich auf.« Fast hätte er noch gesagt, ›Gott schütze dich‹, wusste nicht, ob er auflegen sollte oder nicht, denn wenn er auflegte, würde sein Sohn vielleicht wieder anrufen, und bis er fertig war mit Lügen und Abwägen, ob er gestehen soll, dass er gelogen hat, und wenn ja, wem er gestehen soll, dass er gelogen hat, da ja in jedem von uns ein kleiner Hamlet steckt, war sein Sohn, die rechte Hand des Hauptfahrers, auf dem Weg raus aus Tel Aviv, und dort, ein Werk des Teufels, blieb die Fahrzeugkolonne – es war bereits Sonntagmittag, der 6. 6. 1982 – hinter einem weißen Renault der Armee hängen. Warum auch immer der Renault sich mit einer Geschwindigkeit von nur zehn Stundenkilometern fortbewegte, die ohrenbetäubenden Signalhörner der Panzertransporter nichts halfen und die Soldaten über ihre Armeefunkgeräte Witze rissen – irgendeiner von den am Straßenrand Stehenden brüllte dem bebrillten Fahrer des Armeerenaults zu, »Du Pfeife, es ist Krieg«, und während im Büro von Herrn Schieber, dem in der Bank von Israel für Außenhandel Zuständigen, das Telefon klingelte, sagte dieser zu seiner Sekretärin Smira: »Wenn das mein Sohn ist, ich bin nicht da!« Aber Smira, die keineswegs die Absicht hatte, Gadi aufzugeben, immerhin kannte sie ihn, seit er zwei Monate alt gewesen war, sagte: »Es ist Ihre Frau, nicht Ihr Sohn«, und Schieber, ein Freund von Ökonomen, Schriftstellern und Philosophen (er kennt Wittgenstein), nahm den Hörer auf, lauschte und erwiderte: »Sicher hab ich was von ihm gehört, schon sechs, sieben Mal … Wieso im Norden? Er ist im Norden von Tel Aviv … Nein, ich rege mich nicht auf, aber ich kann auch nicht den ganzen Tag neben dem Telefon sitzen und meinem Sohn erklären, wie man vom Strand in Tel Aviv in den Krieg fährt.« Dann beruhigte er sich, und seine Frau sagte zu ihm: »Sag Smira, sie soll dir keine Gespräche mehr durchstellen, du darfst dich nicht aufregen«, und er ganz leise zu ihr, damit es im Büro nicht zu hören war: »Was für eine Schande, so ein Versager. Der Krieg hat angefangen, und er fährt durch die Gegend.«
Tatsächlich hätten wir die Geschichte dieser Affäre auf eine andere, eher Balzacʼsche Art beginnen sollen: Am Mittag des ersten Wochentages, des 6. Juni 1982, trat gegen 12.30 Uhr ein groß gewachsener Mann mittleren Alters mit dickem Bauch, einer Narbe hinter dem Ohr und einem khakifarbenen Hemd am Körper auf die heiße Straße, kam aus einem vierstöckigen Haus im Zentrum von Tel Aviv und blieb für einen Moment unter einem Ficusbusch neben dem Haus stehen, sah sich um, versuchte, seine Augen an das sommerliche Licht zu gewöhnen, nahm seine Brille ab, um sie zu putzen, lauschte auf den dumpfen Lärm der Signalhörner und das dünnere Quäken der Autohupen jenseits der Häuser – jener Stau, von dem wir bereits berichtet haben – und zuckte mit den Schultern, er hatte schon Schlimmeres gehört als Lärm und Getöse am helllichten Tage, hatte davon geträumt und solches im Wachen auch schon gesehen, hauchte die Brillengläser von beiden Seiten an und polierte sie mit dem Zipfel seines Hemdes, stopfte sich dann das Hemd nicht wieder in die Hose, sondern sah an sich herunter, wie ungepflegt er war, oder fett oder fremd, auf jeden Fall hatte er es gern noch etwas wilder, zog auch noch den Rest des Hemdes aus der Hose und wandte sich nach Osten, machte jedoch sofort wieder kehrt, als hätte er sich beim ersten Schritt eines Tanzes geirrt, ging westwärts, überquerte die Straße und lief hinter einem Armeeoffizier her, der wie in Vorfreude auf einen Premierenabend hüpfte, hielt ihn an und stockend – Schweißperlen bedeckten bereits seine Stirn und auch seine beschlagenen Brillengläser verwischten erneut das Blickfeld – fragte er ihn: »Wissen S-Sie vielleicht, wie man zur U-Universität kommt?« Der Offizier antwortete: »Mit Abitur und Geld von Mama und Papa, aber da ruft dich eine von oben, Alterchen.« Der Mann, der nur unwesentlich älter war als der Offizier, entschuldigte sich ein wenig, damit der Schlaumeier es nicht sofort bereute: »U-Unwichtig, ich werds schon alleine finden«, aber der Offizier ergriff die Hand des Mannes, heiß heute, dachte er bei sich, wie kalt seine Hand ist, und meine? Die Hand meiner Mutter war kalt, bis ich endlich da war, und sagte laut zu ihm, als habe er einen Schwerhörigen oder einen Neueinwanderer vor sich: »Glaubst du mir etwa nicht? Guck nach oben, siehst du den Balkon? Da steht eine und ruft dich«, und als er sah, dass der Mann den Blick nach oben richtete, kommentierte er noch: »Es lohnt sich nicht, vor einer Frau wegzulaufen, ich selbst bin mal einer abgehauen und hab mir das nicht verziehen, nie hab ich mir das verziehen, denn was ich stattdessen bekam, war viel schlimmer«, und ging seines Weges, fröhlich und bester Laune, als hätte er sich den Marx Brothers angeschlossen, anstatt zu sagen ›ich hab keine Ahnung, wo die Universität ist‹. Doch der Mann ging dem Offizier weiter nach, bis plötzlich, von oben, ein Hut wie ein Diskus nach ihm geworfen wurde, weshalb er stehen blieb, oder weil eine Frau schrie: »Du hast deinen Hut vergessen, du Trantüte«, worauf er nach oben blickte, es war bereits gegen Mittag am ersten Tag der Woche, dem 6. Juni 1982, und er musste zur Universität, einige Augenblicke lang, vor allem als er die Treppe hinabstieg, hatte er gemeint, sollte es ihm gelingen, diesen Plan in die Tat umzusetzen, dorthin zu gelangen, Shifra zu finden und ihr zu sagen, ich gehöre dir, oder besser, ich stehe zu deinen Diensten, alles, was ich habe, wird von jetzt an dir gehören, für Augenblicke also schien ihm, dass nichts leichter wäre, als diesen simplen Plan in die Tat umzusetzen, man fährt hin, trifft sie, sagt es, dieses Bedürfnis hing einzig und allein von ihm ab, Shifra würde bloß unterschreiben, wenn sie will, lässt sie mich hier wohnen, wenn ich in der Stadt bin, hier in der Ecke, ich werde nicht stören, werde nachts kommen, schlafen und am Morgen meine Sachen nehmen und gehen, ich könnte auch auf deinen Jungen aufpassen, wenn du mal abends ausgehen willst. Ihre Stimme hallte noch in seinen Ohren wider, weshalb er auf den Hut trat, nach oben blickte und drauftrat, und da das Drauftreten brutal wirkte, sahen ihn einige Passanten an, dabei war dies eine Straße mit zurückhaltenden Menschen, drei hatten ein Abonnement für das Philharmonieorchester und fünf gingen regelmäßig zu den neuen Aufführungen des Habima-Theaters, oder wie auch immer das Theater heißt, auf dessen Bühne sie stehen und man im Scheinwerferlicht Speichelfetzen wie Spinnweben sieht, kurzum: eine Frau trat zu ihm und sprach ihn an: »Bist du nicht der Sohn von Sarah?« Und er mit freundlichem Lächeln: »Welcher S-Sarah?« Er erkannte kaum seine eigene Stimme, und die Frau bekräftigte triumphierend: »Ja, ja, du bist der Sohn von Sarah. Und du lebst! Du bist am Leben! Was hätte sie sich gefreut«, aber insgeheim sagte sich die Frau, wie er aussieht, runtergekommen und blass und wie alt er geworden ist. »W-Wie kommt man zur U-Universität, wissen S-Sie das?«, entschloss sich der Mann mit der Brille, die Aufmerksamkeit der Nachbarin aus der Philharmonie oder dem Theater auszunutzen, doch die Frau machte ebenfalls eine misstrauische Handbewegung, als seien alle Bewohner der Stadt seit den Morgenstunden aufgefordert, nicht auf Fragen nach der Universität zu antworten, ehe auch sie sich davonmachte, ihr Mann, der aus seinem Grab aufkreuzte, wann immer ihm danach war, genügte ihr, außerdem war der Sohn von Sarah in irgendeinem Krieg getötet worden, sie hatten sogar in der Zeitung geschrieben, was er in Ägypten oder in Syrien gemacht hatte, und vielleicht war sie ja wegen des Krieges, der jetzt angefangen hatte, durcheinander gekommen, alles wiederholte sich und wanderte direkt in die Träume, einfach alles. Nachdem sie gegangen war, sagte der Mann, zu sich selbst, mit einem Schulterzucken: Ich bin kein guter Mensch, verschließe mich sofort, verrate nichts von mir, gebe keine Gefühle preis – was für eine Art Veranlagung ist das, das Licht in den Augen auszuknipsen? Mit Shifra rede ich anders, Shifra und Gadi, ihr Junge, der aus dem Hort verschwunden ist, und den eines Tages eine Frau mit gelbem Sonnenschirm anhalten und zu ihm sagen wird: Bist du nicht der Sohn von Shifra? Ja, ja, du bist der Sohn von Shifra, und der Junge wird sagen: Sicher, sicher, wie geht es Ihnen, und was wird er danach sagen? Was sagt man dann? Andererseits hatte der Mann mit der Brille ja beschlossen, nicht mehr in seinem Innenleben zu wühlen, was ihm auch gelungen war, Jahre, dass er das schon nicht mehr machte, in sich selbst herumzustöbern, denn ein solches Sondieren ist Sünde, die Erinnerung ein Schmerzen bereitendes und vielleicht auch unsittliches Instrument.
Bevor er einschlief, suchte er die Brille neben dem Bett, ruderte wie durch Wasser und murmelte, die Worte schienen sich aufzulösen: »I-Ich hab a-alles verloren. Auch was n-nicht zu kaufen ist, h-hab ich verloren. Verstehst du? N-Nein, ich rede nicht, i-ich nicht«, »Schlaf, red nicht, am Morgen wird es hell werden«, »S-Sei nicht b-böse«, »Ich bin nicht böse«, »Du b-bist müde«, »Nein, ich bin nicht müde, aber du musst dich ausruhen«, »W-Wir sind zu z-zweit übrig geblieben, der ei-eine ist tot und d-der andere lebt«, »Das hast du mir bereits erzählt«, »Wäre ich g-gestorben, wäre alles ganz e-einfach, aber ich lebe s-sein Leben«, »Du musst dich nicht schuldig fühlen«, »I-Ich lebe nicht d-dank meines eigenen Lebens, das ist alles a-andere als einfach«, »Aber wäre ich gestorben, wäre es einfach, hast du gesagt«, »Das i-ist die St-Stunde, in der ich d-die Sprache verliere, die G-Grammatik vergesse, die Zeiten, die W-Wörter sich vermischen, P-Plasteline, Säuglinge, Haut l-löst sich ab, das Fleisch v-verschwindet, ein brennendes Glühwürmchen, das v-verloschen ist, ausgekühlt, d-die Sprache gehört mir nicht, spürst d-du das nicht? Was hast du v-vorhin zu m-mir gesagt?«, »Ich erinnere mich nicht mehr, ich bin müde«, »Du e-erinnerst dich d-doch!«, »Ich erinnere mich nicht«, »Du e-erinnerst dich d-doch, hab ich gesagt!«, »Ich sagte, du hättest gesagt: ›Wäre ich gestorben, wäre es einfach‹«, »Und wenn i-ich mir selbst w-widerspreche, lüge ich dann? Und wenn i-ich lüge, sage ich dann nicht die W-Wahrheit? Ich lebe a-an Stelle eines anderen, der t-tot ist. Schreie ich?«, »Nein, ich kann dich kaum hören. Du warst schon eingeschlafen, warum hast du wieder angefangen zu reden? Schlaf«, »Ich versuche zu schschreien«, »Ich kann dich kaum hören.« Kennst du Leute, die sich über Schuldgefühle lustig machen? Ich hasse sie. Es ist dunkel, fühl mal, Narben, was ist vom Körper deines Sohnes übrig geblieben, Mama? Das Fleisch? Siehst du, ich hab dir deine Ruhe gestohlen um der meinen willen, aber auch ich fühle mich nicht schuldig. (Was hast du getan, Odysseus, wir wissen, was du getan hast, gleißendes Neonlicht, von einer Soldatin die Erlaubnis, die Kaserne zu verlassen, ein Renault, es gibt kein Draußen außer dem Schall, kein Innen ohne Hauthülle, Seifengeruch, das Fahrrad hat kein Licht, zurückzukehren unmöglich, das Innen ist ein in sich zusammenfallendes Außen, der Renault überholt, hält an, die vier Insassen, ihre Nacken, einsteigen ohne Erlaubnis, der Wachposten lässt ihn wieder aufs Kasernengelände, noch mal wird er nicht rauskommen, wo kann man hier pinkeln, in der Dusche spielen Soldaten mit Eiswasser, laufen blau an, schreien vor Vergnügen, die Haare nass, Soldatinnen spielen mit Eiswasser, laufen blau an, schreien vor Vergnügen, die Haare zurückgeworfen, eine Tragbahre, eine Soldatin, das Bein bis zum Kinn hochgezogen, der Mund weit aufgerissen, schwarzes Haar, komm zurück, wenn du kannst, pass auf dich auf, was hast du getan, Odysseus.) Drei Teile hat die Nacht, und über einem jeden sitzt der Allmächtige und brüllt wie ein Löwe, auf dass wir sagen ›Gʼtt aus der Höhe wird brüllen, wird aus seiner heiligen Wohnstatt seine Stimme erheben und über seine Oase wachen‹, und für die erste Wache teilte er einen brüllenden Esel ein, für die zweite – bellende Hunde, die dritte – einen Säugling, der an den Brüsten seiner Mutter trinkt, und eine erzählende Frau mit ihrem Mann.
Die Stadt war gründlich verstopft, und auch die Gerüchte strömten eilends zusammen wie die Autos und die Schaulustigen, und nach einer Stunde und noch einer und einer weiteren hatte sich die Konfusion zu einem derartigen Zwischenfall ausgewachsen, dass auch die Militärzensur, in der vor allem dem Kaugummikauen verfallene Soldaten und Soldatinnen ihren Dienst taten, der Versuchung nicht länger widerstand und sich beeilte, die verschlafenen Pressefotografen und deren Redakteure zu warnen, nichts darüber zu veröffentlichen, was sich auf den Straßen im Norden Tel Avivs abspielte. Sogleich sprangen die Zeitungen darauf an und schickten ihre Fotografen los, um festzuhalten, was im Norden von Tel Aviv los sei, was jedoch auch nicht die Schuld von Gadi war, der die Aufgabe auf sich genommen hatte, aus dem Labyrinth des Tel Aviver Verkehrs herauszufinden, weshalb er neben Beleidigungen durch Passanten auch die Verächtlichkeiten seines Vaters hatte einstecken müssen und sich schon ausmalte, wie seine Mutter sich diese Schmähungen zu Eigen machte, denn genau das war bei seinem Streit mit der Geschichts- oder Biologielehrerin passiert – sogleich war seine Mutter auf deren Seite umgeschwenkt, was ihn die Schüler maßlos beneiden ließ, deren Mütter ungebildet und dumm waren und auf Seiten ihrer Söhne standen, selbst wenn diese nicht im Recht waren. Außerdem hatte er bereits die Tiraden des Fahrers neben sich erdulden müssen, der dasaß und über Funk mit seinen drei Kameraden plauderte, die mit ihren Panzertransportern hinter ihm herkrochen, und ihn, Gadi, mit Schimpfnamen bedachte und über ihn lästerte, als säße er gar nicht bei ihm in der Fahrerkabine. Und es war überhaupt nicht Gadis Schuld, dass ausgerechnet, als er und sein Vater den Weg gefunden hatten, ein kleiner weißer Renault der Armee mitten auf der Straße Bocksprünge vollführte und ihnen den Weg versperrte, sie bei der Ausfahrt aus der Stadt behinderte. Aus welchen Gründen auch immer, der Wagen hielt sie absichtlich auf, ganz sicher absichtlich. Und die Bürger? Anstatt den Fahrer aus dem Renault zu zerren, applaudierten sie, meinten wohl, es sei eine Art Parade zur Erbauung der Heimatfront, und die Soldaten, von der Höhe ihrer auf den Transportern thronenden Panzern, bewarfen ihre vielen Fans mit Papierschnipseln, Konfetti, das einstmals Karten der Wüste Sinai gewesen war, der ägyptischen Halbinsel, die geräumt worden war, um für viele Jahre nicht dorthin zurückzukehren, was dir eine Lehre sein sollte, dass unsere Panzer niemals stillstehen, und wenn ein Weidegrund zerstört ist, wandern sie zu einem neuem Lagerplatz. Unterdessen versuchen die Fahrer der Zugmaschinen jetzt, auf Geheiß ihres Häuptlings in der ersten Fahrerkabine, mit ihren Signalhörnern gemeinsam eine Melodie zu erzeugen, stimmen über Funk eine erste Probe ab, »jetzt du«, »jetzt er«, »jetzt ich«, doch da ihnen nur vier Töne zur Verfügung stehen – C, E, G und Fis –, können sie genau genommen nicht mehr als nur einen Takt improvisieren, weshalb sie als Ausgleich versuchen, die rhythmischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihnen das Signalhorn gewährt, und siehe da, den Zivilisten gefällt es, denn die sind nicht besonders wählerisch. Gadi jedoch kommt die Assoziation eines Telefons in den Sinn und verschafft ihm ein Promille Vergnügen, und postwendend erstickt er die Assoziation, was ihn ein Promille eines anderen Vergnügens empfinden lässt, ehe er unvermeidlich von der Gestalt seines Vaters eingenommen wird, der sitzt und auf einen Anruf von ihm wartet; nein, nein, er wird ihm dieses Vergnügen nicht bereiten, im Gegenteil, der ist bestimmt hocherfreut, dass ich nicht anrufe, und wäre nicht dieser Renault, wären sie schon längst dieser Geisterbahn und der johlenden Menge entkommen.
Und wer ist nun die Pfeife, die in dem Renault der Armee unterwegs ist? Also, in dem Armeerenault sitzt ein Mann mit Brille und einer Narbe hinter dem Ohr und sucht in Schleichfahrt die Universität. Von dem jungen Mädchen, das er unterwegs aufgelesen hat, hat er gerade verlangt, sie solle nach den Schildern der Bushaltestellen Ausschau halten, die Linie 25 fährt zur Universität, wir werden ihrer gewundenen Route folgen, achte bitte auf die Schilder der Haltestellen, und die Anhalterin hat sich gewundert. Seither schweigt er, sieht sie nicht an, starrt gebannt auf die Straße, als sei er ein Jäger. Um ehrlich zu sein, schon als er ihr die Mitfahrgelegenheit angeboten und dabei nicht angehalten hatte, sondern bloß das Fenster runtergekurbelt und ihr im Fahren, ganz langsam nur, aber ohne anzuhalten, zugerufen hatte, sie solle einsteigen, schon da war ihr der Verdacht gekommen, hier sei etwas nicht in Ordnung, hatte er sie doch hinter dem fahrenden Wagen herlaufen lassen, hatte sich entschuldigt, noch ehe sie richtig saß, ich will nicht anhalten, erklärte er ihr mit sanfter Stimme, wobei da die turmhohen Panzer noch nicht hinter ihnen hergekrochen waren, und da sie nun schon mal dabei war zu laufen, hatte sie die Tür geöffnet, sich hineingeschwungen, Platz genommen und die Tür zugeworfen, schließlich war das ein Fahrzeug der Armee, was konnte also schon groß passieren? Doch dann hatte er ihr mit einer Empfindsamkeit, für die sie hätte sterben mögen – noch nie hatte sie einen Mann mit derart sanfter Stimme reden hören – zu ihr gesagt: »K-Kennst du vielleicht den Weg zur U-Universität?« Etwas in seiner Stimme war unwiderstehlich, rein, unverfälscht und schüchtern, als bäte er um Verzeihung, ihr Wissen zu missbrauchen, »D-Das heißt, i-ich w-würde den Weg auch so finden, a-aber ich hab gedacht …«
»Ich fahr zur Uni. Ich bin Studentin, und du?«
»K-Kennst du Sh-Shifra?«
»Was studiert sie?«
»Sie z-zieht einen Jungen auf, allein, i-ihr Mann hat sie vor langem verlassen, und sie ist auch p-politisch aktiv. G-Gerade heute ist der Junge aus dem H-Hort weggelaufen. Sie k-kommt nicht klar im Leben, ich w-will die Untermieterinnen aus meiner Wohnung werfen, ich hab eine g-große W-Wohnung im Zentrum von T-Tel Aviv, und sie da wohnen lassen, v-vielleicht auch noch mehr …«
»Sie ist bestimmt hübsch, wenn du ihr einfach so deine Wohnung gibst und noch dazu deshalb die Untermieterinnen rauswirfst.«
»S-Sie hat eine sch-schöne Stimme. Wenn sie über ihr Leid sp-spricht, z-zittert ihre Stimme.«
Sie fallen wieder in Schweigen und kriechen weiter. Er wischt erneut den Schweiß weg, eine Hand hält das Lenkrad, dann greift die andere ans Steuer und die Hand trocknet auf der Hose.
»Bist du verheiratet?«
»M-Mein K-Kind und m-meine Frau hab ich v-vertrieben.«
»Was hast du gemacht?«
»I-Ich erfinde, manchmal e-erfinde ich Sachen. Such die H-Haltestellen der Linie 25.«
Er suchte irgendeine Shifra. Er fuhr zur Universität, um eine gewisse Shifra zu suchen, so viel war klar. Unklar hingegen ist, warum er so langsam fährt, aber er ist naiv, wenn er denkt, so könnte er Shifra finden, und noch dazu in dem Chaos, das er anrichtet, denn genau in diesem Augenblick, jetzt muss es gesagt werden, tauchten hinter ihnen die beängstigenden Panzer auf, festgekettet auf ihren monströsen Transportern, und er bemühte sich, den zweiten Gang zu finden, um schneller zu werden, aber Fahrzeuge vom Typ Renault haben eine Lenkradschaltung, deren Hebel man reinschieben und rausziehen muss, und vielleicht gelingt es ihm deshalb nicht, vom ersten in den zweiten zu schalten, und er zieht es vor, weiter im ersten zu fahren. Sie dagegen hat ihren Teil getan, er ist der Fahrer und sie die Navigatorin, die ihn anweist, den Bushaltestellen nachzufahren, sich angespannt aus dem Fenster lehnend, versucht sie, auch die Hausnummern zu lesen, die Nummern von anderen Buslinien, denn deren Routen führen zu anderen Orten, an jeder Kreuzung ist es möglich, sich für unzählige Richtungen, Orte, Siedlungen, neue Beziehungen, ein neues Leben zu entscheiden, und obwohl er nur eine bestimmte Shifra sucht, erstattet sie mit der Ergebenheit eines Menschen Bericht, von dem verlangt wird, eine Aufgabe zu erfüllen, und der nicht erst warum und wieso fragt. Sie bohrt nicht, »Der 28er fährt nicht zur Uni, oder?«, und er antwortet nicht.
Plötzlich lächelt er, ihr Offizier, lächelt ohne erkennbaren Grund, besteht darauf, den Kopf nicht zur Seite zu drehen, als hätte ihm der Wagen einen Witz aus gemeinsamer Vergangenheit zugeflüstert, nur dass jetzt im Rückspiegel ein Teil des riesigen Ungeheuers auftaucht, das sie verfolgt, sich erhebt wie Theseus, der über Hippolytos herfällt, »Zugleich mit ihrem dreifach hohen Schwalle / setzte sie einen Stier an Land, ein wildes Ungetüm. / Von seinem Brüllen dröhnte laut die ganze Gegend und hallte schaurig wider.« Sie wurde ungeduldig, vielleicht weil einer von den am Straßenrand Stehenden ihnen gerade zugebrüllt hatte, »Mach dich endlich weg da«, vielleicht deshalb sagte sie ängstlich – ängstlich ist nicht der richtige Ausdruck –, sagte sie mit Unbehagen: »Du machst das absichtlich, stimmts?«
»W-Was?«
»Was was? Den Stau hier, du hältst sie absichtlich auf, die ganze Stadt ist schon verstopft wegen dir.«
Über das Lenkrad gebeugt, als dressiere er ein wildes Tier, drückt sein Fuß auf das Gaspedal, sodass ihr Auspuff Qualm in die Luft pustet, worauf der Fahrer hinter ihnen aus seinem hoch aufragenden Schornstein ebenfalls die Luft mit Qualm verpestet, Vollgas, halber Gang, und der hinter ihm nichts schuldig bleibt und es ihm nachtut, und so immer weiter bis zur letzten Zugmaschine, bis die Luft an den Rauch über Beirut denken lässt, ohne Feuer selbstverständlich, und sie, die lockenköpfige Anhalterin, vorsichtig vorschlägt, »Vielleicht versuchst du, an die Seite zu fahren, damit die Panzer endlich vorbeikönnen?« Doch er blickt auf den Fußgängerüberweg vor ihnen, den er überqueren muss, als sei von einem tiefen Fluss die Rede, seine Beine zittern, er kann nicht anhalten, ist unschlüssig, ob er drauftreten soll, tritt, ist drüber hinweg, atmet erleichtert auf, wie brüchig alles ist, die Wunde an seiner Hand tropft. »W-Wenn es dir nichts a-ausmacht, such weiter nach den H-Haltestellen des 25ers, wir h-haben nicht viel Zeit.« Alles Leid wird auf einen Schlag verschwunden sein. Mit einem Mal wird klar sein, dass alles Leid vorüber ist und nur noch wie eine Episode scheint. Wir werden nicht verstehen, wie wir gelitten haben, werden zwar wissen – als Tatsache –, dass wir gelitten haben, aber nicht begreifen, wie. Wir werden nicht einmal die Gefühle rekonstruieren können, weil dies am allerschwersten ist, der Junge wird vergessen werden, der tote Junge wird seinen Eltern geraubt werden, der überlebende Junge groß werden und zur Ruhe kommen. Sie blickte auf seine trockenen Lippen, die sich bewegten, rosige Lippen hatte er, dabei mochte sie ausgerechnet rosige Lippen gar nicht, und seine Fingernägeln waren mit weißen Flecken übersät. Sie sah ihn mit ein wenig Sorge an.
»Du redest mit dir selbst, weißt du das?«
»A-Alle, n-nicht?«
»Du kommst mir bekannt vor, bist du Schriftsteller oder so was Ähnliches?«
»J-Ja.«
»Welches Buch ist noch von dir? Hilf mir mal eben.«
»I-Ich hab kein B-Buch geschrieben.«
Ein Buch habe ich geschrieben, habe es beendet – zwei Jahre Arbeit –, gelesen und nicht verstanden, was da stand, sogar meine Handschrift hatte sich seit damals verändert, oder vielleicht war es das Buch, das sich verändert hatte, kein Gefühl lässt sich konservieren, ein Gefühl gehört vernichtet wie streng vertrauliche Unterlagen. Klein, rundlich, (relativ) großer Busen, braune, frisch gewaschene Locken, wie viele Locken hast du? Ihre Augen waren grün, und wenn sie lächelte, wich die Farbe um ihre Lippen, etwas im Zusammenspiel mit der Angst verlieh ihr Tiefe, Blässe umgab ihren Mund, wenn sie lächelte, doch er hätte ohnehin nicht anhalten können, der riesige Panzer saß fast auf ihnen drauf, die Bürgersteige waren voller feiernder Menschen, vielleicht ist er ratlos, obgleich er völlig emotionslos auf sie wirkt, aber sein lang anhaltendes Schweigen und die vollkommene Gleichgültigkeit für das, was auf der Straße passierte, denn da war nicht nur der Beifall und die wütenden Ausrufe, »Beweg endlich deinen Arsch, du Pfeife«, sondern auch Kinder, die verloren gingen, Mütter, die von den Balkonen herabbrüllten, vom vierten Stock herunter, ab nach Hause, und irgendjemand meinte auch: »Ein Militärputsch, ganz sicher, Peres kann keinen Krieg, den Begin macht, ertragen. Jahrelang haben sie Kriege gemacht und wir sind gegangen. Jetzt machen wir ein Mal Krieg und schon vermasseln sie es uns. Der Krieg ist hin. Die Demokratie ist hin.« Hunde waren ganz verstört von dem Lärm, standen und jaulten, ein Einkaufskorb riss und alle Milchprodukte ergossen sich auf die Straße. Was hast du getan, Odysseus, wir wissen, was du getan hast. Die Genehmigung, das Kasernengelände zu verlassen, von einer autoritären Soldatin, ich danke dir, hau ab, ein wartender Renault, gleißendes Neonlicht, Tag oder Nacht, es gibt kein Draußen außer dem Echo, kein Innen ohne Hauthülle, Seifengeruch und das Fahrrad hat kein Licht, Regen, ein Tor, unmöglich umzukehren, das Innen ist ein in sich zusammenfallendes Außen, der Renault überholt, hält an, kann den Motor anlassen, die Scheinwerfer einschalten, von den vier Insassen, Männern, nur ihre Nacken, wieder rein, ohne Zugangserlaubnis, das wird nichts, etwas zu trinken für die Nacht vorbereiten, wo soll ich pinkeln, in der Dusche spielen Soldaten mit Eiswasser, laufen blau an, schreien vor Vergnügen, die Haare nass, Soldatinnen spielen mit Eiswasser, laufen blau an, schreien vor Vergnügen, die Haare zurückgeworfen, wo soll ich pinkeln, »Es klingelt, mach die Tür auf«, eine Tragbahre, eine Soldatin, das Bein bis zum Kinn hochgezogen, der Mund weit aufgerissen, schwarzes Haar, The stone is alive in my hand, the crops / will be thick in my deathyear, »Mach endlich die Tür auf«, komm zurück, wenn du kannst, »Mach die Tür auf«, pinkeln, was hast du getan, Odysseus, »Mach die Tür auf, hab ich dir gesagt«, Klingeln, »Schon gut, einen Moment nur, einen Moment«, wach oder wieder eingeschlafen, im Nebenraum zwei Frauen, Eindringlinge, ich hab hier gewohnt, wie soll ich an dem Zimmer vorbeikommen mit so einem Ständer, Urin treibt Blut in das angeschwollene Glied, ich bereite mir selbst Schmerzen, »Ja?« fragt die, die die Tür geöffnet hat, und fügt sogleich hinzu, »Wer sind Sie, was wollen Sie hier?«
»Ich heiße Shifra. Wer bist du?«
»Unwichtig, wer ich bin, das ist ein Geheimnis.«
»Nun gut, wo ist Sonja?«
»Louis heißt schon nicht mehr Louis.«
Und von drinnen schreit, hustet – der typische Husten von Leuten, die schon morgens rauchen – jene Frau, Louis/Sonja: »Eleanor, es klingelt, mach die Tür auf«, »Eleanor«, jubelt die gerade Eingetroffene, also Shifra, und schellt weiter an der Tür, »Du heißt Eleanor, ich hab von dir gehört, also bist du auch hier?« (Drei Frauen und wie viele Namen?) »Ja«, erwidert Eleanor, die die Tür geöffnet hat, trocken, »Und ich heiße auch nicht mehr Eleanor«, um nach einem Schweigen fortzufahren: »Und du? Du bist auch hier?« »Alle Wege führen her«, antwortet Shifra, die Besucherin, fröhlich, und die, die früher Eleanor geheißen hat (mein Traum verflüchtigt sich, was waren das für Gerüche in dem Traum? Bohnerwachs, der Geruch von Wasser in der Dusche, und auf der Toilette – was war das für ein angenehmer Geruch?) widerspricht, »Nein, nicht alle Wege führen her, nur wer darauf besteht herzukommen.« Darauf die Besucherin in immer noch schnippischem, selbstbewusstem Ton, als gehöre ihr die Wohnung und nicht etwa den Frauen jenseits der Türschwelle: »Aber ich stehe vor der Tür, wohingegen du drin bist«, und von weitem, aus der Wohnung, von der anderen Seite des Zimmers kommt der Schrei: »Eleanor, mach endlich die Tür auf, hörst du nicht, dass es schellt?« Worauf Shifra, die fröhliche Besucherin, die offensichtlich noch immer draußen steht, leise an der Tür fragt: »Wo ist sie?« Und da sie keine Antwort erhält, fragt sie erneut: »Warum antwortest du ihr nicht?« (Ich werde ein weiß glühendes Eisen nehmen und es mir ins Auge stoßen. Lastwagenlärm kommt von draußen. Hupen. Wie viele Plagegeister. Irgendwo spielt einer eine Prélude von Debussy, La fille aux cheveux de lin, wie viele Silben sind in dieser einen Verführung enthalten? Vor lauter Geilheit wird der Speichel auf den Lippen zäh und klebrig, stinkt, wird auf der anderen Seite des Körpers zu übel riechendem Samen. Hätte ich doch nur geheiratet. Zu spät, du Idiot.) Shifra, die Frau an der Tür, die, die von draußen gekommen war, sagte: »Wo steckt sie, deine Herrin? Und warum antwortest du ihr nicht?«
»Du hast so ein großes Mundwerk, immer bist du mir wie eine deprimierte Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm vorgekommen, wie eine Zeichnung von Käthe Kollwitz oder irgendetwas weniger Anspruchsvolles.«
»Auch auf den Zeichnungen von Käthe Kollwitz wird geschrien, aber ihr habt es nicht gehört.«
Sofort bereute die Besucherin, aber sie hatte bereits »ihr« gesagt, als von innen die heisere Frau erzürnt schrie: »Es klingelt an der Tür, Eleanor, warum kannst du nicht aufmachen? Macht dich das Klingeln nicht wahnsinnig?« Worauf die Besucherin noch eine Spur hochmütiger, vielleicht ermutigt durch das Keifen der heiseren Frau im Bauch des Walfischs, die Jüngere anstachelte: »Sag ihr, dass du aufgemacht hast, sag ihr, dass du mich nur nicht reinlässt.«
»Und du, vielleicht hörst du endlich auf, die ganze Zeit zu klingeln?«
»Warum? Ich genieße das Klingeln geradezu, lass mich rein.«
»What have you done, Odysseus, / We know what you have done.«
»Ich bin Penelope«, sagte die Besucherin bedauernd, hörte aber nicht auf zu klingeln, bis diese Kanaille sie reinließe, denn worum bat sie denn groß, und fügte hinzu, obwohl sie auch das schon bereute (ständig rutschen ihr solche Sätze raus): »Ich bin Penelope, daher erlaubst du dir, mich so zu behandeln. Es reicht, mir ist warm und ich bin durstig, lass mich rein.« (Würden sie mich sehen, wenn ich zum Klo husche? Warum gelingt es mir nicht, Sehnsucht zu empfinden? Wie süß ist doch der Schmerz der Sehnsucht. Was hatte ich im Traum nicht gewusst? Warum wollte ich zurück in die abgeriegelte Armeekaserne? Was bleibt vom Körper, wenn sich das Gedächtnis umnachtet?) »Es ist heiß draußen, ich schwitze, mein Nacken brennt vom Gehen in der Sonne, warum lässt du mich nicht rein?« Das Wasser stürzte mit großem Getöse aus dem Spülkasten, »Gestörte Lesben«, beschwerte sich die Heisere aus dem Inneren der Wohnung, »und das hab ich mit nach Hause gebracht.« Das Mädchen an der Tür sagte: »Es ist früh am Morgen, wir haben noch nicht geduscht, noch nichts gegessen – du kannst nicht einfach so in unser Leben platzen«, als Shifra in beleidigtem Tonfall plötzlich feststellte: »Mein Mann versteckt sich bei euch!«
»Nein, dein Mann versteckt sich nicht hier.«
»Lass mich nachschauen.«
Die Heisere drinnen, also Louis, die ältere der beiden, hustet, versucht eine Frage zu stellen, hustet wieder, ehe es ihr am Ende gelingt zu sagen: »Eleanor, in Ordnung, ich weiß, dass ich deinen neuen Namen nicht mehr weiß, Entschuldigung, ich bitte um Entschuldigung. Aber antworte mir! Wer klingelt da an der Tür?« (Ich schaffe nicht, mir die Richtungen der Gespräche zu skizzieren, und ebenso – wie schnell ist der Traum verflogen.)
Am Ende der Yehuda-Hamaccabi-Straße, benannt nach Yehuda dem Makkabäer, war es den Fahrern gelungen, einen Rhythmus zu finden, posaunte der Panzertransporter Nummer 1 die Töne einer Frage heraus, worauf die anderen drei die Töne einer Antwort schmetterten. Die Begeisterung wuchs, als sich die Zivilisten dem sich wiederholenden Rhythmus (dem Auslöser des Vergnügens) anschlossen, der Junge, der verloren gegangen war, wurde gefunden, bekam einen hintendrauf, weinte, wurde aufgefordert, damit aufzuhören, hörte nicht auf zu flennen, bekam noch zwei Klapse hintendrauf, bis der monotone Rhythmus sein Weinen erstickte, und alles, was er von diesem ersten Tag des Kriegs zurückbehielt, eine rote Schnoddernase und ein brennendes Hinterteil waren. Dazu ein sich einschmeichelndes Anschmiegen bei Mama, die ihn bis gerade entnervt versohlt hat, noch mehr Liebe will er, betrachtet sie von unten nach oben, während sie irgendeiner Nachbarin erzählt, was genau sie in jenen Momenten durchgemacht hat, als der Junge verschwunden war. Und der Renault? Der schleicht dahin, wie es sich für eine Militärparade gehört, neben dem Fahrer sitzt eine junge Frau, das Schweigen des Fahrers macht ihr zu schaffen, von neuem beginnt sie ein Gespräch: »Du hast noch nicht gesagt, wie du heißt.«
»Fang n-nicht an, mir solche F-Fragen zu stellen. Ich habe k-keinen Namen.«
»Du bist nicht verheiratet, könnte ich mir denken.«
»N-Nein, nein.«
Und schon wird sie neugierig: »Wolltest du keine Kinder?« Nein, wollte ich nicht, ich sage dir doch, dass ich keine wollte. Warum, ich habe viele Antworten. Doch sie würden der Wahrheit nicht gerecht. Du brauchst die Wahrheit nicht. Du brauchst eine Antwort auf eine Frage. Meine Antwort genügt nicht, auch nicht auf meine Frage. Verstehst du? Lass uns nicht reden. Plötzlich sagte sie (und Angst lag in ihrer Stimme): »Du bist gegen den Krieg, oder?« Er überlegte einen Augenblick lang und sagte dann mit (gewisser) Entschiedenheit: »Absolut, ich bin g-gegen den K-Krieg!« Wobei schon nicht mehr klar ist, wer wem Geleit gibt, der Renault den Panzern oder vielleicht doch die Panzer dem Renault, dem sie auf der Stoßstange sitzen. Von überallher laufen Kinder neben der Kolonne her. Auch der Junge, der gerade von seiner Mutter eins hintendrauf bekommen hat, hat sie erneut reingelegt. Damit sie ihre Lektion lernt, die verhurte Tochter einer Hure. Und nachdem das Lockenköpfchen einen Blick nach hinten geworfen hatte, auf den riesigen Panzertransporter, und dann nach rechts in die Augen der verstörten Bürger, der selbstsicheren und der miteinander diskutierenden Bürger geschaut hatte, wandte sie abrupt den Kopf, betrachtete das Profil des Fahrers und seine sich bewegenden Lippen und sagte panisch: »Du meinst es ernst, oder?«
»W-Was?«
»Du mit all deiner Sanftheit, schweißbedeckt wie eine Jungfrau, bevor man ihn sie eindringt, du hast mal eben beschlossen, diese Stadt in die Luft zu jagen, richtig?«