Stellas Traum - Annette Hohberg - E-Book

Stellas Traum E-Book

Annette Hohberg

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zärtlich und in wunderschönen Bildern erzählt Annette Hohberg die Geschichte einer innigen Jugendfreundschaft. Stella, Tim und Paul sind unzertrennlich, sie ergänzen sich perfekt. Bis etwas Entsetzliches geschieht und aus dem fröhlichen Mädchen Stella eine kühle, distanzierte Frau macht, die jedes Gefühl mit Arbeit betäubt. Nach 20 Jahren führt ein weiteres tragisches Ereignis die einstigen Freunde noch einmal zusammen. Kann jetzt aus Liebe Vergebung werden? Das poetische Porträt einer Freundschaft, die ihre Unschuld verliert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 389

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Annette Hohberg

Stellas Traum

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel
[home]

1

Sie wollten schaukeln. Alle drei. Eigentlich hatten sie Marienkäfer sammeln wollen, von denen es in diesem Juli viele gab. Sie spielten es oft, das Marienkäfer-Spiel. Jeder hatte eine Schachtel dabei, in die sie die Käfer hineinkrabbeln ließen. Am Ende wurden die Punkte auf den kleinen roten Flügeln gezählt; der mit den meisten Punkten hatte gewonnen.

Doch dann hatten sie die Schaukel entdeckt, an einer Kastanie auf dem Nachbargrundstück. Die Besitzer kamen nur an den Wochenenden oder in den großen Ferien. Jetzt waren sie einige Monate gar nicht gekommen, und das Gras stand meterhoch.

Sie waren über den Zaun geklettert und losgerannt. Tim erreichte die Kastanie als Erster; er war stets der Schnellste. Stella und Paul folgten atemlos. Paul fuhr sich mit der Hand durch das strohblonde Haar; das tat er immer, wenn er im Rückstand war. Stella trug Sommersprossen-Backen, die sich leicht gerötet hatten, und ein strahlendes Lachen. Ihr Mund war so groß, dass dieses Lachen den ganzen Garten ausleuchtete, selbst die schattigen Plätze hinter den Thujen und unter den Tannen wurden heller.

Die drei sahen sich an, die Blicke flogen hin und her, zwischen Stella und Tim, zwischen Stella und Paul, zwischen Tim und Paul und zwischen Paul und Tim – und Stella. In dem Moment wusste sie, dass sie gewonnen hatte. In der Krone des Baums zwitscherte eine Amsel.

Stella schwang sich auf das Brett, das an zwei Seilen hing, die mit dicken Haken an einem Ast befestigt waren. Es knarzte ein wenig, als sie mit dem Po vorsichtig das Gleichgewicht austarierte, ihre Füße baumelten in der Luft. Sie schaute zu dem Ast hoch. Tim und Paul schauten auch. Sie nickte. Ein aufforderndes Nicken. Die beiden Jungen sahen sich unschlüssig an. Es war Paul, der sich schließlich hinter sie stellte und ihr einen sanften Schubs gab, Tim hockte sich vor ihr ins Gras.

Und dann begann sie zu fliegen. Immer höher. Sie lehnte sich nach hinten und streckte die Füße weit nach oben, als wollte sie damit den Julihimmel berühren. Sie fühlte Pauls Hände in ihrem Rücken, die sie mit immer größerer Kraft anstießen. Sie sah Tims Blicke, die unter ihren Rock krochen, der sich jedes Mal hob, wenn sie dem endlosen Blau ein Stück näher kam.

Sie spürte den Wind an ihren nackten Beinen und in ihren offenen Haaren, und sie wollte, dass es nie wieder aufhörte, dieses Schwingen zwischen Himmel und Erde. Irgendwann schloss sie die Augen. Das Ächzen des Astes beunruhigte sie nicht mehr, denn sie fühlte plötzlich, dass ihr nichts passieren konnte. Da waren Tim und Paul, die sie auffangen würden. Dieses Wissen genügte ihr, um die Bodenhaftung aufzugeben.

Als sie wieder unten landete, streckte Stella die Arme aus. Ihre linke Hand hielt sie Paul hin, ihre rechte Tim. Die beiden schlugen ein, und dann liefen sie durch das hohe Gras – Hand in Hand in Hand. Die Schachteln mit den Marienkäfern ließen sie zurück.

 

Elisabetta hatte Kuchen gebacken. Streuselbutterkuchen, aber ohne Obst, denn Äpfel und Pflaumen und Reineclauden wurden erst später reif, im Herbst. Sie saß in einem der Korbstühle auf ihrer Veranda und las. Als die drei kamen, stand sie auf und winkte. Das tat sie immer. Sie winkte jedem zu, der sie besuchte. Vorher wischte sie sich die Hände an einem ihrer engen bunten Röcke ab. Küchenschürzen trug sie nie.

Der Kuchen war noch warm. Einige Wespen hatten sich darauf niedergelassen. Stella scheuchte sie mit einer energischen Handbewegung weg und griff nach dem großen Messer, das auf dem Tisch lag. Sie achtete genau darauf, dass die Stücke, die sie für Tim und Paul abschnitt, gleich groß ausfielen. Dann hielt sie den Jungen die Teller hin. Und während die zwei in den Kuchen bissen und kauten, sah sie zu ihrer Tante. Elisabetta zog erst die Augenbrauen hoch, schließlich lachte sie.

Da begann auch Stella zu lachen. Zwischen ihren oberen Schneidezähnen war noch immer eine Lücke. Die beiden Jungen hatten keine Zahnlücken mehr.

[home]

2

Sie ist zu früh gekommen. Eine gute halbe Stunde zu früh. Normalerweise kommt sie immer zu spät.

Du läufst deinem Leben hinterher, hat ihre Tante oft gesagt, und sie hat dabei gelacht. Genau dieses Lachen war Stellas Begleitschutz gewesen. In den letzten Jahren fast nur noch am Telefon. Stella hat ihre Besuche auf Weihnachten und Geburtstag reduziert, weil ihr für mehr die Zeit fehlte. Aber Elisabettas Lachen hat sie nie verlassen. Bis zu diesem Nachmittag vor drei Wochen. Bis zu diesem Läuten an ihrer Haustür.

Zwei Polizisten standen dort, die sie wegen der ernsten Gesichter sofort in ihre Küche bat. Einen Unfall habe es gegeben, sagte einer der beiden. Und ihre Adresse habe man im Portemonnaie der Verunglückten gefunden. Sie sei mit dem Fahrrad von der Straße abgekommen. Morgens gegen fünf Uhr. Kein Alkohol im Blut, erklärte er.

Als würde diese Information noch etwas ändern, dachte Stella und fragte die zwei, ob sie einen Tee wollten. Sie musste etwas tun, irgendetwas. Wasserkessel aufsetzen, Teeblätter in die Kanne geben, Tassen aus dem Schrank holen. Als könnte sie damit verhindern, dass das eben Gehörte in ihr Bewusstsein gelangte und sich dort niederließ.

Der Wortführer nickte und setzte sich sofort an den Küchentisch. Dabei zog er seine Uniformhose leicht hoch. Stella fiel sie auf, diese altmodische Geste, und ihr fiel auch auf, dass der andere Polizist stehen blieb und seine Krawatte zurechtrückte, die gar nicht schief saß. Die beiden waren jung, Ende zwanzig, schätzte sie. Sie erledigten hier einen Job, der sie überforderte.

Als sie den Tee in die Tassen goss, zitterte ihre Hand. Die Hand reagierte bereits. Die Stimme, mit der sie fragte, wie das genau passiert sei, war noch ruhig.

Wahrscheinlich ein Infarkt oder Herzstillstand, so was in der Art, erfuhr sie. Die Obduktion würde Genaueres ergeben.

Sie zuckte zusammen. Was machten diese furchtbaren Worte plötzlich in ihrer Küche? Sie hatten hier nichts verloren. Stella hätte am liebsten die Fenster geöffnet und sie alle hinausgeworfen und die beiden Polizisten gleich dazu. Sie nahm einen großen Schluck Tee und verbrannte sich die Zunge. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht.

Der Polizist, der saß, pustete in seine Tasse, woraufhin sich der Tee zu kleinen Wellen kräuselte. Er ist vorsichtiger als ich, dachte Stella, und etwas in ihr lächelte, einen Moment nur, aber lang genug, um sie zu irritieren. Dabei wusste sie, wie Menschen in Extremsituationen reagierten. Sie hatte es als Ärztin oft genug erlebt. Jetzt, in ihrer Küche, erlebte sie sich selbst. Kurz darauf begann ihr Herz zu rasen, aus dem Stand heraus, als hätte ihm jemand Adrenalin injiziert. Stella versuchte es zu beruhigen, indem sie tief Luft holte. Sie verschluckte sich und hustete.

Der Polizist hatte inzwischen einen gelben Plastikkugelschreiber und ein Formular aus seiner Tasche geholt. Er setzte Großbuchstaben in freie Felder. Es waren krakelige Buchstaben, fast eine Kinderschrift. An der Art, wie er den Stift hielt, sah Stella, dass er schwitzte. Er schwitzte bis in die Fingerspitzen.

Wir müssen das hier schnell zu Ende bringen, dachte sie, sonst kollabiert noch einer von uns. Rasch schrieb sie ihren Namen auf das Formular, das er ihr über den Tisch schob. Ihre Schrift war rund und ausladend; als kleines Mädchen hatte sie immer über die Linien geschrieben. Auch darüber hatte Elisabetta gelacht.

Elisabetta … Ein paar Bilder tauchten auf, unscharfe Bilder, die sofort wieder verschwanden, weil Stella nicht hinschaute. Jetzt nicht, dachte sie. Jetzt nur keine Erinnerungen. Und außerdem waren da die Polizisten, die sie nach draußen begleiten musste.

Als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel, lehnte sie sich von innen dagegen. Sie wollte, dass nie wieder jemand hereinkam. Und dann wollte sie gar nichts mehr. Alles Wollen setzte einfach aus. Sie ließ sich langsam zu Boden gleiten, zog die Knie zu sich heran und legte ihren Kopf darauf ab. Erst in dem Moment begann sie zu weinen. Als keine Tränen mehr kamen, kam bereits die Dunkelheit.

An diesem Abend schaltete Stella keine Lampen ein. Sie legte sich auf ihr Bett, Jeans und Pullover und Strümpfe behielt sie an. Ihre Gedanken verknoteten sich, es waren viele, zu viele, um sie entwirren zu können – bis auf einen, der herausfand aus dem Knäuel und sich schwer auf ihre Brust setzte: Nun bist du allein.

Sie zog ihre alte braune Wolldecke bis zum Hals hoch. Doch es war nur eine Illusion von Wärme, die sich einstellte. Das Zittern in ihrem Inneren ließ sich damit nicht beruhigen.

Nun bist du allein.

Der Gedanke blieb in dieser Nacht, der Schlaf blieb aus. Es lagen genug Tabletten in ihrem Badezimmer, um ihn sich zu holen; als Ärztin hatte sie Zugriff zu Mitteln, die schnell wirkten. Doch sie spürte, dass sie wach bleiben, sich diesem unaufhörlichen Zittern in ihr stellen musste.

 

Als der Morgen kam, hatte sie zumindest eine Ahnung davon, was zu tun war. Sie stand auf und sah aus dem Fenster in einen dunklen Himmel, der feinen Regen herunterschickte. Auch das noch, dachte Stella und zog ihren Pullover fester um sich. Doch hätte Sonnenschein ihre Situation erträglicher gemacht? Nein, Schönwetter leuchtet den Schmerz nur aus, lässt ihn absurd wirken. Wie oft schon hatte sie Patienten gesagt, dass sie nicht mehr lang zu leben hatten, während draußen gerade der Frühling loszwitscherte. Regen war demnach gar nicht so übel.

Sie duschte nicht. Sie putzte nur ihre Zähne, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und fuhr mit den Händen durch das halblange rotblonde Haar. Ihren grünen Augen schenkte sie keinen Blick; sie wusste auch so, dass sie müde in den Höhlen lagen, leicht verklebt von der Wimperntusche, die sie gestern aufgetragen und nicht abgewaschen hatte. Gestern? Eine Ewigkeit hatte sich vor das Heute gelegt. Eine Ewigkeit, die jeden Begriff von Zeit auflöste.

Noch vor zwei Tagen hatte Stella daran gedacht, nun doch wenigstens eine Woche Urlaub zu versuchen. Oft schon hatte ihr Chef ihr nahegelegt, mal richtig auszusteigen. Wenn sie so weitermache, sei sie irgendwann selbst ein Fall für die Klinik, sagte Bornheim häufig. Von mindestens einem halben Jahr Pause hatte er bei ihrem letzten schnellen Espresso vor dem Kaffeeautomaten im Schwesternzimmer geredet. Sie hatte den Plastikbecher in den Mülleimer geworfen und seinen Vorschlag weggelacht. Die Patienten brauchten sie, und sie brauchte ihre Arbeit. Mehr als eine Woche war da nicht drin.

Jetzt erschien ihr das auf einmal völlig aberwitzig. Was sollten sieben Tage bringen? Sie würde nicht schaffen, was hier auf sie zurollte. Die Beisetzung, die Behördengänge, das Haus …

Das Haus. Bei dem Gedanken zogen sich ihre Eingeweide zusammen, als würde eine harte Hand sie auswringen wie nasse Handtücher. Dieses Haus am See lag Hunderte von Kilometern weit weg. Es lag außerhalb des Radius, in dem sich Stellas Leben jetzt abspielte.

 

Am Nachmittag rief sie im Krankenhaus an, verlangte Bornheim und bat um ein Gespräch.

Eine Stunde später saß sie in seinem Büro. Und weil er sie einfach nur ansah und erst mal nichts sagte, begann sie zu reden. Sie redete viel. Sie, die sich in den letzten Jahren auf das Nötigste zwischen zwei Visiten beschränkt hatte, ließ ihre Worte plötzlich laufen. Und sie liefen in alle Richtungen.

Vom frühen Tod der Eltern erzählte Stella. Sie konnte sich nicht mehr erinnern an den Vater und die Mutter. Ein Stofflöwe war ihr geblieben, den sie zum Geburtstag bekommen hatte. Er hatte immer auf ihrem Kopfkissen gelegen, auch als die Eltern schon lange nicht mehr im Schlafzimmer nebenan lagen. Sie kannte die beiden nur von verblassten Schwarzweißfotos und aus den Erzählungen ihrer Tante. Elisabettas Haus war ihr Zuhause geworden. Ein altes gelbes Haus in einem großen Garten, der bis ans Ufer eines Sees hinabführte. Dort unten gab es einen Holzsteg; als Mädchen hatte sie oft auf den Planken gesessen und das Gekräusel der Wellen beobachtet; sie schienen keine Richtung zu kennen, die Wellen, und auf eine gewisse Weise hatte genau das Stella beruhigt. Auch sie ließ sich gern treiben damals. Die Obstbäume vor der Veranda blühten im Frühjahr, und im Herbst trugen sie Äpfel und Pflaumen und Reineclauden. Elisabetta hatte Marmelade gekocht und Kuchen gebacken, doch irgendwann hatte sie damit aufgehört. Wer sollte all das noch essen? Nun kehrte der Gärtner das Fallobst zusammen. Die Äpfel bekamen die Pferde auf der Koppel nebenan. Und Elisabetta aß ein paar Pflaumen zum Frühstück, wegen der Verdauung.

Elisabetta, die eigentlich Elisabeth hieß. Als Stella elf war, hatte die Tante eines Tages Roberto mitgebracht. Roberto war Italiener, und er wurde Elisabettas Liebhaber. Einige Jahre ging er ein und aus in dem gelben Haus. Als er für immer ging, weil es auf Sardinien eine Frau und drei Kinder gab, ließ er den Namen da, den er seiner Liebsten gegeben hatte. Elisabetta behielt ihn zusammen mit einer Keksdose, in der sie die Briefe aufbewahrte, die er ihr geschrieben, und zwei Immortellen, die er ihr Monate später aus Italien geschickt hatte. Zarte Blumen, die getrocknet ewig halten und die die Farbe des Hauses trugen, in dem er mit ihr so viele Tage und Nächte verbracht hatte. Einen dummen Romantiker nannte Elisabetta ihren Roberto, und dann lachte sie etwas zu laut, aber sie behielt die Immortellen, und manchmal sah sie sich die Blumen an, die zu Stroh geworden waren. »Die Liebe macht, was sie will«, sagte sie oft. In der Beziehung stand Elisabetta der Liebe in nichts nach.

All diese Dinge erzählte Stella Bornheim, mit dem sie sonst nur über Befunde und Therapien sprach.

Er unterbrach sie nicht.

Am Schluss sagte sie, dass sie gestern Besuch von zwei Polizisten bekommen hatte, und dann sagte sie einen Satz, den sie wie ein Ausrufezeichen hinter ihre lange Rede setzte. »Ich nehme Ihr Angebot an.«

Bornheim beugte sich über den Schreibtisch. »Ein halbes Jahr also?«, fragte er.

Sie nickte.

»Ab wann?«

»Wäre sofort okay?«

Er überlegte und blätterte dabei in seinem großen schwarzen Kalender, in dem er mit bunten Stiften Dienstzeiten markiert hatte. Für jeden seiner Ärzte benutzte er eine andere Farbe. Stella wusste, dass ihr Blau zugeteilt war. »Sie dürfen sich eine aussuchen«, hatte Bornheim bei ihrer Einstellung vor elf Jahren gesagt und ihr einen orangefarbenen und einen blauen Stift entgegengehalten. Jetzt sah sie viele blaue Felder in dem Kalender. Nacht- und Wochenend- und Feiertagsdienste hatte sie immer bereitwillig übernommen, wenn ihre Kollegen bei ihren Familien sein wollten. Sobald Stella bei ihren Patienten war, wurde das Leben unscheinbarer, und das war es, was sie wollte – ein unscheinbares Leben.

Bornheim sah auf. »Ich wundere mich, dass Sie nicht schon längst zusammengeklappt sind, Stella.«

Er tat das manchmal, seine Mitarbeiter mit dem Vornamen ansprechen. Bei jemand anderem wäre sie deswegen verärgert gewesen, aber ihm nahm sie es nicht übel. Es hatte nichts Herablassendes, es war seine Art, Nähe zu zeigen.

»Na ja«, entgegnete sie, »ich bin gern Ärztin, ich …«

»Sie sind sogar eine sehr gute Ärztin«, unterbrach er sie. »Aber Sie arbeiten, als ob Sie sich betäuben wollten. Niemand hier in der Abteilung macht freiwillig so viele Dienste wie Sie.«

Sie holte Luft, doch sie sagte nichts.

»Es geht mich im Grunde ja auch nichts an«, fuhr er fort. »Nur eben, da haben Sie das erste Mal, seit wir uns kennen, von sich gesprochen. Und wir kennen uns immerhin schon einige Jahre.«

Sie sah auf ihre Hände, die Nägel waren kurz geschnitten, die Haut war von den Desinfektionsmitteln trocken und leicht gerötet. Er hatte recht. Sie hielt sich unter Verschluss, noch nicht mal sich selbst verriet sie irgendetwas. Die Station im Krankenhaus war zu einem Schutzraum geworden, mit dicken Türen nach außen. Der weiße Kittel wehrte Fragen ab, die sie nicht zuließ. Nicht mehr zuließ seit jenem Tag vor über zwanzig Jahren, als sie in München angekommen war und sich zum Medizinstudium immatrikuliert hatte. Nur Elisabetta hatte ab und an die Tür geklopft. Stella hatte dann Ausflüchte gesucht – und immer welche gefunden.

Nun rieb sie ihre rauhen Hände aneinander. Und für einen Moment sah sie dicke Seile, die eine Schaukel, und Hände, die diese Seile hielten. Als sie wieder hochschaute, landete sie direkt in Bornheims Blick.

»Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?«, fragte er.

Sie ging im Kopf ein paar Namen durch. Keine Freunde, eher Bekannte. Menschen, mit denen man sich alle paar Wochen mal auf einen Wein nach Dienstschluss verabredete.

Sie schüttelte den Kopf.

Er räusperte sich. »Das halbe Jahr bekommen Sie. Sofort. Ich will Sie hier ab heute nicht mehr sehen.« Er schrieb ein paar Zahlen auf einen Block, riss den Zettel ab und reichte ihn über den Schreibtisch. »Da ist meine private Telefonnummer. Rufen Sie mich an, wenn Sie was brauchen. Vielleicht brauchen Sie auch einfach nur mal ein warmes Abendessen. Meine Frau kocht gut.«

»Danke.« Sie steckte den Zettel in die Tasche ihrer Jeans und stand auf.

Er erhob sich ebenfalls und ging vor ihr zur Tür. »Wo hat Ihre Tante eigentlich gelebt?«, fragte er.

»In Schleswig-Holstein, nicht weit von Kiel.«

»Ach, aus Kiel kommen Sie? Da habe ich studiert.«

»Das hab ich auch mal.« Der Satz war einfach so aus ihr herausgekommen, unbedacht und unkontrolliert. Nun stand er da und ließ sich nicht mehr zurückholen.

Bornheim sah sie überrascht an. »Sie haben doch hier in München Ihren Abschluss gemacht?«

»Ja, ja, stimmt schon, aber davor …« Sie unterbrach sich. »Ist eine alte Geschichte.« Jetzt hatte sie es eilig wegzukommen.

Draußen auf dem Flur ging sie schnell zum Aufzug und drückte den Knopf. Und während sie oben die Anzeige mit den Leuchtzahlen verfolgte, die angaben, in welchem Stockwerk sich der Lift gerade befand, trat sie ungeduldig von einem Bein aufs andere. Vielleicht hätte sie doch die Treppe nehmen sollen, aber sie mochte keine Treppen. Sie hatte immer Angst zu fallen.

Im Fahrstuhl lehnte sie sich gegen die Wand und atmete auf, als sich die Türen schlossen. Sie war allein und blieb es auch bis zum Erdgeschoss, Gott sei Dank. Sie wollte niemandem mehr begegnen, keine Erklärungen mehr abgeben, keine Fragen mehr beantworten. Sie wollte nur noch raus aus diesem Gebäude.

Eine alte Geschichte …

Als Stella auf dem Parkplatz ihr Auto aufsperrte, sah sie auf zum Himmel. Das zweite Mal an diesem Tag. Ein Junihimmel, der nun ein paar blaue Flecken zwischen die grauen Wolken getupft hatte. Es regnete nicht mehr. Trotzdem war ihr kalt.

 

Jetzt ist sie zu früh gekommen. An der Kapelle, hatte man ihr gesagt, werde sie abgeholt. Um halb zwölf.

Es ist kurz nach elf. Gerade hat Stella von Ferne eine Kirchturmuhr gehört. Sie hat die Schläge mitgezählt. Das ist ihr zur Angewohnheit geworden. Sobald eine Kirche in der Nähe ist, unterwirft sie sich deren fünfzehnminütigem Takt. Ein Schlag. Zwei Schläge, drei, vier und schließlich die vollen Stunden. Als bekäme die Zeit, ihre Zeit, dadurch ein Gerüst. Sie kann nicht mehr sein ohne feste Tagesabläufe. Wann ist das losgegangen?, fragt sie sich jetzt, da der Zeiger ihrer inneren Uhr gerade zehn nach elf ansteuert. Wann hat sie begonnen, nichts mehr dem Zufall zu überlassen? Wann hat sich die Leichtigkeit davongemacht, um ihr das Gewicht angeblicher Verpflichtungen zu hinterlassen? Vor die Antwort schiebt sich eine Nebelwand. Vielleicht ist es auch nur das Nieselwetter, das an diesem Tag Anfang Juli über dem Dorffriedhof liegt.

Stella hat viel erledigt in den Wochen, die hinter ihr liegen. Irgendwann ist sie dazu übergegangen, sich morgens Listen zu machen und die dann Punkt für Punkt abzuhaken. Sie hat sich an Elisabettas Wunsch erinnert. Keine Trauerfeier. Keine Kränze. Kein Tamtam. Stella schrieb den Freunden ihrer Tante eine Karte und bat sie, ganz für sich von Elisabetta Abschied zu nehmen. Auch Roberto schrieb sie.

Sie setzte ihre Münchener Wohnung ins Internet und bot sie für sechs Monate zur Untermiete an. Binnen zwei Tagen fand sie eine Frau, die bei ihr einziehen wollte. Ärztin wie sie. Eine, die sich von ihrem Mann getrennt hatte und nun die Stadt wechselte. Stella verbrachte einen Abend mit ihr, aber sie war froh, als sie sich wieder verabschieden konnte. Sie ertrug sie nicht, die Vertraulichkeiten dieser Frau.

An einem Donnerstag um sieben Uhr morgens warf sie ein paar Taschen und einen Koffer in ihr Auto und fuhr los. Auf der Autobahn geriet sie in zwei Staus. Einen Unfall sah sie auch. Alles ganz normal, dachte sie, doch noch während sie das dachte, sagte ihr etwas in ihrem Inneren, dass sie gerade im Begriff war, der Normalität davonzufahren.

Sie übernachtete in einem kleinen Hotel in der Nähe von Kiel. Eines dieser schmucklosen protestantischen Häuser aus rotem Klinker, in deren Gärten sich keine Kletterrosen verirrten. Kletterrosen haben den Drang, auszutreiben und die Dinge für sich einzunehmen. Hier waren Büsche und Hecken akkurat gestutzt, ein paar Nadelbäumchen standen stramm. Das Bett, in das Stella nach über zehn Stunden Fahrt fiel, war mit weißen gestärkten Laken bezogen. In der Nachttischschublade lag eine Bibel, auf einem Tisch mit Spitzendeckchen stand ein Hibiskus, der keine Blüten mehr trug, aber dessen Blätter klebrig waren von Läusen, die alles wegfraßen, was leben und blühen wollte. Es roch nach Mottenkugeln und Bohnerwachs.

Irgendwann gegen drei Uhr morgens stand Stella auf, ging zum Fenster und schob die Gardinen beiseite, deren Falten unten mit durchsichtigen Stecknadeln zusammengehalten wurden. Hinter ein paar Wolken kroch ein träger, bereits ziemlich runder Mond hervor. Einige Sterne hatten sich ebenfalls eingefunden, als wollten sie den dicken Kerl eskortieren. Nach kurzem Gastspiel schoben sich erneut Wolken davor.

Stella horchte in die Nacht. Irgendwo da draußen bellte ein Hund. Ein tiefes, wütendes Bellen, das in ein Jaulen überging, dann war es still. So still, dass sie sich fast wünschte, das Bellen würde wieder einsetzen.

Eine gute halbe Stunde sah sie aus dem Fenster in den nunmehr dunklen Himmel und versuchte die Gedanken, die hochkommen wollten, zu bündeln und in Bahnen zu lenken, aber sie ließen sich nicht einfangen; sie schlugen Haken wie Hasen, die spürten, dass man Jagd auf sie machte.

Um vier Uhr gab Stella, die sonst so nüchtern analysierte und für jedes Problem anderer sofort eine Lösung parat hatte, auf und holte ein Fläschchen aus ihrer Handtasche. Sie schraubte die Verschlusskappe ab und sah sich suchend um, aber in diesem Zimmer gab es nichts – keine Tasse, kein Glas, keinen Löffel. Also streckte sie die Zunge raus und träufelte die bittere Lösung darauf. Acht, neun, zehn, elf Tropfen … würde das genügen? Sie gab noch einen zwölften dazu, hoffend, dass eintrat, was immer eintrat: Der schwarze Vorhang würde fallen und sie in eine Dunkelheit mitnehmen, die alles ausblendete, was den Schlaf boykottierte. Auf Träume würde sie vergeblich warten, aber Träume hatten den Platz in ihrem Leben sowieso schon geräumt. Vor langer Zeit hatten sie sich davongemacht und keinen Absender hinterlassen. Sie waren einfach unbekannt verzogen, und Stella hatte auch nie wieder nach ihnen gesucht.

Am Morgen wurde sie vom Geräusch der Wasserspülung im Nebenzimmer geweckt. Sie hörte Schritte, die schnell auf und ab gingen, und dann hörte sie einen Mann und eine Frau streiten. Während Stella aufstand und duschte und etwas Make-up auf ihrem müden Gesicht verteilte, wurde der Wortwechsel nebenan heftiger. Irgendwann begann der Mann zu schreien, und Stella erstarrte. Das Brüllen des Fremden nahm den direkten Weg zu ihrem Herzen, das sie irgendwann in die Reißwolle ihrer Vernunft gepackt hatte. Sie fühlte ein Pochen und wartete auf das Klirren, das alles in ihr zum Zerspringen bringen würde. Fast fünf Minuten stand sie so da, unfähig, sich zu bewegen. Die Minuten kamen ihr vor wie Stunden, die einen Pakt mit der Ewigkeit geschlossen hatten. Als sie schließlich auf ihre Hand blickte, sah sie, dass der Lippenstift, den sie die ganze Zeit über festgehalten hatte, kaputt war. Sie hatte ihn zerdrückt. Ihre Finger waren rot verschmiert, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Stella, sie würden bluten. Dann drehte sie energisch den Wasserhahn auf, presste Seife aus dem Spender und wusch sich die Hände.

Als sie später in den Frühstücksraum ging, hielt sie nach dem Paar Ausschau, aber da war niemand. Da waren nur etliche eingedeckte Tische, die auf Gäste warteten. Auf jedem Tisch stand ein kleiner Abfalleimer aus Plastik – eine stumme Aufforderung, anfallenden Müll gleich zu entsorgen.

Ein junges Mädchen in einer weißen Schürze fragte, ob sie Tee oder Kaffee wünsche. Stella bestellte Kaffee und heiße Milch. Den Sonderwunsch quittierte das Mädchen mit leichtem Stirnrunzeln und einem Blick auf die Kondensmilch, die in Aludöschen zum Aufreißen neben Zuckertütchen auf dem Tisch standen. Stella zog die Augenbrauen hoch, und sie bekam ihre Milch in einem weißen Porzellankännchen. Sie trank den Filterkaffee, der dünn, aber wenigstens heiß war. Den Korb mit einem verschrumpelten Brötchen und einer eingeschweißten Scheibe Schwarzbrot rührte sie nicht an. Wann hatte sie das letzte Mal richtig Hunger gehabt? Es war zu lange her, um sich daran zu erinnern.

 

Der Friedhofsdiener kommt pünktlich, mit dem zweiten Schlag der Kirchturmuhr. Obwohl sie den Mann erwartet hat, sieht Stella ihn erschrocken an, als er plötzlich vor ihr steht, mit den Händen die Urne umfassend, über die er ein schwarzes Tuch gebreitet hat. In das Tuch ist ein silbernes Kreuz eingestickt. Elisabetta mochte keine Kreuze, sie hatte einen Widerwillen gegen das Martyrium, das damit verbunden war. Jesus sei zu Tode gefoltert worden, sagte sie immer, und wir würden dieses Symbol des Leidens anbeten. Sie mochte Kirchen nur aus einem einzigen Grund – weil man darin seine Ruhe hatte vor dem Lärm dieser Welt.

Stella holt Luft, um zu protestieren, doch dann sieht sie die Augen des jungen Mannes, die sie freundlich und mitfühlend anschauen, und behutsam zieht sie das Tuch herunter. Ein schwarzes Gefäß kommt zum Vorschein mit einem silbernen Deckel, auf den Elisabettas Name eingraviert ist. Nur der Name, nicht mehr. Kein Geburtsdatum, kein Sterbedatum. »Unsere Reise ist nicht zu Ende, wenn wir diese Welt verlassen«, erklärte ihre Tante damals, als Stellas Katze Berta eines Morgens das Miauen und Schnurren eingestellt und Stella in Tränen aufgelöst zurückgelassen hatte. Alle Lebewesen würden nur aus ihrem Körper aussteigen wie aus einem Auto, dessen Motor nicht mehr funktioniere, sagte Elisabetta. Sie würden sich eben ein bisschen umsehen und ein Stück zu Fuß gehen, um irgendwann vielleicht in ein neues Auto zu steigen. Das hatte Stella eingeleuchtet, und abends vor dem Einschlafen stellte sie sich vor, wie Berta in einem Porsche davonfuhr, und das tröstete sie. Warum sollte sie daher jetzt etwas begrenzen, das Elisabetta für grenzenlos gehalten hatte? Sie entschied sich gegen das Von-bis, das auf den Friedhöfen üblich war. Das sei ungewöhnlich, mailte ihr das örtliche Bestattungsinstitut. Ihre Tante sei auch eine ungewöhnliche Frau gewesen, mailte sie zurück.

»Wollen Sie die Urne selbst tragen?« Der Mann sieht Stella fragend an.

Sie nickt und nimmt das schmale Gefäß entgegen. Es ist leicht. Leichter, als sie gedacht hat. Sie umfasst es mit beiden Händen und drückt es gegen ihre Brust. Und dann folgt sie dem jungen Friedhofsdiener zu dem Platz, der für das Grab vorgesehen ist. Die zwei passen ihre Schritte einander an, sie haben es nicht eilig. Sie wechseln kein Wort miteinander. Nur einmal lächeln sie, als ein Eichhörnchen vor ihnen über den Weg huscht, kurz innehält, den Kopf einige Male suchend hin und her wirft und rasch den nächsten Baum ansteuert.

Sie erreichen eine Wiese mit Wildblumen und Gräbern. An einem freien Platz liegt ein Spaten. Der Mann bückt sich, greift danach und beginnt mit seiner Arbeit. Er steckt ein kleines, viereckiges Loch ab und sticht den Spaten hinein. Es knirscht, weil er beim Graben auf ein paar Steine stößt. Er schichtet die Steine sorgfältig neben dem kleinen frischen Erdhügel aufeinander. Da ist keine Hast in seinen Bewegungen, er lässt sich Zeit.

Stella steht neben ihm, die Urne noch immer fest im Arm. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, als könnte sie so ihr Gleichgewicht wiederfinden.

Als er fertig ist, wischt er sich mit dem Handrücken über die Stirn. Aus der Hosentasche holt er ein schwarzes Netz, das er ein wenig ausschüttelt. Dann fragt er Stella, ob sie so weit ist.

Als Antwort hält sie ihm die Urne hin und hilft ihm, das Netz darüberzuziehen. Sie muss plötzlich daran denken, wie Elisabetta ihr früher oft half, ihre Kniestrümpfe anzuziehen. Stella setzte sich auf den Küchenhocker mit dem weinroten Kunstlederbezug und streckte der Tante ihr Bein entgegen. Jetzt verschwindet das schwarze Gefäß in dem schwarzen Netzstrumpf.

Der Mann lässt alles langsam in das ausgehobene Loch gleiten. Als die Urne unten ankommt, gibt es einen leisen, dumpfen Ton.

Stella bückt sich, nimmt eine Handvoll Erde und lässt sie durch ihre Finger auf den silbernen Deckel mit dem eingravierten Namen rieseln. Als sie sich wieder aufrichtet, taumelt sie. Der Mann greift nach ihrem Arm und hält sie einen Moment fest. Dann greift er nach dem Spaten und schaufelt das Grab zu. Das Häufchen mit den Steinen nimmt er ganz zum Schluss auf die Schaufel und trägt es zu einem nahe gelegenen Baum.

Als er zurückkommt, streckt er Stella die Hand entgegen. Es ist eine kleine, kühle Hand.

»Ich danke Ihnen«, sagt sie leise.

Sie sieht ihm nach, wie er mit dem Spaten unter dem Arm den Weg zurückläuft, den sie gekommen sind. Sein Schritt ist jetzt schneller.

Als der Mann hinter einer Kurve verschwindet, löst Stella ihren Blick. Er dreht ein paar Runden im Himmel, fängt sich schließlich in den Bäumen und fällt zurück auf die Erde.

Keine Kränze auf meinem Grab, hatte Elisabetta gesagt. Stella hat sich daran gehalten. Bald würden auch hier wieder Wiesenblumen wachsen. Klee und Margeriten. Und Löwenzahn, der irgendwann zu Pusteblumen wird, von denen Stella und Elisabetta in vielen Sommern viele in den Wind geblasen hatten.

 

Es nieselt noch immer, als sie sich umdreht und den Rückweg antritt. Die Kirchturmuhr schlägt, aber sie zählt die Schläge nicht mehr.

[home]

3

Es wirkt verlassen, das alte Haus. Als würde es nie wieder jemanden erwarten. Seine gelbe Farbe strahlt nicht mehr, sie ist verblasst, an einigen Stellen ist die Feuchtigkeit in die Mauern gekrochen und hat dort dunkle Flecken verteilt. Die Fenster sind lange nicht geputzt worden, sie sehen blind in den Garten, in dem das Unkraut durch einst liebevoll gepflegte Blumenbeete kriecht. Frauenmantel, Storchenschnabel und Rittersporn haben es schwer, sich zu behaupten, nur ein paar Zitronenfalter erweisen ihnen die Ehre. Das Gras steht hoch. Die Obstbäume tragen junges Grün; ihre Blüte ist vorbei, hier und da setzen sie bereits kleine Früchte an. Die Heckenrosen zeigen wilde Triebe und umarmen das Grundstück von allen Seiten.

Auf der Veranda steht ein Korbstuhl mit zwei bunten Kissen. Ein Vogel hat sein Geschäft dort verrichtet, weitere Häufchen und ein paar Federn liegen auf dem schmutzigen Boden. Ein runder Holztisch und vier Klappstühle besetzen den anderen Teil der Veranda. Irgendwann ist ein Topf mit Margeriten darauf abgestellt und vergessen worden.

Stella lässt den großen schweren Koffer, den sie in der Hand hält, ins feuchte Gras fallen. Dann setzt sie sich darauf. Sie spürt, dass etwas in ihr nicht mehr weiterwill. Hilflos irren ihre Gedanken durch den Garten und prallen an der vertrauten Fassade des Hauses ab, das ihr auf einmal merkwürdig fremd und abweisend vorkommt.

Sie kneift die Augen zusammen – und für einen Moment sieht sie Elisabetta auf der Veranda stehen und winken, sie riecht frisch gebackenen Kuchen, und sie hört das Lachen, das hier zu Hause gewesen ist. Es ist ein Moment, aus dem sie nie mehr hochtauchen will, weil sie fühlt, wie warm diese ferne Vergangenheit ist. Im Unterschied zur Gegenwart, in der nur die Luft warm ist.

 

Schließlich greift Stella in die Tasche ihrer Jacke und holt einen Schlüssel hervor. Sie hat ihn immer bei sich gehabt, diesen Zweitschlüssel fürs Haus. »Behalt ihn, falls mal was ist«, hatte Elisabetta oft gesagt.

Jetzt ist etwas. Jetzt ist Elisabetta nicht mehr da.

Stella steht auf und geht langsam auf das Haus zu. Den Koffer lässt sie im Gras stehen. Als sie den Schlüssel in die Tür steckt, klemmt er. Sie ruckelt ein wenig am Knauf, zieht ihn zu sich heran, dreht ihn hin und her, bis er nachgibt. Die Tür lässt sich nur langsam öffnen, weil Unmengen von Briefen und Zeitungen dahinter liegen. Der Postbote hat einfach alles durch den Schlitz geschoben. Vielleicht ist ihm sogar aufgefallen, dass niemand zu Hause war. Die Frau wird verreist sein und vergessen haben, einen Postlagerantrag zu stellen. So sind sie eben, die alten Leute. Etwas in der Art wird er sich gedacht haben und wieder auf sein Fahrrad gestiegen sein.

Stella bückt sich, hebt alles auf und trägt den Stapel Papier zu der blau lackierten Bank, die unter der Garderobe im Flur steht. Der Anrufbeantworter auf dem Schränkchen daneben zeigt elf Nachrichten an. Nachrichten für eine Tote. Stella beschließt, das Band später abzuhören.

In der Küche erschrickt sie vor dem, was sie sieht. Teekanne und Tasse stehen auf dem Tisch, ein Holzbrettchen liegt da und ein Messer, an dem Butter- und Marmeladereste kleben, dazu Krümel, die von einem Brötchen stammen, das vor Wochen frisch vom Bäcker kam. Die Dose mit dem braunen Kandiszucker steht geöffnet da, eine Stubenfliege balanciert auf dem Rand.

Stella greift nach einem Glas neben dem Spülbecken, dreht den Wasserhahn auf und füllt das Glas bis zum Rand. Sie trinkt hastig.

Der Unfall passierte gegen fünf Uhr in der Früh, das haben ihr die beiden Polizisten damals gesagt. Auf der Straße zum nächsten Dorf, nicht weit von hier. Elisabetta frühstückte, wie jeden Morgen, nur sehr viel eher. Dann ließ sie alles stehen und liegen. Normalerweise räumte sie auf, bevor sie das Haus verließ. Normalerweise … Wusste Stella überhaupt noch, was normal war im Leben ihrer Tante?

Sie stellt das Glas ab und wendet sich zum Tisch. Ohne weiter nachzudenken, räumt sie das Geschirr zusammen und trägt es zur Spülmaschine. Als sie die Klappe öffnet, schlägt ihr der Geruch von Essensresten und Schimmel entgegen. Sie weicht zurück und reißt den Schrank unter dem Waschbecken auf. Da sind Schwämme und Lappen und Bürsten und Flaschen mit unterschiedlichsten Flüssigkeiten – und eine Tüte mit Resten von weißem Pulver darin. Stella schüttet alles in die Spülmaschine, schlägt die Tür zu und startet mit einer Drehung des Knopfes das Programm. Das Geräusch von gurgelndem Wasser erfüllt die Küche, dann setzt ein Rauschen ein. Eine Art Grundrauschen, das sie ablenkt und augenblicklich beruhigt.

Sie krempelt die Ärmel ihrer Bluse hoch. Ja, sie wird aufräumen. Aufräumen und putzen. Alle hartnäckigen Gedanken wird sie wegwischen. Einstweilen zumindest. Mittelfristig wären sie wieder da, um Fragen zu stellen. Die Antworten lässt Stella vorerst durchs Fenster ins Freie. Sie mag sich keine Antworten mehr geben, die das Licht scheuen.

 

Den restlichen Tag verbringt sie damit, sich das Erdgeschoss vorzunehmen. Sie fegt den Schmutz von der Veranda, die Kissenbezüge mit dem Vogeldreck wirft sie weg. Sie braucht viele Eimer Wasser, um Fenster und Böden zu schrubben. Die Polster und Teppichläufer trägt sie aus dem Wohnzimmer hinaus, um sie vor der Tür auszuklopfen. Sie staubt das Tischchen vor dem Sofa ab und das Klavier, auf dem Elisabetta vor dem Schlafengehen oft spielte. Ein paar Notenblätter liegen noch herum. Chopin, Mozart, Schubert und Jazz-Standards. Letzteres erstaunt sie; sie hat nicht gewusst, dass ihre Tante Jazz mochte.

Das obere Stockwerk hebt sie sich noch auf. Elisabettas Schlafzimmer. Und ihr altes Zimmer, in dem sich so gut wie nichts verändert hat, seitdem sie damals ausgezogen ist. Bei ihren Weihnachtsbesuchen bezog sie immer nur das etwas zu enge Bett und ignorierte die alten Postkarten an der Wand. Meist fuhr sie nach zwei, drei Tagen wieder; da blieb keine Zeit für Vergangenheit, allenfalls für ein bisschen Gegenwart, die Elisabetta mit Stollen und Punsch behaglich zu machen versuchte. Vor dem Schlafengehen strich sie der Nichte manchmal über die Wangen. »Du bist schmal geworden«, sagte sie dann, und Stella wusste, dass sie sich Sorgen machte. Die Sorgen ließ sie bei der Tante zurück, wenn sie spätestens nach dem zweiten Feiertag ihre Sachen packte, weil sie Silvester wieder Notdienst hatte.

 

Nachdem sie Eimer und Schrubber in der Besenkammer hinter der Küche abgestellt hat, fährt sie sich mit der Hand übers Gesicht. Es fühlt sich staubig und verschwitzt an. Sie sieht durch das Fenster, das nun frisch geputzt ist, in den Garten, wo ihr Koffer noch immer im Gras steht.

Auf einmal weiß sie, was sie will. Sie knöpft die Bluse auf, zieht Schuhe und Jeans aus und lässt alles auf den Küchenfliesen zurück.

Der Rasen ist feucht vom Regen, sie spürt die nassen Grashalme an ihren nackten Beinen, und plötzlich hört sie Jungenstimmen, eine ganz helle und eine tiefere, die bereits im Stimmbruch ist. Sie sieht drei Beinpaare in einer Wiese nebeneinanderliegen, braun gebrannt, Schorf an den Knien. Sie sieht sechs noch nicht ausgewachsene Füße, die umeinander buhlen, sich stupsen und schubsen, während die Gänseblümchen zuschauen und einige bei der Rangelei einknicken. Sie sieht, wie Zehen Zärtlichkeiten versuchen und sich dabei sehr ungeschickt anstellen. Es liegen Keuchen und Kichern in der Luft und der Glaube, dass das Leben einen immer wieder in Sommerwiesen werfen wird. Warum sollten sie auch ausgehen, diese Momente, da sie doch so kinderleicht zu haben sind?

Stella bleibt stehen. Sie ist am Ufer des Sees angekommen. Es ist ein kleiner See, an einigen Stellen dicht mit Schilf bewachsen. Er liegt ganz ruhig da, da ist nicht die Spur eines Kräuselns an der Oberfläche. Der Holzsteg wirkt, als hätte ihn lange niemand mehr betreten; ein paar Bretter fehlen. Sie weiß, dass das Wasser am Ende des Stegs tief genug für einen Kopfsprung ist. Sie weiß nicht mehr, wann sie das letzte Mal Anlauf genommen hat, um zu springen. Doch etwas in ihr scheint noch immer zu wissen, wie es geht. Als sie ins Wasser eintaucht, gleitet ihr Körper binnen Bruchteilen von Sekunden in die Tiefe, bis sie den Grund des Sees sieht und dann mit zwei kräftigen Armbewegungen wieder nach oben schwimmt. Sie prustet und schnappt nach Luft, legt sich schließlich auf den Rücken und lässt sich treiben. Der Himmel über ihr trägt jetzt strahlendes Blau, die Regenwolken sind verschwunden, und die Sonne tut alles, um diesem nieseligen Tag noch ein warmes Finale zu bereiten.

Etwa acht Uhr am Abend, schätzt sie. Es wird hier oben im Norden im Hochsommer viel später dunkel, beginnt erst gegen halb elf zu dämmern. Die Tage wollen kein Ende finden, und es erstaunt Stella, dass sie das einfach vergessen konnte. Und während sie ans Ufer krault, streift sie so ein unbestimmtes Gefühl, dass sie vieles vergessen hat.

Der See schlägt Wellen. Ich schlage Wellen, denkt sie und lächelt.

 

Als sie zum Haus zurückläuft, stutzt sie. Da ist jemand auf der Veranda. Ein Mann liegt im Liegestuhl und sieht in den Garten. Stella verlangsamt ihren Schritt.

»Hallo?«, ruft sie. »Was wollen Sie?« Sie bleibt neben ihrem Koffer stehen, mit tropfenden Haaren, die Hände vor dem Körper verschränkt.

»Erkennst du mich denn nicht?« Der Mann steht auf. Er ist groß und stämmig und kahlköpfig. Mitte sechzig, schätzt sie.

Sie schüttelt den Kopf. Ein paar Tropfen fallen auf ihre Schultern.

»Ich bin’s, Stella. Jens. Jens Kreimann.«

Sie atmet erleichtert aus. »Ach, Jens, entschuldige, ich hab …«

Er kommt die Treppe herunter, ihr entgegen. »Ist ja auch lang her, Mädchen.«

Sie tritt einen Schritt zurück.

Er lacht, zieht im Laufen sein Hemd aus und wirft es ihr entgegen.

Sie fängt es auf und schlüpft schnell hinein. Es riecht nach Verbranntem. Feuer, das erloschen ist und Asche hinterlassen hat. »Danke«, murmelt sie.

Er ist bereits bei ihr und reicht ihr die Hand. Ein fester, warmer Händedruck, ganz anders als der von dem jungen Mann auf dem Friedhof heute Morgen.

»Ich habe dein Auto vor der Einfahrt gesehen. Münchener Kennzeichen, das konntest ja nur du sein. Das mit Elisabetta …«, er schaut auf den Boden, »… das ist furchtbar.«

Sie nickt und zieht das Hemd fester um sich.

»Dabei war sie so sicher auf dem Fahrrad«, fährt er fort, »trotz ihres Alters. Ich versteh einfach nicht, wie das passieren konnte.«

Sie sagt nichts. Nur ihre Schultern heben und senken sich.

Er greift nach dem Koffer. »Den tragen wir jetzt erst mal ins Haus. Bist wohl noch nicht lang hier.«

»Seit heute Mittag«, erwidert sie und läuft hinter ihm her.

Er schüttelt den Kopf.

»Ich habe das Haus geputzt«, sagt sie, als würde das erklären, warum ihr Koffer seit Stunden in der Wiese steht.

»Hab mir schon so was gedacht. Die Veranda sieht ja aus wie neu.«

Sie hält ihm die Tür auf. »Am besten, du stellst ihn dahin.« Sie deutet neben das Schränkchen mit dem Anrufbeantworter, der unverdrossen blinkt und seine elf Nachrichten loswerden will.

Jens lässt den Koffer fallen. »Hast du vor, länger hierzubleiben?«

»Ein halbes Jahr etwa.«

Er pfeift durch die Zähne. »Das hätte ihr gefallen.«

Sie fühlt, wie sie rot wird.

»Na ja, du hattest immer viel zu tun. So ein Job als Ärztin …«, hält Jens sofort dagegen. »Elisabetta hat oft erzählt von dir, und dann hat sie jedes Mal gesagt, wie fleißig du bist.«

Fleißig … Stella lässt das Wort ankommen in sich, um ihm dann eine Absage zu erteilen. Nein, das ist kein Fleiß gewesen, der sie all die Wochenend- und Nachtdienste hat übernehmen lassen, etwas anderes hat sie angetrieben. Etwas, das die Vergangenheit ins Vergessen geschickt und dabei ganze Arbeit geleistet hat.

»Kann ich dir was anbieten?«, fragt sie. »Einen Tee vielleicht?«

»Ein Schnaps wär mir lieber.«

»Ich weiß gar nicht, ob Elisabetta so was im Haus hat.«

»Doch, sie hat.« Er geht vor ihr in die Küche, öffnet den großen Vitrinenschrank mit dem alten, etwas abgeschlagenen sonnengelben Geschirr und holt eine Flasche und zwei Gläser heraus. »Grappa«, sagt er. »Sie mochte Grappa.«

»Das wusste ich gar nicht«, erwidert Stella, bückt sich, um Jeans und Bluse aufzuheben, die noch immer am Boden liegen, und setzt sich an den Tisch.

»Na ja, ihre Liebe zu Italien hat sie sich bewahrt.« Er schenkt die Gläser randvoll ein, nickt ihr zu und nimmt einen großen Schluck.

Sie nippt nur. Der Alkohol ist scharf und brennt in der Kehle. »Ich habe Roberto geschrieben«, sagt sie dann.

Jens lehnt sich im Stuhl zurück, die Lehne knarzt. »Er war mal hier, wusstest du das?«

Sie runzelt die Stirn. »Wann? Wann war er hier?«

»Letztes Jahr im Oktober. Kurz nachdem sie aus der Klinik entlassen wurde.«

»Was sagst du da? Sie war in der Klinik?« Ihre rechte Hand umklammert die Armlehne des Stuhls.

»Sie hatte wieder einen ihrer Zustände, du weißt schon«, erklärt er.

Ja, sie weiß. Sie weiß nur zu gut, was es hieß, wenn Elisabetta das hatte, was Jens Zustände nennt. »Aber sie hat doch ihre Medikamente genommen.« Ihre Stimme flackert. »Seit Jahren ist sie eingestellt gewesen. Sie wusste doch, wenn sie das Lithium regelmäßig nimmt, kann nichts passieren.«

Er beugt sich vor. »Sie war eine alte Frau, Stella. Und alte Frauen werden nun mal ein bisschen vergesslich. Sie schien zwar körperlich noch ganz fit, aber das Gemüt machte ihr zu schaffen. Das Haus, der Garten, das wurde ihr alles zu viel. Sie war müde. Ich hab ihr viel abgenommen, die Bäume geschnitten und den Rasen gemäht, hier und da was repariert. Seitdem meine Frau gestorben ist, bin ich oft abends hier gewesen. Es tat ihr gut, ein bisschen Gesellschaft zu haben.«

Sie sieht ihn fassungslos an. »Wann ist Elsa gestorben?«

»Vor eineinhalb Jahren. Brustkrebs.«

»Oh, mein Gott …Konnte man denn nicht …?«

»Nein, da war nichts mehr zu machen.«

»Elisabetta hat nie etwas gesagt. Nichts hat sie gesagt. Gar nichts.«

»Sie wollte dich wohl nicht beunruhigen. Du hättest genug um die Ohren, meinte sie immer.«

»Es tut mir so leid, Jens, das mit Elsa.« Sie greift über den Tisch nach seinen Händen.

»Ach, das Leben geht weiter. Und ich hab ja noch die Kinder.«

»Was machen die beiden?«

»Birgit ist Lehrerin geworden, in Kiel. Und Gunnar hilft mir in der Gärtnerei.« Er gießt sich einen zweiten Schnaps ein und sieht Stella fragend an. Ihr Glas ist noch immer voll. Sie schüttelt den Kopf. »Ich vertrag das Zeug nicht.«

»Gewohnheitssache.«

»Sag, Jens, wie lange war Elisabetta in der Klinik?«

»Etwa drei Wochen.«

Sie überlegt. Irgendwann hatte ihre Tante gesagt, sie würde für einige Zeit nach Dänemark rauffahren, eine alte Freundin besuchen. Das muss letztes Jahr im Herbst gewesen sein. Stattdessen hatte sie ihre Sachen gepackt, ein Taxi gerufen und sich in die Psychiatrie fahren lassen. Sie hatte gelogen, um Stella zu schonen. »Warum hast du mich nicht angerufen?«, fragt sie leise.

»Sie hat mich inständig gebeten, das nicht zu tun. Aber sie gab mir Robertos Nummer. Vier Wochen später stand er hier vor ihrer Tür.«

»Und wie lange ist er geblieben?«

»Bis Anfang Dezember. Elisabetta war wieder die Alte. Sie nahm wieder ihre Tabletten und lachte wieder. Sie hat sogar gearbeitet. Draußen im Schuppen stehen einige neue Skulpturen. Ziemlich verrücktes Zeug, wenn du mich fragst, aber sie war voll bei der Sache. Roberto saß dabei und sah ihr zu. Abends spielte er Klavier, und sie sang. Die beiden waren wie ein altes Liebespaar, dem man ein paar Jahre geklaut hat und das sich nun um nichts mehr schert. Sie machten sogar Pläne, für diesen Sommer …«

»Und seine Frau? Und die Kinder?«

»Ach, die Kinder sind irgendwo in Rom oder so. Und die Frau hat ihn eh nie besonders interessiert. Er ist nur bei ihr geblieben wegen der Familie. Das alte Lied, und irgendwann merkt man, dass man sein Leben versemmelt hat, aber dann hat man nicht mehr den Mumm, was zu verändern. Obwohl … Elisabetta und er, das hätte noch was werden können. Ich meine, wirklich was werden …«

Stella schiebt ihr Glas auf dem Tisch hin und her.

»Wann warst du zum letzten Mal hier?« Er sieht sie fragend an.

»Weihnachten, für drei Tage. Sie hat Stollen gebacken und Vanillekipferl, und sie wirkte so … wie soll ich sagen? Ausgeglichen und, ja, glücklich.«

»In diesen Momenten war sie wohl auch glücklich, Stella. Wenn eine Frau ein Talent dazu hatte, dann deine Tante. Sie liebte das Licht.« Er macht eine Pause. »Vielleicht weil sie die Schwärze so gut kannte«, sagt er schließlich.