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Beth Morrey

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Beschreibung

Lady Carmichael findet das Glück Ein bezaubernder, lebensbejahender Roman über Einsamkeit im Alter und die besondere Kraft von Frauen-Freundschaften Mit 79 Jahren blickt Missy Carmichael auf ein erfülltes Leben zurück, sie und ihr geliebter Mann Leo haben zwei wundervolle Kinder großgezogen. Doch nun ist Leo fort, ihr Sohn lebt mit seiner Familie im fernen Australien und zu ihrer Tochter hat Missy keinen Kontakt mehr. Tagein, tagaus sitzt sie allein in ihrem großen alten Haus in London, umgeben von Erinnerungen an schönere Zeiten. Bis ein Spaziergang im Park alles verändert, denn dort trifft die einsame alte Lady auf die alleinerziehende Angela mit ihrem kleinen Sohn Otis und Angelas Freundin Sylvie. Ganz langsam entwickelt sich zwischen den drei Frauen eine zarte Freundschaft, die Missy Schritt für Schritt aus ihrem Schneckenhaus lockt. Sie beginnt auf Otis aufzupassen, sucht sich einen Job in der Bibliothek und nimmt sogar die Hundedame Bobby bei sich auf, obwohl Hunde doch eigentlich nur Dreck und Arbeit machen … Kann Missy mit der Hilfe ihrer Freundinnen auch mit der Vergangenheit Frieden schließen? Mit »Sterne bei Tag« ist der britischen Autorin Beth Morrey ein bewegender, einfühlsamer Roman über die Kraft der Freundschaft gelungen. Missy Carmichael ist eine großartige Protagonistin, liebenswert gerade wegen ihrer Widersprüche, die wir alle von uns selbst kennen.

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Beth Morrey

Sterne bei Tag

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob

Knaur e-books

Über dieses Buch

Mit 79 Jahren blickt Missy Carmichael auf ein erfülltes Leben zurück, sie und ihr geliebter Mann Leo haben zwei wundervolle Kinder großgezogen. Doch nun ist Leo fort, ihr Sohn lebt mit seiner Familie im fernen Australien und zu ihrer Tochter hat Missy keinen Kontakt mehr. Tagein, tagaus sitzt sie allein in ihrem großen alten Haus in London, umgeben von Erinnerungen an schönere Zeiten.

Bis ein Spaziergang im Park alles verändert, denn dort trifft die einsame alte Lady auf die alleinerziehende Angela mit ihrem kleinen Sohn Otis und Angelas Freundin Sylvie. Ganz langsam entwickelt sich zwischen den drei Frauen eine zarte Freundschaft, die Missy Schritt für Schritt aus ihrem Schneckenhaus lockt. Sie beginnt auf Otis aufzupassen, sucht sich einen Job in der Bibliothek und nimmt sogar die Hundedame Bobby bei sich auf, obwohl Hunde doch eigentlich nur Dreck und Arbeit machen … Kann Missy mit der Hilfe ihrer Freundinnen auch mit der Vergangenheit Frieden schließen?

Mit »Sterne bei Tag« ist der britischen Autorin Beth Morrey ein bewegender, einfühlsamer Roman über die Kraft der Freundschaft gelungen. Missy Carmichael ist eine großartige Protagonistin, liebenswert gerade wegen ihrer Widersprüche, die wir alle von uns selbst kennen.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoTeil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Teil 2Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Teil 3Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Teil 4Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49DanksagungQuellenangaben
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Für Mum, Dad und Ben – meinen ersten Oikos

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Jedes Herz singt ein Lied, unvollkommen, bis ein anderes Herz zurückflüstert.

Plato zugeschrieben

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Teil 1

Lass deine Angel nur hängen; wo du’s am wenigsten glaubst, sitzt im Strudel der Fisch …

Ovid

Kapitel 1

Es war kalt am Tag des Elektrofischens. So bitterkalt, dass ich fast nicht hingegangen wäre. Ich lag an dem Morgen im Bett, starrte seit Stunden die Wand an und hatte mich nie älter und apathischer gefühlt. Was brachte mich also am Ende doch noch dazu, mich aufzusetzen und meine schrumpeligen Füße in die neuen Schafsfellpantoffeln zu stecken? Vielleicht eine vage Neugier – man sollte sich an den letzten Rest wissbegierigen Verstand klammern, den man noch hat, sonst verliert man den am Ende auch noch.

Im Morgenmantel schlurfte ich in die Küche, kochte Tee und überprüfte meinen E-Mail-Account, um zu sehen, ob Alistair geschrieben hatte. Nun, mein Sohn war anscheinend zu sehr mit seinen Feldforschungen beschäftigt. Aber die Pantoffeln, die er mir zu Weihnachten geschenkt hatte, waren in der morgendlichen Kälte kuschelig warm und bequem. Meine Tochter Melanie hatte mir eine E-Mail geschrieben, aber nur, um mich auf eine Dokumentation aufmerksam zu machen, von der sie annahm, dass sie mir gefallen würde. Sie verwechselte dabei jedoch wie so oft den Geschmack ihres Vaters mit meinem. Ich aß eine trockene Scheibe Toast, dachte über mein letztes Gespräch mit Melanie nach, und heiße Scham überlief mich. Da ich das Gefühl lieber verdrängen wollte, las ich in einer Online-Zeitung und erfuhr, dass David Bowie gestorben ist.

In meinem Alter ist das Lesen von Todesanzeigen ein generationsbedingtes Risiko. Einer nach dem anderen verschwanden meine Altersgenossen von der Bildfläche, jede Anzeige war wie eine leere Kammer in meiner eigenen Revolvertrommel. Eine Weile versuchte ich, sie einfach zu ignorieren, als könnte man dem Tod dadurch von der Schippe springen, dass man ihn nicht beachtete. Aber Menschen starben weiterhin, andere Menschen schrieben darüber, und irgendein kranker innerer Zwang brachte mich dazu, mich auf dem Laufenden zu halten. Bowies Tod machte mir zu schaffen, obwohl ich seine Musik nie wirklich gemocht hatte. Aber ich erinnerte mich noch gut an sein Intro zu dem Zeichentrickfilm Der Schneemann, aber als wir ihn uns Weihnachten mit meinem Enkel angeschaut hatten, war das Intro ausgetauscht worden. Dennoch war meine einzige Erinnerung an Bowie, wie er mit traurigem Blick einen Schal in Händen hielt – ein Bild, das aus irgendeinem Grund zutiefst verstörend auf mich wirkte. Mein immer noch ungemachtes Bett lockte, doch dann hörte ich wie so oft Leos Stimme in meinem Kopf sagen: »Komm schon, reiß dich zusammen, Mrs Carmichael! Vorwärts, immer vorwärts!«

Und so zog ich mir im Schlafzimmer einen Wollrock und meine dickste Strumpfhose an und schnitt beim Anblick der unschönen blauen Venen eine Grimasse. Als ich nach unten ging, um meinen Mantel zu holen, knarrten meine Knochen mit den Treppenstufen im Duett. Ich kämpfte mit den Mantelknöpfen, setzte mich danach kurz hin, um zu verschnaufen, und dachte über den Zettel nach, den ich letzte Woche im Park gelesen hatte.

Mein nachweihnachtliches Stimmungstief war in diesem Jahr besonders schlimm und die wohlig warme Feiertagsatmosphäre wie weggeblasen, seit Alistair abgereist war – und mit ihm Arthur, mein wundervoller Enkel, der mittlerweile schon die Sprachmelodie der Australier übernommen hatte. Außerdem fiel es mir immer noch schwer, in den Park zu gehen, ohne von Erinnerungen an Leo überschwemmt zu werden. Er war ein überzeugter Anhänger von Gesundheitsspaziergängen gewesen, bei denen er stets über wichtigtuerische Jogger gescherzt und jovial über Radfahrer geschimpft hatte. Jeder Baum, jedes Wahrzeichen löste düstere Echos aus, trotzdem zog es mich immer wieder in den Park – die graue Dame von nebenan, die ziellos umhergeisterte. Früher hatten wir besonders gern eine bestimmte Eiche besucht – Leo mochte den knorrigen alten Baum, behauptete gar, es handle sich um eine Quercus-Version seiner selbst, die mit zunehmendem Alter ebenfalls immer knorriger wurde.

Ich hätte letzte Woche wahrscheinlich noch stundenlang dort herumgestanden, doch die Stimme eines Kindes, die ähnlich klang wie die von meinem Arthur, riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Ein Junge in seinem Alter zerrte seine Mutter ungeduldig am Ärmel. Sie überflog gerade eine Bekanntmachung, die an dem Geländer um den Teich angebracht war. Ich trat näher und tat so, als würde ich ebenfalls lesen.

»Mummmmmiiiiiiie!« Der Junge hatte lockige, rotblonde Haare und Kekskrümel in den Mundwinkeln, die förmlich darum bettelten, weggewischt zu werden. Kinder sind einfach wunderbar, makellos wie eine glänzende Rosskastanie, deren Schale gerade aufgegangen ist. Schade nur, dass aus ihnen oft so unangenehme Erwachsene werden.

»Mensch, Otis, jetzt warte doch mal«, sagte seine Mutter mit breitem irischem Akzent und schüttelte seine Hand ab. Sie hatte rot gefärbte Haare, und ich konnte sie auf den ersten Blick nicht leiden. Sie warf mir, der alten Schachtel, die sehnsüchtig ihren Sohn anstarrte, einen Seitenblick zu. Schnell tat ich wieder so, als würde ich den Aushang lesen.

»Was hältst du davon, Oat?«

Oat? Mein Gott, den Leuten heute war wirklich nichts peinlich.

»Sie betäuben die Fische! Mit Stromschlägen. Möchtest du zugucken?«

Die Parkaufseher mussten die Fische mit Strom außer Gefecht setzen, um sie in einen anderen Teich zu bringen, was man offenbar Elektrofischen nannte. Ich hatte noch nie davon gehört und fand es auch nicht allzu interessant, aber wenn ich dabei »Oat« wiedersah, würde die Beklemmung, die mir die Kehle zuschnürte, vielleicht nachlassen. Ich hätte zumindest etwas zu tun …

Seit jenem Nachmittag vor einer Woche hatte ich mich mindestens ein halbes Dutzend Mal umentschieden und darüber nachgegrübelt, ob ich hingehen sollte oder nicht. Am Ende hatte ich beschlossen, mir das Spektakel anzusehen, und sei es nur, damit ich Alistair etwas zu erzählen hatte. Mein Leben war mittlerweile so eingeschränkt, dass ich Angst hatte, er könnte mich für geistlos halten. Und ich las die Zeitung (einschließlich der Todesanzeigen) nur, damit ich wusste, wovon er sprach, wenn er zum Beispiel den Fehltritt eines Politikers erwähnte, und damit ich ihm berichten konnte, welche neuen Theaterstücke gerade im West End liefen. So hatte ich Ali zum Beispiel erzählt, die Turner-Ausstellung sei so beeindruckend gewesen, dass sie das zweimalige Umsteigen in einen anderen Bus bei strömendem Regen wert war.

Zuzusehen, wie ein paar Karpfen per Elektroschockbehandlung umgesiedelt wurden, war zwar keine besonders spektakuläre oder kulturell bedeutende Aktivität, aber es war immer noch besser als nichts. Und so machte ich mich in meinem besten Wintermantel auf den Weg, nachdem ich den Entwurf für die E-Mail, die ich nach meiner Rückkehr senden würde, schon geschrieben hatte. Vielleicht lief mir Otis ja tatsächlich wieder über den Weg, und wir könnten die Enten füttern und uns zusammen mit seiner Mutter anstellen, um einen Kaffee zu holen und … An dem Punkt ließ mich meine Vorstellungskraft im Stich, und ich wäre fast umgekehrt, aber dann wurden meine Beine in der Kälte steif, und die nächstgelegene Bank war die bei den Teichen.

Eine kleine Gruppe von Zuschauern hatte sich bereits um den betreffenden Teich versammelt. Jemand verteilte Croissants, und ich nahm eins an – nicht, weil ich hungrig war, sondern weil ich froh war, dass mich überhaupt jemand bemerkte. Der Geruch des Gebäcks erinnerte mich an eine Parisreise mit Leo, bei der wir am Ufer der Seine pain au chocolat gegessen hatten. Danach waren wir in eine Buchhandlung gegangen, wo er eine wackelige Treppe erklomm, während ich auf einem ramponierten Sofa saß, eine Katze streichelte und mir Blätterteigkrümel aus den Zähnen puhlte. Meine Finger rochen anschließend für den Rest des Tages nach Katze und Schokolade, weil ich mir nirgendwo die Hände waschen konnte. Tränen stiegen mir in die Augen. Leo und ich würden nie wieder nach Paris fahren, obwohl ich nicht mal besonders angenehme Erinnerungen an die Stadt hatte. Sie war mir schmutzig und wenig einladend vorgekommen, es gab kaum Grünflächen, und die Franzosen hatten Leo, obwohl er fließend Französisch sprach, verächtlich angesehen, weil er trotzdem immer wie ein Engländer klang. Mir kamen sie genauso aufgeblasen vor wie ihre Croissants.

Ich schwankte leicht, ließ mich auf die Bank sinken, blinzelte und kämpfte gegen die Kurzatmigkeit an, bis eine warmherzige, kultivierte Stimme sagte: »Ach, Liebes, machen Sie nicht so ein Gesicht – die sind nicht aus dem Supermarkt. Ich hab sie selbst gebacken.« Eine Frau in mittlerem Alter mit kleinen, beerenartigen Augen lächelte mich an und winkte mit einer Serviette, sodass ich rasch an dem Croissant knabberte, ein Dankeschön murmelte und mich verfluchte, weil ich eine so geistesabwesende alte Schachtel war. Sie ging weiter und brachte ihre Backwaren und ihre Scherze unter die Leute. Dann beugten sich plötzlich alle erwartungsvoll vor. Ich erhob mich mühsam und sah, wie zwei Männer in Wathosen aus Gummi und Neonjacken in einem merkwürdig aussehenden Boot auf den Teich hinausfuhren.

An einer runden Vorrichtung, die ungefähr anderthalb Meter über den Bug hinausragte, waren kleine Metallstäbe befestigt, die ins Wasser hingen wie ein riesiges Windspiel. Neben mir erklärte ein Mann einer Frau die Funktionsweise. Es gebe einen Stromleiter am Rumpf, der ein elektrisches Feld erzeuge, und die Spannung reguliere man mit einem Hebel.

Die Männer fuhren in großen Kreisen über den Teich: Einer steuerte und betätigte den Hebel, während der andere sich mit einem Netz auf das Deck kniete. Eine Zeit lang passierte gar nichts, dann kam eine grau glänzende, schaukelnde Boje an die Wasseroberfläche – der erste betäubte Fisch. »Ooooh«, sagten die Zuschauer und klatschten höflich Beifall. Danach tauchten, schlaff und glänzend, weitere auf und wurden aus dem Wasser gefischt. Jedes Mal, wenn der Mann einen Fisch hochzog, jubelte die Menge und stieß mit Pappbechern an.

Doch je länger das Spektakel dauerte, desto verstörender wurde es: das rhythmische Blubb, wenn die Fische schaukelnd an die Oberfläche kamen, dann das leise Wusch des Netzes und das dumpfe Rumms, mit dem sie im Auffangbehälter landeten. Die Betäubung hielt gerade lange genug an, dass die Fische ins Boot gehievt werden konnten. Kaum an Bord, begannen die großen, schlammbedeckten Karpfen sofort wieder, sich zu winden.

Gerade eben schwimmt man noch sorglos durchs Wasser, im nächsten Moment hat man einen riesigen Stab vor der Nase, man sieht Sterne, und plötzlich steht die Welt Kopf, und man schnappt nach Luft. Es ist aber kein Triumph, das Ganze zu überleben, weil man danach in einem anderen Teich weiter im Kreis schwimmt und sinnlos das Maul auf- und wieder zumacht. Da wäre es fast besser, jemand würde einen von seinem Elend erlösen. Asche zu Asche.

Wenn ich den Blick abwandte, ging es vielleicht vorbei. Nicht darüber nachdenken. Rumms, rumms, rumms. Ich klammerte mich an das Geländer, versuchte, die drohend über mir herabhängenden Zweige zu ignorieren, doch meine Haut begann zu prickeln, schien sich aufzublähen, und ich spürte, wie ich – inmitten von ausgestreckten Armen und weit entfernt klingenden Rufen – stürzte und Dunkelheit mich umfing …

Kapitel 2

Etwas Raues fuhr mir über die Wange, das sich anfühlte wie ein Topfschwamm. Stöhnend drehte ich das Gesicht weg.

»Sie kommt wieder zu sich. Zurück!«

Wieder fuhr der Schwamm rau und warm über mein Gesicht, und ich rümpfte die Nase, weil ich säuerlich riechenden Atem wahrnahm.

»Macht doch mal Platz! Nancy, weg da!«

Als ich schwach die Hand hob, bekam ich eine Handvoll Fell zu fassen. Dann spürte ich den Schwamm auf der Hand. Eine Zunge. Ich schob sie weg und stöhnte erneut.

Erneut musste ich kurz das Bewusstsein verloren haben, denn als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Bank, mit einem Mantel als Kissen unter dem Kopf, und die Frau mit den Beerenaugen und den Croissants drückte mir eine nasse Serviette auf die Stirn. Ein paar Schaulustige spähten ihr über die Schulter. Verwirrt versuchte ich, in die Gegenwart zurückzufinden, obwohl die Unterwelt, in der ich mich bis gerade eben befunden hatte, mich noch in ihren Klauen hatte. Ich schloss die Augen, in der Hoffnung, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen würde.

»Meine Güte, Sie waren ja ganz schön weggetreten, Liebes«, sagte die Frau. Sie hielt mein Handgelenk umfasst. »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich hier mache«, fuhr sie fort. »Was ist ein gesunder Puls? Siebzig, achtzig? Ich habe keine Ahnung. Nein, noch nicht aufstehen.«

»Oh, doch, wirklich, es ist alles in Ordnung.« Ich hievte meine Beine von der Bank. Die Dunkelheit zog sich langsam zurück und wurde vom kalten Schweiß der Scham verdrängt. Meine Wange und meine Hand waren mit einer klebrigen Substanz überzogen, und ich verspürte den Drang, mich zu waschen.

»Wahrscheinlich das Wetter, Herzchen. Ganz schön frisch, was? Bleiben wir noch einen Moment sitzen und genießen die Aussicht. Die Bäume sind schön, oder? Möchten Sie noch ein Croissant? Bedienen Sie sich, das gibt Kraft. Ich heiße übrigens Sylvie. Und das sind Nancy und Decca.«

Benommen, wie ich war, dauerte es eine Weile, bis ich erkannte, dass sie auf zwei kleine, taubengraue Hunde deutete, die zu ihren Füßen herumwuselten. Als sie sich neben mich auf die Bank setzte, sprangen sie ebenfalls hinauf und hockten sich zu beiden Seiten von ihr hin. Ich machte ihnen Platz und wischte mir den Handrücken am Rock ab. Und so saßen wir da, aßen Croissants und betrachteten die Bäume. Sie waren auf eine kahle, trostlose Art tatsächlich wunderschön, wie sie sich dornenartig vor dem hellen Himmel abzeichneten, während das schwache Sonnenlicht sich an einigen Stellen durch die dünne Bewölkung kämpfte und die Wasseroberfläche des Sees sprenkelte. Die Menge hatte sich zerstreut, obwohl die Männer immer noch mit dem Boot unterwegs waren, um die letzten Fische einzusammeln.

»Anscheinend ist irgendetwas Giftiges ins Wasser geraten«, bemerkte Sylvie und deutete mit dem Kopf auf den Teich. »Ich hoffe, die Fische werden es überleben. Wer ist eigentlich Leo? Ihr Sohn? Möchten Sie, dass ich ihn verständige?«

Leo.

Nichts wünschte ich mir mehr. Dass jemand einfach losziehen und ihn mir zurückbringen würde. Dass er auf mich zumarschiert kam, meine Hand nahm und sagte: »Missy, du albernes altes Mädchen! Was hast du wieder angestellt?« Und wir würden zusammen nach Hause gehen und gegen die Kälte ein Kaminfeuer anzünden. Wieder kamen mir die Tränen, und ich tupfte sie ab, warme Tropfen auf meinen Fingerspitzen.

»Tut mir leid«, sagte Sylvie und tätschelte meine eisige Hand. »Ich hätte nicht nachfragen sollen. Sie haben seinen Namen gesagt, und ich dachte, vielleicht … Wie auch immer, wir bleiben noch kurz sitzen, ja? Kein Grund zur Eile.«

Und so saßen wir schweigend da, nur manchmal deutete sie auf eine bemerkenswerte Pflanze, einen Vogel oder einen Hund, und ich konnte antworten, ohne Angst haben zu müssen, sie zu langweilen oder das Falsche zu sagen. Dann aß ich den Rest des Croissants und wischte mir die Krümel vom Mantel. Anschließend stand ich auf, um mich von dieser unbefangenen, anspruchslosen Frau zu verabschieden, die seit Wochen die erste Fremde war, mit der ich mich unterhalten hatte. Lieber wollte ich das Gespräch beenden, ehe sie es tat.

»Ich danke Ihnen«, sagte ich und hielt ihr unbeholfen die immer noch klebrige Hand hin. »Sie sind wirklich zu freundlich, aber ich muss jetzt los …«

»Mist, wir haben es verpasst!«, hörten wir plötzlich.

Wir drehten uns um und sahen, wie Otis’ rothaarige Mutter ihren schmollenden Sohn auf dem Weg zwischen den Seen hinter sich herzog und dann zu uns kam. Er trug ein Cape, hatte einen Schild am Lenker seines Rollers befestigt, und seine rötlichen Haare standen in alle Richtungen ab. Ich hätte sie ihm am liebsten glatt gestrichen und dann wieder verwuschelt.

»Ich hab dir ja gleich gesagt, sie krepieren, bevor wir da sind«, schnaubte sie, hievte eine riesige, vollgestopfte Tasche von ihrer Schulter und beugte sich vor, um die Hunde zu streicheln.

»Angela, Liebes«, sagte Sylvie. »Spät dran wie immer. Wie wär’s mit einem Kaffee? Ich wollte gerade … ähm …?« Sie drehte sich zu mir um und sah mich erwartungsvoll an.

»Millicent«, murmelte ich und konnte mein Glück kaum fassen. Wäre es in Ordnung, Ja zu sagen? Sicher hatte ich mir doch ein kleines Vergnügen verdient? Aber ich wollte nicht übereifrig wirken.

»… Millicent bitten, uns zu begleiten.«

Angela seufzte und nahm ihre Tasche wieder hoch. »Na gut, warum nicht? Aber ich wollte sehen, wie sie die Fische ausknocken. Otis auch, aber der kleine Schussel konnte sein Spider-Man-Kostüm nicht finden.«

»Millicent, möchten Sie einen Kaffee mit uns trinken gehen? Oder einen Tee natürlich – wir wollen ja niemandem vorschreiben, was er trinken soll!« Die Fältchen um Sylvies Augen kräuselten sich einnehmend, während sie sich bei Angela unterhakte und Otis die Hand hinhielt.

Sie waren so ein nettes Grüppchen. Natürlich wollten sie keine miesepetrige alte Schachtel wie mich mitnehmen, ich wäre ihnen nur ein Klotz am Bein. Also sagte ich, ich hätte noch einen Termin, was auf gewisse Art ja auch stimmte. Ich schaute ihnen nach, als sie die Allee zum Café hinuntergingen. Der Himmel klarte sich auf, als ich loszog, und ich fühlte mich von meinem Ausflug aufgemuntert. Immerhin hatten sie mich gefragt, ob ich mitkommen wollte. Ich erzählte alles Leo und schmückte dabei die Details etwas aus, um es dramatischer klingen zu lassen, was natürlich keine Rolle spielte, denn niemand hörte mir zu. Und so ließ ich ihm ein paar Blumen da und machte mich danach wieder auf den Weg in mein leeres Haus.

In der Küche hörte ich nur das Tick-tick-tick der Uhr, das von keinem anderen Geräusch gedämpft wurde; Leos Sessel im Wohnzimmer war leer, und natürlich hatte ich keine neuen Freunde gefunden – ich würde Sylvie, Angela und Otis nie wiedersehen und musste von jetzt an wohl den Park meiden, damit sie nicht dachten, ich würde ihnen auflauern.

Ich putzte das Haus und erinnerte mich an die Zeiten, als die Kinder noch klein gewesen waren und es unmöglich war, Ordnung zu halten. Jetzt blieb alles makellos sauber. Zu Mittag aß ich ein hart gekochtes Ei, las etwas über David Bowie und dachte an den Schal und Der Schneemann. Ich hatte Arthur zu Weihnachten einen Schal gestrickt, weil ich vergessen hatte, dass in Sydney ja gerade Sommer war, und jetzt rollten die Stricknadeln in meiner Besteckschublade herum und erinnerten mich an meinen Fauxpas. Später hatte ich keine Lust, Abendessen zu kochen, aß nur Cornflakes und überlegte, ob ich fernsehen sollte, vielleicht die Dokumentation, aber wozu? Ich machte mich früh bettfertig, überprüfte zuvor die Schränke und fröstelte, als ich mich ins Bett legte und darauf wartete, dass die Laken warm wurden. »Sibyl hat mir davon erzählt … bevor sie gestorben ist. Ich glaube, sie wusste gar nicht mehr, was sie sagt.« Ich blinzelte, um das Bild meiner Tochter Melanie loszuwerden, die mit weit aufgerissenen Augen in meiner Küche vor mir zurückwich. Seit jenem schrecklichen Tag nagten ständige Schuldgefühle an mir. Immer wenn ich sie auszumerzen versuchte, schlugen sie noch tiefere Wurzeln.

Und so endete der Tag schließlich, wie er begann. Und doch spürte ich ihn noch in mir – den Funken. Der Beginn von etwas Neuem. Oder das Ende. Wer konnte das schon wissen?

Kapitel 3

»Komm näher, Missy.«

Kensington im Jahr 1942; ungerührt von dem Dröhnen über unseren Köpfen beugte Fa-Fa sich vor, um den Docht einer der Kerzen zu entzünden, dann umfasste er mit einer seiner riesigen Pranken seine Pfeife und paffte ein paar Züge, um sie in Gang zu bringen. Mit jedem Einsaugen der Luft erglühte das zerfurchte Gesicht meines Großvaters im Licht des glimmenden Tabaks. Das Donnern ließ mich kurz zusammenzucken, aber ich war zu neugierig auf seine Geschichte, um die Bomben groß zu beachten. Mein Bruder und ich kuschelten uns in unserem Stockbett unter der kratzigen Wolldecke aneinander, ein halb gegessenes Karottensandwich in der Hand. Fa-Fa blies eine Rauchfahne und lehnte sich zurück.

»Mesopotamien im Jahr 1916. Fliegen umschwirren mein Gesicht.« Er wedelte den grauen Rauch fort, und ich glaubte fast, die Insekten vor meinen Augen zu sehen.

»Das vermaledeite Fieber. Ich war zu schwach, um sie zu vertreiben … Nachdem ich genesen war, bekam ich Heimaturlaub. Nach der schrecklichen Hitze war es der reinste Segen, wieder in London zu sein. Deine Großmutter und ich sind in ein Restaurant gegangen – wo war es noch gleich, Jette? In der Swallow Street? –, um meine Heimkehr zu begießen.«

Meine Großmutter saß schniefend in einer dunklen Ecke. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum jemand sie zum Essen ausführen sollte – sie machte, egal ob zum Sprechen oder Essen, kaum je den Mund auf. Sie schenkte uns ein dünnes Lächeln und zog, als ein schrilles Kreischen ertönte, den Kopf ein. Dann eine Pause, wie die Ruhe kurz vor einem Donner. Als es kam, klang es weit entfernt.

»Nach einem zünftigen Gelage sind wir zu Fuß zum Piccadilly Circus gegangen, um uns eine Droschke zu nehmen – es waren keine in der Nähe, in den Seitenstraßen war es dunkel, und ich muss zugeben, wir waren ein bisschen angeschickert.« Er schmunzelte, zog an seiner Pfeife, und Henry und ich kicherten, als wir uns Fa-Fa, und besonders unsere Großmutter, in diesem Zustand vorstellten. Er redete nicht um den heißen Brei herum, und wir liebten ihn dafür.

»Dann fiel Jette in der Dunkelheit hin, und als ich ihr wieder aufhelfen wollte, kam ein Dieb herbeigeflitzt und riss ihr die Handtasche weg, der dreiste Schuft! Ich habe mich natürlich sofort an die Verfolgung gemacht.«

Fa-Fa verlagerte auf dem niedrigen Schemel seinen massigen Körper, während Henry und ich nach Luft schnappten und uns aneinanderklammerten. Jette saß gebeugt im Schatten, eine Maus im Vergleich zu diesem Mann. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck im Halbdunkel nicht erkennen, sah nur ihre Hand, die ein Taschentuch umklammert hielt.

»Hab ihn problemlos eingeholt, und als ich ihn stellte, sah ich, dass er fast noch ein Kind war, zu jung, um im Krieg zu kämpfen, aber alt genug, um in diesen Zeiten etwas zu klauen. In der Handtasche war nicht viel von Wert, nur ein bisschen Kleingeld, aber ich wollte natürlich nicht ohne sie zu Jette zurückkehren. Hab ihn ein bisschen durchgewalkt, damit er wusste, mit wem er es zu tun hat. Dachte, das wär’s dann, aber er klammerte sich an die Tasche, als ob sein Leben davon abhinge, und sosehr ich mich auch anstrengte, er wollte sie einfach nicht loslassen. Ein Griff wie ein Schraubstock.« Fa-Fa hob eine seiner riesigen Hände mit den hervorquellenden Sehnen, und ein paar Tabakflöckchen schwebten zu Boden. Er beugte sich vor, um sie aufzuheben, ehe er weitererzählte.

»Am Ende habe ich ihm eine richtige Tracht Prügel verpasst, eine Abreibung, die sich gewaschen hatte, aber egal, was ich tat, er ließ die Tasche nicht los.«

Wieder zog er an der Pfeife, und erneut glomm der Tabak auf. Jettes dürre Finger zupften an ihrem Kleid.

»Rechter Haken, linker Haken, rechter Haken, linker Haken! Aber er wollte einfach nicht loslassen. Wie ein Hund mit einem Knochen.«

Wumm!, machten die Bomben. Meine Großmutter putzte sich die Nase. Wir waren alle in Fa-Fas Mief eingehüllt, der mir die Tränen in die Augen trieb, trotzdem konnte ich den Blick nicht von ihm wenden.

»Ich habe ihm gegen das Schienbein und auf die Füße getreten. Kein Mucks. Als ich mit ihm fertig war, lag er zusammengekrümmt zu meinen Füßen, hatte aber immer noch die Tasche umklammert. Sie war schon ganz schmutzig und blutverschmiert. Es war klar, dass Jette sie, selbst wenn ich sie zurückeroberte, nicht mehr benutzen würde. Also ließ ich ihn dort auf der Straße liegen, wimmernd wie ein Baby, die Tasche in den blutigen Händen.«

Eine kurze Stille folgte, auch über unseren Köpfen, und Fa-Fa nahm die Pfeife aus dem Mund, putzte seine Brille, die wässrigen Augen konzentriert darauf gerichtet. Seine Hände zitterten leicht, als er sie wieder aufsetzte.

»Der verdammte Rotzlöffel hat die Tasche nicht hergegeben. Dafür habe ich ihn bewundert. Er wollte sie unbedingt haben, und er hat sie bekommen. Gut für ihn.« Großvater beugte sich vor, leckte sich die Finger an und löschte die Kerze an unserem Stockbett. »Und das ist die Moral der heutigen Geschichte. Wenn ihr etwas wirklich wollt, setzt euch dafür ein. Gebt nicht auf. Klammert euch daran fest, als würde euer Leben davon abhängen.«

»Selbst wenn mich jemand grün und blau schlägt?«, meldete Henry sich zu Wort.

»Selbst dann!«, gab Fa-Fa zurück und zerwühlte ihm die Haare. »Selbst wenn sie dich ohrfeigen«, sagte er und zwickte ihn ins Ohr. »Selbst wenn sie dich in den Bauch boxen.« Er tat, als würde er Henry einen Schwinger in den Magen versetzen, dann noch einen, diesmal härter. »Selbst wenn sie dich windelweich prügeln, du lässt nicht los!« Er und Henry fingen an zu kämpfen, anfangs spielerisch, doch dann, als erneut Bomben fielen, wurde aus Spaß Ernst. Fa-Fa nahm Henry in den Schwitzkasten, bis das Gesicht meines Bruders knallrot anlief und seine Augen glänzten, ob vor Aufregung oder vor Tränen, konnte ich nicht erkennen. Jette stand auf und streckte die Hand mit dem Taschentuch aus.

»Vater! Was machst du da?«

Meine Mutter war unbemerkt durch die Kellertür getreten. Sie nahm ihren scharlachroten Schal vom Hals, noch blass vor Kälte und wie üblich aufgebracht. Jette stürzte auf sie zu, um sie zu umarmen, aber Mama ignorierte sie und funkelte meinen Großvater an. Fa-Fa sah auf und ließ Henry los, der auf das Bett zurücksank, die Hände um seinen Hals gelegt.

»Wann begreifst du endlich, dass du mit den Kindern sanfter umgehen musst? Sie sind doch keine von deinen Rekruten! Ich wette, du hast ihnen wieder irgendwelche schrecklichen Geschichten erzählt. Los, Milly, Henry, ab ins Bett mit euch, ihr solltet längst schlafen.« Sie begann mit der üblichen mütterlichen Routine, deckte uns zu und stellte unsere halb gegessenen Butterbrote für den nächsten Tag beiseite.

Fa-Fa zog sich schmollend auf einen Stuhl in der Ecke zurück, um die Pfeife erneut zu befüllen, während Mama sich auf ihre Pritsche legte. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, wie sie die verbliebene Kerze ausblies, und an das tröstliche Glühen von Fa-Fas Pfeife. Dann lullten die tintenschwarzen Schatten an der Wand mich in einen tiefen Schlaf, den selbst das Donnern über uns nicht stören konnte.

 

In der folgenden Nacht traf eine SC250-Bombe die Straße vor unserem Haus und legte die Gartenmauer in Schutt und Asche. Niemand wurde verletzt, nur Fa-Fas Brille fiel durch die Erschütterung auf den Boden und zerbrach. Danach entschied meine Mutter, dass wir auf dem Land besser aufgehoben waren, und verfrachtete uns zu meiner Tante Sibyl nach Yorkshire. Doch anscheinend hatte ihre Entscheidung weniger mit der Bombe zu tun als mit der Geschichte von der Tasche, die Henry am nächsten Morgen Mama brühwarm weitererzählte, was einen neuerlichen Wutausbruch auslöste. Es sei unverantwortlich von Fa-Fa, uns irgendwelche wilden Geschichten aufzutischen, die vermutlich nicht einmal wahr seien (Jette wollte sie auf Nachfrage weder bestätigen noch dementieren), und es sei höchste Zeit, dass wir etwas frische Landluft schnupperten, und so weiter und so fort. Und so fuhren wir nach Kirkheaton, wo wir in der Mansarde eines zugigen, alten Pfarrhauses schliefen, in alten Priesterverstecken nach bösen Geistern suchten, uns im Wald Höhlen bauten und den Krieg und Fa-Fas seltsame Angewohnheiten fast vergaßen.

Die Geschichte jedoch vergaßen wir nie und erzählten sie uns immer wieder gegenseitig, während wir in unseren harten, schmalen Betten direkt unter dem Dachgebälk lagen. Wir schmückten sie jedes Mal mehr aus – ein dramatischer Schnörkel hier, ein schmutziges Detail dort –, bis wir uns schließlich nicht mehr sicher waren, wo Fa-Fas Geschichte anfing und unsere endete. Hatte er sie erfunden oder wir? War das alles passiert oder gar nichts? Im Lauf der Jahre neigte ich immer mehr dazu, Letzteres anzunehmen.

Trotzdem – es stimmt, oder? Wenn man etwas wirklich will, muss man daran festhalten.

Kapitel 4

Eine Woche verging ohne besondere Vorkommnisse, über die ich Alistair in einer E-Mail hätte berichten können. Ich verließ nur selten das Haus, um Besorgungen zu machen, wie ein Stück Lammnacken zu kaufen oder ein Rezept einzulösen. Einmal dachte ich, Sylvie würde in der Apotheke vor mir in der Schlange stehen, und senkte den Blick, damit sie mich nicht bemerkte, aber sie war es doch nicht, nur irgendeine andere Frau in mittlerem Alter, die Verdauungstabletten kaufen wollte.

Auf dem Heimweg von der Apotheke gönnte ich mir eine Flasche Wein, auch wenn allein zu trinken ziemlich heikel ist. Aber die Abende wurden manchmal lang, und ein Gläschen gab den Synapsen eine kleine Feinjustierung, verlieh mir ein bisschen Entheos – der griechische Rausch des Enthusiasmus. Nur ein Gläschen oder zwei, dann lenkte ich mich vom Restinhalt der Flasche ab, indem ich in den Räumen des Hauses herumstöberte, von denen ich die meisten nicht mehr benutzte. Wozu brauchte ich noch ein Esszimmer? Für die vielen Dinnerpartys?

Bei all dem Staub in Leos Arbeitszimmer musste ich husten. Ich hätte seine Bücher wirklich in Kartons packen und entsorgen sollen, auch wenn er darüber entsetzt gewesen wäre; die meisten waren Erstausgaben und Raritäten, und ich kannte mich nicht gut genug damit aus, um einen angemessenen Preis aushandeln zu können. So wischte ich nur Staub und las die Widmungen: »Für meinen geliebten Leo, Weihnachten ’86, in Liebe«; »Leo, lies das hier und bitte sei nett – Asa«; »Dad – noch ein alter Schinken für deine Sammlung – Mel«. Keines der Bücher gehört mir. Ich hatte nach der Geburt der Kinder aufgehört zu lesen.

Einen Abend und einen Besuch beim Weinhändler später fand ich mich in Alistairs Zimmer wieder, das immer noch so aussah wie in seiner Jugend. Seine Arsenal-Poster, seine Lego-Modelle, seine Fossilien. Mein Sohn, der Archäologe! Das Zimmer sah aus wie eine seiner Ausgrabungsstätten; Artefakte und Überbleibsel eines angebeteten Pharaos. Mittlerweile schlief hier der Nächste in der Thronfolge – ich strich das Kissen glatt, wo Arthurs goldener Schopf gelegen hatte. Wie er mir fehlte! Eine Lücke im Regal, wo eine Erstausgabe sein sollte.

An dem Tag, an dem Ali von zu Hause auszog, hatten wir ihn zu seinem Studentenwohnheim gefahren, und Leo hatte etwas über diese modernen Universitäten gegrummelt, während ich, stumm wegen der Anstrengung, nicht zu weinen, lächelte. Wir luden sein Gepäck aus und richteten mit ihm den schmuddeligen kleinen Raum ein, als wäre es einfach nur großartig, dass er allein in die Welt hinauszieht, um sein Glück zu machen. Was für ein Abenteuer! Erst ganz zum Schluss, als er mich zum Abschied umarmte, merkte ich, dass ich ihn nicht mehr loslassen konnte. Leo löste sanft meine Finger von Alistairs Pullover und drückte beruhigend meine Hand. »Weihnachten kommt er ja wieder«, sagte er tröstend. Weihnachten, immer Weihnachten, das seinen Lichterkettenglitzer auf den banalen Alltag warf.

Ich ging zum Kühlschrank, dann in Mels Zimmer, um ein paar ihrer Bücher wegzupacken. Sie besaß jetzt eine Eigentumswohnung in Cambridge, und es sah nicht so aus, als würde sie je wieder zu Besuch kommen – nicht nach jenem schrecklichen Nachmittag. Nachdem ich auf dem Weg ins Schlafzimmer zu meiner Sicherheit in alle Schränke geschaut hatte, fiel mir ein, dass ich im Wohnzimmer das Licht angelassen hatte, und musste mich wieder nach unten schleppen. Als die Dunkelheit den Raum verschlang, wurde die beleuchtete Straße draußen sichtbar, wo ein Pärchen nach einem schönen Abend eng umschlungen nach Hause ging. Die Zähne der Frau blitzten im Licht der Laternen, als sie zu ihrem Begleiter hochlächelte, und er drückte sie noch enger an sich, um sie auf den Kopf zu küssen. Rank, schlank und unbeschwert von all den Fehlern, die sie noch machen würden. Wie Leo und ich vor einem halben Jahrhundert. Ich zog die Vorhänge zu, ging noch einmal durch die anderen Räume, dann taumelte ich ins Schlafzimmer.

 

Als ich am nächsten Tag mit Kopfschmerzen in die Apotheke ging, sah ich erneut eine Frau, die wie Sylvie aussah, nur dass es diesmal Sylvie war. Ich duckte mich, doch es war zu spät.

»Wie schön, Sie zu treffen!«, rief sie. »Sie waren neulich so schnell verschwunden. Wie geht es Ihnen?«

»Gut, danke.« Ich schlurfte in der Schlange nach vorn, in der Hoffnung, sie würde das Paracetamol in meiner Hand nicht sehen. Früher hatte ich es immer vor Leo versteckt. Ein Kater war wie ein Eingeständnis von Schuld. Wenn ich keinen hatte, dann hatte ich am Vortag auch nicht zu viel getrunken.

»Zwei Seelen, ein Gedanke.« Sylvie stieß mit ihrer Schachtel gegen meine. »Ich habe einen Mordskater. Natürlich selbst verschuldet. Angela hingegen kann wirklich was vertragen. Sie ist Journalistin und einiges gewohnt. Und Sie?«

Sie wirkte, als wäre alles im Leben für sie nur ein Spaß, und strahlte eine derartige Leichtlebigkeit aus, dass man in ihrer Gegenwart am liebsten die Schuhe ausziehen, die Beine von sich strecken und mit ihr über dies und das plaudern wollte – in einer Welt, in der nichts eine große Rolle spielte. Aber ich brachte nur ein schwaches Schulterzucken zustande.

»Wie wär’s mit einem Kaffee?« Sie deutete auf das Café gegenüber. Es war mit seiner gedämpften Beleuchtung, den Metrofliesen und dem glänzenden Holz ebenso warm und einladend wie Sylvie selbst. Einige Leute arbeiteten dort anscheinend, sie tippten hektisch auf ihre Laptops ein, zwei Mütter mit Kinderwagen steckten die Köpfe zusammen, wenn sie nicht gerade in Babysprache auf ihren Nachwuchs einredeten, und ein Händchen haltendes Paar war in ein Gespräch vertieft. Ich hatte inmitten dieser Betriebsamkeit eigentlich nichts verloren und keine Ahnung, warum Sylvie es überhaupt vorschlug.

»Oh, danke, aber ich muss leider gleich weiter.« Ich bezahlte und griff nach der Papiertüte mit dem Schmerzmittel.

»Na schön, hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder, Millicent.« Sie erinnerte sich an meinen Namen.

»Sie können ruhig Missy zu mir sagen«, platzte ich heraus, als sie die Tür öffnete. Ein fröhliches Bimmeln erklang, und sie drehte sich mit hochgezogener Augenbraue um.

»Wie bitte?«

»Na ja, mein Name ist zwar Millicent, aber alle nennen mich Missy«, stammelte ich, ließ prompt das Wechselgeld fallen und spürte, wie mein Gesicht rot anlief.

»Ah, verstehe, dann also Missy! Ich bin sicher, wir laufen uns bald wieder über den Weg, ich bin ständig in der Gegend unterwegs.« Sylvie winkte und verließ die Apotheke, wobei sie ihren Weidenkorb schwenkte wie eine Hausfrau aus den 1950er-Jahren.

Ich war durcheinander und aufgeregt, als ich wieder auf die Straße trat. Außer Leo und Fa-Fa hatte mich nie jemand Missy genannt. Sylvie musste mich für völlig plemplem halten. Mit immer noch brennenden Wangen ging ich über die Straße zu dem Café. Falls sie dort war, würde ich mich nicht mehr so anstellen und einen Kaffee mit ihr trinken, komme, was wolle.

Manche Gäste tippten immer noch auf ihrer Laptoptastatur herum, die Mütter, die ihren Babys etwas vorgurrten, tratschten immer noch, aber das Pärchen war verschwunden. Von Sylvie keine Spur. Trotzdem bestellte ich mir einen Kaffee und setzte mich an einen Tisch. Ich fühlte mich steif und unbehaglich und war überzeugt, alle würden mich beobachten und sich fragen, was eine alte Frau wie ich allein in einem Café zu suchen hatte. Aber niemand schien Notiz von mir zu nehmen, und nach einer Weile trugen die Wärme und die Hintergrundgeräusche dazu bei, dass ich mich entspannte. Jemand hatte auf einem der Nachbartische eine Zeitung liegen lassen. Ich nahm sie und las etwas über Jeremy Corbyn, der ganz in der Nähe wohnte, dann etwas über den Astronauten Tim Peake, der nicht annähernd in der Nähe wohnte, und über Alan Rickman, der nirgendwo mehr wohnte. Er hatte in einem von meinen und Leos Lieblingsfilmen mitgespielt. Darin ging es um einen Geist, der versuchte, seine trauernde Witwe aufzuheitern. Ich war ein bisschen wie Nina, die Frau, die in der Hoffnung auf eine wundersame Auferstehung im leeren Haus herumgeisterte.

Ich blieb für eine Weile sitzen, nippte an meinem Kaffee und las in der Zeitung, und als ich fertig war, räumte die lächelnde Kellnerin meinen Tisch ab, die Mütter schoben ihre Kinderwagen aus dem Weg, um mir Platz zu machen, und ein Mann verließ sogar seinen Laptop, um mir die Tür zu öffnen. Als ich nach Hause schlenderte, nahm ich die Kiefernnadeln auf dem Gehsteig wahr und hielt das Gesicht in die schwache Wintersonne.

Zu Hause begab ich mich, statt mit meiner üblichen Putzrunde zu beginnen, nach oben ins Gästezimmer, holte einen alten Paisley-Überwurf hervor und drapierte ihn versuchsweise im Wohnzimmer auf dem Sofa. Dann ging ich erneut nach oben, holte eine Lampe und stellte sie daneben auf einen flachen Schemel. Ich begutachtete mein Werk, kam mir ein bisschen albern vor und begab mich in die Küche, um mir eine Tasse Tee zu machen.

Später, als es langsam dunkel wurde, wirkten die Lampe und die Decke ganz gemütlich. Diesmal verzichtete ich auf die üblichen Cornflakes und kochte mir Pasta, die ich von einem Tablett auf dem Sofa sitzend aß, während ich mir ein neues Historiendrama ansah. Leo hätte sich über die Anachronismen darin lustig gemacht, doch es war erholsam, mich in die harmlosen häuslichen Irrungen und Wirrungen hineinziehen zu lassen. Ich überlegte, ob ich den Abend mit einem Glas Wein abrunden sollte, dann fiel mir ein, dass die Flasche vom Vortag leer war. Egal, ich konnte morgen eine neue kaufen. Wer weiß, wer mir diesmal über den Weg laufen würde?

Es gab zwar immer noch nichts, was ich Alistair berichten konnte, aber wenigstens war ich auf eine Tasse Kaffee eingeladen worden und hatte die Einladung auf gewisse Art auch angenommen. Kleine Schritte. Alte-Damen-Schritte. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wohin sie mich führen würden.

Kapitel 5

Es war 1956, und ich war wieder in Cambridge, kniete auf dem Boden und versuchte, Feuer zu machen.

Damals lebte ich, Milly Jameson, im zweiten Jahr am Newnham College, in einem eisigen Wohnheimzimmer, war unglücklich und tat trotzdem so, als fände ich es toll, Homer zu lesen. Die anderen Studentinnen waren alle unglaublich glamourös, flanierten lachend durch die langen Korridore und schmuggelten Männer in ihre Zimmer. Das Mädchen nebenan zum Beispiel plapperte unablässig und war hinreißend, das komplette Gegenteil von mir. Sie war winzig, hatte eine kurvenreiche Figur, blond getönte, in perfekte Wellen gelegte Haare und eine Flasche Gin unter dem Bett, für die »Magic-Hour«-Cocktails, die sie ihren zahlreichen Gästen servierte. Alicia Stewart und ihre legendären Soireen – jeden Abend hörte ich das Grammofon spielen und klopfte an die Wand, wenn sie zur Melodie von »Mr Sandman« sang: »Mr Barman, bring me a driiiink … Make it so strong that I can’t thiiiink.« Keine Ahnung, wie sie ihren Abschluss schaffen wollte – vermutlich, indem sie die Prüfer bezirzte.

Wie auch immer, Alicias berüchtigte Cocktails gehörten zu den wenigen Dingen, die mir halfen, aus mir herauszugehen, und so waren wir so etwas wie Freundinnen geworden, oder zumindest förderte sie meine Trinkerei. In meinem Zimmer gab es ein Fenster, das praktischerweise auf das Dach eines Anbaus führte und all denen als Fluchtweg dienen konnte, die nach der Sperrstunde im College festsaßen. Und als Gegenleistung für die eine oder andere kleine Zecherei gestattete ich ihr, ihren Männerbesuch auf diesem Weg nach draußen zu schmuggeln. Sie schwor, dass es nie mehr war als Petting – als hätte ich das in irgendeiner Weise beurteilen können, denn ich war ebenso weit davon entfernt, mit jemandem zu »knutschen«, wie bei den Cordettes mitzusingen.

Nach der ersten Hälfte meines zweiten Studienjahrs war mehr als offensichtlich, dass ich nicht die geborene Akademikerin war, für die ich mich gehalten hatte. Meine Doktormutter verglich mich mit »einem Stein, der über die Wasseroberfläche hüpft«, was nur fair war – wer wollte schon darüber nachdenken, was darunter, also in der Tiefe lag? In den elf Jahren, seit mein Vater gestorben war, war ich besonders geschickt darin, tiefere Gewässer zu meiden. Es machte das Leben einfacher.

Und so saß ich, statt mit »Catull 85: Odi et amo« zu kämpfen, an einem kühlen Februarabend auf dem fadenscheinigen Teppich und versuchte, ein Feuerchen auf dem Kaminrost in Gang zu bringen. Wir waren in Peile Hall untergebracht, einem zugigen alten Studentenwohnheim, in dem es noch keine Gasheizung gab. Stattdessen hatten wir Metallbleche, mit denen man das Feuer anfachen konnte – wir nannten sie Sydneys –, doch es gab nur zwei davon für alle Studentinnen. Wir mussten die Flure abklappern und an zig Türen klopfen, um eins davon in die Finger zu bekommen, und als es nun an meiner Tür klopfte, ging ich dementsprechend davon aus, dass jemand auf der Suche nach dem Sydney war. Aber wie sich herausstellte, war es Alicia, die schon ordentlich einen in der Krone hatte und sich am Türrahmen festhalten musste.

»Milisch … Milischent. Was ist das für ein Geruch?«

»Rauch. Ich versuche, Feuer zu machen.«

»Warum?«

»Weil es kalt ist.«

»Wirklich? Na, wenn du meinst … Ich geh auf ’ne Party. Eine neue Lyrik-Zeitschrift wird vorgestellt.«

»Oh, schön. Viel Spaß.«

»Nein. Du musst mitkommen.«

»Warum?«

»Weil ich sie nicht finden kann.«

»Ich hab nichts anzuziehen.«

»Ich kann dir was leihen.«

»Mir ist nicht danach.«

»Da gibt es Wein. Und es ist warm.«

Und so kam es, dass ich in einem von Alicias schwarzen Kleidern, das mir zu kurz und an der Brust zu weit war, auf der Suche nach der Women’s Union in Falcon Yard durch die Straßen von Cambridge lief. Als wir schließlich dort ankamen, wünschte ich mir, wir hätten uns die Mühe gespart. Es war laut und dunkel, die spärliche Beleuchtung erhellte nur eine Jazzband, und Leute rezitierten Gedichte, bei denen ich mich innerlich wand. Ich fand das Vortragen von Gedichten – besonders in der Öffentlichkeit – immer peinlich. Es sollte – ähnlich wie religiöse Handlungen oder Jonglieren – am besten im privaten Rahmen praktiziert werden.

Alicia verschwand sofort in der Menge, und ich machte mich auf die Suche nach dem versprochenen Wein. Wenigstens war es bei all den Menschen und der heißen Luft tatsächlich warm. Einer der Dichter stand in einer Ecke und deklamierte mit zurückgeworfenem Kopf vor einer ernst dreinblickenden kleinen Menschentraube etwas über Pobacken und Kristalle. Mein Gott, wie schrecklich.

Ich stand irgendwo am Rand, trank hastig den Wein, beäugte meinen Mangel an Dekolleté und fragte mich, wie bald ich wohl wieder abhauen konnte. Dann sah ich plötzlich ihn, am anderen Ende des Raumes. Wie alle anderen war auch er betrunken. Aber er war der einzige Mann, der einen Anzug trug und keinen Rollkragenpullover, was ihn, in Kombination mit seiner Körpergröße, zu einer imposanten Erscheinung machte. Als er mich erspähte, grinste er, als würden wir uns kennen – und es war, als käme ich nach Hause. Er schlenderte, immer noch lächelnd, zu mir herüber, doch als er mir direkt gegenüberstand, rief er: »Oje, tut mir leid! Ich dachte, Sie wären jemand anders!«

Aus der Nähe sah er noch betrunkener aus: Er schielte leicht und schwankte wie eine große Eiche in einem Sturm. Aber er war sehr attraktiv – groß, blond, ein Labrador von einem Mann. Der Wein hatte mich kühn gemacht.

»Für wen haben Sie mich denn gehalten?«

Ich hatte noch nie gut flirten können. Ich bekam es auch jetzt, trotz angetrunkenem Mut, einfach nicht hin. Zum Glück war es dank der Musik, der Poesie und den heruntergeworfenen Gläsern so laut, dass es keine Rolle spielte.

»Nun ja, da das Mädchen, für das ich Sie gehalten habe, offensichtlich nicht hier ist – sollen wir uns noch was zu trinken holen?«

Er führte mich zu einem langen Tisch voller Flaschen und schenkte mir ein Glas ein, während ich fieberhaft überlegte, was ich Geistreiches sagen konnte.

»Ein schrecklicher Name für die Zeitschrift, die sie hier aus der Taufe heben: St Botolph’s Review. Klingt irgendwie wie nach Kirche«, platzte ich heraus. Ach, Mist, wahrscheinlich war er einer der Herausgeber. Doch er lachte nur.

»Ich weiß, aber diesen Eindruck macht die Party hier sofort zunichte. Sie hat definitiv nichts Gottgefälliges an sich.« Er wich einer vorbeifliegenden Weinflasche aus. »Mögen Sie Gedichte?«

»Überhaupt nicht. Das ist mir alles ein bisschen zu prätentiös.« Ich weiß nicht, warum ich plötzlich so offen war. Vielleicht lag es am Alkohol, aber auch an dem seltsamen Gefühl, dass ich nicht anders konnte, als mich immer weiter zu entfalten – wie eine Blume, die in der Sonne aufblüht.

»Wirklich? Und was studieren Sie?«

»Altphilologie. Aber ich bin allgemein eher ein prosaischer Mensch.«

»Dann erzählen Sie mir mal, was Sie so mögen.«

Ich sah mich im Raum um. »Eine Hälfte der Menschheit kann nicht begreifen, was der anderen Freude macht.« Ich kam mir unglaublich belesen vor.

»Ja, zu schade«, erwiderte er und verwandelte mich in ein unbeholfenes Schulmädchen zurück. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein wild knutschendes Pärchen, oder vielleicht rangen die beiden auch miteinander, das war schwer zu sagen. Ich musste irgendetwas Spektakuläres tun, spektakulär sein, damit ich ihm im Gedächtnis blieb; und wenn die Leute uns später fragten, wie wir uns kennengelernt hatten, konnten wir sagen: »Tja, das war eine Geschichte …«

Stattdessen suchte sich Alicia Stewart ausgerechnet diesen Moment aus, um wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Sie winkte mir mit einem Weinglas zu, stolperte über eine herumliegende Flasche, hielt sich an einem Tischtuch fest und übergab sich eindrucksvoll auf mich und ihr eigenes schwarzes Kleid. Der Poet hielt in seiner Rezitation inne, sah neugierig zu uns herüber und nahm dann seinen Vortrag über aufgedunsene Schurken wieder auf.

»Scheiße.« Sie lag auf dem Boden, Rotweintropfen auf den Wimpern wie Blut. Brüllend vor Lachen beugte sich mein Ritter vor, um ihr aufzuhelfen. In seinen Armen sah sie bewundernd zu ihm auf.

»Oooh, Sie sind aber nett!«, rief Alicia aus. Dann sah sich mich an. »Milly, du bist ja voll mit Erbrochenem. Du siehst furchtbar aus. Geh besser nach Hause, das ist ja peinlich …«

Ich funkelte sie an und benutzte das Tischtuch, um das Kleid abzuwischen.

»Erweisen Sie mir die Ehre, Sie beide nach Hause zu begleiten«, sagte unser Held und bot uns seine Arme an.

»Wie reizend«, lallte Alicia und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende. »Ich bin Alischia, und das hier ist Milisch … Milisch … Mischa.«

»Hallo, Mischa. Ich bin Leo.«

»Ooooh, Leo der Löwe!«, krähte sie. »Nimm uns mit in deinen Bau, Leo!«

Wir bahnten uns einen Weg durch das zerbrochene Glas und nahmen gleich noch eine halb leere Weinflasche mit. In der Eingangshalle wurde ein schluchzendes Mädchen von einem dürren jungen Mann getröstet, der ihr die Schulter tätschelte und sagte: »Mach dir nichts draus, er war sowieso ein Schwein.« Er würde wohl immer nur der gute Freund sein, der die Scherben aufsammelte.

Draußen schwebten unsere Atemwölkchen in der eisigen Luft. Der Himmel war klar, und als wir die King’s Parade erreichten, hüllte er sie in seine samtige Decke aus Sternen ein. Sie blinkten über der King’s College Chapel, als würden sie uns zuzwinkern. Selbst die Sterne schienen sich über mich lustig zu machen.

Sobald eine angemessene Zeitspanne verstrichen war, ließ ich Leos Arm los und blieb ein Stück zurück, damit er und Alicia ungestört waren, aber die Weinflasche behielt ich. Die Straßenlaternen hoben die goldene Tönung in Alicias Haar hervor. Sie schaute zu ihm auf und lachte auf die glockenhelle Art, wie sie es nur in der Gegenwart von Männern tat – ihr echtes Lachen klang mehr wie das Gackern eines Huhns.

Wir überquerten die Brücke an der Silver Street. Ich schaute auf den träge dahinfließenden River Cam hinunter, und mir fiel wieder ein, wie ich mir früher immer vorgestellt hatte, ein Cambridge-Studium würde nur aus Kahnfahrten nach Granchester bestehen, und aus Fahrradfahrten übers Collegegelände, bei denen mein Kleid im Wind flatterte – leicht wie ein Stein, der über die Wasseroberfläche hüpfte. Stattdessen musste ich überstürzt von der St-Botolph’s-Party aufbrechen und besudelt vom Erbrochenen meiner sturzbesoffenen Nachbarin in den frühen Morgenstunden nach Hause gehen, während sie jemanden verführte, den ich zuerst kennengelernt hatte. Odi et amo. Ich trank den Wein aus, warf die Flasche in den Fluss und sah zu, wie sie mit Wasser volllief und dann langsam auf den Grund sank. Vermutlich liegt sie immer noch irgendwo dort.

Kapitel 6

Am darauffolgenden Dienstag gab es in meinem neuen Stammcafé eine handgreifliche Auseinandersetzung.

Nach der Begegnung mit Sylvie in der Apotheke hatte ich begonnen, mich öfter in der Gegend herumzutreiben, besonders in dem Café, bis die lächelnde Kellnerin mich wiedererkannte und mir den Kaffee von selbst immer mit kalter Milch statt diesem Schaum-Blödsinn servierte. Sie gaben mir eine kleine Karte, die jedes Mal, wenn ich einen Kaffee bestellte, abgestempelt wurde und für die man, wenn sie voll war, ein Freigetränk erhielt. Das Brot in dem türkischen Laden nebenan war preiswert und frisch, und in der Kinderabteilung der Wohltätigkeitsbuchhandlung stöberte ich herum und nahm als Geschenk für Arthur einen Band von Thomas, die kleine Lokomotive für fünfzig Pence mit.

Vorher hatte ich mir nie die Mühe gemacht, meine Umgebung zu erkunden – ich hatte zu viel mit den Kindern und dem Haushalt zu tun, und später, als Leo krank wurde, mit seiner Pflege. Damals hatte ich auch keine Geldsorgen, während ich mich heute auf die Suche nach Schnäppchen machte, auch wenn ich es mir eigentlich nicht leisten konnte. Doch meine Streifzüge halfen, mir die Zeit zu vertreiben und Kleingeld auszugeben. Aber von Sylvie keine Spur.

An jenem Dienstag, als ich gerade wie üblich einen caffè americano genoss, kam, wer hätte es gedacht, Angela herein, diesmal jedoch ohne Otis. Sie sah wie immer ungepflegt aus, Strähnen ihrer zu roten Haare lösten sich aus ihrem Dutt, ihr Eyeliner war verwischt, und sie trug eine Lederjacke und klobige Stiefel mit Schnallen, die beim Gehen klirrten. Anfangs bemerkte ich die Frau, mit der sie zusammen war, gar nicht, aber als sie sich in eine Ecke setzten, sah ich, dass die andere weinte und dass Angela sie anscheinend zu trösten versuchte. Sie redete eindringlich auf sie ein, aber die Frau schüttelte nur den Kopf und wischte sich über die Augen. Sie war schrecklich dünn und hohlwangig, was mich vermuten ließ, dass sie drogensüchtig war.

Dann lehnte sich Angela plötzlich zurück und schlug mit der Hand auf den Tisch, als hätte sie genug, und die andere Frau sprang auf und stürmte zum Ausgang. Angela erhob sich halb und rief etwas wie »Flicks!« hinterher, aber vielleicht fluchte sie auch nur. Die Frau blieb an der Tür stehen und drehte sich um. Sie hatte die Zähne gebleckt, und die Wimperntusche lief ihr in Streifen über die eingefallenen Wangen.

»Du kapierst es einfach nicht!«, fauchte sie. »Du wirst es nie kapieren.«

Sie schienen die anderen Gäste gar nicht wahrzunehmen, die verstummt waren und sie über die Ränder ihrer Tassen beobachteten, als würden sie diese kleine Szene durchaus genießen.

»Ich will dir doch nur helfen«, sagte Angela. »Bitte.« Sie streckte die Hand aus.

Wie bei einem Tennisspiel richteten sich nun alle Blicke auf die andere Frau an der Tür.

»Dann hör auf, dich in mein Leben einzumischen. Lass mich in Ruhe!«, rief sie und zog am Türknauf. Was dann passierte, war schier unglaublich.

Angela stürzte auf sie zu, schlug die Tür wieder zu und versperrte ihr den Weg. Die Frau versuchte, sie beiseitezuschieben, und es entstand ein Handgemenge. Die offenen Münder der Schaulustigen beachteten sie dabei nicht. Plötzlich holte die andere Frau aus und schlug Angela ins Gesicht, die mit einem Aufschrei nach hinten taumelte, und alle schnappten kollektiv nach Luft. Ein Mann, der an seinem Laptop gearbeitet hatte, erhob sich, als wollte er protestieren, doch dann schien er es sich anders zu überlegen, da Hanna, die Kellnerin, herbeieilte und Angela zurückhielt. Die andere Frau beäugte sie schwer atmend, die Haare standen ihr wirr vom Kopf ab, dann riss sie die Tür auf und rannte nach draußen.

Als sie fort war, ertönte ein kollektiver Seufzer der Enttäuschung – was für eine Spielverderberin, es war doch gerade erst richtig losgegangen –, aber ich hatte solche Szenen in aller Öffentlichkeit immer furchtbar gefunden. Leo und ich waren einmal bei einer Party in Streit geraten, hatten dabei jedoch nur hinter vorgehaltenen Gläsern geflüstert und aus dem Mundwinkel gezischt und gleichzeitig vorbeikommenden Gästen freundlich zugenickt. Aber heutzutage kannten die Leute einfach keine Diskretion mehr; sie wuschen ihre schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit.

Angela, die einen dunkelroten Handabdruck auf der Wange hatte, ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken, nahm ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete sich an Ort und Stelle eine an. Hanna ging zu ihr, um ihr das zu untersagen. Angela schnitt eine Grimasse und drückte die Zigarette auf einer Untertasse aus. Sie barg das Gesicht in den Händen und saß für eine Weile so da, dann nahm sie ihre Tasche und ging zur Tür. Als sie an meinem Tisch vorbeikam, zog sie erschöpft die Augenbrauen hoch.

»Oh, hi, äh …« Im Gegensatz zu Sylvie hatte sie meinen Namen vergessen.

»Millicent.«

»Hi, Millicent. Alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Danke, bestens. Ähm … und bei Ihnen?« Zu meiner Bestürzung warf sie plötzlich ihre Tasche auf den Boden, setzte sich zu mir und gab Hanna einen Wink.

»Wie Sie sehen, geht’s mir ziemlich beschissen. Ich bleibe ein paar Minuten hier sitzen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Halten Sie mich davon ab, noch mehr Dummheiten zu machen.« Sie zog die Schale mit den Zuckerwürfeln zu sich und biss mit gelben Zähnen ein Stück von einem ab. Sie war sehr blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Vermutlich von den wilden Gelagen mit Sylvie.

»Natürlich.« Ich hoffte, das bedeutete nicht, dass ich ihren Kaffee bezahlen musste.

Wir saßen eine Zeit lang schweigend da; sie knibbelte an der Haut rings um ihre Nägel, die abgekaut waren und auf denen man noch Flecken von abgesplittertem Nagellack sah. Hanna brachte ihren Kaffee, und sie nippte daran und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.

Schließlich sah sie mich von der Seite an. »Sind Sie verheiratet?«

Es verschlug mir den Atem. »Ja. Aber er ist nicht … ist nicht mehr …«

Sie winkte ab. »Ich nicht«, sagte sie mit grimmiger Miene. »Und manchmal bin ich darüber scheißerleichtert, wissen Sie? Das macht mehr Ärger, als es wert ist.«

Ich war interessiert genug, um ihr meinerseits eine Frage zu stellen. »Und was ist mit Ihrem Sohn? Ist sein Vater … noch da?«

Sie schnaubte. »Keine Ahnung. Ist besser so, glauben Sie mir. Wie auch immer, reden wir nicht über mich. Haben Sie Kinder? Enkelkinder?«

»Ja, zwei Kinder. Und einen Enkel.«

»Junge oder Mädchen?«

»Junge. Arthur.«

Sie grinste. »Ich wette, er ist ein richtiger Terrorkrümel.«

»Ja«, sagte ich. »Ein Terrorkrümel.« Aber sie war in Gedanken schon wieder woanders, starrte ins Leere, trommelte mit den Fingern den Takt der Jazzmusik mit, die im Hintergrund lief.

»Sie muss die Kinder da rausholen. Und Bob. Das ist das Problem«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu mir.

Ich schwieg und wartete darauf, dass sie mit ihren Grübeleien zu einem Ende kam. Frauen wie sie hatten in ihrem Leben immer irgendwelche Dramen. Gerade als ich mich fragte, ob es unhöflich wäre, Hanna um die Rechnung zu bitten, lehnte sich Angela zurück, rieb sich das Gesicht und seufzte laut.

»Stimmt, ich darf mich nicht einmischen«, sagte sie.

Ich neigte den Kopf und warf Hanna einen diskreten Blick zu.

Angela rieb sich die Nasenwurzel und schnaubte erneut. »Scheiße.«