9,99 €
„Deine Schwester wird mal nach den Sternen greifen!“ Das ist der von Ulrikes Mutter am häufigsten gesagte Satz. Ulrike denkt, wenn Mutter ehrlich wäre, würde der vollständige Satz lauten: „Deine Schwester wird mal nach den Sternen greifen und du ins Klo!“ Ulrike fühlt sich benachteiligt. Für Jungs scheint sie unsichtbar. Deren Interesse gilt nur Jasmin, ihrer hübschen älteren Schwester. Ein Junge aus Jasmins Parallelklasse versucht über Ulrike Kontakt Jasmin zu bekommen. Er bringt Ulrike in eine scheinbar aussichtslose Lage. Ulrike hofft, dass ihr Adrian, ein Freund aus Kindertagen, helfen kann. Ulrike zeichnet gern. Doch niemand nimmt sie ernst, wenn sie sagt, dass sie einmal davon leben möchte. An ihrem Lieblingsplatz im Wald zeichnet sie. Dort lernt sie den alten Willy kennen, den sie für einen Penner hält. Doch er entpuppt sich als ehemaliger Kunsterzieher. Er ist der einzige Mensch, der ihr Talent erkennt und sie unterstützt. Willy meldet sie zu einem Sommerzeichencamp an. Dort lernt sie Marvin kennen, den sie toll findet, aber nicht weiß, ob daraus Liebe wird. Als sie vom Zeichencamp zurückkommt, erwartet sie ein schreckliches Ereignis. Ulrike erhält von Willys Freund einen Brief, der alles verändert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
o
Sterne und Klo
Peter Voigt
o
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet - www.papierfresserchen.eu
© 2025 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2025.
Das Cover wurde mithilfe Künstlicher Intelligenz (Midjourney) erstellt.
ISBN: 978-3-96074-872-4 – Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-873-1 – E-Book
*
1. Jasmins Geburtstag
2. Die Schule und Lukas
3. Willy, der Penner
4. Ist das Liebe?
5. Willys Geheimnis
6. Die Wette und ihre Folgen
7. Adrian, meine beste Freundin
8. Willys Idee
9. Zeugnisse und Schulchorfest
10. Die Überraschung
11. Das Sommercamp
12. Alles anders als gedacht
13. Sommercampende
14. Der Himmel weint
15. Whiskey
16. Abschied von Willy
17. Die Vernissage
*
„Deine Schwester wird mal nach den Sternen greifen!“
Das ist der von meiner Mutter am häufigsten gesagte Satz, den sie während meines langen Lebens, – ich bin immerhin schon fünfzehn Jahre alt –, an mich richtete. Heute Morgen beim gemeinsamen Frühstück, vor drei Stunden, hörte ich ihn das letzte Mal.
Wenn Mutter ehrlich wäre, würde der vollständige Satz so lauten: „Deine Schwester wird mal nach den Sternen greifen und du ins Klo!“ Den Teil des Satzes mit dem Klo lässt sie rücksichtsvoll weg. Aber ich vermute, dass Mutter so denkt. Ich nehme ihr das nicht übel, denn wenn ich ehrlich bin, denke ich auch so. Vermutlich werde ich in diesem Leben nie nach den Sternen greifen!
Den Unterschied zwischen meiner Schwester und mir erkennt man schon, wenn man nur unsere Namen hört. Sie heißt Jasmin! Das klingt nach betörendem Duft, nach Schönheit und nach Leichtigkeit. Jasmin heißt auch eine Pflanze, die sich dadurch auszeichnet, dass sie eine Kletterpflanze mit sehr dekorativen weißen und duftenden Blüten ist. Der Name Jasmin passt supertreffend zu meiner Schwester. Einen beachtlichen Unterschied kann man auch an den Wochentagen erkennen, an denen wir das Licht der Welt erblickten. Jasmin ist ein Sonntagskind und ich, wie konnte es anders sein, wurde an einem Freitag, dem 13., geboren! Sechs Wochen zu früh. Vermutlich sollte ich erst am 1. April auf die Welt kommen, sozusagen als Aprilscherz.
Übrigens, ich heiße Ulrike. An dem Namen hatte ich nichts auszusetzen, bis ich in die Schule kam. Mit Beginn meiner Schulzeit entdeckte ein Junge aus meiner Klasse sein dichterisches Talent. Er fand, dass sich auf Ulrike, die Dicke gut reimt. Wir wurden keine Freunde. Nach der Grundschule zog er mit seiner Familie weg. Das Einzige, was von ihm im Gedächtnis meiner Klassenkameraden hängen blieb, ist der tolle Reim: Ulrike, die Dicke!
Jasmin ist schlank, eigentlich dürr. Ich bin nicht fett, aber ein paar Gramm weniger dürften es gerne sein. Zugegeben, sogar ein paar Kilo. Würde man von meiner Schwester und mir die inneren Organe kontrollieren wollen, müsste mich ein gutes Röntgengerät durchleuchten, ein sehr gutes, während es genügte, wenn Jasmin sich einfach vor ein Fenster stellte. Vermutlich würde ein Röntgenologe sogar den dahinter stehenden Baum durchschimmern sehen.
Heute ist der 4. Mai, ein Samstag und Jasmins 16. Geburtstag. Mutter hat sich einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse angezogen. So bekommen wir sie sonst nur zu Weihnachten zu sehen. Eigentlich kennen wir sie gewöhnlich in Jeans und T-Shirt. Es sei denn, es ist statt Weihnachten ein anderer besonderer Feiertag – nämlich Jasmins Geburtstag.
Jasmin und ich teilen uns ein Zimmer. Ich finde das nicht so toll, meine Schwester hasst es!
„Ihr könnt kommen!“, ruft uns unsere Mutter.
Jasmin steckt in einem weißen Kleid mit vielen Rüschchen. Man könnte denken, sie will heiraten. Ich habe meine alte Lieblingsjeans an und einen dünnen Pullover.
Ich lasse Jasmin den Vortritt, gehe noch einmal an meinen Nachtschrank und hole mein Geburtstagsgeschenk für meine Schwester. Nur Sekunden nach Jasmin betrete ich unser Wohnzimmer. Es riecht nach Kaffee und nach Kakao. Auf dem Tisch steht eine riesige Torte mit sechzehn brennenden Kerzen darauf und in einer Vase steckt ein großer Strauß verschiedenfarbiger Rosen. Aus der Stereoanlage klingt: Happy birthday to you, happy birthday ...
Mutter dreht den Ton leiser, geht zu meiner Schwester und schließt sie in ihre Arme. „Alles Gute, meine Liebe! Möge sich alles erfüllen, was du dir selbst wünschst. Vor allem wünsche ich dir anhaltenden Erfolg, wenn du erst einmal nach den Sternen greifst! Vielleicht erlebe ich es noch, dich auf einer großen Bühne singen zu hören.“
Mutter ist Mitte vierzig. Was glaubt sie denn, wie lange es noch dauern wird, bis Jasmin von einer Bühne trällert?
Mutter löst sich von Jasmin, nimmt ein kleines Päckchen mit buntem Papier und einer roten Schleife aus der alten Schrankwand und reicht es ihr. „Ich platze gleich vor Neugier!“, ruft Jasmin und springt um den Esstisch herum, sodass der Saum ihres weißen Kleidchens zu hüpfen scheint.
„Ich möchte dir auch gratulieren!“, sage ich und halte meiner Schwester mein Päckchen hin.
„Danke! Ihr seid so lieb zu mir!“
„Blas erst einmal die Kerzen aus!“, sagt Mutter. „Wir wollen noch von der Torte essen. Danach kannst du die Geschenke auspacken.“
Jasmin braucht mehrere Versuche, bis alle sechzehn Kerzen ausgepustet sind.
Mutter und ich sitzen am Tisch und beobachten Jasmin beim Auspacken. Sie beginnt mit Mutters Päckchen. Kaum hat sie das Geschenkpapier abgerissen, entfleucht ihr ein: „Juchhu, geil, megageil!“
Jetzt erkenne auch ich, was Mutter meiner Schwester geschenkt hat: ein Handy, ein nagelneues, sauteures Handy. Ich fasse es nicht. Mutter hat ihr erst vor eineinhalb Jahren ein Handy geschenkt. Meins habe ich schon seit mehr als zwei Jahren. Okay, ich bin damit zufrieden, aber so ein geiles Teil, wie Jasmin bekommen hat, hätte ich auch gern. Mein Geburtstag liegt erst drei Monate zurück und ich habe von Mutter ein Set teurer Bleistifte und verschiedene Zeichenblöcke bekommen. Ich liebe es, zu zeichnen – nur mit Bleistift. Von Jasmin bekam ich ein Buch mit verschiedenen Zeichentechniken. Okay, ich habe mich gefreut. Aber ein Handy geschenkt zu bekommen, wäre auch cool gewesen.
Meine Schwester fällt meiner Mutter um den Hals und küsst sie auf die Wange. „Vielen Dank. So eins habe ich mir seit Monaten gewünscht!“
„Die gibt es erst seit vier Wochen!“, unterbreche ich die Jubelarie meiner Schwester.
„Woher weißt du denn, was gerade angesagt ist?“
Ich verdrehe die Augen, was mehr sagt, als würde ich einen Kommentar abgeben.
Jasmin reißt von meinem mühevoll verpackten Geburtstagsgeschenk das Geschenkpapier ab. Zum Vorschein kommt ein von mir gemaltes Bild, für das ich einen teuren, dunkelbraunen Rahmen gekauft habe. Die Bleistiftzeichnung zeigt meine Schwester in einem weißen Kleid, genauso eins, wie sie es heute trägt. Konnte ich aber beim Zeichnen nicht ahnen. Ich finde, ich habe sie sehr gut getroffen. Vielleicht sieht sie auf dem Bild sogar ein bisschen besser aus als in Wirklichkeit – wie eine Prinzessin.
Meine Schwester hält das Bild in beiden Händen, zieht die Mundwinkel breit und sagt: „Nicht schlecht! Aber ich hätte ein etwas freundlicheres Gesicht verdient. Sieht so aus, als wäre ich sauer. Aber trotzdem danke!“
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Hätte ich ihr ein paar Reiswaffeln geschenkt, hätte sie sich vermutlich mehr darüber gefreut. Und ich hätte weniger Arbeit gehabt! Muss ich mir für den nächsten Geburtstag meiner lieben Schwester merken.
Das Frühstück ist ein Highlight! Die Marzipantorte, ein Kracher. Jasmin rührt nicht ein Stück davon an. Sie entscheidet sich für ihr Müsli. Müsli als Geburtstagsfrühstück zum 16. Geburtstag! Man kann es auch übertreiben! Nie im Leben werde ich so! Vielleicht hat sie sich schon ein paar Gehirnzellen abgehungert.
Ich lasse mich beim Verzehr des zweiten Stückchens der leckeren Torte nicht stören. Dazu gibt es süßen Kakao. Ich muss zugeben, das ist ein Geburtstagsfrühstück, wie es sich für einen Menschen geziemt, der mal nach den Sternen greifen wird. Vermutlich.
Mutter räumt den Tisch ab und ich helfe ihr. Das Geburtstagskind ist mit seinem neuen Handy beschäftigt und will nicht gestört werden. Vermutlich für den Rest des Tages.
Ich spüle das Frühstücksgeschirr ab. Unsere Geschirrspülmaschine heißt Ulrike.
Mutter schlüpft in ihren Mantel und verlässt uns, weil sie, wenn sie nicht im Supermarkt an der Kasse sitzen muss, in einer Allgemeinarztpraxis sauber macht. So wie an diesem Samstag.
Ich bin mit dem Abwasch fertig und gehe ins Wohnzimmer zurück. Dort lasse ich mich aufs Sofa fallen.
Jasmin legt ihr Handy auf den Esstisch, verschwindet aus dem Wohnzimmer und kommt wenig später mit dem Notenständer und ihrem Notenheft zurück. Sie schlägt eine Seite auf und ihrem Mund entfleuchen merkwürdige Geräusche. Jasmin würde sagen, sie singt sich ein.
Das ist mein Zeichen. Ich ziehe mich in unser gemeinsames Zimmer zurück. Eigentlich weiß ich nicht, was ich tun soll. In solchen Situationen kommt mir Adrian in den Sinn. Ich beschließe, ihn anzurufen. Er ist wie ein Bruder, manchmal nervig, aber meistens fast normal. Adrian ist annähernd zwei Köpfe größer als ich und mindestens doppelt so breit. Wir sind schon zusammen in den Kindergarten gegangen. Er war damals schon größer als alle anderen Kinder. Adrian hat mich immer beschützt, wenn ich Ärger hatte. Weil er nur drei Eingänge in unserem Wohnblock von mir entfernt wohnt, gehen wir auch gemeinsam den Schulweg. Nebeneinanderzusitzen habe ich abgelehnt. Ich wollte vermeiden, dass jemand irgendetwas denkt, was nun wirklich nicht passieren wird. Adrian ist wie ein Bruder, aber keines Falls mein Typ. Aber jetzt brauche ich ihn. Deshalb tippe ich in meinem Handy in der Kontaktliste auf seinen Namen und gleich danach auf den grünen Button mit einem Telefonhörer. Es piept. Es piept mehrmals hintereinander.
In dem Moment, als ich den Anruf abbrechen möchte, höre ich: „Hallo, wasn los?“
„Adrian, ich muss mit dir reden!“
„Was gibt es denn?“
„Jasmin hat heute Geburtstag. Sie hat ein nagelneues Handy von meiner Mutter geschenkt bekommen.“
„Na und? Was ist schon dabei?“, keucht mein bester Freund in sein Handy.
„Hör mal, Alter, ihr Handy ist erst eineinhalb Jahre alt. Meins schon über zwei Jahre. Muss Prinzessin Jasmin, bloß weil sie mal nach den Sternen greifen wird, so verwöhnt werden?“
„Du weißt doch, wie deine Schwester tickt, hält sich jetzt schon für einen Opernstar. Meine Güte, Uli, deshalb musst du dich doch nicht aufregen.“
„Ja, du hast eigentlich recht, Adrian. Aber unsere Mutter sitzt nicht nur an der Kasse im Supermarkt, sie macht auch noch, wenn sie eigentlich frei hätte, in einer Arztpraxis sauber. So wie jetzt. Und alles bloß, damit sie meiner Schwester etwas bieten kann. Was denkst du, mache ich später, während meine Schwester nach den Sternen greift?“
Adrian atmet tief ein und aus. „Kann ich hellsehen?“
„Jasmin wird nach den Sternen greifen und ich ins Klo!“
„Jetzt übertreibst du aber. Du kannst gut zeichnen. Vielleicht wirst du mal eine Künstlerin, die mit ihren Bildern mehr Geld verdient als die Opernsängerin Jasmin Brandt.“
„Danke, du machst es mir erträglicher, mit dieser verdammten Ungerechtigkeit klarzukommen.“
„Okay, deine Zeit ist um!“, knurrt mein Freund. „Runter von meiner Couch! Dein Psychiater muss mit seinem Vater einkaufen gehen. Mutter kann nicht, hat einen gebrochenen Fuß. Eine Wahnsinnsumstellung für meinen Vater! Schönen Tag noch!“ Adrian hat mich weggedrückt.
Ich verlasse Jasmins und mein Zimmer, als Mutter zurückkommt. Meine Schwester kommt aus dem Wohnzimmer, um ihre Musikutensilien in unser Zimmer zu bringen.
„Was gibt es zu Mittag?“, fragt sie unsere Mutter, als sie an ihr vorbei zu unserem Zimmer läuft. „Großen Hunger habe ich allerdings nicht!“„Heute gibt es Geburtstagsmittag“, antwortet Mutter und ein Lächeln zieht in ihr Gesicht.
„Was soll das denn sein?“, fragt Jasmin, bevor sie in unserem Zimmer verschwindet.
„Es gibt Klöße, Rotkohl und Rouladen. Ist gleich fertig, habe es gestern Abend schon vorgekocht“, ruft Mutter ihr nach. „Muss es nur noch warm machen. Außerdem gibt es Schokoladenpudding mit Vanillesoße.“
Meine Schwester kommt zurück, zieht die Mundwinkel auseinander und schüttelt ihr engelblondes Köpfchen. Ich ahne, was gleich passieren wird. „Ulrike, hilfst du mir bitte, den Tisch zu decken?“
„Klar, gerne doch. Für die Sternengreiferin ist kein Aufwand zu groß!“
„Ach Uli, du bist doch nicht etwa neidisch?“
„Bin ich gar nicht!“, schwindel ich und trage die Teller und das Besteck ins Wohnzimmer. Dort decke ich den Tisch ein.
„Nimm aus dem linken Schubfach in der Schrankwand bitte die Servietten und lege sie dazu“, ruft Mutter aus der Küche.
Mutter hat es wirklich geschafft, nach nur einer viertel Stunde das Festmahl auf den Tisch zu bringen. Ich frage mich immer, woher sie die Energie nimmt – in ihrem Alter und dann noch mit zwei Jobs. Sie legt eine CD in unsere alte Stereoanlage und Smetanas Moldau plätschert in unser Wohnzimmer. Jasmins Lieblingsstück, war doch klar!
Kaum sitzen Mutter und ich am gedeckten Tisch, als die Tür geöffnet wird und Jasmin erscheint. Sie hat sich umgezogen, steckt in einer Röhrenjeans und trägt eine hellblaue Bluse. Jasmin zieht ein Gesicht, als müsse sie gleich die Henkersmahlzeit hinunterwürgen. Mutter gibt mir zwei Klöße, eine Roulade mit Soße und einen Löffel voll Rotkraut auf meinem Teller. Ich bedanke mich. Sie greift nach Jasmins Teller und will ihr auch Klöße darauflegen. Was nun passiert, hätte ich vorhersagen können.
„Uh nee, ich will keine Kohlenhydrate und auch kein Fleisch! Is ja eklig!“
„Jasmin, was willst du denn dann essen?“
„Mir reicht eine kleine Kelle voll Soße. Und ein bisschen Rotkohl nehme ich auch!“
„Findest du nicht, dass du übertreibst?“, fragt unsere Mutter meine Schwester. „Ich habe extra wegen deines Geburtstages so aufwendig gekocht.“
„Ihr versteht mich nicht. So fett, wie ich jetzt schon bin, kann ich unmöglich bei dem Chorfest unserer Schule auftreten!“ Meiner Schwester kommen die Tränen. Ich hoffe, dass ihr Auftritt gleich vorbei ist, denn mir läuft bereits das Wasser im Mund zusammen.
„Ist gut, Jasmin“, versucht Mutter, den Frieden wiederherzustellen. „Ich finde zwar nicht, dass du zu dick bist. Aber du hast Geburtstag und da kannst du bestimmen, was du essen möchtest!“
Ich lache mich gleich tot. Jasmin bestimmt immer, was sie isst oder auch nicht. Mutter gibt ihr etwas Soße und einen vollen Löffel Rotkohl. „Guten Appetit!“ Jasmin und ich wünschen auch guten Appetit. Endlich, ich bin fast verhungert.
Meine Schwester ist mit dem Essen fertig, als ich gerade mal den ersten Kloß gegessen habe. Ist keine Kunst. Von dem, was sie ihrem dürren Körper zugeführt hat, wäre ich niemals satt geworden.
Nach dem Mittagessen übernehme ich den Abwasch. Wie gewohnt. Mutter legt sich auf die Wohnzimmercouch und Jasmin verschwindet in unserem Zimmer.
Ich habe das Wasser in die Spüle gelassen, als ich meine Schwester singen höre. Zum gefühlt tausendsten Mal muss ich mir das Heidenröslein anhören. Es macht mich wahnsinnig. Hätte sie nicht ein Talent zum Tanzen haben können. Eine Ballerina wäre geräuschloser. Ich trockne das Geschirr ab und sehe auf die Küchenuhr über der Tür. Es ist gleich 13 Uhr. Was mache ich heute noch? Schließlich gibt es in zwei Stunden schon wieder etwas zu essen. Mutter hat außer der Torte von heute Morgen auch noch diverse Kuchenstücke gekauft. Ein gemeinsames Kaffeetrinken mit Mutter und Jasmin würde ich gerade noch überleben. Doch haben sich die besten Freundinnen meiner Schwester angekündigt: Sophie, Denise und Ella, drei Möchtegernprinzessinnen. Eine ist schöner als die andere, aber eine ist auch dümmer als die andere. Jasmin ist bestimmt nicht die hellste Kerze auf einer Torte, aber ihr Licht leuchtet immer noch heller als die Lichter ihrer Freundinnen.
Als ich das Geschirr in die jeweiligen Schrankfächer sortiere, kommt Mutter in die Küche. „Danke, mein Kind! Lieb von dir, dass du den Abwasch übernommen hast! Kann ich dir noch etwas helfen?“
„Nein, bin fertig! Ruhe dich noch ein bisschen aus, bevor die Prinzessinnenshow beginnt.“
„Uli, sei nicht sauer. Es ist ihr 16. Geburtstag. Und irgendwann kommt ihr Ehrgeiz auch uns zugute. Wenn sie erst einmal berühmt sein wird. Du weißt, ich denke, deine Schwester wird mal …“
„... nach den Sternen greifen! Ich habe es zu Genüge von dir gehört. Jasmin wird nach den Sternen greifen und ich ins Klo!“
„Ach Ulrike, du wirst auch etwas gut können. Du musst nur überlegen, was dir Spaß macht und welchen Beruf du einmal erlernen willst.“
„Am liebsten möchte ich mit meinen Zeichnungen Geld verdienen.“
„Das sind Hirngespinste!“, sagt meine Mutter und hat nicht die leiseste Ahnung, wie mich das verletzt.
„Wir werden es ja sehen“, entgegne ich und verlasse die Küche. Ich setze mich im Wohnzimmer auf die Couch und schalte den Fernseher ein. In mein Zimmer kann ich nicht, weil dort Jasmin vermutlich die Klamotten aussucht, die sie anzuziehen beabsichtigt, wenn ihre Freundinnen kommen.
Ich zappe durch die einzelnen Sender. Bei einem Musikkanal bleibe ich hängen. Es läuft ein Konzert mit Marcel Weniger. Ich flippe aus. Vermutlich bin ich sein größter Fan. Mich ärgert, dass ich die erste Stunde des Konzertes verpasst habe. In diesem Moment beginnt er auf seiner Gitarre mein Lieblingslied zu spielen. Es heißt: Ich sehe die Welt durch den Nebel! Marcel spielt fast nur Balladen, meistens traurig und nur mit seiner Gitarre. Ich habe mir schon unzählige Titel von ihm aus dem Internet heruntergeladen. Das letzte Lied des Konzerts ist vorbei und der Abspann läuft über den Bildschirm, als es läutet. Ich sehe auf die Uhr, die anzeigt, dass es erst 14 Uhr ist.
Meine Befürchtung, dass die drei besten Freundinnen meiner Schwester kommen, bestätigt sich, denn ich höre ihr Gegacker vom Flur her. Die Wohnzimmertür geht auf und Mutter kommt herein. „Die Mädchen sind bei Jasmin im Zimmer. Hilfst du mir, den Kaffeetisch zu decken?“
„Natürlich! Bleiben die Prinzessinnen länger bei uns?“
Mutter nickt und sieht mich an. „Jasmin hat ihre Freundinnen auch zum Abendessen eingeladen.“
„Na toll!“, sage ich eher zu mir als zu meiner Mutter. Ich trage das Tablett mit dem Geschirr ins Wohnzimmer, während Mutter auf eine große Porzellanschale die Kuchenstücke drapiert. Den Rest der Marzipantorte gibt es auch. Die stelle ich im Wohnzimmer in die Nähe meines Platzes.
Mutter bereitet Pfefferminztee zu – auf ausdrücklichen Wunsch von Jasmin und ihren Gästen, die alle sehr gesundheitsbewusst leben. Ich mache mir eine kleine Kanne mit Kakao und schalte für Mutter die Kaffeemaschine an. Vielleicht sind wir die einzigen Normalen, die sich heute in dieser Wohnung aufhalten. Meine Mutter bittet mich, Jasmin und ihre Freundinnen zu holen.
Ich sitze als Erste an der Kaffeetafel, gefolgt von unserer Mutter. Als Sophie, Denise und Ella endlich Platz genommen haben, stellt sich Jasmin in die Mitte des Wohnzimmers. Mir ist nicht klar, was gleich passieren wird.
Jasmin schiebt eine CD in die Stereoanlage, und als die ersten Töne einer Instrumentalversion erklingen, beginnt sie zu singen. Ich fasse es nicht – das Heidenröslein. Als Jasmin endlich die letzte Strophe beendet hat, setzt Beifall ihrer Freundinnen und unserer Mutter ein. Gelangweilt klatsche ich auch ein paar Mal in meine Hände. Ich gebe zu, meine Schwester kann gut singen. Sie ab und zu trillern zu hören, ist okay, aber bitte nicht jeden Tag.
„Das war eine tolle Überraschung!“, sagt Mutter und sie sieht wirklich glücklich aus.
Jasmin, Ella und Denise essen Reiswaffeln und ziehen ein Gesicht, als verspeisen sie ein kulinarisches Highlight. Sophie scheint nicht ganz so gestört zu sein wie meine Schwester und die anderen beiden. Sie lässt sich von Mutter ein Stück Torte auf ihren Teller legen. Dafür erntet sie vorwurfsvolle Blicke ihrer Freundinnen.
Mir ist egal, was die essen. Ich schaffe zwei Stückchen Marzipantorte und ein Stück Kuchen – gedeckter Apfelkuchen. Es gibt nichts Besseres und die Torte kann da auch nicht mithalten. Gedeckter Apfelkuchen sollte zu den Grundnahrungsmitteln gehören. Zu meinen auf jeden Fall!
Ich beobachte Mutter. Sie scheint mit diesem Geburtstagskaffeetreffen zufrieden zu sein, denn in ihrem Gesicht hat sich ein Dauerlächeln festgesetzt.
Jasmin hat die zweite Reiswaffel verdrückt, lehnt sich zurück und streichelt sich über ihren Bauch. „Meine Güte, jetzt bin ich aber voll!“
Ich glaub, ich falle gleich vom Stuhl. Als sich alle so vollgestopft haben, beginnen sie mit ihrem Gegacker. An meine Ohren dringen nur Wortfetzen: „Oh mein Gott, so süß, total abgefahren, megacool.“ Es geht um irgendwelche Typen, um eine Boygroup, um den neusten Fitnesstrend und um Klamotten. Nach einer halben Stunde ist meine Schmerzgrenze erreicht. Mich drängt es zur Flucht.
„Möchtest du noch Kakao?“, fragt mich Mutter.
„Nein, danke. Ich will noch mal raus. Bin zum Abendbrot wieder zurück.“ Ich schiebe den Stuhl nach hinten und stehe auf.
„Wo willst du denn hin?“, erkundigt sich Mutter.
„Ich habe ein bisschen Kopfschmerzen, gehe nur spazieren.“
„Hast du ein Date?“, fragt mich Denise.
Jasmin muss lachen und hält sich die Hand vor ihren Mund. „Ich vermute, meine Schwester geht wieder in den Wald, um dort in ihr Heft zu kitzeln!“
Sie hat recht. Das jedoch gebe ich nicht zu. Vor einigen Monaten hatte ich ihr erzählt, dass ich öfters am Waldrand im Reißbachtal sitze und zeichne. Ich muss mir eingestehen, dass es ein Fehler war, es Jasmin zu sagen.
Als ich das Wohnzimmer verlasse und mich im Flur anziehe, ruft mir Mutter nach, dass es halb sieben Abendessen gibt. Ich rufe zurück, dass ich pünktlich sein werde, schlüpfe in meinen Anorak, ziehe mir umständlich meine warmen Stiefel an und setze eine Strickmütze auf. Obwohl wir bereits Mai haben. Jedoch hat es heute Morgen sogar geschneit und das Thermometer minus zwei Grad angezeigt. Von wegen Erderwärmung! Bevor ich die Wohnung verlasse, greife ich nach meiner Umhängetasche mit meinen Zeichenutensilien.
Ich trete auf die Straße vor unserem Neubaublock und freue mich, dass es aufgehört hat zu schneien. Kleine Atemwolken verlassen meinen Mund. Mein Ziel steht fest. Ich muss unser Wohnviertel mit den Neubauten aus den Sechzigerjahren verlassen und durch das angrenzende kleine Dorf Hallrich laufen, bis an dessen Ende. Dort befindet sich der kleine Bahnhof, an dem aber keine Züge mehr halten. Ich laufe unter der Bahnunterführung hindurch, passiere die letzten Häuser und muss noch ungefähr zwei Kilometer laufen. Die schmale Straße ist feucht, aber schneefrei. Rechts neben der Straße erhebt sich der steil ansteigende Fichtenwald. Links neben der Straße geht es auf einer dünn mit Schnee bedeckten Wiese allmählich hinab bis zum kleinen Reißbach. Auf der anderen Seite des Baches geht es wieder aufwärts zu dem dichteren Wald. Vorn stehen Tannen, die von den dahinterstehenden Fichten überragt werden. Auf der dünnen Schneedecke kann ich Tierspuren entdecken.
Ich muss noch einen Kilometer laufen und beschleunige meine Schritte. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen oder zu hören. Doch gibt es sichere Zeichen, dass Menschen mit ihren Hunden hier waren. Die ekligen Hinterlassenschaften der Vierbeiner sind der Beweis. Das Einzige, was ich ab und zu höre, ist der Gesang einiger Meisen und Finken. Die Straße macht eine kleine Biegung nach rechts. Das Tal passt sich dem Straßenverlauf an.
Endlich sehe ich mein Ziel. Ich stapfe über die rutschige Wiese zum Bach hinunter. Zum Glück ist er an einer Stelle so schmal, dass ich ohne Schwierigkeit auf die andere Seite springen kann. Ich kämpfe mich hinauf zum Waldrand, wo ein Hochsitz steht. Dessen Kanzel ist an drei Seiten geschlossen. Nur an der Rückseite ist sie offen. Dort befindet sich auch die steile Holzleiter. Ich kletter nach oben. Die Sprossen sind kalt und feucht. Ich muss aufpassen, nicht abzurutschen. In der aus dicken Bohlen gefertigten Kanzel befindet sich in der Mitte ein quer verlaufendes, dickes Brett, das rechts und links auf zwei Holzklötze geschraubt wurde. Ich setze mich darauf. Nach vorn, zu der Wiese hin, und an der rechten und linken Seite ist ein zwei Hände breiter Ausguck. Von hier aus haben die Jäger eine gute Sicht auf die Wiese, um das Wild zu beobachten oder auch, um es zu schießen. Das wiederum finde ich total blöd und unfair.
Ich hole aus meiner Umhängetasche mein Skizzenheft und meinen Bleistift heraus. Allerdings weiß ich nicht, was ich zeichnen könnte. Plötzlich sehe ich, wie zwei Rehe auf die Wiese kommen. Ein Reh sieht zu mir. Ich vermeide es, zu atmen. Das andere Reh frisst ein paar grüne Grasspitzen. Als das Reh, das zu mir sieht, keine Gefahr wittert, beginnt es auch zu fressen. Ich hoffe, dass beide Rehe noch ein paar Minuten auf der Wiese verweilen, denn ich bemühe mich, sie zu skizzieren. Plötzlich recken beide Rehe ihre Köpfe in die Höhe. Ich seh hinüber zur Straße und erkenne, dass ein Mann kommt. Er hat einen kleinen Hund dabei, den er an einer Leine führt. Als der ziemlich große Mann, der etwas nach vorn gebeugt läuft, die Wiese betritt, springen die Rehe aufgeschreckt davon und verschwinden hinter den Tannen. Zum Glück hatte ich sie schon zu Papier gebracht.
Ich beobachte den Mann. Er scheint ziemlich alt zu sein. Aus seinem Hut hängen lange, graue Haare heraus, die bis über den Kragen seines langen, schwarzen Mantels reichen. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, denn er ist zu weit entfernt und nur von der Seite zu sehen. Dem Mann fällt das Laufen nicht leicht. Er bekommt seine in hohen Lederstiefeln steckenden Füße kaum hoch und schlurft über die feuchte Wiese. Der strubblige Hund läuft dicht neben ihm. Ich frage mich, wo die beiden hingehen wollen. Ein Förster oder ein Jäger scheint er nicht zu sein. Ich finde die Situation etwas merkwürdig, aber Angst habe ich nicht. Der Alte und sein Hund verschwinden zwischen zwei etwas weiter auseinanderstehenden Tannenbäumen im dichten Wald. Ich warte noch ein paar Minuten, dann sehe ich auf mein Handy und erschrecke, dass es schon so spät ist. Ich muss mich sputen, um nicht das Abendessen zu verpassen.
Kaum bin ich an unserem Wohnblock angekommen, als mir Adrian entgegenkommt. Er trägt einen blauen Müllbeutel in einer Hand und will ihn zum Müllplatz bringen. Adrian sagt, dass er sich beeilt und gleich bei mir sein wird. Es ist immer noch kalt. Mein Freund kommt zu mir. Wir labern über unbedeutenden Kram. Er will nur nicht so schnell in seine Wohnung zurückkehren, weil ihn seine Eltern stressen. Seine Mutter, die mit gebrochenem Fuß auf der Couch liegt, gebe ständig seinem Vater Anweisungen, was als Nächstes zu tun sei. Seinen Vater nerve das und es käme mehrfach zu Streitereien. Dies nerve dann meinen Freund. Ich sage Adrian, dass er es aushalten solle. Er könne ja mit mir tauschen. Dann würde er wirklich wissen, was nervt. Adrian lacht und klopft mir auf die Schulter. Wir verabschieden uns voneinander.
Zu Hause angekommen, ziehe ich mich um und betrete das Wohnzimmer. Mutter spielt mit Jasmin und ihren Freundinnen Rommé. Es muss Jahre zurückliegen, als hier das letzte Mal dieses Kartenspiel benutzt wurde.
„Hallo Uli, toll, du bist pünktlich“, sagt Mutter. „Wenn wir dieses Spiel beendet haben, werden wir zu Abend essen. Deine Schwester und ihre Freundinnen wollen dann noch ausgehen!“
„Schön!“ Ich verschwinde in Jasmins und meinem Zimmer. Dort packe ich mein Skizzenheft in das oberste Schubfach meines Schreibtisches.
Für das Abendbrot hat sich Mutter tüchtig ins Zeug gelegt. Es gibt Kartoffelsalat und Würstchen. Als Nachtisch hat sie einen bunten Obstsalat gezaubert. Er sieht toll aus. Ich muss mich zurückhalten. Auch die Schlagsahne aus der Sprühdose fehlt nicht. Mutter und ich haben alles im Wohnzimmer auf dem Esstisch platziert und das gute Geschirr gedeckt. Das ist noch von unserer Oma, die schon vor acht Jahren gestorben ist. Dieses Service gibt es nur zu Feiertagen oder besonderen Anlässen. Da Jasmins Geburtstag noch kein gesetzlicher Feiertag ist, – ich hoffe, es nicht zu erleben –, stufe ich den Tag als besonderen Anlass ein. Meine Schwester und ihre Freundinnen sitzen um den Couchtisch und sehen argwöhnisch zu den aufgetafelten Speisen. Ich habe Hunger und muss keine Angst haben, nicht satt zu werden, denn die Prinzessinnengroup wird nicht viel davon verzehren. Gut so!
„Kommt bitte zu Tisch!“, sagt Mutter – vermutlich soll es vornehm klingen.
Kaum sitzt Jasmin am Esstisch, schon verfinstert sich ihre Miene. „Ich möchte lieber eine kleine Scheibe Vollkornbrot und vielleicht ein bisschen Rührei.“
„Mach ich dir, mein Schatz! Ist nun mal dein Geburtstag“, sagt Mutter und springt von ihrem Stuhl hoch. Im Hinausgehen sagt sie noch: „Ich hatte es mit dem Kartoffelsalat und den Würstchen gut gemeint. Das hast du früher doch auch alles gegessen.“
„Vielleicht bin ich davon so fett geworden! Jetzt ernähre ich mich gesund!“
„Könnten wir auch Brot und Ei bekommen?“, fragen Denise und Ella.
„Meinetwegen brauchen Sie sich nicht solche Umstände machen!“, sagt Sophie. „Ich würde auch von dem Kartoffelsalat probieren und Würstchen dazu essen.“
Mutter lächelt und verlässt das Wohnzimmer. Diese Sophie wird mir langsam sympathisch, hat sie doch schon zum Kaffee auf Reiswaffeln verzichtet und auch von der Marzipantorte gegessen. Welch Wunder, sie hat es überlebt!
„Ich achte lieber darauf, nicht fett zu werden!“, sagt meine Schwester.
Ich kann kaum an mich halten. Jasmin war noch nie dick, geschweige denn fett! Aber ich wusste, dass es dazu kommt. Und Sophie, die noch so isst wie normale Menschen nun mal essen, ist schlank und kein Gramm dicker als die anderen Prinzessinnen.
Mutter kommt mit Jasmins Bestellung zurück. Sie hat die Brotscheiben schon mit Butter bestrichen – vermutlich zu dick –, bringt eine große Pfanne mit Rührei und holt noch einen Teller mit Gurken, Tomaten und Paprikastreifen.
Endlich können wir essen! Ich versuche, mich im Rahmen meiner Möglichkeiten zurückzuhalten. Trotzdem muss ich mir, nachdem mein Teller leer ist, noch einmal vom köstlich schmeckenden Kartoffelsalat nehmen. Um nicht auch noch mal zwei Würstchen zu nehmen, entscheide ich mich für zwei Esslöffel Rührei. Ich darf mich nicht so vollstopfen, muss in meinen Magen noch ein bisschen Platz lassen, um ihn mit Obstsalat und Schlagsahne auszufüllen. Es ist mir egal, ob mich Jasmin und ihre Freundinnen für verfressen halten. Ich muss so einen Tag mit solch einem Speisenangebot ausnutzen. Wer weiß, wann es so viele Köstlichkeiten wieder gibt?
Kaum ist die letzte Person am Tisch mit dem Abendessen fertig – also ich –, stehen Jasmin und ihre Freundinnen auf und wollen sich noch einmal die Füße vertreten nach dem üppigen Essen. Mir ist klar, was die wollen. Ihr Ziel ist der Skaterplatz, weil dort am Samstagabend noch irgendwelche Typen abhängen. Vermutlich hoffen die Prinzessinnen, dort auf einen Prinzen zu treffen oder sogar auf vier. Ich war mal mit Adrian dort. Von Menschen, die nur ansatzweise etwas mit einem Prinzen gemeinsam haben, war dort weit und breit nichts zu sehen.
Kaum haben die Mädchen die Wohnung verlassen, helfe ich Mutter bei der Bewältigung des Abwaschs. „Dein Essen war super!“, sage ich so beiläufig, weil mir aufgefallen ist, dass sich keiner von den Gästen bedankt hat und schon gar nicht Jasmin. Mutter lächelt.
Als der Abwasch gemacht ist, fragt mich Mutter, ob ich mit ins Wohnzimmer komme, um mit ihr irgendeine Unterhaltungssendung zu sehen. Ich antworte, dass ich in unser Zimmer gehe, weil ich noch etwas zu tun habe.
Minuten später sitze ich an meinem Schreibtisch, hab meine Tischlampe an und lege meine Zeichenutensilien zurecht. Vor mir liegen die Skizzen von den Rehen, die ich am Nachmittag beobachtet habe. Ich bemühe mich, die Rehe so lebensnah wie möglich in meiner Reinzeichnung darzustellen. Ich komme gut voran und muss nur sehr wenig wegradieren. Plötzlich klopft es an der Tür und ich bekomme einen Riesenschreck, so vertieft bin ich bei meinem Zeichnen. Mutter kommt lächelnd zu mir an den Schreibtisch, streichelt mir über den Kopf und beugt sich zu meinen Zeichnungen. „Es ist schon halb elf! Mach langsam Schluss. Die Musiksendung ist bereits vorbei. Zeig mal bitte, was du gezeichnet hast.“
Ich schiebe das Blatt an den Schreibtischrand und bin auf ihr Urteil gespannt.
„Das sieht doch toll aus! Ich frage mich, woher du das Talent hast!“
„Tja, wenn nicht von dir, dann vielleicht von meinem Vater, den ich nie kennenlernen durfte!“
„Was heißt durfte. Er hat sich eine andere Frau gesucht, als ich mit dir schwanger war.“
„Ich weiß, hast du schon ein paarmal erzählt.“
„Wenn du so gut zeichnen kannst, könntest du mal Dekorateur oder so etwas Ähnliches werden“, sagt Mutter.
„Ich will mal Zeichnerin werden und damit mein Geld verdienen!“
„Ach Uli, das sind doch Hirngespinste. Vom Rehezeichnen wirst du nicht leben können. Du wirst schon einen ordentlichen Beruf erlernen müssen. Vielleicht Bauzeichner oder so etwas!“
„Ist gut, Mama, ich habe noch Zeit, es mir zu überlegen!“
„Da hast du recht. Übrigens, Jasmin hat angerufen, sie schläft bei Denise.“
„Das ist toll. Da werde ich jetzt duschen gehen, mich ins Bett legen und ungestört auf meinem Handy die Playlist mit Titeln von Marcel Weniger hören.“ Mutter wünscht mir viel Spaß und verlässt das Zimmer.
Nachdem ich geduscht bin, Zähne geputzt habe und meine Schlafklamotten angezogen habe, gehe ich zu Mutter ins Wohnzimmer und wünsche ihr eine gute Nacht.
Nur wenige Minuten später liege ich in meinem Bett, hab das Licht aus und höre meinen Lieblingssänger, der nicht nur gut singen kann, er sieht auch mega aus.
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Als ich wach werde und zu meinem Wecker sehe, bekomme ich einen Schreck. Es ist bereits halb acht. Ich stelle fest, dass ich gute Laune habe. Das liegt an dem schönen Traum, den ich hatte und an den ich mich noch gut erinnere: Ich saß auf dem Hochsitz und habe durch Klatschen ein Reh verscheucht, um es so vor einem Jäger zu retten. Als der Jäger wütend fortgegangen war, kam das Reh zurück und bedankte sich. Es sagte, dass ich einen Wunsch frei hätte. Ich wünschte mir, dass ich einmal eine eigene Ausstellung für meine Bleistiftzeichnungen erhalte.
In diesem Moment werde ich wach. Der Traum war so schön und alles so deutlich, dass er mir Hoffnung macht. Nur beim Zeichnen entwickele ich richtigen Ehrgeiz. Und ich werde alles dafür tun, dass so ein Traum wie der der letzten Nacht einmal in Erfüllung geht.
*
Der schlimmste Tag der Woche ist der Montag, der Wochenbeginn! Und jede Schulwoche beginnt auch an einem Montag. Und es gibt in meinem Leben genug Begebenheiten, bei denen ich ins Klo greife. Der Ort, wo das am häufigsten passiert, ist die Schule. Es wäre übertrieben, wenn ich sagen würde, ich hasse die Schule. So ist es nicht. Aber ich halte die Schule für Zeitverschwendung. Wofür lernt man viele Dinge, die man im späteren Verlauf des Lebens nicht mehr braucht? Neulich, als ich eine Vier in einer Mathearbeit nach Hause brachte, stellte Mutter wieder einmal die Frage, was mal aus mir werden soll. Daraufhin habe ich sie gefragt, wie oft sie in ihrem Leben schon mal die binomischen Formeln benötigt hat. Darauf gab es keine Antwort. War mir klar.
Ich warte an unserem Hauseingang wie immer auf Adrian, damit wir gemeinsam zur Schule gehen können. Mir wird kalt, obwohl ich mich warm angezogen habe. Das Thermometer an der Balkontür hat nur zwei Grad angezeigt. Im Mai!
„Morgen! Wartest du schon lange auf mich?“ Adrian steht vor mir und zuckt entschuldigend mit seinen Schultern.
„Wie immer – zehn Minuten!“, antworte ich. „Bin ich schon gewohnt. Blöd nur, dass es saukalt ist.“
„Sorry! Versuche, mich zu bessern!“
Wer es glaubt! Wir setzen uns endlich in Bewegung. Noch ein paar Minuten länger rumgestanden und ich wäre angefroren.
Im Flur vor unserem Klassenzimmer hören wir schon den Lärm unserer Klassenkameraden. Am liebsten würde ich wieder nach Hause gehen und mich in mein kuscheliges, warmes Bett legen. So aber haben wir gleich Kunsterziehung bei Frau Thomas. Eigentlich ist sie nett, aber sie kritisiert oft meine Zeichnungen, nicht meine Bleistiftzeichnungen, aber alle Farbbilder, Aquarelle oder Acrylbilder. Außerdem ist das Malen nur ein kleiner Teil der Kunsterziehung. Mich interessieren weder die alten Maler noch die Zeiten, in denen sie gelebt haben. Frau Thomas wird nach diesem Schuljahr in eine andere Stadt ziehen. Uns hat sie nur gesagt, dass ihr Mann dort einen neuen Job gefunden hat. Ich hoffe, dass wir im neuen Schuljahr einen Lehrer oder eine Lehrerin bekommen, der oder die meine kleinen Kunstwerke besser zu schätzen weiß. Ich sitze an der letzten Bank in der Fensterreihe. Allein, weil ich es so will!
Frau Thomas betritt das Klassenzimmer und es wird etwas ruhiger. Ich finde, dass sie supertoll aussieht. Ihr gelber Pullover bringt Farbe in diesen tristen, grauen Morgen. Dazu trägt sie eine enge Jeans. Für ihre etwas über dreißig Jahre sieht sie noch ziemlich knackig aus. Nachdem sie uns begrüßt hat, rollt sie ein Bild aus und hängt es an den Kartenhalter. Mir gefällt das Bild nicht. Was soll es darstellen? In der Mitte eines schwarz gefüllten Halbkreises ist ein runder, hellgelber Fleck zu sehen.
„Kann mir jemand sagen, wie das Bild heißt und wer dessen Maler ist?“, wendet sich unsere Lehrerin an uns.
Melissa, unsere Klassenschönste und Oberstreberin, meldet sich sofort. Natürlich wird sie drangenommen. Sie war auch die Einzige, die sich gemeldet hat. „Der Maler ist Jean de Mileur. Und das Bild heißt Licht am Ende des Tunnels!“
„Das ist richtig, Melissa!“, sagt Frau Thomas und ein Lächeln zieht in ihr Gesicht.
Mir ist egal, was das für ein Bild ist, und auch, wer es gemalt hat. Ich verstehe sowieso nicht, wieso dieses Bild ein Kunstwerk sein soll. So etwas kann jeder Grundschüler malen. Bei meinen Zeichnungen weiß man sofort, was ich darstellen will. Anscheinend ist das aber keine Kunst. Ich sehe aus dem Fenster und wünsche mir die Sonne herbei.
Frau Thomas diskutiert mit uns, was das Bild bedeutet, welche Aussage es beinhaltet und in welchen Stil es gemalt wurde. Ich wunder mich über Adrian, der sich sonst kaum an solchen Diskussionen beteiligt. Er sagt, dass es zeigt, dass nach jeder dunklen Zeit ein Licht kommen kann. Frau Thomas lobt meinen Freund, erklärt aber, dass dies nicht genau die Aussage dieses Bild treffe. Ich sehe wieder aus dem Fenster und beobachte eine Kohlmeise, die auf einem Ast herumpickt. Diesen kleinen Vogel würde ich gern zeichnen. Jeder, der mein fertiges Bild sieht, würde erkennen, dass es eine Meise ist.
Die Unterrichtsstunde neigt sich dem Ende zu. Frau Thomas klärt uns über dieses Bild auf. Sie sagt, dass das Dunkle im großen Halbkreis für etwas Negatives steht, ein negatives Ereignis zum Beispiel. Und der gelbe Kreis darin bedeutet, dass man die Hoffnung nicht aufgeben soll, denn nach jeder schlechten Zeit könne es wieder eine positive Zeit geben. Melissa meldet sich und sagt, dass Frau Thomas recht habe und sie es genauso deuten würde.
„Da hat Frau Thomas aber Glück gehabt“, denke ich. Endlich läutet die Pausenklingel, die Erlösung.
Dem Kunsterziehungsunterricht folgt eine Stunde Musik. Auch das ist nicht gerade mein Lieblingsfach.