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Caro und Lina freuen sich riesig auf die Geburt von Sternentänzers Fohlen. Doch eines Nachts wird Cinderella, die Mutter des Fohlens, von der Weide gestohlen. Steckt da etwa der ehemalige Besitzer von Sternentänzer, Frank Stone, dahinter? Was hat seine Anwältin mit der Geschichte zu tun? Und warum kann Caro auf Sternentänzers Rücken nicht mehr in die Zukunft sehen? Eine abenteuerliche Suche beginnt, bei der nicht nur Sternentänzer in große Gefahr gerät …
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2015
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In der Buchreihe „Sternentänzer“ sind bisher erschienen:
Band 1: Das Rätsel um den weißen Hengst,
Band 2: Das geheimnisvolle Mädchen
Band 3: Weißer Hengst in Gefahr
Band 4: Caro unter Verdacht
Band 5: Rettung für Lindenhain
Band 6: Bedrohung für den weißen Hengst
Band 7: Letzter Auftritt des weißen Hengstes?
Band 8: Der unheimliche Pferdehof
Band 9: Zeit der Entscheidung
Band 10: Hoffen und Bangen in Lilienthal
Band 11: Silbersterns Geheimnis
Band 12: Abschied mit Folgen
Band 13: Caro und das Mädchen im Moor
Band 14: Ponys in Not
Band 15: Eine rätselhafte Vision
Band 16: Das Geheimnis der Schlossruine
Band 17: Caro und die weiße Stute
Band 18: Die Botschaft des weißen Hengstes
Band 19: Achterbahn der Gefühle
Band 20: Die geheimnisvollen Briefe
Band 21: Eine unglaubliche Entdeckung
Band 22: Ein verhängnisvolles Erbe
Band 23: Geister aus der Vergangenheit
Band 24: Die Magie des weißen Hengstes
Band 25: Voller Einsatz für Lina
Band 26: Verwirrung des Herzens
Band 27: Caro und das Geheimnis der alten Frau
Band 28: Aufregung um Stute Aziza
Band 29: Eine Reise voller Überraschungen
Band 30: Caro und der rätselhafte Dieb
Band 31: Der Eisprinz und die große Liebe
Band 32: Ein unglaublicher Verdacht
Band 33: Die verschwundenen Ponys
Band 34: Caro gibt nicht auf
Band 35: Gefährliche Zeiten auf Lindenhain
Band 36: Feuerprobe für die Liebe
Band 37: Wo ist Sternentänzer?
Lisa Capelli
Band 3
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Sternentänzer, Band 3 – Weißer Hengst in Gefahr6. Auflage © 2008 by Panini Verlags GmbH,Rotebühlstraße 87, 70178 StuttgartAlle Rechte vorbehalten
Chefredaktion: Claudia WeberRedaktion: Sonja WittlingerLektorat: Susanne WahlUmschlag: tab indivisuell, StuttgartFotos: © Juniors Bildarchiv; mauritius images,CMI/Picture 24/Kuttig SiegfriedSatz: CB Fotosatz & Werbeproduktion GmbH, FellbachISBN: 978-3-8332-1340-3eISBN: 978-3-8332-3084-4
www.panini.de
In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.
Es war ein Spätsommertag wie aus dem Bilderbuch, als Carolin Baumgarten, genannt Caro, nach einem ausgiebigen Frühstück auf ihrem Bike von Lilienthal nach Lindenhain jagte. Die Sonne brannte, der Himmel trug hellblaue Seide, obwohl der Wetterdienst Gewitter und Regen vorhergesagt hatte. Kein Windhauch wehte, aber die Luft flirrte ganz merkwürdig und ließ ahnen, dass noch etwas bevorstand. Hoch oben auf einem Hügel zwischen mächtigen, knorrigen Linden lag Carolins geliebter Pferdehof. Vor den Ställen stand ein olivgrüner Geländewagen mit einem Pferdeanhänger, auf der weiten Koppel neben der Reithalle ritten ein paar Kinder auf Ponys. Über den Teich flatterte lauthals quakend eine Entenschar, aus einem Fenster im Haupthaus dudelte das Radio. Eulalia, die Hofkatze, kauerte auf einem Zaunpfosten und putzte sich. Carolina und Herr Maier, die beiden Hofhunde, bemühten sich, ihre Welpenschar zusammenzuhalten. Auf der saftgrünen Weide grasten die ersten hungrigen Pferde. Hinter dem Haupthaus kurvten die Bagger hin und her, bohrten ihre Schaufeln in die Erde und wirbelten dabei jede Menge Staub auf. Nervig, aber notwendig. Denn Gunnar Hilmer, der Chef von Lindenhain, hatte beschlossen anzubauen, um mehr Feriengäste unterbringen zu können. Bisher gab es gerade mal Zimmer für vier Besucher. Viel zu wenig. Zumal es finanziell mit Lindenhain nicht gerade zum Besten stand. Feriencamps, Ponylager, Reitseminare – Gunnar hatte große Pläne. Turniere sollte der Reiterhof künftig ausrichten, am besten internationale, mit der Reiterelite aus aller Welt – zuvor musste allerdings erst mal der lästige Umbau überstanden werden. Alles war wie immer an diesem Tag auf Lindenhain. So schien es zumindest. Doch der Schein trog, was Carolin noch nicht wissen konnte, als sie ihren Drahtesel an der Stallmauer abstellte.
Gunnar und Vicky, Reitlehrerin und seine bessere Hälfte, hockten gemütlich im Hof auf der grünen Holzbank unter der großen Linde, tranken Kaffee und mampften Apfelkuchen.
„Hi Caro“, winkte ihr Vicky zu. Sie deutete mit der Kuchengabel auf das Tablett „Magst du was mitessen? Schmeckt superlecker!“
„Guten Morgen, Vicky, hi Gunnar! Nein danke, hab schon gefrühstückt“, grüßte Carolin fröhlich zurück. Sie war ausgesprochen guter Laune an diesem sonnigen Morgen. Einfach so. Ohne Grund. Oder vielleicht, weil die Sonne schien und weil sie platzen könnte vor lauter Vorfreude. „Wie geht’s denn unserer lieben Cinderella, Vicky?“
Die wunderschöne schwarze Araberstute war trächtig von ihrem Sternentänzer. Carolins geliebtes Pferd wurde Vater! Seit Carolin davon erfahren hatte, war dies jeden Morgen ihre erste Frage.
„Alles im grünen Bereich“, nickte Vicky mit vollen Backen. „Die Lady frisst für drei! Vielleicht werden’s ja Zwillinge.“
„Prima“, freute sich Carolin und lief schnurstracks zum Stall in Cinderellas Box. Die wieherte ihr schon freudig entgegen und knabberte gleich an ihrem T-Shirt.
„Ja, ja, meine Süße, gleich kriegst du was zu futtern!“ Carolin streichelte zärtlich das seidenweiche, pechschwarze Fell der Stute. Ihr Bauch zeigte mittlerweile schon eine ganz deutliche Rundung. In ein bis zwei Monaten war es so weit und sie würde ihr Fohlen zur Welt bringen. Carolin konnte es kaum noch abwarten, den Nachwuchs von Cinderella und Sternentänzer, ihrem Sternentänzer, endlich zu sehen.
Aus der Nachbarbox meldete es sich auch schon. Ihr über alles geliebtes Pferd. Er streckte die Lippen gespitzt durch die Gitterstäbe, so, als wollte er Carolin ein Küsschen zuwerfen. Seine schönen Augen glänzten geheimnisvoll und dunkel wie Kohlestücke. Sternentänzer war nicht nur ein bildschöner weißer Araber, er war etwas ganz Besonderes.
„Hallo Caro!“ Lina kam in den Stall gestiefelt und unterbrach Carolin in ihren Gedanken. Wie immer trug sie ihre weiten, geblümten Röcke übereinander, dicke Schnürstiefel und eine Bluse mit vielen Schnüren. Ihr Haar fiel lang und dunkel in ungezähmten Locken über ihre Schultern und wirkte, als sei eben erst der Wind durchgeweht. Lina war inzwischen ihre beste Freundin geworden, was anfangs, als Lina neu in die Klasse gekommen war, ganz und gar nicht so ausgesehen hatte. Doch nachdem sie einige Abenteuer gemeinsam bestanden hatten, konnte die beiden Mädchen nichts mehr trennen. Lina war auch die Einzige, der Carolin von Sternentänzers geheimnisvoller Gabe erzählt hatte. Nur sie wusste, dass Sternentänzer in die Zukunft blicken konnte. Dass man ihm in einer Vollmondnacht eine Frage stellen konnte und die Antwort erhielt. Nur Lina wusste Bescheid – und Nick. Der Mann für alles, Stallbursche, Reitlehrer, Ausmister in einem. Doch bis heute war sich Carolin nicht darüber im Klaren, ob es richtig gewesen war, die beiden einzuweihen. Oder ob sie Sternentänzers Geheimnis nicht besser für sich behalten hätte.
Lina tätschelte Cinderellas Hals. „Hat ja schon ein ganz schönes Bäuchlein, unsere Mama in spe. Hast du eine Ahnung, wann genau sie abfohlen wird?“
Carolin zuckte die Schulter. „Wüsste ich auch gern! Nick hat mir erklärt, dass eine Stute normalerweise ungefähr 336 Tage trächtig ist. Allerdings wissen wir ja nicht, wann ganz genau Sternentänzer sie gedeckt hat.“
„Also abwarten und jede Menge Jasmintee trinken“, grinste Lina und zupfte ein paar Strohreste aus Cinderellas pechschwarzer Mähne. „Und eines Morgens, wenn wir in den Stall kommen, erwarten uns statt zwei vier glänzende Kohleaugen!“
„Es müsste schon noch so um die ein, zwei Monate dauern“, vermutete Carolin mit glänzenden Augen. „Ich freu mich schon so. Stell dir vor, so ein kleines, süßes Fohlen, weiß wie Schnee, schön wie Sternentänzer, meinetwegen auch schwarz wie Ebenholz, das wie er in die Zukunft blicken kann.“
„Moment mal!“, wandte Lina ein. „Woher willst du denn wissen, ob es Sternentänzers Gabe erben wird?“
Carolin schaute die Freundin so überrascht an, als habe sie eben daran gezweifelt, dass Weihnachten im Dezember ist. „Es muss einfach so sein.“
Als die beiden Mädchen ein paar Stunden später den Stall verließen, war es vorbei mit dem schönen Wetter. Dicke, grauschwarze Wolken hingen so tief am inzwischen trüben Himmel, dass sie beinahe die Baumspitzen der hohen Linden zu berühren schienen. Es goss wie aus Kübeln. Donner grollte und grelle Blitze zuckten durch die Luft.
„So ein Mistwetter!“, schimpfte Carolin, zog sich ihr dunkelblaues Shirt bis weit über die Ohren und spurtete Richtung Haupthaus. Lina raste hinter ihr her. Unter der großen Linde blieb Carolin plötzlich wie angewurzelt stehen und starrte zum Stall. „Moment. Warte mal.“
„Was ist denn?“, japste Lina. „Komm weiter, wir werden klatschnass. Außerdem sollte man bei Gewitter nicht ausgerechnet unter Bäumen stehen!“
Doch Carolin packte Lina wie elektrisiert an der Schulter. „Da drüben, bei den Ställen, da ist jemand!“
Lina stopfte ungerührt ihr langes Haar in ihre Jacke. „Na und? Es sind jede Menge Leute auf Lindenhain unterwegs. Warum sollte da nicht jemand bei den Ställen sein? Vielleicht ist es ein Bauarbeiter.“
„Glaube ich nicht“, entgegnete Carolin zögerlich. „Irgendetwas ist da merkwürdig. Dieser Jemand wollte gerade die Tür öffnen, und als er mich sah, hat er sie ganz schnell wieder zugezogen.“
„Du siehst schon Gespenster, Caro!“ Lina zog missmutig den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Anschlag hoch. Der Regen prasselte auf den Hof. „Der Wer-auch-immer wollte wahrscheinlich nur nicht so nass werden wie wir, das ist alles.“
Doch Carolin ließ sich nicht beirren. „Ich hab auf einmal so ein verdammt ungutes Gefühl. Komm schon, lass uns nachsehen!“ Sie spurtete los.
„Nee! Ich bin jetzt schon nass bis auf die Knochen“, protestierte Lina genervt, rannte aber dann doch hinter Carolin her zurück zum Stall.
„Wir müssen leise sein“, flüsterte Carolin und öffnete vorsichtig die Stalltür. Sternentänzer wieherte ihnen schon in der Stallgasse entgegen, er spürte wohl, dass sie kamen.
„Siehst du! Keiner da!“, meinte Lina, als sie die Boxen entlang zu Sternentänzer gingen und alles aussah wie immer.
„Psst!“ Carolin legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen. „Leise!“
„Ach was! Wenn wer da ist, wird er sich melden!“ Lina brüllte lauthals in den Stall: „Hallo, Sie da! Ist da wer?“
Niemand antwortete. Sie hörten nur ein Wiehern, Schnauben und das heftige Trommeln der fetten Regentropfen auf dem Dach.
Carolin öffnete Sternentänzers Boxentür. „Na, mein Süßer!“ Liebevoll streichelte sie über seine samtweichen Nüstern. „Ich bin sicher, dass jemand hier war, ich spüre das! Und Sternentänzer auch! Hier …“ Sie packte Linas Hand und drückte sie gegen Sternentänzers Bauch. „Fühl mal, sein Herz schlägt so schnell wie eine Trommel. Als ob er große Angst hätte.“
Lina zog ihre Hand wieder weg. „Quatsch. Schlägt wie immer!“
„Hmm“. Gerade als Carolin halbwegs überzeugt war, sich alles nur eingebildet zu haben, fiel ihr Blick auf einen roten Fleck im Stroh. Sie bückte sich und hob eine zusammengeknüllte Zigarettenschachtel auf. „Hier.“ Triumphierend hielt sie Lina ihr Fundstück unter die Nase. „Und was bitte ist das?“
„Eine Marlboro-Schachtel“, antwortete Lina gelangweilt.
„Ja, und?“ Carolins Augen funkelten.
„Was und?“
„Wer bitte raucht bei uns auf dem Pferdehof?“
Lina zuckte die Achseln. „Keiner.“
„Keiner. Eben. Ich kenne nur einen, der infrage kommt.“
„Und wen?“
Carolin machte eine Pause, dann holte sie tief Luft und sprach den Namen aus, den sie am meisten hasste: „Frank Stone.“
Lina verdrehte die Augen und blickte genervt an die Stalldecke. „Nicht schon wieder. Du hast ja echt eine Stone-Allergie! Wenn es um den geht, tickst du total aus. Was soll der Typ denn bitte hier?“
„Ich weiß, dass er hier war. Ich spüre das von meinem großen Zeh bis in jede einzelne Haarspitze. Und irgendetwas ist hier im Gange“, murmelte sie. „Da bin ich ganz sicher.“
Lina beäugte die Freundin misstrauisch von der Seite. „Normal ist das nicht mehr!“
Frank Stone war der frühere Besitzer von Sternentänzer. Dass der herrliche Hengst in die Zukunft blicken konnte, hatte er erst erfahren, als er Carolin und Nick zufällig bei einem Gespräch im Stall belauscht hatte. Daraufhin hatte er Sternentänzer entführt und wollte seine Gabe für sich nutzen. Doch es war ihm nicht gelungen, das Geheimnis herauszufinden. Und es würde ihm niemals gelingen, denn Sternentänzers magische Kräfte konnte nur erfahren, wer sein Vertrauen besaß. Wie sich später herausstellte, war Stone ein polizeilich gesuchter Verbrecher und wurde verhaftet. Von der Belohung, die auf ihn ausgesetzt war, hatte sich Carolin Sternentänzer kaufen können. Inzwischen war Frank Stone jedoch wieder auf freiem Fuß.
Als sie an diesem Tag zum zweiten Mal den Stall verließen, blieb Carolin hinter dem großen Tor auf einmal wie angewurzelt stehen. „Da! Lina! Guck! D a !“, presste sie hervor und deutete mit dem Zeigefinger auf eine Gestalt, die mit großen Schritten über den Hof Richtung Parkplatz marschierte. Hochgewachsen, wuchtig, dunkelbraune kurze Haare. Er war es. Diesen Mann würde sie unter hundert anderen jederzeit erkennen. Sein Gesicht hatte sich in ihrem Kopf eingebrannt.
„Frank Stone“, murmelte sie und wagte vor Panik kaum zu atmen. „Das war Frank Stone. Ich wusste es doch.“
„Meinst du echt?“ Lina hegte noch immer Zweifel. „Vielleicht bildest du dir das nur ein?“
„Oh nein!“ Carolin schüttelte den Kopf. In ihrem Hirn summte es mit einem Mal wie in einem Bienenstock. „Hundertpro. Das war er.“
Lina versuchte die aufgebrachte Freundin zu beruhigen. „Ja, gut, dann war er es eben. Vielleicht wollte er sich nur mal umsehen. Ist doch kein Grund zur Panik!“
„Der? Einfach nur so? Umsehen? Niemals! Er will meinen Sternentänzer. Er will seine Gabe für sich nutzen. Beim ersten Mal hat es nicht geklappt. Nicht mal mit Prügel hat er das Geheimnis herausgefunden.“ Bei dem Gedanken an den düsteren Verschlag im Wald, in dem Sternentänzer gefangen gehalten und geschlagen worden war, begann Carolin am ganzen Leib zu zittern. „Und jetzt ist er gekommen und will ihn zurückholen.“
Am nächsten Morgen begann erneut der Ernst des Lebens. Die Schule hatte sie nach den Ferien wieder. Der neue Klassenlehrer, Armin Pfefferbeißer, war ein pickeliges Milchgesicht mit Nickelbrille, das man vermutlich zum ersten Mal auf eine Schulklasse losgelassen hatte. So einer von der betont lockeren Sorte, die Jeans und Birkenstock tragen und so tun, als wären sie der beste Freund ihrer Schüler. Da kam doch glatt Sehnsucht nach Frau Habermehl auf, die sich hatte versetzen lassen. Der einzige Lichtblick war, dass Carolin eine der hinteren Bänke ergattert hatte und dort neben Lina saß. Und dann kam Tina. Als Letzte rauschte sie in den Klassenraum. Rank und schlank wie eine Elfe, ihr Bauch flach wie ein Brett. Sie trug Jeans. Mit einem eng anliegenden T-Shirt. Die pummelige Schokoriegel-Tina, deren Lebensinhalt bisher aus Kuchen, Gummibärchen und Pfefferminzbonbons bestanden hatte! Deren Oberteile früher eher an Zelte erinnerten als an Kleidungsstücke.
Die ganze Klasse starrte ihr mit offenen Mündern nach, als sie durch die Reihen schritt. Es war mucksmäuschenstill, so, als würden alle die Luft anhalten.
Julia sprach als Erste aus, was alle dachten: „Wow, Tina! Wie siehst du denn aus? Was ist denn mit dir passiert? Bist du’s überhaupt?“
„Beinahe hätte ich dich nicht mehr wieder erkannt“, nickte Heike.
Tina zuckte ganz lässig die Schultern. „Ich bin’s. Nichts ist passiert“, behauptete sie kurz angebunden und ließ sich auf den Platz neben Luisa fallen, der noch frei war. Julia saß neben Heike, mit der sie zuletzt richtig viel Zeit verbracht hatte. Ein nicht unwichtiger Grund dafür war wohl Heikes süßer Bruder, den Julia rattenscharf fand. Und Valentina aus Toronto, die bis vor kurzem seine Freundin gewesen war, war inzwischen wieder zurück in Kanada. Beste Chancen also für Julia Schlupf, Töchterchen aus stinkreichem Hause, das sich vor allem für Jungs, Klamotten und Makeup interessierte. Die spindeldürre Annette mit ihren Spaghettihaaren gehörte nicht mehr zur Clique, sie hatte nach den Vorfällen im letzten Jahr die Schule gewechselt. Aber niemand vermisste sie. Nicht einmal Julia, obwohl Annette ihr größter Fan gewesen war. Wer will sich schon von einer Diebin bewundern lassen?
„Bist du krank, Tina? Drüsenstörungen? Schilddrüse, oder so?“, erkundigte sich Luisa besorgt.
Tina reagierte nicht.
„Ich weiß“, kicherte Heike. „Du hast dir in den Ferien Fett absaugen lassen!“
„Da steckt ein Typ dahinter“, mutmaßte Julia. „Ich verwette mein gesamtes Taschengeld für die nächsten fünf Monate, dass Tina verknallt ist!“
Ein feines Lächeln huschte über Tinas Gesicht, doch über ihre Lippen kam kein Wort.
Julia klatschte in die Hände. „Seht ihr! Schätze, ich habe Recht.“
„Ist doch egal warum, ich finde jedenfalls, Tina sieht klasse aus“, sagte Carolin.
„Finde ich auch.“ Lina nickte zustimmend.
Julia klatschte sich vor Vergnügen auf ihre seidenbestrumpften Schenkel, die unter ihrem gemusterten Minirock hervorguckten. „Unsere Schoko-Tina ist verknallt“, kicherte sie.
Luisa zupfte Tina. „Du musst uns alles ganz genau erzählen!“
Doch die lächelte weiter nur geheimnisvoll.
„Der Typ muss ja ein echter Knaller sein, wenn unsere Tina dafür auf ihre geliebten Schokoriegel verzichtet“, grinste Julia.
„Guten Morgen, meine Damen! Wenn ich um eure Aufmerksamkeit bitten dürfte …“ Armin Pfefferbeißer mit seiner sauertöpfischen Miene beendete vorerst die Spekulationen um Tinas neue Figur.
„Ich werde euer neuer Klassenlehrer sein“, begann er und sah über den Rand seiner Nickelbrille in die Runde. „Ich hoffe, ihr freut euch darüber genauso wie ich.“
Einhelliges Nicken. Zumindest am Anfang musste man doch noch einen guten Eindruck machen. Zum Glück ging es am ersten Schultag nach den Ferien einigermaßen gemütlich ab und nach der Verteilung der Stundenpläne konnten sie wieder nach Hause gehen.
Schritte nähern sich. Carolin will weglaufen, doch ihre Beine sind plötzlich schwer wie Blei. Sie kann sich nicht mehr bewegen. Ist wie festgewurzelt. Die Schritte kommen immer näher, eine schwarze Hand packt sie von hinten am Arm, reißt sie herum. Sie sieht in ein Gesicht mit einer Clownsmaske. Der Clown lacht. Ein breites, fieses, hässliches Lachen. Die schwarze Hand packt sie an der Schulter, wandert zu ihrem Hals. Bevor der Clown zudrückt, reißt er sich mit der anderen Hand die Maske herunter und lacht sie böse an. Es ist Stone. Jetzt schließen sich seine Hände um ihren Hals …
„Wahhhh! Nein! Bitte nicht!“ Carolin schreckte hoch und atmete so hektisch wie eine Schwangere kurz vor der Geburt. Sie sah sich um. Ihr Zimmer, das Pferdeposter an der Tür, Sternentänzers Bild auf ihrem Schreibtisch, Fensterläden, die leise klapperten. Sie erkannte erleichtert, dass sie in ihrem Bett lag und nur geträumt hatte. Schweißgebadet fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf, bis sie um fünf Uhr durch das laute Klingeln des Weckers erneut wach wurde.
Der Regen, der am Abend in Strömen vom Himmel gefallen war, hatte endlich aufgehört. Noch tropfte es von den Zweigen, dicke Nebelschwaden hingen über den Wiesen. Carolin war extra früh aufgestanden, um vor der Schule noch einmal über Cinderellas Bauch zu streicheln. Denn heute war Donnerstag, und das bedeutete Unterricht bis viertel vor vier und keine Zeit für Lindenhain.
Während sonst in den frühen Morgenstunden auf Lindenhain noch alles schlief, inklusive Herrn Maier und Carolina, herrschte an diesem Morgen ein hektisches Durcheinander. Vicky lief mit wehenden Haaren wild gestikulierend vom Stall zum Haupthaus. Nick war ebenfalls schon da und tigerte neben dem Stall auf und ab, bevor er im Haupthaus verschwand. Als Carolin dann auch noch einen Polizeiwagen entdeckte, kroch eine schreckliche Vorahnung in ihr hoch. Sie ließ das Rad fallen und raste blitzschnell zum Stall.
Sternentänzer! Stone!, waren ihre ersten Gedanken. Doch da stand Sternentänzer wie immer in seiner Box, wieherte ihr friedlich entgegen und inspizierte ihre Taschen. „Gott sei Dank! Du bist hier!“ Caro drückte erleichtert ihren Kopf ganz fest in sein seidenweiches, glänzendes Fell.
Aber was war denn dann geschehen? Warum diese Hektik? Und vor allem: warum die Polizei? Carolin hechtete aus dem Stall zu Gunnar ins Büro. Der lehnte am Fenster, hatte seinen Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen und zog so heftig an einer Zigarette, dass sich in seinen Wangen zwei Löcher so tief wie der Teich im Garten bildeten. Es ist das allererste Mal, dass ich Gunnar rauchen sehe, dachte Carolin.
„Was ist denn hier los, Gunnar?“, rief sie ihm entgegen.
„Es gibt ein bisschen Ärger“, nuschelte er und pustete Rauchkreise in die Luft. Er schaute ihnen hinterher.
Carolin sah ihm mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. „Was denn? Sag schon!“
„Cinderella.“ Noch mehr Rauchkreise.
Carolins Herz rutschte vor Schreck in die unterste Tasche ihrer Cargohose. „Was ist mit ihr? Ist was mit dem Fohlen? Hatte sie eine Totgeburt?“
Gunnar hielt inne, drückte die noch nicht einmal zur Hälfte gerauchte Zigarette aus, lehnte sich gegen den Schreibtisch und schob den Cowboyhut in den Nacken. „Caro, Cinderella ist verschwunden. Vermutlich schon seit gestern Nacht. Spurlos. Als Vicky heute Morgen nach ihr sehen wollte, war die Box leer.“
Carolin schnappte nach Luft. „Sag das noch mal!“
„Cinderella ist verschwunden. Weg.“ Er sah betreten auf den Boden. „Wir vermuten, dass sie entführt wurde.“ Er machte eine kurze Pause. „Kannst dir ja vorstellen, dass die Reifenbachs völlig außer sich sind. Die haben auch gleich die Bullen hergeschickt.“ Er knallte mit der Faust auf den Tisch. „Verdammter Mist! Ausgerechnet jetzt! Das hat mir gerade noch gefehlt.“
Reifenbachs waren die Besitzer der Stute. Sie waren stinkreich, wohnten in Berlin und hatten Cinderella vorübergehend, bis zu ihrer Niederkunft, auf Lindenhain untergestellt.
Carolin ließ sich auf einen Stuhl sinken, fuhr sich mit beiden Händen durch ihr kurzes braunes Haar und knabberte auf ihrer Unterlippe. Ein dämlicher Tick. Das tat sie nur, wenn sie überhaupt nicht mehr weiterwusste.
„Wir müssen was unternehmen, Gunnar.“ Carolin sprang auf. „Suchtrupps losschicken, den Wald durchkämmen. Wenn es sein muss, jedes Gebüsch einzeln durchsuchen!“
„Das macht doch schon die Polizei, Caro. Die tun alles Menschenmögliche“, versuchte Gunnar sie zu beruhigen.
„Oh nein!“ Carolin hatte schon die Türklinke in der Hand. „Ich gehe sie suchen, Gunnar! Und ich weiß auch schon wo!“