Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - E-Book

Stille Nacht, höllische Nacht E-Book

Thomas R. Behrendt

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Beschreibung

Manuela ist schwanger. Eigentlich will sie es an Heiligabend ihrem Freund Martin erzählen. Aber vorher kommt es zum Streit, und sie fährt allein nach Hause zu ihren Eltern. Mitten in die Weihnachtsfeier hinein platzt ein Anruf ihres Chefs: Sie muss kurzfristig die Nachtschicht im Schrankenwärterhaus an der abgelegenen Landstraße übernehmen. Dort wird sie von einem jungen Türken überfallen und als Geisel genommen. Er ist zuvor aus der Psychiatrie entflohen und hat offenbar zwei Morde auf dem Gewissen. Als er gegen Manuelas Willen einen schweren Unfall auf dem Bahnübergang provoziert, überschlagen sich die Ereignisse...

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Thomas R. Behrendt

Stille Nacht, höllische Nacht

Weihnachtsthriller nach einer wahren Begebenheit

 

 

 

Dieses eBook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

24.12.2001

18:22 h

19:13 h

20:14 h

20:20 h

21:19 h

21:13 h

21:47 h

22:18 h

22:29 h

23.10 h

23:21 h

23:31 h

23:33 h

23:50 h

25.12.2001

00:06 h

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05:48 h

05:52 h

05:56 h

06:10 h

09:35 h

16.02.2002

Nachwort

Impressum

Kapitel 1

Stille Nacht,

Höllische Nacht

24.12.2001

16:55 h

„Überraschung!“

Martin Wittkowsky knipste das Nachttischlämpchen an und drehte sich langsam um. Eine Sekunde blieb er starr vor Staunen. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Vor der offenen Badezimmertür stand eine wundersame Gestalt. Sie war in einen wallenden roten Mantel gehüllt, der ihr bis zu den Knien reichte. Auf dem Kopf trug sie eine ebenso rote Zipfelmütze, unter der blonde Locken hervorlugten.

„Fröhliche Weihnachten“, sagte Manuela und riss den roten Mantel weit auf. Sie hatte nichts drunter.

„Hey“, lachte Martin weiter, „da muss ich ja vor Scham erröten.“ Er streckte seine Arme nach ihr aus und zog sie zu sich herab. „Komm' her, du Weihnachtsmann.“

Manuela leistete nur kurz Widerstand, dann ließ sie sich bereitwillig aufs Bett sinken.

„Fröhliche Weihnachten“, sagte jetzt auch Martin und rückte näher an sie heran, bis er mit der Zunge ihr rechtes Ohr erreichen konnte. Er begann zärtlich daran zu lecken.

„Ich hab' noch eine weitere Überraschung für dich“, flüsterte Manuela geheimnisvoll.

„Ich hab' auch eine Überraschung für dich.“

„Echt? Was ist es denn?“ Ihre Neugier war geweckt.

„Du zuerst.“

„Nein, du.“ Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, versetzte sie ihrem Freund einen sanften Stoß in die Rippen.

„Nur wenn du den ganzen Abend bei mir bleibst.“

Manuela richtete sich jetzt abrupt auf und schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber du weißt doch, dass das nicht geht. Das kann ich meinen Eltern nicht antun am Heiligen Abend. Unmöglich. Außerdem kommen meine Schwester und mein Schwager mit dem Kleinen. Ich hab' ihn bestimmt ein halbes Jahr nicht gesehen. Und er ist doch mein Patenkind.“

„Ich weiß, aber...“

„Wie oft haben wir das Thema schon durchdiskutiert?“, fragte Manuela. „Anscheinend willst du mich nicht verstehen.

„Deinen Eltern kannst du es nicht antun“, sagte Martin, ohne auf ihre Frage einzugehen, „aber mir schon? Seinen Freund kann man am Heiligen Abend ruhig sitzenlassen – oder was?“

„Jetzt bist du wirklich unfair. Du kannst ja mitkommen. Das hab' ich dir immer wieder angeboten.“

„Mitkommen?“ Martin schaute sie an, als hätte sie ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. „Du weißt genau, dass ich dazu keinen Bock hab'.“

„Wieso nicht?“

„Das ganze weihnachtliche Getue – nein danke. Ich würde mich total unwohl fühlen in eurem trauten Familienkreis. Wie ein Fremdkörper. Wie das fünfte Rad am Wagen.“

„Quatsch! Meine Eltern mögen dich doch.“

„Dann haben sie eine merkwürdige Art es zu zeigen. Vor allem dein Vater.“

„Nur weil du immer gleich mit Politik anfängst.“

„Man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen.“

„Aber nicht auf so provozierende Art.“

„Dein Vater ist einfach vollkommen intolerant.“

„Du kennst ihn eben nicht richtig.“

„Gut genug.“

„Nur weil er mal eine Bemerkung über deine lange Mähne gemacht hat.“

„Nicht nur.“

„Und weil er deine Verschwörungstheorien ablehnt.“

„Er nimmt mich eben nicht ernst.“

„Hhm.“ Manuela hatte die Diskussion jetzt satt. Sie war überzeugt, dass Martin ihrem Vater Unrecht tat. „Wie du willst“, sagte sie deshalb nur, „dann bleib' eben hier.“ Und nach einem kurzen Moment beiderseitigen Schweigens: „Außerdem bin ich ja nur für ein paar Stunden weg. Spätestens um zehn komme ich wieder heim.“

„Aber keine Minute später!“

Vergeblich suchte Manuela in Martins Augen den weichen Kinderblick, den sie so sehr liebte. Doch sein Blick blieb hart. Und sie konnte seinen Ärger sogar ein bisschen verstehen. Wie gerne wäre sie geblieben, aber Weihnachten gehörte nun mal der Familie. Das war schon immer so. An Heiligabend versammelten sich die Herders unterm festlich geschmückten Weihnachtsbaum, sangen Weihnachtslieder, packten Weihnachtsgeschenke aus und machten sich anschließend über den Weihnachtsbraten her. Das würde auch so bleiben, bis Manuela irgendwann mal eine eigene Familie hätte. Vielleicht schon im nächsten Jahr, überlegte sie. Denn sie war schwanger. Sie wusste es erst seit ein paar Tagen. Sie hatte den Test gemacht, und er war positiv ausgefallen.

Martin wusste es noch nicht. Eigentlich hatte sie es ihm heute sagen wollen. Doch sie hatte Bedenken. Bedenken, dass er sich über das Baby nicht so freuen würde wie sie. Denn für seine fast fünfundzwanzig Jahre war ihr Freund noch ziemlich unreif. Ein Kindskopf. Ein liebenswerter zwar, aber eben ein Kindskopf. Irgendwie konnte sie sich Martin als verantwortungsvollen, treusorgenden Vater nicht so recht vorstellen. Er studierte Geografie im neunten Semester. Es war ein Fernstudium. Kein Ende absehbar. Ansonsten jobbte er so herum, um sich finanziell über Wasser zu halten

Und er hatte zu viele andere Dinge im Kopf. Vor allem seine Motorräder. Drei Stück standen unten in der Garage. Nur eines fahrbereit, die beiden anderen mehr oder weniger Schrotthaufen. Doch er setzte alles daran, sie zum Laufen zu bringen. Er verbrachte seine ganze Freizeit damit. Stunden. Tage. Wochen. Meistens hatte er ölverschmierte Hände, immer hatte er schwarze Ränder unter den Fingernägeln. Und ihre kleine Wohnung war voll mit Modellen. Sämtliche Regale. Sein Schreibtisch. Sogar auf dem Fußboden standen Miniatur-Motorräder herum. Okay, ein Hobby braucht schließlich jeder, dachte Manuela, aber Martin und seine Motorräder, das kam ihr manchmal schon ein wenig übertrieben vor. Außerdem hatte er noch andere zeitraubende Hobbys: Er spielte Schlagzeug in einer Band und Basketball im Verein. Mindestens einmal die Woche zog er mit seinen Kumpels um die Häuser. Ohne Manuela selbstverständlich. Sie fragte sich, ob in seinem Leben überhaupt Platz war für sie und das Baby. Und es ärgerte sie deshalb umso mehr, dass Martin so wenig Verständnis aufbrachte, wenn sie ausnahmsweise mal ihr eigenes Programm durchziehen wollte. So wie heute Abend.

Jetzt stand sie auf, legte den roten Mantel und die Zipfelmütze ab, dann zog sie langsam ihre Jeans und ihren gestreiften Pullover an.

Martin blieb auf dem Bett liegen. Er war sauer. Mit Weihnachten hatte er zwar nicht viel am Hut, aber allein sein am Heiligen Abend, das wollte er auch nicht. Seine Eltern waren geschieden, und er hatte kaum noch Kontakt zu ihnen. Der Vater war beruflich im Ausland. Die Mutter wohnte bei ihrem neuen Liebhaber, rund fünfhundert Kilometer entfernt. Eine Karte hatte sie ihm zu Weihnachten geschrieben: „Ich hoffe, dir geht’s gut, mein Junge. Melde dich mal wieder!“ Ja, das würde er tun. Irgendwann. Aber nicht heute. So sentimental war er nun auch wieder nicht. Vielleicht im neuen Jahr.

Martin sah Manuela wortlos zu, wie sie sich fertig machte zum Gehen. Er hasste Familienfeste. Und er konnte überhaupt nicht verstehen, warum ihn Manuela heute Abend im Stich ließ. Sie hätten es sich in ihrer gemeinsamen Wohnung gemütlich machen können. Vielleicht zusammen etwas kochen oder eine Pizza bestellen. Und danach – ja, da wäre ihm auch schon was eingefallen. Aber das schien ihr egal zu sein. Familie und Tradition waren ihr eben wichtiger. Und dann natürlich ihr Pflichtbewusstsein. Es gehörte zu Manuelas typischen Eigenschaften. Wurde ihr wahrscheinlich auf der Arbeit eingetrichtert. Bei der Bahn. Trotz Privatisierung hatten sie da eben immer noch die alte Beamtenmentalität. Und Manuela liebte ihren Job. Das hatte sie ihm oft genug erzählt. Am liebsten machte sie den Schalterdienst am Bahnhof. Fahrkarten verkaufen. Mit Menschen zu tun haben. Dabei konnte das alles gar nicht so aufregend sein für jemanden mit Abitur wie sie. Einmal Köln und zurück. Wie bitte, 18 Mark? Für die paar Kilometer? Martin hatte Manuela mehrmals bei der Arbeit besucht. Viele Bahnkunden ließen an ihr den Frust ab, wenn sie sich über den Fahrpreis ärgerten oder über den Zug, der wieder mal Verspätung hatte. Aber Manuela blieb immer freundlich. Und doch bestimmt. So wie jetzt gerade.

Ach, sollte sie doch abhauen! Er würde sich auch ohne sie amüsieren.

„Tschüss dann“, sagte Manuela knapp und kramte in ihren Manteltaschen nach dem Autoschlüssel. „Ich muss jetzt. So gegen halb zehn/zehn bin ich wieder zurück.“

„Meinetwegen. Mach', was du willst.“ Martin wälzte sich im Bett zur Seite, starrte die Wand an und schmollte still vor sich hin.

Manuela zögerte einen Moment und unterdrückte den Wunsch ihm einen Abschiedskuss zu geben. Als keine Reaktion mehr von ihm kam, verließ sie missmutig die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Er ist neidisch, dachte sie, als sie im Treppenhaus stand. Neidisch, weil er selbst keine Familie hat, die er zu Weihnachten besuchen kann. Und er tat ihr sogar ein bisschen Leid. Vielleicht würde er sich doch über eine eigene kleine Familie freuen? Ich muss es ihm sagen. So bald wie möglich. Am besten heute noch.

Draußen schneite es. Dicke Flocken fielen vom Himmel. Die frische Schneedecke in Röhrdorf war schon mindestens zehn Zentimeter hoch. Eine weiße Weihnacht. Die erste seit vielen Jahren. Manuela war noch ein Kind gewesen, als zum letzten Mal an den Feiertagen Schnee gelegen hatte. Ein seltsames Hochgefühl kam in ihr auf. Sie stieg in ihren VW-Polo, startete den Motor und fuhr vorsichtig, ganz vorsichtig, zum Haus ihrer Eltern.

18:22 h

„Ich glaub', ich nehm' den Fifty-fifty-Joker.“ Schwester Ellen sah ihre Mitspieler fragend an.

„Wenn es dir weiterhilft.“ Oberschwester Gertrud zuckte die Achseln. So oft hatten sie das Quiz schon gespielt, aber Schwester Ellen kapierte einfach nicht, in welcher Situation welcher Joker am sinnvollsten ist.

„Du kannst auch die Zuschauer befragen, also uns“, schlug Manfred Gerling vor, der dienstälteste Pfleger in der Psychiatrischen Klinik von Biedenstadt. Er meldete sich immer freiwillig an Heiligabend zum Dienst. Auf ihn wartete niemand zu Hause. Der Mann mit dem imposanten Schnauzbart war verwitwet und arbeitete nebenan in der Geschlossenen Abteilung. Aber jetzt hatte er Pause und leistete den Kolleginnen in der Offenen ein wenig Gesellschaft. Ein Stündchen bei Tee und Weihnachtsplätzchen – und natürlich bei der liebsten Pausenbeschäftigung der Schwesternrunde: bei Wer wird Millionär?

„Meinst du wirklich?“, fragte Schwester Ellen jetzt wieder unsicher.

„Das musst du schon selbst entscheiden.“ Oberschwester Gertrud wurde langsam ungeduldig. „Es geht schließlich um 32.000 Mark.“ Ein Wunder, dachte sie, dass ihre junge Kollegin überhaupt so weit gekommen war. Meistens scheiterte Ellen schon bei den leichteren Fragen. Eine typische Blondine eben, ging es der Oberschwester durch den Sinn, und sie musste unwillkürlich lächeln. Nicht die Allerhellste, unsere Ellen, aber dafür hat sie das Herz auf dem rechten Fleck. Das muss man ihr lassen.

„Dann nehm' ich den Publikums-Joker.“ Schwester Ellen schaute herausfordernd in die Runde. „Ihr müsst aber ehrliche Antworten geben.“

„Klar doch“, sagte Oberschwester Gertrud.

„Also, nochmal: Wo findet man das Schloss Christiansborg?“, las Dr. Alexander Braun, der junge Assistenzarzt vor. „A: in Oslo; B: in Stockholm; C: in Kopenhagen; oder D: in Malmö?“

„Ich hab', ehrlich gesagt, keine blasse Ahnung“, sagte Schwester Ursula. „Das müsstest du doch wissen.“ Sie schaute zu ihrer Kollegin Eva hinüber. „Du liest doch immer in den Illustrierten die Geschichten über die Königshäuser.“

Schwester Eva runzelte nur die Stirn. „Ich weiß es aber auch nicht.“

„Ihr müsst trotzdem einen Tipp abgeben“, belehrte sie die Oberschwester.

„Ich glaube, es ist Oslo“, sagte der schnauzbärtige Pfleger.

„Bist du sicher?“, wollte Schwester Ellen wissen.

„Nein, sicher bin ich mir nicht.“

„Ich denke, es ist Malmö“, meinte der junge Assistenzarzt.

„Dann schließ' ich mich Ihnen an“, sagte Schwester Ursula. „Sie haben schließlich studiert.“

„Aber nicht Geografie“, wandte Dr. Braun ein.

„Ich tippe auf Stockholm“, verkündete die Oberschwester. „Aber ich bin mir auch nicht sicher.“

„Na, toll“, sagte Schwester Ellen. „Ihr seid mir ja eine schöne Hilfe. Zwei Stimmen für Malmö, eine für Oslo und eine für Stockholm. Wisst ihr was? Ich traue keinem von euch. Ich entscheide mich für Kopenhagen. Also Antwort C.“

„Bist du verrückt?“, fragte Schwester Ursula.

„Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht. Wir werden ja sehen, wer Recht hat. Also, wie heißt denn nun die Lösung?“

Alex Braun drehte die Karte um und gab einen heiseren Kiekser von sich. „Das gibt’s doch gar nicht!“, stieß er überrascht hervor. „Schwester Ellen hat Recht. Schloss Christiansborg liegt tatsächlich in Kopenhagen.“

„Echt?“, freute sich Ellen. „Seht ihr. Ein bisschen Verrücktheit hat noch keinem geschadet.“

Da musste sogar Oberschwester Gertrud grinsen.

„Die nächste Frage bitte, Alex. Diese Glückssträhne muss ich ausnutzen.“ Schwester Ellen biss in ein Anisplätzchen und krümelte die Tischdecke voll. Die Oberschwester warf ihr einen missbilligenden Blick zu, aber Ellen war zu abgelenkt, um es zu bemerken.

„Okay, 64.000“, sagte der Doktor, „32.000 haben Sie schon sicher. Die nächste Frage können Sie also ganz ruhig angehen.“

„Alex, Sie reden genau wie Günther Jauch“, sagte Schwester Ellen, deren Schwäche für den gutaussehenden Assistenzarzt längst kein Geheimnis mehr war. Die halbe Klinik tuschelte schon darüber. Und auch er schien, was die hübsche kleine Ellen betraf, nicht gänzlich abgeneigt.

„Es ist gleich halb sieben. Ich müsste mal meinen Kontrollgang machen“, sagte Oberschwester Gertrud und erhob sich umständlich von ihrem Stuhl. In dem kleinen Aufenthaltsraum war es so eng, dass sie den Tisch verschieben musste, um überhaupt aufstehen zu können.

„Aber doch nicht mitten im Spiel!“, quengelte Ellen. „Warte doch noch ein paar Minuten. Wir sind bestimmt gleich fertig.“

„Nein, nein, ihr könnt ja weiterspielen. In einer Viertelstunde bin ich eh zurück.“ Und die Oberschwester verließ schlurfend den Raum. Der Klang ihrer Holzpantinen verebbte erst, als sie im Flur um die Ecke gebogen war.

Dr. Braun las die nächste Frage vor: „Welche dieser Personen gibt es wirklich? A: Cyrano de Bergerac; B: Sherlock Holmes; C: Tarzan; oder D: der Graf von Monte Cristo?“

„Ach, du Schande“, entfuhr es Schwester Ellen. „Wer soll denn so was wissen?“

„Für 64.000 Mark muss man schon mal ein bisschen was bringen“, neckte Schwester Eva.

„Cyrano de Bergerac – das ist doch der Typ mit der langen Nase“, sagte Schwester Ursula, „da hab' ich mal einen Film gesehen. Aber der kann es ja wohl nicht sein.“

„Pssst“, machte Dr. Braun und legte den Finger an die Lippen. „Nicht vorsagen.“

„Lassen Sie nur, Alex“, winkte Schwester Ellen ab. „Wie war das noch mal? Sherlock Holmes? Das ist dieser Detektiv. Den kenne ich. Hat's den wirklich gegeben? Glaub' ich nicht. Und Tarzan? Wär' ja schön – so ein toller Mann. Aber wahrscheinlich hat's den auch nicht gegeben.“ Sie blickte die beiden anderen Schwestern fragend an, aber die zuckten nur die Achseln. „Was war D noch gleich?“

„Der Graf von Monte Cristo“, wiederholte der Doktor.

„Den könnte es gegeben haben“, sinnierte Ellen vor sich hin. „Vielleicht“, fügte sie nachdenklich hinzu, „aber ich geh' wieder volles Risiko und nehm' diesen komischen Typ von Antwort A.“

„Cyrano de Bergerac?“

„Ja, genau den.“

„Die spinnt total“, raunte Schwester Eva Schwester Ursula zu, doch ehe ihre Kollegin noch etwas erwidern konnte, hörten sie Alex Braun wieder kieksen.

„Sie sind der helle Wahnsinn, Schwester Ellen“, sagte er verdutzt. „Das stimmt! Ich gratuliere Ihnen zu 64.000 Mark.“

„Wenn es doch nur echtes Geld wäre“, seufzte Ellen, „das könnte ich gut gebrauchen.“

„Was würden Sie denn mit dem Geld machen?“, wollte Alex wissen.

„Jetzt reden Sie schon wieder wie Günther Jauch. Aber um ehrlich zu sein, ich weiß es gar nicht. Irgendwas würde mir schon einfallen.“

„Oh ja, mir auch“, sagte Schwester Eva. „Ein neues Auto könnten wir dringend gebrauchen. Unser altes war letzten Monat dreimal in der Werkstatt. Sie finden einfach nicht den Fehler.“

„Was für ein Auto schwebt Ihnen denn vor?“, zeigte der junge Doktor artig Interesse.

„Na, so ein toller Porsche, wie Sie ihn fahren, könnte mir schon gefallen“, meinte Eva und schaut Alex spöttisch an. In der Klinik zerrissen sie sich die Mäuler über den knallroten Sportwagen, den Dr. Braun fuhr. Selbst der Chefarzt hatte schon seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass sich ein junger Assistenzarzt einen so teuren Wagen leisten konnte. Hab' ich im Preisausschreiben gewonnen, pflegte Alex auf Anfrage meistens zu sagen. Aber das nahm ihm keiner ab.

Schwester Ellen fischte jetzt noch ein Anisplätzchen aus der Keksdose und forderte Alex Braun zum Weitermachen auf.

„Ja, bringen wir es hinter uns“, mischte sich Pfleger Manfred ein. „Meine Pause kann ich auch nicht ewig ausdehnen. Die wundern sich drüben bestimmt schon, wo ich so lange bleibe.“

„Also, Schwester Ellen, 125.000. Eine Sportfrage. Kennen Sie sich mit Sport aus?“

„Klar doch, wie verrückt!“, stöhnte sie. „Ich liebe Sport. Schießen Sie los.“

„Wer gewann bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney die erste Goldmedaille für Deutschland?“

„Rosi Mittermaier?“, witzelte Schwester Ursula.

Dr. Braun ließ sich nicht beirren. „A: Stev Theloke; B: Ingo Lehmann; C: Stephan...Wie heißt der?“ Alex zeigte Manfred Gerling die Karte. „Das kann ich gar nicht aussprechen. Wuckowitsch oder Wutschkowitsch oder so ähnlich.“

„Wuckowitsch, glaub' ich“, sagte Manfred.

„Buchstabieren Sie doch“, schlug Schwester Eva vor.

„V – U – C – K – O – V – I – C.“

„Oh, Gott“, stöhnte Ellen. „Und was ist D?“

„D: Robert Bartko.“

„Ich geb' auf. Ich kenne keinen von denen. Nicht diesen Wutschko-Dingens und die anderen auch nicht.“

„Sie haben immer noch den Fifty-fifty-Joker. Vergessen Sie das nicht“, versuchte Alex sie aufzumuntern.

„Ach, stimmt ja. Soll ich es also wagen?“, fragte Ellen in die Runde.

„Nee, hör' lieber auf. Dann kann ich endlich wieder beruhigt an die Arbeit gehen“, meinte Manfred, nicht ganz überzeugend. Am Heiligen Abend konnte er seine Pause ruhig mal ein paar Minuten überziehen.

„Los, mach' schnell“, trieb Schwester Eva ihre Kollegin an. „Fifty-fifty.“

„A und C fallen weg“, sagte der Doktor. „Theloke und dieser Wutschko.“

„Wuckowitsch“, verbesserte ihn Manfred. „Soweit ich weiß, ist das ein Triathlet. Jetzt kann ich es ja sagen.“

„Egal. Jedenfalls bleiben B und D übrig. Was ist, Schwester Ellen, Lehmann oder Bartko?“

„Mhmm.“

„Sag' irgendwas, damit Manfred 'rüber auf seine Station gehen kann“, drängelte Ursula.

„Du hast gut reden.“ Ellen ließ sich Zeit. Die anderen warteten ungeduldig. Es war mucksmäuschenstill im Raum.

Plötzlich hörten sie hastige Schritte auf dem Flur. Das mussten die Holzpantinen der Oberschwester sein. Alle schauten sich fragend an. Nur Ellen war in Gedanken noch bei dem Quiz und bei der 125.000-Mark-Frage.

„Schwester Gertrud hat's aber eilig mit dem Weiterspielen“, grinste Alex Braun. In diesem Moment stürzte sie zur Tür herein. Sie war ganz außer Atem.

„Ein Patient ist verschwunden“, stieß sie aufgeregt hervor, „Herr Karabük aus Zimmer 115.“

„Karabük?“, fragte Schwester Eva. „Der Selbstmörder, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hat?“

„Ja. Er ist abgehauen“, fauchte Schwester Gertrud. „Sein Bett ist leer, und seine Sachen sind auch weg.“ „Was sagt sein Bettnachbar?“, fragte Eva weiter.

„Der ist gestern entlassen worden. Karabük war allein im Zimmer.“

„Ich kann das alles nicht glauben“, mischte sich der Doktor ein. „Der Patient war doch fixiert.“

„Dann hat er sich eben losgemacht“, erwiderte die Oberschwester wütend. „Oder seine Fixierung war nicht richtig fest.“ Sie schaute Schwester Ellen vorwurfsvoll an. „Das war doch deine Aufgabe.“

Ellen merkte jetzt erst auf. „Ich?“ Alle starrten sie entgeistert an.

„Ja, du! Du solltest Herrn Karabük mit den Schlaufen ans Bett binden. Hast du es nun getan oder nicht?“

„Ja, hab' ich.“

Die Oberschwester atmete erleichtert auf.

„Aber dann hab' ich die Schlaufen wieder gelöst“, sagte Ellen kleinlaut und blickte betreten zu Boden.

„Du hast was?!“ Schwester Gertrud war fassungslos. Ein klarer Verstoß gegen eine ärztliche Anordnung. Das durfte sich auf ihrer Station niemand herausnehmen, denn es kam einer Revolte gleich.

„Weil doch heute Weihnachten ist“, jammerte die Beschuldigte. „Herr Karabük tat mir Leid. Er wollte doch so gerne aus dem Fenster sehen und dem Schneetreiben zuschauen. Diese kleine Freude konnte ich ihm nicht verwehren. Es ist doch Weihnachten.“

„Was sagen Sie dazu, Dr. Braun?“, fragte die Oberschwester. Die kleine Ellen muss wahnsinnig sein, dachte sie bei sich. Ihre Dummheit kennt anscheinend keine Grenzen.

Alex schaute völlig verwirrt zwischen den beiden Schwestern hin und her. Ein Patient getürmt, während er die Aufsicht hatte. Das würde einen Riesenärger geben. Vor seinem geistigen Auge sah er den Chefarzt toben. Meine Karriere ist im Eimer, dachte er. „Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, Schwester Ellen?“, fragte er kopfschüttelnd. Seine Sympathie für die kleine Blonde hatte sich in Luft aufgelöst.

„Der Mann war doch nicht gefährlich.“ Die Angesprochene kämpfte mit den Tränen.

„Das kannst du nicht beurteilen“, wies Gertrud sie zurecht. „Du bist kein Arzt. Herr Karabük hat schließlich versucht sich umzubringen. Er kann es jederzeit wieder tun.“

„Ahmed Karabük leidet unter Wahnvorstellungen“, sagte der Doktor. „Da weiß man nie.“

„Genau“, bestätigte die Oberschwester.

Ellen ließ ihren Tränen jetzt freien Lauf, doch der junge Arzt kannte kein Mitleid mehr. „Wenn der Patient sich etwas antut, mache ich Sie dafür verantwortlich. Das schwör' ich Ihnen.“ Er schaute Schwester Gertrud an. Die nickte bestätigend und sagte dann: „Auf alle Fälle müssen wir sofort etwas unternehmen.“

„Wir sollten die Polizei verständigen“, schlug Schwester Ursula vor.

„Und den Chefarzt, Prof. Dombach“, fügte Schwester Eva hinzu.

Alex Braun wurde leichenblass.

„Erst lasst uns mal hier im Krankenhaus auf die Suche gehen“, übernahm Manfred Gerling das Kommando. „Vielleicht hat dieser Karabük das Gebäude noch gar nicht verlassen.“

Schwester Ellen und Dr. Braun warfen ihm einen dankbaren Blick zu und stürzten fast gleichzeitig aus dem Raum. Beinahe wären sie in der Tür zusammengeprallt.

19:13 h

„Manu, spielst du nachher mit mir?“ Manuelas Neffe krallte sich in ihrem Pullover fest. Auf dem Teppich zu seinen Füßen stand das nagelneue Feuerwehrauto, das er sich vom Christkind gewünscht hatte. Natürlich eines mit ohrenbetäubender Sirene. Eines mit dem man seine Umwelt so richtig terrorisieren kann.

„Klar doch“, antwortete ihre Schwester Julia an Manuelas Stelle. Sie musste gegen die Feuerwehrsirene regelrecht anbrüllen. Dann stand sie auf und stellte den Lärm per Knopfdruck ab.

Die ganze Familie atmete erleichtert auf. Nur der kleine Racker nicht. „Feuerwehrauto!“, heulte er auf, schriller noch als die gerade abgestellte Sirene.

„Nun sei aber brav und setz' dich schön an den Tisch. Wir sind noch nicht mit dem Essen fertig“, sagte Julia.

„Ja, schau' mal, Tobias“, bemühte sich Manuela. „Du hast ja deinen Teller noch gar nicht leer gegessen.“ Sie packte ihn bei den Hüften und hievte ihn neben sich auf den gepolsterten Stuhl. Tobias wehrte sich und strampelte wild mit den Beinen. „Ich will aber nicht! Lass' mich!“

„Tobias. Bitte, sei lieb“, mahnte seine Mutter, doch ebenso gut hätte sie einem Ochsen ins Horn zwicken können. Der Vierjährige ließ sich nicht beeindrucken.

„Schau', Tobias. So ein leckerer Braten“, versuchte jetzt die Oma ihr Glück. Aber so leicht ließ sich der Widerspenstige nicht zähmen. Er malträtierte das Tischbein mit Fußtritten, dass das Geschirr nur so wackelte.

„Tobias!“, sprach sein Vater ein Machtwort, wandte sich aber gleich darauf wieder dem Schweinebraten zu und überließ die Erziehungsaufgaben dem Rest der Familie.

Manuelas Patenkind schlug jetzt mit den Fäusten auf den Tisch. Und bevor sie es verhindern konnte, geschah, was geschehen musste: Ein Weinglas kippte um, und der Spätburgunder verteilte sich großzügig über die weiße Tischdecke. Die Oma erschrak und stieß einen kurzen Schrei aus. Um ein Haar wäre auch noch eine brennende Kerze umgefallen, doch Tobias' Großvater fing sie reaktionsschnell auf.

„Jetzt reicht's, mein Sohn.“ Der Papa funkelte den Übeltäter böse an. „Wenn du nicht augenblicklich stillsitzt, geben wir dein Feuerwehrauto an das Christkind zurück.“

Sein Sohn quittierte die Drohung mit einem Aufschrei der Empörung.

„Lass' doch, Peter“, beschwichtigte seine Schwiegermutter. „Ist doch nicht so schlimm.“ „Oh doch, Mama“, sprang Julia ihrem Gatten bei. „Ich versteh' gar nicht, was heute Abend mit Tobias los ist. Normalerweise benimmt er sich nicht so ungezogen.“

„Na ja. Es ist eben Weihnachten“, zeigte der Opa Verständnis. „Die ganze Aufregung, die Geschenke und die vielen Leute. Da kann so ein Kind schon mal durcheinander kommen.“

„Am besten bringen wir ihn ins Bett“, schlug die Mutter vor.

„Nein!“, kreischte Tobias. „Ich will nicht! Erst soll Manu mit mir spielen.“ Er beugte sich zu dem Feuerwehrauto hinunter und streckte seine viel zu kurzen Ärmchen danach aus. Es fehlte nicht viel und er wäre vom Stuhl geplumpst.

„Du gehst jetzt schlafen“, beharrte Julia. „Komm' mit.“ Und sie versuchte ihren Sohn an der Hand zu nehmen. Doch der kämpfte jetzt erst recht wie ein Löwe, teilte Tritte und Fausthiebe nach allen Seiten aus. Mit einer linken Geraden traf er seine Patentante unter dem rechten Auge.

„Aua! Das tut doch weh!“ Manuela sprang auf. Beinahe wäre ihr die Hand ausgerutscht, und sie hätte ihrem Neffen eine geklebt. Im letzten Moment aber beherrschte sie sich und rang sich sogar ein Lächeln ab.

„Oh, das tut mir Leid, Manu“, beeilte sich ihre Schwester zu sagen. „Los, Tobias, sag', dass es dir auch Leid tut.“

Aber der Kleine brüllte jetzt nur noch wie am Spieß. Deshalb nahm Julia ihre ganze Kraft zusammen, hob ihn hoch und trug den strampelnden Jungen nach oben ins Gästezimmer. Unten konnten sie hören, wie sie sich dort weiter abmühte ihn ruhig zu stellen.

„Sei froh, dass du keine Kinder hast“, sagte Tobias' Vater zu Manuela gewandt und zündete sich eine Zigarette an. Seine Schwägerin schrak leicht zusammen und spürte, wie ihr Gesicht eine rötliche Färbung annahm. Es war ihr peinlich, denn auch ihre Eltern wussten nichts von der Schwangerschaft. Sie hatte es Martin natürlich zuerst sagen wollen. Jetzt fürchtete sie, sie müsse ihr Geheimnis preisgeben. Doch niemand hatte sie in diesem Moment aufmerksam genug beobachtet.

„Es ist alles nur eine Frage der Erziehung“, meinte der Opa.

„Das sag' ich auch immer zu Julia“, entgegnete Peter. „Aber irgendwie kriegt sie es nicht in den Griff.“

„Sie kriegt es nicht in den Griff? Und du? Was tust du denn?“, fuhr Manuela ihren Schwager an. „Meinst du etwa, Erziehung geht euch Männer nichts an?“ Sie brauchte ein Ventil für alles, was sich angestaut hatte: ihre ganze Verunsicherung wegen der Schwangerschaft und ihr Unvermögen, mit Martin vernünftig darüber zu reden. Von Mutter zu Vater. Es wurde ihr im selben Augenblick bewusst, dass sie Peter dafür büßen ließ, aber es war ihr egal.

„Julia ist doch den ganzen Tag mit dem Jungen zusammen. Ich seh' ihn ja nur abends kurz, bevor er schlafen geht. Deshalb trägt sie die größere Verantwortung für seine Erziehung – ist doch klar“, rechtfertigte er sich.

„So? Findest du?“, giftete Manuela.

„Ich weiß gar nicht, warum gerade du dich so aufregst. Wer hat ihm denn das blöde Feuerwehrauto geschenkt?“

„Also, das ist ja wohl das Letzte!“

„Hört auf zu streiten“, mischte sich die Oma ein. „Das ist doch alles halb so schlimm. Auch ihr wart als Kinder nicht immer die reinsten Engel, Julia und du. Und Peter sicher auch nicht?“

Ihr Schwiegersohn grinste nur.

„Peter macht es sich wirklich zu einfach, finde ich“, kartete Manuela nach, allerdings in etwas versöhnlicherem Tonfall. Kurz darauf wechselte sie das Thema: „Wisst ihr was? Ich geh' jetzt nach oben und lese Tobias eine Gutenachtgeschichte vor. Vielleicht schläft er dann ein.“

Doch sie kam nicht mehr dazu, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn in diesem Moment klingelte ihr Handy.

„Wer kann denn das sein, am Heiligen Abend?“, fragte Manuelas Mutter und schaute ihre Tochter beunruhigt an.

Wahrscheinlich Martin, dachte die, stand auf und ging mit dem Handy in die Küche, um ungestört telefonieren zu können. Sie schaute auf das Display, aber es wurde keine Nummer angezeigt. Mit einem bangen Gefühl drückte sie auf die grüne Taste. „Ja, bitte, Manuela Herder.“

„Marquardt hier. Es ist mir furchtbar unangenehm, Sie am Weihnachtsabend zu stören, Frau Herder“, kam es vom anderen Ende der Leitung, „aber wir haben ein großes Problem.“

Manuelas banges Gefühl verstärkte sich.

„Eigentlich sollte Herr Klumpp heute die Nachtschicht im Schrankenwärterhaus zwischen Niederaulbach und Welzheim übernehmen, aber der Arme hatte einen Autounfall. Sie wissen ja, die schneeglatten Straßen. Jedenfalls hat er sich verletzt.“

„Um Gottes Willen!“

„Zum Glück nichts Ernstes. Doch seinen Dienst kann er leider nicht antreten. Deshalb bitte ich Sie für Herrn Klumpp einzuspringen.“

„Ich?“

„Ja, Sie sind meine letzte Hoffnung. Ich hab' schon drei Kollegen vergeblich versucht zu erreichen. Zwei weitere haben mir abgesagt. Und irgendwie kann ich das ja sogar verstehen. Besonders wenn man Familie hat und so. Deshalb, Frau Herder, sind Sie die einzige, die noch in Frage kommt.“

„Aber ich hab' schon ewig nicht mehr die Schranken bedient. Verstößt das nicht gegen die Vorschriften?“

„Na ja, im Prinzip schon, aber dies ist ein Notfall. Und Sie kriegen das schon hin. Als Azubi waren Sie doch mal für eine Weile dort eingesetzt, wenn ich mich nicht irre.“

„Ja, schon...“

„Vielen Dank, dass Sie mir aus der Patsche helfen. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.“

Manuela blieb die Spucke weg.

„Also dann, um zehn geht’s los. Seien Sie am besten eine halbe Stunde früher da, damit Herr Eisenhuth, der heute die Spätschicht macht, Sie vor seinem Feierabend noch kurz einweisen kann. Schaffen Sie das?“

„Aähm...“

„Dann einen schönen Abend und fröhliche Weihnachten.“ Ein Knacken in der Leitung. Ihr Gesprächspartner hatte aufgelegt.

Als sie aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, fragte ihre Mutter: „Wer war das, Kind?“

„Herr Marquardt“, sagte Manuela tonlos, „mein Chef. Und er hat mich eiskalt erwischt.“

20:14 h

„Das wird für Sie alle Konsequenzen haben“, fauchte der Chefarzt. Sein Kopf war knallrot wie der Porsche von Dr. Braun. Nicht nur von dem schweren Bordeaux, von dem er reichlich intus hatte; Prof. August Dombach war außer sich vor Zorn. So ein Skandal – und das am Weihnachtsabend! Die gebratene Gans war noch nicht ganz verzehrt, da wurde er wegen eines angeblichen Notfalls ins Krankenhaus zitiert. Schöner Notfall!, dachte er. Eine unerhörte Schlamperei ist das, was sich seine Mitarbeiter da geleistet haben. Von nichtsnutzigen Idioten bin ich umgeben. Was haben die eigentlich den ganzen Nachmittag getrieben? Jedenfalls nicht nach ihren Patienten geschaut, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre. Diesen Schlendrian werde ich nicht länger dulden. Von jetzt an, beschloss der Chefarzt, werde ich andere Saiten aufziehen. „Wie konnte das überhaupt passieren?“, herrschte er Oberschwester Gertrud an.

Schwester Ellen blickte ängstlich zu ihr hinüber und hielt den Atem an. Jetzt ist alles aus, dachte sie und war erneut den Tränen nahe.

„Ich hab' keine Ahnung, Herr Professor“, sagte die Angesprochene. „Der Patient muss es irgendwie geschafft haben seine Fixierung zu lösen.“

Schwester Ellen erstarrte mit offenem Mund. Die Oberschwester hatte sie also nicht verraten. Aber so war sie eben. Auf ihre Station ließ Schwester Gertrud nichts kommen. Ellen schenkte ihr ein verstohlenes Lächeln.

Auch Dr. Alexander Braun sperrte den Mund weit auf und wollte schon protestieren. Da warf ihm Schwester Gertrud einen warnenden Blick zu: Halt' die Klappe, wollte sie damit sagen, oder ich bring' dich eigenhändig um. Da klappte der Assistenzarzt seinen Mund wieder zu.

„Irgendwie geschafft, irgendwie geschafft!“, äffte Prof. Dombach die Oberschwester nach. Er konnte sich mit dieser Erklärung nicht so leicht zufriedengeben. „Das wäre ja das erste Mal. Haben wir es hier mit einem Entfesselungskünstler zu tun?“, höhnte er. „So einer Art Houdini oder was? Wohl kaum. Sonst wäre Herr Karabük mit dieser Nummer im Zirkus aufgetreten.“ Der Professor stieß ein humorloses Lachen aus.

Schwester Gertrud zuckte die Achseln.

„Also wirklich, Herrschaften.“ Dombach schüttelte beinahe resigniert den Kopf. „Hat denn keiner von Ihnen etwas bemerkt?“

Die Schwestern und Pfleger Manfred schüttelten energisch die Köpfe. Der junge Assistenzarzt schaute nur betreten zu Boden.

„Dr. Braun, Sie hatten doch die Aufsicht“, sagte der Boss.

Alex nickte stumm und fühlte erneut den warnenden Blick von Schwester Gertrud auf sich ruhen. Er suchte verzweifelt einen Ausweg aus dieser Zwickmühle. Einerseits wollte er um jeden Preis verhindern, dass die Sache am Ende an ihm hängen bliebe. Andererseits konnte er die Mauer der Solidarität mit Schwester Ellen nicht durchbrechen ohne sich das gesamte Pflegepersonal zum Feind zu machen. „Gegen fünf Uhr war ich sogar noch in Herrn Karabüks Zimmer“, log er deshalb. „Er hatte nach dem Abendessen über Schmerzen in der Magengegend geklagt.“

„Und?“, drängte der Professor.

„Ich hab' ihm ein Metifex gegeben.“

„Davon rede ich nicht“, raunzte Dombach. „Ich meine natürlich: Was war mit der Fixierung?“

„Also, zu diesem Zeitpunkt schien noch alles in Ordnung zu sein. Die Handgelenke steckten in den Schlaufen, wie es sich gehört.“

„Wie es sich gehört. So so. Und warum ist Herr Karabük danach spurlos verschwunden?“

„Dafür hab' ich leider keine Erklärung, Herr Professor.“

„Keiner von uns“, schob Schwester Gertrud nach.

„Hatte er so spät noch Besuch?“

„Nein, die Besuchszeit war schon vorbei.“

„Und wir haben überall nach ihm gesucht“, meldete sich jetzt Schwester Ursula zu Wort.

„Die ganze Klinik auf den Kopf gestellt“, bestätigte Schwester Eva.

„In jeden Winkel geschaut“, sagte Manfred.

„Sogar in die Wäschekörbe.“ Auch die blonde Ellen hatte endlich ihre Sprache wiedergefunden. „Ich hab' mal einen Film gesehen“, plapperte sie nun munter drauflos, „da haben sie einen Patienten mit der schmutzigen Wäsche aus der Geschlossenen Abteilung geschmuggelt...“

„Ja, ja, schon gut.“ Die Oberschwester gab ihr ein Zeichen, dass sie den Mund halten sollte. „Im Foyer ist mir zwar ein Mann begegnet, der auf den ersten Blick aussah wie Ahmed Karabük, aber eben nur auf den ersten Blick.“

„Wo kann er wohl hin sein?“, wollte Dombach wissen.

„Nach Hause, zu seiner Familie wahrscheinlich“, meinte Manfred.

„Hat er denn eine?“

„Ja, eine Frau und einen kleinen Sohn, soviel ich weiß“, sagte Schwester Ellen. „Die kamen ein paar Mal zu Besuch. Richtig süß war der Kleine.“

„Na, dann los, los! Finden Sie die Adresse heraus und erkundigen Sie sich, ob Herr Karabük dort ist.“ Prof. Dombach schüttelte wieder den Kopf. Musste er denn alles selber machen? Darauf hätten sie doch wirklich von alleine kommen können.

„Tut mir Leid. Fehlanzeige“, sagte Schwester Gertrud, als sie drei Minuten später vom Telefonieren zurückkam. „Bei seiner Frau ist er nicht. Sagt sie jedenfalls. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass sie lügt. Sie wirkte auf mich total überrascht.“

„Mhmm“, machte der Chefarzt. „Haben Sie sonst noch eine Ahnung, wo er sein könnte?“

Die Oberschwester legte die Stirn in Falten. „Ich fürchte, nein.“

„Vielleicht sollten wir jetzt endlich die Polizei verständigen“, meinte Manfred Gerling und wurde dabei von Schwester Ursula durch heftiges Nicken unterstützt.

Dombach aber zögerte und wandte sich an seinen Assistenten: „Wie gefährlich ist der Patient?“

„Ich weiß nicht recht. Er könnte wieder einen Suizidversuch wagen...“

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit?“

„Tja...“

„Sehr hoch oder nicht sehr hoch? Sie haben den Mann doch behandelt, Dr. Braun.“

„Nicht allzu hoch, glaube ich“, sagte Alex, um etwas zu sagen, aber ohne echte Überzeugung. In Wahrheit nämlich war Ahmed Karabük für ihn ein ungelöstes Rätsel. Alex hatte erlebt, wie der Selbstmörder vor einer Woche eingeliefert worden war. Der junge Türke hatte ein ganzes Röhrchen Schlaftabletten geschluckt und sich zusätzlich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufgeschlitzt. Sie mussten ihm den Magen auspumpen und die Wunden bandagieren. Zum Glück hatte Karabük nicht allzu viel Blut verloren. In den ersten Tagen danach war er Alex sehr ruhig, ja geradezu apathisch, erschienen. Vom dritten Tag an hatte er seltsame Dinge vor sich hin gemurmelt: wirres Zeug von Kameras, die ihn ständig überwachten, von Männern in Trenchcoats, die ihn verfolgten und beobachteten. Als Alex ihn gefragt hatte, wer die Männer seien und was sie von ihm wollten, war Karabük völlig ausgeflippt, hatte ihn an der Gurgel gepackt und zu würgen versucht. Deshalb hatte Alex angeordnet, dass der Patient starke Beruhigungsmittel erhält und an sein Bett gefesselt wird. Mit Erfolg, denn von nun an war Karabük nicht mehr aufgefallen, hatte sich scheinbar in sein Schicksal ergeben.

„Herr Karabük war in den letzten Tagen schon wieder richtig gut drauf“, steuerte Schwester Ellen bei. „Er hat sogar versucht mit mir zu flirten.“

Prof. Dombach schenkte ihr keine Beachtung. „Richtet sich denn seine Aggressivität nur gegen die eigene Person oder auch gegen Dritte?“, wollte er von seinem Assistenzarzt wissen.

„Ich denke nicht“, log Alex weiter. „Das wäre bei einem Suizid-Patienten sehr ungewöhnlich, Herr Professor.“

„Belehren Sie mich nicht. Das weiß ich selbst.“ Dombach überlegte eine kurze Weile. Dann fuhr er fort: „Also, wenn ich Sie richtig verstehe, stellt der Entflohene momentan weder für sich selbst noch für seine Umwelt eine ernsthafte Gefahr dar.“

Der junge Doktor deutete ein zustimmendes Nicken an.

„Wozu dann die Polizei hinzuziehen?“, fragte sein Chef. Er wollte um jeden Preis einen öffentlichen Skandal vermeiden. Zu oft hatte die Psychiatrische Klinik Biedenstadt in den letzten Jahren für negative Schlagzeilen gesorgt. Gleich drei Mal waren Patienten aus der Geschlossenen Abteilung geflohen. Dombachs Kollege, Prof. Collani, hatte deshalb seinen Hut nehmen müssen. Auch der Gesundheitsminister war Ziel öffentlicher Attacken geworden. Die Presse hatte sogar seinen Rücktritt gefordert. Eine weitere Panne – und sei sie noch so unbedeutend – würde das Fass zum Überlaufen bringen. Darüber machte sich Prof. Dombach keine Illusionen. Egal, ob sie wieder drüben in der Geschlossenen oder hier in der Offenen Abteilung passierte. Das war doch den Zeitungsfritzen egal! Er allein konnte das Schlimmste noch verhindern, indem er das jüngste Missgeschick vor diesen Hyänen verheimlichte. Ja, das war die einzige Chance, um die Klinik aus den Schlagzeilen herauszuhalten. Das war seine einzige Chance. Und deshalb musste er zunächst einmal auf Zeit spielen. „Am besten warten wir bis morgen“, sagte er in die erstaunte Runde. „Vielleicht kommt dieser Karabük ja von alleine wieder zurück.“

20:20 h

„Allah, steh' mir bei!“, entfuhr es Renan Karabük auf Türkisch, als sie den Telefonhörer auflegte. „Er ist wieder draußen.“ Panische Angst überkam sie. Ihr wurde schwindlig. Sie musste sich erst einmal setzen.

„Mama, was ist mit dir?“ Der kleine Bülent spürte, dass mit seiner Mutter etwas nicht stimmte.

„Ach, nichts. Geh' spielen.“

Der Sechsjährige blieb erst eine Weile unschlüssig stehen, dann schlurfte er langsam nach nebenan ins Kinderzimmer und widmete sich seiner neuen Lego-Eisenbahn. Seine Mutter hatte sie ihm zu Weihnachten geschenkt. Zwar war für sie als Muslimin das Fest der Geburt Christi eigentlich bedeutungslos, aber ihr Sohn wäre sicher traurig gewesen, wenn seine deutschen Freunde ihm ihre Geschenke gezeigt hätten.

Renan verschränkte die Arme auf dem Küchentisch und vergrub ihr Gesicht darin. Sie musste in Ruhe nachdenken. Ahmed war also aus dem Krankenhaus abgehauen. Was hatte er vor? Bestimmt würde er versuchen sich nach Hause durchzuschlagen. Zu ihr und ihrem Sohn. Sie schauderte bei dem Gedanken. Würde dann alles von vorne beginnen? Seine depressiven Phasen, seine Tobsuchtsanfälle, in ständigem Wechsel?

Zuletzt hatte Ahmed die halbe Wohnung zertrümmert, die Gardinen zerrissen, die Möbel kurz und klein geschlagen, sogar den Putz von den Wänden geklopft. All ihr Klagen, all ihr Weinen hatten nichts geholfen. Im Gegenteil. Ahmed war nur noch wütender geworden.

Warum tust du das?, hatte Renan ihren Mann verzweifelt gefragt? Wonach suchst du eigentlich? Sei still, hatte er gebrüllt. Du steckst doch mit denen unter einer Decke. Mit wem, Ahmed, mit wem? Wovon redest du überhaupt? Da war er mit einem Messer auf sie losgegangen, hatte gedroht sie umzubringen und mit dem kleinen Bülent zu verschwinden. Unterzutauchen. Irgendwo, wo ihn keiner kannte. Wo sie ihn nicht finden würden. Er war danach völlig in sich zusammengesunken und erneut in Depression verfallen.

Mein Mann ist krank, hatte Renan erkannt. Er braucht dringend Hilfe. Aber wie? Freiwillig würde er keinen Psychiater aufsuchen. Niemals! Deshalb hatte sie gehofft, dass er wieder von alleine zur Besinnung käme. Und so schien es auch. Aber ein paar Tage, nachdem er sie bedroht hatte, war sie vom Einkaufen zurückgekehrt und hatte die Wohnung seltsam still vorgefunden. Ahmed! Bist du da? Sie hatte seine Anwesenheit gespürt. Wo bist du? Warum versteckst du dich? Sie hatte es mit der Angst bekommen. Wenn er ihr nun irgendwo auflauerte? Ganz vorsichtig war sie durch die Wohnung geschlichen, hatte ins Schlafzimmer gespäht, ins Kinderzimmer. Nichts. Nur im Bad war sie noch nicht gewesen. Ahmed! Immer noch keine Antwort. Totenstille. Und trotzdem. Er musste da drin sein. Er konnte nur noch da drin sein.

Ruckartig hatte Renan die Tür aufreißen wollen, doch sie war verschlossen gewesen. Also doch! Ahmed? Mach' auf. Ich bin's, deine Frau. Lass' mich 'rein!

Keine Reaktion.

Ich will dir doch nur helfen. Bitte, lass' mich dir helfen!

Ein kaum hörbares Röcheln drang aus dem Badezimmer.

Renan hatte gespürt, wie nackte Panik sie überkam. Sie war aus der Wohnung gestürzt und hatte im Treppenhaus um Hilfe gerufen. Dann hatte sie bei den Nachbarn gegenüber Sturm geklingelt, gegen deren Tür gehämmert, bis endlich jemand erschienen war. Bitte helfen Sie mir, hatte Renan gefleht. Aufgelöst in Tränen. Mein Mann! Ich glaube, ihm ist etwas passiert.

Doch die Nachbarin hatte sie nur verwirrt angesehen. Eine Kosovo-Albanerin. Sie verstand kein Wort. Kein Türkisch. Kein Deutsch. Renan war so verzweifelt gewesen, dass sie angefangen hatte zu brüllen. Immer lauter.

Davon war schließlich die alte Frau Brenner eine Etage höher aufmerksam geworden. Sie ging auf die Neunzig zu und trug ein Hörgerät. Was ist denn da unten für ein Krach?! Sie hatte sich übers Treppengeländer gebeugt und mit ihrem Krückstock herumgefuchtelt. Immer diese Ausländer! Kann man nicht mal mehr in Ruhe seinen Mittagsschlaf halten? Gleich ruf' ich die Polizei. Dann sollen Sie mal sehen!

Die Polizei! Richtig. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Renan hatte sich auf dem Absatz umgedreht, war zurück in die Wohnung gerannt und hatte den Notruf 110 gewählt. Quälend lange war ihr die Zeit erschienen, bis endlich jemand abgenommen hatte. Viele Worte und viel Überzeugungskraft hatte es sie gekostet, bis der Beamte am anderen Ende der Leitung bereit gewesen war, einen Streifenwagen zu schicken. Eine gefühlte halbe Stunde hatte es gedauert, bis die beiden Polizisten bei ihr eingetroffen waren. Dann hatten sie die Badezimmertür aufgebrochen und Ahmed gefunden. Leblos in der Wanne liegend. Das Wasser dunkelrot gefärbt. Auf den Fußbodenkacheln ein blutverschmiertes Rasiermesser und ein leeres Tablettenröllchen.

Oh, mein Gott! Renan Karabük war auf ihren Mann zugesprungen und hatte ihn wie wild geschüttelt. Er ist tot, hatte sie zuerst gedacht. Doch plötzlich war ein Stöhnen aus seiner Brust gedrungen. Allah sei Dank, er lebt noch!

Von diesem Moment an war alles sehr schnell gegangen. Einer der Polizisten hatte über Funk einen Notarztwagen gerufen. Ahmed war abtransportiert und in die Psychiatrische Klinik gebracht worden. Ein Albtraum geht zu Ende, hatte Renan gedacht. Doch nach dem Anruf aus dem Krankenhaus fürchtete sie nun, der ganze Horror könne von vorne beginnen.

Liebte sie ihren Mann noch? Sie stellte sich diese Frage immer wieder und konnte sie doch nicht beantworten. Sie hatte ihn mal geliebt. Damals bei ihrer Hochzeit. In dem kleinen Dorf in Anatolien. Siebzehn war sie erst gewesen. Er einundzwanzig. Kein schlecht aussehender Mann. Arm zwar, aber intelligent und ambitioniert. Nach Deutschland wolle er gehen, hatte er ihren Eltern erzählt, viel Geld verdienen und dann in die Türkei zurückkehren. Ein Haus bauen, groß genug für seine Familie, die eigenen Eltern und die Schwiegereltern. Das hatte Renans Vater sehr imponiert. Und Renan auch. Mit Ahmed hatte sie den besten Ehemann bekommen, den sie sich vorstellen konnte. Ja, den Ahmed von damals hatte sie geliebt. Aber den Ahmed der letzten Wochen und Monate?

Nur, was sollte sie ohne Ehemann tun? Sie brauchte ihn. Er war ihr Ernährer. Auch wenn er zurzeit keine Arbeit hatte. Vor zwei Monaten war ihm im Zentrallager von Aldi gekündigt worden. Angeblich wegen der Sparmaßnahmen. Wahrscheinlich aber wegen seines merkwürdigen Benehmens. Wegen seiner Krankheit. Seiner Frau konnte Ahmed nichts vormachen. Sobald er wieder gesund wäre, würde er schon wieder eine neue Arbeit finden, hoffte sie.

Renan selbst ging putzen. Dreimal die Woche. Für fünfzehn Mark die Stunde. Das war ein ordentlicher Lohn, aber natürlich bei weitem nicht genug, um sich und Bülent durchzubringen. Selbst wenn sie noch eine vierte oder fünfte Putzstelle annähme, es würde nicht reichen.

Nein, ohne Ahmed ging es nicht. Allerdings musste er erst wieder gesund werden. Warum bloß war er aus der Klinik geflohen? Warum ließ er sich nicht helfen? Er brauchte doch ärztliche Hilfe. Warum sah er das nicht ein?

„Mama, ich hab' Durst.“

Renan schreckte aus ihren Gedanken hoch. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihr Sohn wieder in die Küche gekommen war. Er schmiegte sich an sie. Eigentlich müsste ich ihn jetzt ins Bett bringen, dachte sie. Es wurde Zeit für ihn, aber das schien ihr im Moment nicht so wichtig. Sie schenkte ihm ein Glas Wasser ein und betrachtete ihn eine Weile nachdenklich.

Der Kleine hatte sich ebenfalls verändert in den letzten Wochen. Er ist stiller geworden, dachte Renan, anhänglicher. Seine Unbekümmertheit, die ihn so auszeichnete, ist verschwunden. Und sein Bewegungsdrang auch. Er rennt kaum noch durch die Wohnung. Runter auf die Straße zu seinen Freunden will er auch nicht mehr.

Die Ereignisse hatten offenbar Spuren hinterlassen. Das merkwürdige Verhalten seines Vaters, das stille Leiden seiner Mutter. Bülent, musste sie zugeben, war doch sensibler, als sie ihn eingeschätzt hatte. Ein Glück nur, dass er noch im Kindergarten gewesen war, als sie Ahmed leblos in der Badewanne gefunden hatte. Sein Vater tot. Noch dazu durch Selbstmord! Das hätte Bülent bestimmt nicht verwunden. Vielleicht in seinem ganzen Leben nicht.

Ahmed war eine Gefahr für ihn. Das wurde Renan jetzt deutlich bewusst. Nicht nur eine Gefahr für sie selbst, sondern auch eine Gefahr für ihren Sohn. Sie musste Bülent vor seinem Vater schützen. Ihn wegbringen. Irgendwohin. Vielleicht zu ihrem Cousin. Mehmet. Der wohnte in Köln. Sie könnte mit dem Zug hinfahren. So schnell wie möglich. Am besten heute Abend noch, schoss es Renan durch den Kopf. Bevor Ahmed hier auftaucht!

Sie griff zum Telefon und wählte Mehmets Nummer.

21:19 h

„Warum ist dein Martin eigentlich nicht mitgekommen heute Abend?“, fragte Wolfgang Herder, ohne den Blick von der verschneiten Landstraße abzuwenden. Er hatte gleich nach dem Anruf beschlossen seine Jüngste zu ihrer Arbeitsstätte zu bringen. Bei diesem Wetter konnte er sie doch unmöglich selbst fahren lassen. Viel zu gefährlich. Sie hatte ja nicht mal Winterreifen für ihren VW-Polo. Und dann den steilen Anstieg hoch nach Oberaulbach. Von dort in engen Kurven hinunter nach Niederaulbach. Nein, das wollte er seiner Lieblingstochter nicht zumuten. Mit seinem Subaru Allrad waren sie viel sicherer unterwegs.

Und wie soll ich morgen früh um sechs zurückkommen?, hatte sie gefragt. Ruf' halt ein Taxi. Ich geb' dir das Geld dafür. Oder willst du auch einen Unfall bauen? Wie dieser Schrankenwärter? Da war zum Glück ihre anfängliche Skepsis überwunden, und sie hatte sich einverstanden erklärt.

Auf seine Frage nach Martin log sie jetzt: „Ich hab' ihn nicht eingeladen.“

„Wieso nicht?“

„Keine Ahnung.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Nein.“ Sie hätte ihrem Vater sagen können, dass es seine Schuld war. Weil Martin sich von ihm nicht akzeptiert fühlte. Aber sie hatte die Streitereien an diesem Weihnachtsabend satt.

„Bist du dir sicher, dass er der Richtige für dich ist?“, fragte Wolfgang Herder prompt.

Manuela gab keine Antwort. Gedankenschwer starrte sie durch das Seitenfenster auf das weihnachtliche Schneetreiben. Dicke Flocken tanzten um das Auto herum. Manche blieben an der Scheibe kleben, um sich in Sekundenschnelle in Wassertropfen zu verwandeln.

Aber Manuela nahm es kaum bewusst wahr. Sie war sauer. Sie hatte es immer noch nicht verwunden, dass sie ausgerechnet am Heiligen Abend arbeiten musste. Wie soll ich es Martin beibringen?, überlegte sie. Wenn ich heute Abend nicht mehr nach Hause komme, wird er stinksauer sein. Und vor allem das Baby. Er muss es heute noch erfahren!

Sie verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis mit Martin zu reden. Sofort. Obwohl ihr Vater neben ihr saß. Sie wollte seine Stimme hören. Ihm sagen, dass sie ihn liebte. Gerade weil ihr Vater neben ihr saß.

Während Manuela umständlich ihr Handy aus der Tasche kramte, gerieten sie beinahe in eine Schneewehe am Straßenrand. Trotz des Allradantriebs. Ihr Vater riss das Lenkrad herum.

Uff!

Mit angehaltenem Atem tippte sie die Nummer ein und wartete. Sechsmal ließ sie es klingeln, dann schaltete sich krächzend der Anrufbeantworter ein: „Dies ist der Anschluss von Manuela Herder und Martin Wittkowsky. Wir sind gerade irgendwo in der Geografie unterwegs. Bitte hinterlassen Sie...“ und so weiter. Manuela kannte den Spruch in- und auswendig. Ungeduldig wartete sie darauf, dass es endlich piiiep machte. Dann sagte sie leicht unwirsch: „Nun geh' schon 'ran. Ich weiß, dass du da bist.“ Doch am anderen Ende blieb es stumm. „Bitte, spiel' jetzt nicht die beleidigte Leberwurst. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen... Martin!“

Ihr Vater schaute stirnrunzelnd zu ihr herüber. „Was gibt es denn so Wichtiges?“, wollte er jetzt wissen.

„Ach, nichts.“ Sie rümpfte die Nase und unterbrach die Verbindung. „Rutsch' mir doch den Buckel 'runter“, grummelte sie vor sich hin. Im selben Moment trat ihr Vater ruckartig auf die Bremse. In der Ortsdurchfahrt von Niederaulbach spazierte eine schwarze Katze gemächlich über die Straße.

Manuela sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. „Fahr' doch nicht so schnell, Paps“, schimpfte sie. Um ein Haar wären sie ins Schleudern gekommen. Unwillkürlich fasste sie sich an den Bauch, als wolle sie ihr ungeborenes Kind um Verzeihung bitten.

Im Dunkeln sah sie die gelben Augen der Katze leuchten. Sie schien überhaupt nicht erschrocken zu sein. Sekundenlang blickte sie unverwandt zu Manuela herüber. Dann machte sie einen Satz und verschwand auf leisen Pfoten hinter einem Gartenzaun.

„Fröhliche Weihnachten“, murmelte Manuela.

Ihr Vater gab vorsichtig Gas.

21:13 h

„Im Frühjahr hol' ich mir die neue VFR.“

„Wieder 'ne Honda?“, fragte Martin gelangweilt. „So'n blöder Reiskocher?“, sagte er dann und stellte sein Bierglas ab. Manuelas vereinsamter Freund hatte aus der Not eine Tugend gemacht und war in seine Stammkneipe um die Ecke gegangen. Schließlich wollte er am Heiligen Abend nicht allein zu Hause herumsitzen und warten, bis Manuela endlich zurückkehrte.

Zu seinem Glück war das Bitburger-Fass geöffnet. Martin hockte am Tresen und fachsimpelte mit dem Wirt.

„Was heißt hier Reiskocher?“ Holger war genau wie er ein Motorrad-Freak. Über ihr gemeinsames Hobby konnten sie stundenlang reden – oder vielmehr stundenlang streiten. Denn Holger hatte ein Faible für schnelle Maschinen made in Japan. Martins Herz dagegen schlug für Oldtimer aus Großbritannien. Honda und Yamaha gegen Norton und Triumph. Gegensätze, die schier unüberbrückbar erschienen. Zwar versuchten beide seit Jahren den anderen von den Qualitäten ihrer Marken zu überzeugen. Allerdings ohne den geringsten Erfolg. Auch an diesem Abend gab es in der müßigen Diskussion keinerlei Annäherung.

„Die Testergebnisse sind einfach super“, lobte Holger seine neue Traum-Maschine. „Stell' dir vor, die Motorrad-Zeitung nennt sie ein Weltklasse-Eisen!“

Martin rümpfte die Nase und hielt Holger sein leeres Glas hin. „Mach' mir lieber noch 'n Bier.“ Er holte seinen Tabak aus der Hemdtasche und drehte sich eine Zigarette.

Der Wirt zapfte seinem Gast das mittlerweile dritte Pils, ließ sich dabei aber nicht vom Thema ablenken: „Ihr ABS soll gnadenlos gut sein.“

„Ey, wenn ich das schon höre.“ Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. „ABS. Phh! Wenn dir die Sicherheit so wichtig ist, dann steig' doch gleich auf vier Räder um und kauf' dir 'nen Volvo.“

Aber Holger ließ sich nicht provozieren. „Als ich noch so 'n junger Spund war wie du, ging mir das auch am Arsch vorbei. Aber wenn du erst mal fünfunddreißig bist...“ Er schob Martin das volle Glas hin. „...Da denkst du schon mal nach. Übers Leben, über den Tod und so weiter.“

Martin zuckte nur die Achseln und nahm einen kräftigen Schluck von dem frischen Pils. „Mir kommt jedenfalls kein Reiskocher ins Haus“, sagte er nach einer Weile und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

Bevor sein Gegenüber etwas erwidern konnte, ging die Tür auf, und drei junge Leute betraten das Lokal. Martin drehte sich auf seinem Barhocker um und blickte flüchtig hinüber zum Eingang. Einer der neuen Gäste war männlich, zwei waren weiblich – soweit das unter den dicken Anoraks und Wollmützen überhaupt auszumachen war. Das Trio schüttelte den Schnee von seinen Klamotten ab.

„Fröhliche Weihnachten“, rief eine weibliche Stimme.

Martin fuhr zusammen. Oh, Scheiße, dachte er. Die hat mir gerade noch gefehlt.

Er kannte die Stimme sehr gut. Sie gehörte Marion Jakoby, seiner Ex-Freundin. Vor über einem Jahr hatte er mit ihr Schluss gemacht. Zwar war es eine Beziehung voller Leidenschaft gewesen – auch sexueller Leidenschaft – aber sie hatten ständig gestritten. Sie war einfach nicht bereit gewesen, ihm seine Freiheit zu lassen. Sie hatte zu sehr geklammert, ihn als ihr persönliches Eigentum betrachtet. Auch dass es aus war, wollte sie lange Zeit nicht akzeptieren. Mehrfach hatte sie ihn angerufen, Briefe geschrieben, ihm vor der Wohnungstür aufgelauert. Einmal war sie dabei sogar Manuela begegnet. Auweia! Fast wäre es zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Frauen gekommen. Wenn sie Marion noch einmal in Martins Nähe sehen würde, dann gebe es ein Unglück, hatte Manuela gedroht.

Er machte jetzt einen kläglichen Versuch sich aufs Klo zu verdrücken, aber Marion hatte ihn bereits entdeckt. „Hey, Martin! Wo willst du denn hin?“ Sie trat ihm in den Weg. Die beiden anderen Neuankömmlinge stellten sich in seinem Rücken auf und schnitten damit jede Fluchtmöglichkeit ab.

„Mensch, Wittkowsky! Dich hab' ich ja schon ewig nicht mehr gesehen!“ Das war die Stimme von Gunnar Dombach, einem ehemaligen Basketballer aus Martins Verein. Ein nordischer Hüne. Seit drei Jahren studierte er Medizin in Münster und kam nur hin und wieder in den Semesterferien zu Besuch. Oder wie jetzt zu Weihnachten.

„Komm', wir setzen uns da drüben an den Tisch. Dann können wir mal in Ruhe quatschen. Was treibst du denn so?“, fragte Gunnar. Er legte Martin seinen muskulösen Arm um die Schultern und zog den Widerstrebenden mit sich.

„Sorry“, stammelte Martin, tut mir echt Leid, aber...“

„Was aber? Ein paar Minuten Zeit für einen alten Kumpel, die wirst du doch haben – oder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten gab er Holger hinter dem Tresen ein Zeichen. „Mach' für Martin noch ein Bier. Und für mich auch eins.“ Dann schaute er zu seinen beiden Begleiterinnen. „Was darf ich für euch bestellen, Mädels?“

Marion wollte auch ein Bier.

„Ich glaub', ich nehm' einen Tee mit Zitrone. Ich muss mich erst mal aufwärmen“, sagte Kathrin. Sie war Gunnars jüngere Schwester. Martin kannte sie vom Sehen. „Ganz schön kalt da draußen.“ Sie rubbelte ihre Hände gegeneinander und schenkte Martin ein gewinnendes Lächeln. Aber er nahm es gar nicht richtig wahr. Er war wie gebannt von der Gegenwart seiner Ex-Freundin. Sie rief eine seltsame Erregung in ihm hervor. Marion ihrerseits hatte Kathrins Lächeln sehr wohl bemerkt und warf ihr einen eifersüchtigen Blick zu. Lass' bloß die Finger von ihm, sollte er sagen, der Typ gehört mir!

Gunnar hielt Martin sein Zigarettenetui hin. Dann zückte er sein goldenes Benzinfeuerzeug und ließ eine Stichflamme auflodern, dass alle erschrocken zurückzuckten.

„Hey, du Blödmann! Pass' doch auf“, sagte Marion. „Du versengst uns noch die Haare.“

Gunnar lachte.

Martin lachte nicht. Er holte einen Gummi aus der Hosentasche und band seine lange Mähne zu einem Pferdeschwanz. „So“, sagte er leicht genervt, „damit nichts mehr anbrennen kann.“ Dann griff er nach Gunnars Feuerzeug und betrachtete es kritisch von allen Seiten. „War sicher nicht billig, das Teil?“, fragte er abschätzig.

Gunnar grinste nur überlegen.

Martin ließ ebenfalls eine Stichflamme auflodern, dann gab er das Feuerzeug seinem Besitzer zurück und schüttelte missbilligend den Kopf. Das großspurige Gehabe seines Sportskameraden war ihm schon früher oft auf die Nerven gegangen. Gunnar hatte bereits als Jugendlicher immer eine Menge Geld in der Tasche gehabt. Deshalb wunderte Martin sich auch nicht, als er jetzt die protzige Rolex an Gunnars Handgelenk entdeckte. „Ist die echt?“, fragte er. „Oder aus Bangkok?“

„Von wegen Bangkok“, sagte Gunnar leichthin.

„Die hat er von unserem Daddy zu Weihnachten bekommen“, verkündete Kathrin stolz. „Und ich diesen wunderschönen Ring.“ Sie spreizte ihre Finger, damit Martin das brillantbesetzte Kleinod bewundern konnte.

Doch er warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Na ja, dachte er, ihr alter Herr ist eben kein armer Schlucker, sondern Chefarzt in der Psychiatrischen Klinik von Biedenstadt. Da gehören solche protzigen Statussymbole offenbar dazu. Er rümpfte die Nase.

Dann begann Gunnar zu erzählen: Sie hätten zu Hause über dem Weihnachtsbraten gesessen, da sei sein Vater zu einem Notfall in die Klinik gerufen worden. Kathrin und er hätten die Gunst der Stunde genutzt und sich schnellstens aus dem Staub gemacht. Auf dem Kirchplatz seien sie Marion begegnet, Kathrins Kollegin aus der Anwaltskanzlei. Sie habe ihre Mutter zur Christmette begleitet und sich an der Kirchentür von ihr verabschiedet.

Marion nickte bestätigend.

„Und, Wittkowsky? Wie hast du Heiligabend verbracht?“, fragte Gunnar harmlos.

„Ich? Ähm...“

„Na, hier in der Kneipe hat er ihn verbracht“, höhnte Marion, „das siehst du doch.“ Und an Martin gewandt: „Hat deine Manuela dich etwa sitzenlassen?“

„Nein, Quatsch!“, antwortete Martin gereizt. „Sie kommt gleich vom Besuch bei ihren Eltern zurück. Deshalb muss ich auch bald gehen, Leute.“ Er blickte verstohlen zur Tür. Doch in diesem Moment brachte Holger die Getränke und baute sie vor ihnen auf.

„Jetzt stoßen wir erst mal an“, sagte Gunnar gut gelaunt. „Prost, alter Junge!“ Er rammte sein Bierglas so fest gegen Martins, dass beide Gläser überschwappten und der Schaum hoch aufspritzte. Ein Spritzer landete auf Marions Bluse.

„Oh, hoppla“, lachte Gunnar.

„Passt doch auf“, zischte Marion und wich erschrocken zurück.

„Tut mir echt Leid“, entschuldigte sich Martin und griff nach einer Papierserviette. Ehe er sich bewusst wurde, was er tat, betupfte er damit die Schaumflocken auf Marions Brust.

„Du hast wohl mit Absicht gekleckert?“, neckte ihn Gunnar. „Die Masche kannte ich noch gar nicht.“

Martin ließ die Serviette sinken.

„Es ist ja nicht das erste Mal, dass er meine Brust berührt“, sagte Marion und zog seine Hand wieder an ihren Busen zurück. Obwohl er wusste, dass es ein Fehler war, ließ er es geschehen.

21:47 h

„Da sind Sie ja endlich.“ Karlheinz Eisenhuth hatte Manuela schon sehnsüchtig erwartet. Er stand vor dem Eingang des Schrankenwärterhäuschens und funkelte sie böse an.