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Wie gehen wir mit Kindern um? Wie fördern wir ihre Kreativität? Fördert unser Schulsystem Kreativität oder schränkt es sie sein? Der Autor gibt in diesem Buch zahlreiche Einblicke, wie Kinder auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereitet werden können und wie man ihre Begeisterung zum Lernen wecken kann. Er zeigt aber auch, welche Tücken das Schulsystem bereithält, wie anfängliche Begeisterung von begabten Kindern in Langeweile umschlagen kann und wie schnell Frust und Zwang demotivierend wirken können. Lebendigkeit und Kreativität sind Kindern angeboren und können von Lehrkräften motivierend genützt werden. Die Beispiele in diesem Buch sind beeindruckend. Sie zeigen aber auch, dass uns bei entsprechendem Engagement von Lehrkräften um unser Bildungssystem nicht bange sein muss.
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Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-915-5
ISBN e-book: 978-3-99146-916-2
Lektorat: Leon Haußmann
Umschlagfoto: Tatyana Tomsickova | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Frau Beate Hanek
www.novumverlag.com
Vorwort
Wie lernen Kinder? Wie löst man Konflikte? Was brauchen Kinder, um zu wachsen? Ich habe mich zeitlebens mit Pädagogik beschäftigt. Dabei wollte ich anfangs nie Lehrer werden. Zu tief lagen meine Enttäuschungen, die ich selbst von der Schule hatte. Aber Enttäuschungen können eine Triebfeder sein, um nach den Gründen zu suchen, wie es dazu kam und zu forschen, wie es besser sein könnte. Also studierte ich mit 46 Jahren noch einmal Sonderpädagogik, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Erst danach hatte ich das Gefühl, Kinder wirklich zu verstehen. Im Studium lernte ich Prof. Dr. Werner Bleher kennen, dem ich an dieser Stelle herzlich danken möchte, da er so freundlich war, mein Manuskript auf seine fachliche Qualität zu überprüfen. Die größten Lehrmeister waren für mich jedoch die Kinder, die sich mir in meiner Schullaufbahn unbequem in den Weg stellten. Als ich lernte, meine Ziele im Zusammensein mit Kindern loszulassen und nach kreativen Lösungen zu suchen, während wir im Konflikt waren, passierten unerwartete Dinge, die mich so sehr überraschten, dass ich sie aufschrieb. Ich liebe ungewöhnliche Erfahrungen, die mir einen neuen Blick auf die Wirklichkeit geben. Auf diese Weise sammelte ich viele Geschichten, die letztlich zu diesem Buch führten. Es ist ein Erfahrungsbuch, mehr als eine wissenschaftliche Arbeit. Ich möchte damit Eltern, Lehrpersonen und Erwachsene, die neugierig auf Kinder sind, ansprechen und einladen, mit mir diese Erfahrungen zu teilen. Das Buch enthält auch viele Tipps, Übungen und Spiele, um eigene Erfahrungen zu sammeln. Ein Buch von der Praxis für die Praxis.
Martin Fährmann-Hanek im Frühjahr 2024
Einleitung
Viele Menschen glauben, dass Kinder dazu da sind, gehorsam und folgsam zu sein. Die Erwachsenen meinen zu wissen, was für ein Kind gut ist. Daher geben sie alles vor. Also ist keine Widerrede, kein eigener Standpunkt möglich. Ich habe es selbst als Kind so erlebt. Auf meine Frage an meine Eltern, was sie sich zu Weihnachten wünschten, gab es immer nur eine Antwort: liebe Kinder. Anfangs war es für mich einleuchtend, denn ein Kind möchte in der Regel auch lieb sein. Es ist voller Liebe. Doch folgsam und lieb sein, ohne Bezug zu einer bestimmten Handlung, macht Kinder misstrauisch. Es ist kein harmloser Wunsch, denn als Kind spürt man, dass etwas faul daran ist, immer folgsam zu sein und zu gehorchen, selbst wenn man nicht von jeder Anweisung überzeugt ist. Blinder Gehorsam sollte eigentlich längst überholt sein, und doch erzwingen viele Eltern den Gehorsam ihrer Kinder. Es gibt mehr Eltern als gedacht, die mit ihren Kindern deswegen Schwierigkeiten haben. Nach einer Studie der Uni Freiburg im Herbst 2022 mit 1013 Eltern erleben 50 % aller Kinder in der Schweiz häusliche Gewalt.1 Eltern, die körperliche und psychische Gewalt an ihren Kindern ritualisiert ausüben, gaben sogar häufig an, dass sie sich dabei im Recht fühlen. Besonders erschreckend ist, dass die große Mehrheit der Eltern glaubt, dass psychische Gewalt erlaubt sei, wenn Kinder älter sind. Anschreien oder Ignorieren werden dann sogar häufig als legal angesehen.
Lieb sein und gehorchen kann nicht die Aufgabe eines Kindes sein. Kinder wollen freiwillig gehorchen, weil sie an die Erwachsenen und ihre Mission glauben. Sie ordnen sich gerne unter, wenn sie sich gesehen fühlen und gemocht werden. Sie wollen verstehen, warum bestimmte Dinge getan und gelernt werden müssen. Kinder sind kreative Wesen, die darauf brennen, in alle Probleme des Lebens mit einbezogen und ernst genommen zu werden. Sie wollen an den Problemen des Lebens wachsen und erfahren, wer sie selbst sind. Sie wollen mit den Erwachsenen kreativ kooperieren. Daher ist Kreativität eine bessere Antwort auf die sprudelnde Lebendigkeit von Kindern als Kontrolle und Zwang.
AusSicht der Kinder ist ihre Lebendigkeit ihr natürliches Naturell. Aus Liebe zu ihren Eltern unterdrücken sie oft diese Lebendigkeit. Sie versuchen, den Ansprüchen ihrer Eltern zu genügen, indem sie sich bemühen, gute Noten nach Hause zu bringen und alles tun, was die Eltern ihnen raten. Dabei bleiben ihre Bedürfnisse aber oft auf der Strecke. Sie scheitern an ihren eigenen Ansprüchen und verlieren den Mut, wenn die Noten nicht mehr stimmen. Im Stress eines durchorganisierten Alltags verlieren sie allmählich ihr Kindsein und eine zunehmende Anzahl von Kindern gerät ins Burnout.2
AusSicht der Erwachsenen stören Kinder, wenn Eltern ihren wohlverdienten Feierabend haben und die Lebendigkeit der Kinder nicht dazu passt. Sie wollen endlich selbstbestimmt diese arbeitsfreie Zeit genießen und ärgern sich, wenn ihre Kinder intensiv ihre Bedürfnisse einfordern. Andere Eltern reagieren heftig, weil sie das Verhalten des Kindes irrtümlich als Angriff auf ihre Autorität interpretieren.Alles ist verständlich. Elternschaft ist eine große Herausforderung. Sie beginnt damit, dass Eltern einen zweiten Beruf ausüben müssen, auf den sie sich kaum vorbereiten können: die Kindererziehung. Gleichzeitig beginnt ein Balanceakt zwischen Beruf, Kinderwelt und Partnerschaft. Eltern werden strapaziert, alle Bedürfnisse in der Familie auszugleichen. In der Schule kommen bald neue Herausforderungen hinzu. Für die Eltern ist gerade das Gröbste geschafft, da fangen ihre Kinder in der Schule plötzlich an zu rebellieren und keiner weiß genau, warum.
Es braucht eine Antwort auf die Herausforderungen, die Kinder in dieser Zeit mit sich bringen. Es braucht auch eine Antwort für Eltern und Lehrpersonen, die sich immer mehr gestresst fühlen. Welche Rolle spielt dabei die Kreativität?
Kreativität spielt meiner Ansicht nach eine äußerst wichtige Rolle in der Erziehung von Kindern, da sie immer mit einer Öffnung beginnt. Damit leitet sie die Möglichkeit einer Beziehung ein. Ohne sich füreinander zu öffnen ist die Beziehung eine Farce. Dann spielen Kinder Gehorsam, um ihre Eltern oder Lehrpersonen zu gewinnen. Das ist jedoch für niemanden befriedigend. Die Beziehung ist die Voraussetzung, dass erfolgreiches Lernen überhaupt stattfindet. Kreativität und Beziehung sind die Voraussetzungen, um überhaupt schwierige Situationen lösen zu können. Ohne Kreativität können wir in Konflikten eigentlich gar nichts tun. Wir können nur vorübergehend für Ruhe sorgen. Ohne Beziehung kann man Kinder nicht wirklich verstehen und ohne sie zu verstehen, kann man ihnen nichts vermitteln.
Mir ist als schulischer Heilpädagoge aufgefallen, dass Kinder am besten über kreative Impulse zu erreichen sind. Das liegt an dem Phänomen des kreativen Prozesses. Er hat immer etwas einladend Öffnendes. Er kann uns die Augen öffnen und uns Ideen geben, aus jedem Konflikt wieder herauszukommen. Er öffnet auch dem Kind die Augen und lädt es ein, mit uns in einen Prozess zu gehen.
Davon möchte ich erzählen, sowie von ungewöhnlichen Situationen, die ich erlebt habe, in denen Kreativität der entscheidende Schlüssel war, um die Situation zu retten. Kreativität ist nicht nur ein Lernöffner. Sie schafft als wichtiges Hilfsmittel zwischen Erwachsenen und Kindern das Vertrauen, das für eine Beziehung nötig ist. Darüber hinaus wirkt sie belebend und inspirierend auf den Erwachsenen und bringt ihm den Ausgleich zu seiner Arbeit.
Bei meinen Recherchen über Kreativität im gesellschaftlichen Leben bin ich auf erstaunliche Hinweise gestoßen, welchen hohen Stellenwert Kreativität in Wissenschaft und Wirtschaft hat. Das hat wiederum eine Bedeutung für den Umgang mit Kreativität in der Schule, die die Kinder auf das Leben vorbereiten soll.
Ich habe mich aus diesen Gründen für eine Dreiteilung des Buches entschieden:
Erfahrungen aus der Schulwirklichkeit, die mich an meine Grenzen gebracht und mir die Augen für Kinder geöffnet habenDas Phänomen der Balance im kreativen Prozess und ihre Bedeutung für die Erziehung und die SchuleEin Blick voraus: Was die Wirtschaft von den Heranwachsenden erwartet und die Nachhaltigkeit von Kreativität im LebenDer 1. Teil erzählt von realen Situationen aus dem Unterricht, von Ausflügen oder Schullagern, die keiner haben möchte. Es sind überraschende Situationen, in denen das Konzept, das einer geplanten Vorbereitung zugrunde lag, nicht mehr gegriffen hat.
In diesen Momenten habe ich am meisten über Kinder gelernt. Im Nachhinein liebe ich diese Geschichten. Während der Situation habe ich dagegen ganz schön geschwitzt. Ich will sagen: Ich kann mich gut in Lehrpersonen und Eltern einfühlen, die an ihre Grenzen kommen. Ich weiß, wie man sich dann fühlt. In diesen Momenten haben mir meine Gaben zur Improvisation und zur Geduld geholfen.
Im 2. Teil spreche ich von der Balance, in die wir durch wahre Kreativität gelangen. Dazu gehen wir tiefer in den kreativen Prozess hinein. Wir erleben, wieso Kreativität die Lösung für viele Probleme und Konflikte im Leben bietet. Ich habe auf eine Fachsprache weitestgehend verzichtet und fachliche Hintergrundinformationen auf das Nötigste beschränkt. Man muss nicht 100 Bücher lesen, um Kinder verstehen zu können. Viel Wissen entspringt unserem natürlichen gesunden Menschenverstand und der Bereitschaft, Kindern gegenüber immer offen zu bleiben. Die Impulse, die ich hier gebe, können anregen, selbst weiter zu forschen.
Der Blick voraus im 3. Teil geht in Bereiche, die unser ganzes Leben betreffen. Die Wirtschaft ist ein wichtiger Teil davon. Sie beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Kreativität. Wir sehen den Prozess des Unterrichtens und Erziehens aus einer anderen Perspektive, quasi aus der Zukunft, auf die die Kinder zulaufen. Dazu gehört meiner Meinung nach aber auch das Thema Gesundheit und spirituelle Entwicklung.
So viel zum Aufbau dieses Buches. Zum Abschluss möchte ich erwähnen, dass es sich bei allen Erlebnissen um reale Geschichten handelt, die ich fast ausnahmslos selbst erlebt habe. Die Namen der Kinder habe ich unkenntlich gemacht, um sie zu schützen.
Schließlich:
Es gibt einen roten Faden in diesem Buch: Das ist die Kreativität. Ich habe durch die vielen erlebten und gelösten Konflikte mit Kindern den großen Wert der Kreativität kennengelernt.
Ich wünschte mir, sie würde in unserem ganzen Leben regieren.
1 kinderschutz.ch/kinderschutz-schweiz/aktuelles/kampagne-emmo-2022
2 ksw.ch/gesundheitsthemen/burnout-kinder-jugendliche/
Teil 1 - Situationen, die keiner haben möchte
Kapitel 1.1 Wenn es eskaliert
Wenn Kinder stören, fällt zuerst auf, dass sie unsere Pläne kreuzen. Damit beschränken sie uns. Das nervt. Wer mag das schon gerne? Lehrer müssen ihren Unterricht unterbrechen, Eltern brauchen Ruhe nach der Arbeit. Das erfordert viel Geduld und Kraft, die man nicht immer hat. Aus der Sicht des Kindes sieht es ganz anders aus. Sie äußern sich umgehend, sobald der Schuh drückt. Er drückt oft so stark, dass sie es nicht mehr aushalten. Sie können nicht warten, weil ihr Problem in ihren Augen höchste Priorität hat. Das bereitet ihnen eine große Not. Sie können oft nicht einmal sagen, warum sie gerade wütend, traurig oder ungehalten sind.
So entstehen oft Konflikte in der Beziehung.
Im Schmerz gefangen
Es war dieser Moment tiefster Zufriedenheit, der einen erfüllt, wenn man sich auf eine gelungene Geburtstagsfeier vorbereitet hat und meint, an alles gedacht zu haben. Bei einem Schullager mit einer 5. Klasse passierte es. Wir hatten einen langen, anstrengenden Tag hinter uns und freuten uns auf einen entspannten Abend mit einem guten Essen, lustigen Spielen und viel Kinderlachen. Danach würden wir alle müde in unsere Betten fallen und zufrieden schlafen. So dachten wir. Es sollte jedoch ganz anders werden.
Mein Kollege war im Erdgeschoss mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt, als plötzlich zwei Mädchen aufgeregt zu mir eilten und voller Panik berichteten, dass ein Mitschüler sie umbringen wolle. „Paul sagte, er will am Abend, wenn wir schlafen, in die Küche gehen, sich ein scharfes Fleischmesser holen und uns alle abstechen!“ Meine Gedanken überschlugen sich: War er vielleicht schon mit einem Messer auf dem Weg zu den Mädchen? Ich spürte Wut und Empörung: War das der Dank für den schönen Tag, den wir gemeinsam verbracht haben? Vor meinem Auge erschienen in Bruchteilen einer Sekunde Bilder von den Amokläufen in Winnenden und Erfurt. Auch wenn die Worte von Kindern nie auf die Goldwaage gelegt werden sollten, ergriff mich in dem Moment doch eine gewisse Unruhe. Natürlich stand der Schutz der anderen Kinder vor einem potentiellen Amokläufer an erster Stelle. Während ich die Treppen hoch eilte, überlegte ich, was zu tun ist. Ich musste herausfinden, wie ernst es Paul meinte. In der Küche lagen tatsächlich sehr große und scharfe Messer. Die Küche war nicht abschließbar. Ich musste Paul erreichen und herausfinden, was hinter seinen Gewaltfantasien steckt. Mit klopfendem Herzen kam ich im Stockwerk der Jungen an.
Nebengedanken
Auch in schwierigen Momenten laufen bei uns verschiedene Ebenen ab. Neben der Aufregung, die von den Kindern verbreitet wurde, gelang es mir, ruhig zu bleiben. Fieberhaft dachte ich nach. Kinder greifen in ihrer emotionalen Hilflosigkeit oft zu Kraftausdrücken, die sie im beruhigten Zustand nie verwenden würden. Das gibt ihnen ein Gefühl von Stärke. Kinder können aber in höchster seelischer Not auch gewaltige Kräfte entwickeln und viel Unheil anrichten. Man denke an Kinder, die am Ertrinken sind. Das kann sogar für einen Rettungsschwimmer eine Herausforderung sein. Kinder, die sich in ihrem elterlichen Umfeld als hilflos und klein gefühlt und Übergriffe erlebt haben, können in einer anderen Situation überkompensieren und in einen Gewaltrausch kommen, der ihnen das Gefühl gibt, endlich nicht mehr hilflos zu sein. Paul hatte wahrscheinlich eine Traumatisierung erlebt, die im Lager durch eine ähnliche Situation angetriggert wurde.
Wissensecke
Bei Stress wechseln wir von unserem Frontalhirn, das für waches, bewusstes Denken steht, in unser limbisches System. Es ist das Tor zu unseren Emotionen. Hier, tief im Inneren unseres Gehirns, werden alle Emotionen verarbeitet. Hier wird in Stresssituationen entschieden, wie wir reagieren sollen, um uns schnellstmöglich durch Flucht oder Angriff zu schützen. Logisches Denken ist dann unmöglich. Es ist viel zu langsam. Paul wurde von etwas angetriggert.Ein Trigger ist ein Auslöser. Er reaktiviert ein früheres Trauma. Dadurch wird die bedrohliche Situation von früher noch einmal mit gleicher Intensität erlebt. Hintergrund:
Im 2. Weltkrieg reagierten die Soldaten auf die unausweichliche beklemmende Lage in den Schützengräben mit einem Trauma.
Der ohrenbetäubende Lärm einschlagender Granaten war unerträglich. Fliehen war in diesem Moment genauso unmöglich wie anzugreifen. Die Situation wurde unerträglich. In diesem Moment dissoziierten sie. Sie gingen in eine Erstarrung und waren nicht mehr richtig anwesend. Das war eine hilfreiche Lösung des Körpers, um nicht durchzudrehen, um zu überleben. Nach dem Krieg blieb jedoch dieses Verhalten, und viele von ihnen hatten unerklärliche körperliche Reaktionen wie das bekannte Kriegszittern, eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS.3 Ein Trigger kann für Soldaten sein, wenn sie später in der Therapie zu früh von ihren Erlebnissen erzählen sollen, oder wenn sie in einen engen Raum kommen, der sie an den Schützengraben erinnert. Auch das Miterleben von traumatischen Ereignissen kann eine PTBS auslösen. Die Anzeichen und Symptome von PTBS können Flashbacks, Albträume, anhaltende Angstzustände, Schlafprobleme und emotionale Taubheit umfassen. Durch eine PTBS wurden nach dem Amoklauf in Winnenden einige Polizisten arbeitsunfähig.
Paul hatte eine rote Linie überschritten, die eigentlich nur eine Antwort zuließ: Er musste abgeholt werden. Meine Erfahrung aber hat mich gelehrt, dass es immer von Vorteil ist, mit der eigenen Reaktion zu warten, bis man die Situation voll überblickt hat. Ich zwang mich daher zu Ruhe und Gelassenheit, als ich das Zimmer von Paul betrat.
Ein Freund tröstete ihn gerade, was aber nicht wirklich gelang. Er redete sich dadurch nur immer mehr in seine Gewaltfantasien hinein. Ich bat daher den Freund zu gehen und begann damit, mir alles anzuhören, was er den Mädchen vorwarf. Ich hielt meine eigenen Gedanken und vor allem meine klugen Antworten zurück und bekam dadurch einen Überblick von der Lage. Es wurde schnell deutlich, dass Paul von den Mädchen angetriggert wurde und tief verletzt und traurig war. Die Wut musste raus. Ich zog mich mit ihm in einen geschützten, abgelegenen Raum zurück und hörte weiter zu, lenkte aber das Gespräch durch Fragen immer mehr auf ihn selbst. Dabei kam heraus, wie sehr er unter der Trennung seiner Eltern litt. „Jede Woche muss ich wechseln, erst zu Papa, dann zu Mama. Es gibt keinen sicheren Ort für mich.“ Schließlich, als alles ausgesprochen war, verwandelte sich seine Wut in eine tiefe Traurigkeit, die er in diesem Rahmen zulassen konnte. Ein Mädchen mit Namen Lotta war anwesend. Sie hatte keine Angst vor seinen Gewaltfantasien. Als Paul seine Gewaltfantasien losließ, brach er in sich zusammen. Da saßen sie: zwei Kinder im Alter von 11 Jahren, das eine ganz aufgelöst in seinem Schmerz, das andere voller Mitgefühl und Anteilnahme vor ihm. Normalerweise gingen sie sich immer aus dem Weg, so wie eben Mädchen und Jungen in diesem Alter sind. Doch in diesem Moment vergaßen beide ihre Rolle und ihre Scheu voreinander. Lotta hatte den ganzen Prozess von Paul begleitet. Sie fühlte nun die Kraft, ihn zu trösten. Paul kauerte sich schluchzend in ihre Arme und ließ sich bereitwillig und ohne Scham von ihr trösten. Der Anblick hatte etwas berührend Echtes und Wertvolles, fast Heiliges. Lotta konnte für einen Moment wie eine Mutter geben, und Paul konnte ohne Scheu nehmen und Frieden finden.
Die gefährliche Situation war mit einem Mal vorbei. Schließlich versprach Paul, die Mädchen ganz in Ruhe zu lassen. Ich fühlte, dass er es ernst meinte, und wir konnten den Tag noch harmonisch beschließen. Ich war anschließend froh, mit einer rigiden Maßnahme gewartet zu haben. Paul war wie verändert. Er hatte wieder zu sich gefunden. Er konnte mit einem klaren Blick sehen, wie sehr er sich verrannt hatte. Ich hatte etwas Neues gelernt:
Durch stille Zeugenschaft, in einem Raum der Sicherheit, kann in so einem Moment mehr erreicht werden als durch rigide Maßnahmen und viele Worte. Paul wurde in den nächsten Jahren ein nachdenklicher, besonnener Schüler. Ich traf ihn von Zeit zu Zeit und wir lächelten uns verstehend zu.
TIPPs
Kinder sind auf Geborgenheit im Elternhaus angewiesen. Fehlt ihnen diese, werden sie unausgewogen, da sie sich emotional noch nicht selbst regulieren können. Wir sollten daher ihre Worte nicht auf die Goldwaage legen, wenn sie starke Ausdrücke wählen.Kinder, die sich im Stress befinden, sollten aus der Situation befreit werden, indem man mit ihnen den Raum wechselt und sie zu einem Spiel einlädt oder irgendwie ablenkt. Erst später ist es möglich, mit ihnen über den Konflikt zu sprechen, wenn ihr Gemüt sich abgekühlt hat.Hinter einem störenden Verhalten liegt meist eine seelische Not und kein absichtliches Fehlverhalten. Die Not zeigt sich oft in einem Ausbruch von Trauer, die auf die Aggression folgt, wenn man warten kann. Kinder sind für Geduld und Zuwendung in diesen Momenten sehr dankbar. Oft ist es besser, erst einmal nur ein stiller Zeuge zu sein, statt zu tadeln oder empört auf die Aggression zu reagieren.Wenn die Geborgenheit fehlt
Kinder sind elementar auf gute Beziehungen angewiesen. Sie brauchen Geborgenheit und Verlässlichkeit bei Bezugspersonen, die es gut mit ihnen meinen. Das gibt ihnen Halt. Wir sehen leider oft nicht, was ihnen fehlt, wenn sie in die Schule kommen. Es erscheint zuerst wie ein Rätsel, wenn Kinder toben, randalieren oder andere Kinder provozieren. Das Wichtigste in diesem Moment ist, mit dem Kind den Raum zu wechseln und es abzulenken. Es muss sich beruhigen, bevor wir mit ihm reden können.
Horst war in letzter Zeit einfach nicht mehr zu bremsen. Er machte nur noch Schwierigkeiten, konnte den Mund nicht mehr halten und war ständig provozierend und zappelig. Ich hatte bereits alles versucht, um ihm zu helfen und ihm klarzumachen, dass sein Verhalten nicht akzeptabel war, aber nichts schien zu helfen. In solchen Momenten verlasse ich automatisch mein Programm. Ich warte auf eine Eingebung, erst dann gehe ich auf den Schüler zu, um ihn in ein Erlebnis mit hineinzunehmen, von dem ich hoffe, dass es ihn packt und verändert. Bei Horst fiel mir sofort das Musikzimmer ein. Musik hat eine Faszination bei allen Kindern und ich hoffte, dass sie auch Horst begeistern würde. Aber ich war mir bewusst, dass es auch eine riskante Wahl sein könnte, denn Musik hat eine intrinsische Wirkung, die sehr belebend und aufwühlend sein kann. Wir gingen zu den Stabspielen. Ohne viel nachzudenken wählte ich für Horst eine Tonfolge aus, die immer zu einem Grundton passte, den ich spielte. Ich spielte meinen Ton und war gespannt, was passieren würde. Ich musste nicht lange warten. Horst begann sofort zu spielen, allerdings ohne jedes Gefühl. Es war grauenvoll. Aber ich gab nicht auf und wir wechselten die Seiten. Nun musste er den Grundton spielen, während ich darüber improvisierte. Da passierte das Überraschende: Horst gewann Freude an dem einzelnen Ton. Er hörte meine Melodien und wollte ununterbrochen nur den einen Ton wiederholen. Er kam in einen regelrechten Flow und versank in eine in sich gekehrte, innere Ruhe. Der Ton war wie ein Anker im Wirbel der Tonfolgen, die ich spielte. Anscheinend war es genau das, was Horst brauchte, um zur Ruhe zu kommen. So spielten wir über etwa 20 Minuten einträchtig miteinander. Es war wie eine gemeinsame Meditation, die uns beiden half, zur Ruhe zu kommen. Dann war Horst zufrieden. Er legte den Schlegel zur Seite und ging ruhig und entspannt wieder zurück in die Klasse. Es war ein unerwarteter Erfolg und ich merkte, dass die Musik Horst geholfen hat, seine innere Unruhe zu überwinden und wieder zu einem ausgeglichenen und produktiven Schüler zu werden.
Horst war nur mit einem Grundton verbunden, und doch empfand er keine Langeweile. Grundtöne verschaffen dem Hörer Orientierung. Sie geben Halt. Das ist das, was Horst in seiner Familie fehlte: Geborgenheit. Gleichzeitig öffnet Musik das Tor in die Welt der Gefühle. „Melodien und Rhythmen wirken auf genau jene Hirnregionen, die für die Verarbeitung von Trauer, Freude und Sehnsucht zuständig sind“, sagt die Hirnforschung.4 Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass gerade Kinder mit emotionalem Förderbedarf so stark auf Musik reagieren.
TIPPs
Es gibt Fächer wie Musik und Kunst, die von innen her Kinder öffnen können. Das ist von Vorteil, da Kinder in diesen Fächern leichter in ihre Gefühlswelt wechseln können. Kinder sprechen auf kreative Angebote besonders gut an.Wir sollten Kinder gut beobachten, um herauszufinden, welche Art von Kreativität sie anspricht. Sind sie eher bildhaft oder eher auditiv veranlagt? Werden sie kreativ in der Natur oder eher in ruhigen, reizarmen Räumen?Fördern Sie Gelegenheiten, bei denen Kinder elementare Bewegungserfahrungen machen können. Dazu gehören Balancieren, Klettern, Laufen, Springen. Hier können sich Emotionen leicht regulieren und es werden elementare Voraussetzungen gefördert, um später in der Schule beweglich zu denken, warten zu können, Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz zu entwickeln.Unkonventionelle Lösungen
Es gibt Situationen mit besonderen Herausforderungen, die ein spontanes und unkonventionelles Vorgehen der Lehrperson einfordern. Man kann sich auf diese herausfordernden Situationen kaum vorbereiten. Sie sind ein Graus für jeden, der zu 100 % strukturiert vorgehen möchte, da sie jede Struktur über den Haufen werfen. Aber sie bringen Überraschungen und ungewohnte Einsichten über das Wesen des Kindes. Musik bietet dazu kreative Lösungen. Die Situation mit Horst war ein Glücksfall, denn ich war nicht allein in der Klasse. Manchmal lösen Kinder selbst ihr Problem, denn Kinder wissen meist sehr gut, was sie brauchen. Das konnte ich mit Karl erleben, als ich allein in der Klasse Musik unterrichtete.
Karl war ein sehr unkonventioneller Junge. Er liebte alles Aufregende und Krasse, was andere Kinder schockieren kann. Seine Begeisterung und Energie haben mich immer wieder überrascht und beeindruckt. Karl war ein Schüler in der 5. Klasse und hatte ein ziemlich ungewöhnliches Hobby: Seine Eltern hielten viele Schlangen, darunter auch Gift- und Würgeschlangen. Er sprach mit fast zärtlichen Worten von einer Würgeschlange, wenn sie sich eine Maus fing und sie verspeiste. Für ihn war sie wie ein guter Freund und ich musste meine innere Ablehnung gegenüber diesem Hobby verbergen, um nicht seine Begeisterung zu dämpfen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf seine Hingabe zur Musik. Erstaunlicherweise konnte ich Karl für das Spielen auf der Ukulele begeistern. Eines Tages wollten wir einen Boogie auf der Ukulele spielen, aber Karl hatte seine Ukulele nicht dabei. Er fluchte und wurde sehr zornig, denn er wollte unbedingt mitspielen. Er lief unruhig durch den Klassenraum und ich befürchtete, dass er die Musikstunde zerstören könnte. Plötzlich war er jedoch verschwunden. Ich bekam Herzklopfen. Soll ich hinterher und ihn suchen und dabei die anderen Kinder allein lassen?
Wir kommen oft selbst in Konflikte, wenn Kinder ihre Bedürfnisse ungehemmt ausdrücken, denn sie lassen sich dann nur noch sehr schwer führen. Ich war auf alles gefasst.
Doch Karl kam mir auf sehr unkonventionelle Weise entgegen.
Er erinnerte sich daran, dass wir uns vor einiger Zeit im Musikunterricht mit der Entstehung von Tönen auf Naturinstrumenten beschäftigt hatten, und er bekam eine Idee, wie er das Problem lösen könnte, kein Instrument dabei zu haben. Unbemerkt verschwand er in der Schulküche und kam kurz darauf mit zwei Weingläsern, gefüllt mit Wasser, in die Klasse zurück. Er hatte sie, ich weiß nicht wie, eigenständig und ziemlich genau auf die Grundtöne G und D gestimmt und konnte nun tatsächlich mitspielen. Erst war ich erschrocken, dass er sich davongestohlen hatte. Doch dann war ich beeindruckt von seiner Kreativität und seinem Einfallsreichtum.
Solch eine Lösung des Problems kann man nicht planen.
In gewissem Sinne kam mir meine Unaufmerksamkeit entgegen.
Ich unterdrückte den Tadel, der mir auf der Zunge lag. So erlebten wir eine ungewöhnliche und äußerst harmonische Musikstunde.
Eine unkonventionelle Reaktion schafft Vertrauen in der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und zeigt, dass wir auch in ungewöhnlichen Situationen gemeinsam eine Lösung finden können.
Musik wirkt stark einladend, mitzumachen. Das liegt vielleicht auch daran, dass alle Menschen angeregt auf Musik reagieren. Es beginnt bereits vor der Geburt, wie Wissenschaftler herausgefunden haben. Der Geiger Yehudi Menuhin hält Gesang sogar für die eigentliche Muttersprache des Menschen (s. o.). Man kann sich vorstellen, warum Musik gerade bei Kindern mit einer emotionalen Störung so öffnend und beruhigend wirkt.
Wenn Schimpfen nichts mehr bringt
Wie viel Energie verschwenden wir damit, gegen die Bedürfnisse der Kinder zu arbeiten? Wir haben meistens die besten Absichten, wenn wir Kinder reglementieren. Kinder brauchen Struktur, aber wie erreichen wir diese? Zum einen: Wir müssen sie mit ins Boot nehmen, Regeln nicht vorgeben, sondern sie mit ihnen zusammen erarbeiten und auswerten. Zum anderen: Kinder sind leichter zur Zusammenarbeit bereit, wenn sie etwas tun sollen, was sie mögen. Künstlerische Fächer helfen dabei, ebenso Sport und Musik. Musik kann intrinsisch, von innen her, helfen, ordnend und strukturierend zu wirken. Wenn wir sie musikalisch gewinnen, sind es der Takt, der Rhythmus und die Melodie, die die Kinder ordnen. Es ist ein Weg, der ohne Sprache Kinder strukturieren kann. Wie wir gehört haben, ist Musik so etwas wie eine Ursprache, die jeder Mensch versteht. Sie wirkt unmittelbar auf das emotionale Zentrum – das limbische Gehirn. Hier sitzen unsere starken Emotionen. Kinder wollen genau hier angesprochen werden. Dann sind sie bereit, sich unterzuordnen.
Einmal entschieden wir uns im Musikunterricht dazu, eine Weihnachtsgeschichte aufzuführen, die erzählt und mit Effektinstrumenten begleitet werden sollte. Ich muss zugeben, dass diese Art des Unterrichtens nicht gerade einfach ist. Es ist eine Herausforderung, die Dosierung der Instrumente so zu steuern, dass die Geschichte nicht untergeht oder zu überladen wirkt. Für den Lehrer ist es schwierig, die Aufmerksamkeit auf jedes Kind gleichzeitig zu richten und dabei den musikalischen Prozess im Blick zu behalten. Immer wieder wurde die Arbeit von ungeduldigen Kindern gestört, die nicht warten konnten und ihr Instrument zu früh spielten. Ich versuchte vergeblich, für Ordnung zu sorgen. Ich war nahe dran, das Projekt abzubrechen.
Der rettende Prozess begann bei mir selbst. Ich hörte einfach auf zu schimpfen. Ich hörte auf, alles im Griff behalten zu wollen, und die Kinder nahmen es dankbar auf. Ich drehte quasi den Spieß um. Statt mich für eine rigide Disziplinierung stark zu machen, bezog ich die Kinder mit ein.
Die Kinder halfen mir dabei, die Geschichte zu einem guten Ende zu führen, indem sie sich aus eigenem Interesse selbst disziplinierten. Sie wollten, dass die Klanggeschichte gelingt, und fingen an, sich nun gegenseitig zu kontrollieren. So entstand ein starker sozialer Prozess, bei dem ich nur noch wenig kontrollieren musste. Ich las nur die Geschichte ganz langsam und betont vor, so dass die Kinder genug Zeit hatten, um darauf zu reagieren. Ich übte mich im Warten, bis alle wieder so weit waren, weiterzumachen. Die Pausen, in denen ich nicht sprach, waren dabei der natürliche Lenker. Sie lernten auf diese Weise viel mehr Selbstdisziplin, als wenn ich sie gemaßregelt hätte.
Es war erstaunlich, wie die Kinder durch die Musik und die anschließende gemeinsame Aufführung zu einem echten Team zusammenwuchsen. Sie lernten spielerisch, aufeinander zu hören, sich gegenseitig zu unterstützen und sich auf die gemeinsame Aufgabe zu konzentrieren. Es war ein schönes Erlebnis, das nicht nur das Verständnis für Musik förderte, sondern auch wichtige soziale Kompetenzen stärkte.
TIPPs
Kinder lieben große Ereignisse, die zu einer Aufführung kommen und die sie mitgestalten können.