Stippgrütze und andere Schandtaten - Eva Ballewski - E-Book

Stippgrütze und andere Schandtaten E-Book

Eva Ballewski

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Beschreibung

Die Leiche eines jungen Mannes wird mitten auf einem Mindener Parkplatz gefunden, doch das Motiv des Mörders scheint unklar. Für Hauptkommissarin Abby Oberstädt beginnt in dieser idyllischen Kleinstadt nicht nur die Suche nach der Wahrheit, sondern auch ein ganz persönliches Abenteuer... Die Familie des Opfers gerät mehr und mehr unter Verdacht und schmutzige Geheimnisse kommen ans Licht. Zusätzlich muss Abby in Minden neu anfangen und sich als Hauptkommissarin behaupten. Wird sie sich ihren Problemen aus der Vergangenheit stellen und den Täter finden?

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Seitenzahl: 371

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Stippgrütze und andere Schandtaten

Impressum:

Texte: © Copyright by Eva Ballewski

Umschlagsgestaltung: © Copyright by Eva Ballewski

Eva Ballewski

c/o

Acura Instandsetzungen

Uphauser Weg 78

32429 Minden

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für Ruppert, der mich darin bestärkt hat, nie aufzugeben… in jeder Hinsicht.

Für meine Mama, die immer an mich glaubt und hinter mir steht!

Für André, der so viel mehr Fantasie hatte als ich und für gute Geschichten stets zu haben war.

Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen sind fiktiv. Die Handlung ist frei erfunden.

Kapitel 1

„Hey, es wird alles gut. Der Notarzt ist unterwegs!“ sagte sie und strich ihrem Mann eine gewellte Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Panik kroch an ihren Beinen hoch und das bleierne Gefühl stieg immer weiter. Ihr Brustkorb verengte sich, sie schnappte nach Luft und starrte wie wild in alle Richtungen. Der wunderschöne Blick über die imposanten Berge verwandelte sich jetzt in eine Umgebung des Grauens.

„Bitte halte durch“, schluchzte sie an ihren Mann gewandt.

Sie drückte hektisch auf ihrem Handy und suchte verzweifelt ein Netz. Doch hier hatte sie keine Chance. Plötzlich wurde es dunkel und ein Gewitter zog auf. Sie schrie aus voller Kehle um Hilfe…. Nichts, nur Regen und Donner. Jetzt kamen auch noch Blitze dazu, jedoch in einem merkwürdigen Rhythmus. Sind das Morsezeichen? Es kam ihr so bekannt vor. Schon wieder… immer dieses: Blitz, Blitz, Pause. Blitz, Blitz, Pause. Das grelle Licht tat ihr in den Augen weh. Sie kniff die Augen zu und hielt sich die Hand vor das Gesicht.

Als sie die Augen öffnete, sah sie ihre Zimmerdecke. Der Wecker piepte in dem ihr bekannten Rhythmus und versuchte auf sich aufmerksam zu machen.

Schon wieder derselbe Albtraum, dachte sie und sah erschrocken auf die Uhr.

Sie sprang aus dem Bett und schimpfte laut: „Nein, nein, nein! Das darf doch nicht wahr sein!“

Zu allem Überfluss klingelte jetzt auch noch ihr Handy.

„Guten Morgen Frau Hauptkommissarin Alberta Oberstädt!“ griente ihre beste Freundin Rica ins Telefon. „Ich wollte dir viel Glück für deinen ersten Arbeitstag in Minden wünschen.“

„Glück kann ich jetzt gut gebrauchen. Ich habe den Wecker falsch gestellt und muss mich beeilen.“, rief Abby ihrer Freundin über den Lautsprecher zu, während sie ins Bad rannte. „Übrigens: Du weißt, ich hasse es, wenn du mich so nennst.“

„Ja, ja…! Na dann, hopp hopp und alles Gute. Sie können froh sein, dich zu haben!“, verabschiedete sich Rica und legte auf.

Abby freute sich zwar, dass Rica sich gemeldet hatte, aber „Alberta“ ging gar nicht. Ihre Eltern hatten sie nach ihrer Uroma benannt, die viele Juden auf ihrem Bauernhof im Krieg versteckt hatte. Sie war natürlich stolz auf ihre mutige Oma, aber „Abby“ war ihr eindeutig lieber. Außerdem: Wer will schon an solche Zeiten erinnert werden. Irgendwann ist es auch mal gut, dachte sie.

Trotzdem war es lieb, dass sich Rica immer solche Mühe gab. Gerade in der letzten Zeit war sie viel für Abby dagewesen. Rica hatte mit ihr geweint, gelacht und oft auch einfach nur zugehört und geschwiegen.

Sie hatten sich kennengelernt als Rica zu ihr in die 7. Klasse gekommen war und als die neue Mitschülerin vorgestellt wurde: Ricas Familie war frisch von Köln nach Hannover gezogen und hatte einen kölschen Dialekt. Dies hatte zur Folge, dass Rica im hochdeutschen Niedersachsen extrem auffiel und sich deshalb schüchtern zurückhielt.

Anfangs konnten sich die beiden Mädchen nicht ausstehen, doch später wurden sie beste Freundinnen, obwohl sie gegensätzlicher nicht hätten sein können.

Rica war mit ihren großen blauen Augen und dem langen, blonden Haar eine klassische Schönheit. Jedoch machte ihr ihre magere Figur zu schaffen. Sie war zudem noch 1,78 m groß, sodass sie dadurch noch dünner wirkte. „Dat blonde Brettchen“ hatten die Jungs in der Schule immer zu ihr gesagt, weil sie über die Bh-Größe A nicht hinauskam. Leider brachte sie aufgrund ihres geringen Selbstwertgefühls nicht den Mut auf, sich zu verteidigen.

Abby hingegen hatte dunkles, lockiges, ungestümes Haar, eine große Klappe und fühlte sich mit ihren imposanten Kurven pudelwohl. Als es die Jungs in der 7. Klappe wieder einmal mit ihren unflätigen Kommentaren an Rica auf die Spitze trieben, ging Abby dazwischen und sprang der Neuen zur Hilfe. Seitdem waren die Zwei unzertrennlich.

Zwanzig Minuten nach ihrem Telefonat mit Rica lief Abby aus der Tür, schnappte sich noch im Vorbeigehen eine Banane, die sie während der Fahrt hektisch in sich hineinschob.

Schon wieder nicht geschafft, dachte sie, obwohl sie es sich doch fest vorgenommen hatte, diesen wichtigen Tag ruhig und gelassen zu starten. Sie knöpfte sich im Auto den obersten Knopf der knallengen, neuen Jeans auf und betete, dass sie vor dem Aussteigen daran denken möge, ihn wieder zu schließen. Fünfzehn Minuten später fuhr sie über die Kanalbrücke und bog direkt danach auf den Parkplatz der Kreispolizeibehörde ab, zu ihrem neuen Arbeitsplatz.

„Jetzt noch schnell einen Parkplatz finden und dann ‚hopp hopp‘ - wie Rica immer sagt - zum Eingang hasten“, sprach sie mit sich selbst und suchte dabei eine passende Parklücke.

Die Kollegin am Empfang, Petra König, erwartete Abby schon. Sie lächelte sie an und gab ihr mit einem kleinen Wink zu verstehen, dass der Knopf der Hose noch offenstand. Dankbar dafür, dass ihr neuer Chef, der gerade um die Ecke bog, nicht schon am ersten Tag Einblicke in ihre neonfarbene Schlüpferkollektion erhielt, hauchte sie ein stummes Danke in Petras Richtung. Abby ging dann auf den Leiter der Direktion Kriminalität zu, Kriminalrat Bredemeier.

„Ah, da sind Sie ja. Herzlich willkommen in unserer bescheidenen Hütte. Frau König am Empfang haben Sie ja schon kennengelernt. Ich führe Sie herum und stelle Sie bei den Kollegen vor. Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier genauso gut wie in Hannover“, begrüßte er sie.

„Vielen Dank. Ich freue mich mit Ihnen allen zusammenzuarbeiten.“, erwiderte Abby mit ihrem schönsten Lächeln. Halte dich gerade und strahle Selbstbewusstsein aus. Der erste Eindruck ist entscheidend, flüsterte sie sich in Gedanken zu.

Nachdem sie den Rundgang durch alle Abteilungen beendet hatten, traten sie in ihr Büro.

„Ja und das wäre Ihr Arbeitsplatz.“ Kriminalrat Bredemeier deutete mit einer bedeutenden Geste auf einen Schreibtisch. Sie waren in einem etwa 16qm kleinen Raum angekommen, mit brauner Holzvertäfelung an der Decke und weißen Wänden, die aber schon ihre besten Jahre hinter sich hatten. So manche Spinne, wurde hier im Laufe der Jahre platt gemacht und einfach mit ihren Überresten an der Wand als Mahnmal für andere Insekten kleben gelassen. ‚Kabuff‘ war die bessere Beschreibung für diesen Raum.

„Guten Morgen“, begrüßte sie der Kollege, der ihr von nun an

gegenübersitzen würde. „Clemens“, stellte er sich kurz und knapp vor

und verschwand wieder hinter seinem Schreibtisch. Er war 1,85 m

groß, hatte blondes Haar und dazu rehbraune Augen. Merkwürdig!

Sonst fiel ihr so etwas bei Männern gar nicht mehr auf. Sie erschrak.

Du hast ihn gerade abgecheckt, verurteilte sie sich selbst. Hoffentlich

konnte man mir das nicht ansehen. Hab` ich ihn angestarrt?

„Na also dann:“ sagte Kriminalrat Bredemeier beschwingt und klatschte dabei in die Hände. „Auf gute Zusammenarbeit! Clemens wird Ihnen die Strukturen hier näherbringen und Ihnen bei Ihrem ersten Fall zur Seite stehen. Dienstwaffe und Marke liegen bereits in der obersten Schublade Ihres Schreibtisches. Bitte unterzeichnen Sie den Erhalt auf dem Formular darunter. Wenn Sie sonst noch etwas benötigen, finden Sie mich in meinem Büro. Viel Erfolg“. Er drehte sich um und ging.

„Hi, ich bin Abby Oberstädt. Der Chef scheint ganz nett zu sein. Oder muss ich mich vor ihm in Acht nehmen?“, witzelte sie, um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern.

„Naja, wie Sie mit meinem Vater klarkommen, hängt ganz von Ihnen ab. Ich werde mich hüten, Ihnen einige Tipps zu geben. Sie haben mein Namensschild auf dem Schreibtisch wohl übersehen.“

Er grinste schadenfroh und deutete auf das Schild: „Kommissar C. Bredemeier“.

Na toll! Dieser hochnäsige Typ findet sich wohl besonders amüsant. Ist wahrscheinlich nur hier, weil Papa ihn überall durchgewunken hat…, dachte sie und versuchte sich äußerlich nicht verunsichern zu lassen. Abby zuckte unbekümmert mit den Schultern und setzte sich an ihren Schreibtisch.

„Womit fangen wir an“, lenkte Abby vom Thema ab.

Er warf ihr eine Akte auf den Tisch und meinte nur: „Wir müssen gleich los. Lesen Sie sich kurz ein und dann fahren wir zum Tatort. Ist frisch reingekommen die Meldung:

„Mann, 35, identifiziert als Ramon Gesenius, Miteigentümer einer IT-Sicherheitsfirma, wurde auf einem kleinen Parkplatz (Kreuzung Klausen- und Schwichowwall) tot aufgefunden.

Meldung erfolgte durch Lina Peters, Sprechstundenhilfe in der Praxis Dr. Busch, Augenarzt.“

„Wurde die Familie schon informiert?“

„Nein, die Eltern des Opfers sind bereits vor vielen Jahren gestorben. Ramon Gesenius war Einzelkind. Wir müssen also nur die Ehefrau kontaktieren.“

„`Nur` ist gut…“ seufzte sie. „Haben sich noch weitere Zeugen gemeldet?“

„Nein. Wir haben jedoch Glück. Eine Streife musste aufgrund einer Lärmbelästigung ausrücken und hat auf diesem Parkplatz letzte Nacht geparkt. Der Parkplatz war leer, sodass die Leiche definitiv erst später dort abgelegt wurde.“, erläuterte Clemens Bredemeier.

„Wann waren die Kollegen da?“, hakte Abby nach.

Clemens Bredemeier schaute in den Bericht. „Sie wurden um 2:25 Uhr gerufen und waren um 2:40 Uhr dort. Sie fuhren um 2:55 Uhr von dort weg.“

„Das ist wirklich gut. Somit wissen wir, dass die Leiche erst ab 3 Uhr morgens dort platziert werden konnte.“

Abby schlug ihr Notizbuch auf und schrieb sich die Daten auf. „Uh, das geht schon gut los. Minden scheint ein gefährliches Fleckchen zu sein.“ Sie grinste ihn an und wollte einfach Konversation betreiben, doch Clemens Bredemeier blieb unbeeindruckt.

„Wollen wir los? Ich fahre!“, raunte er und erhob sich. Abby schnappte sich ihre Jacke, Dienstmarke und Waffe und griff in den Stapel Visitenkarten, die bereits für sie erstellt worden waren.

Kapitel 2

Sie brauchten etwa zehn Minuten zum Tatort. Es handelte sich um einen kleinen Parkplatz, der für ca. 20 Autos vorgesehen war. Dieser befand sich nahe dem Busbahnhof direkt in der City von Minden. Er war von außen nicht einsehbar, da rundherum eine dichte Hecke und Bäume den Blick versperrten.

„In dieser Gegend passiert öfter mal etwas, weil kleine Banden sich nachts herumtreiben und ihre Machtkämpfe ausfechten. Meistens geht es um Drogen.“ Clemens Bredemeier machte eine nachdenkliche Pause. „Wobei das Opfer schon 35 Jahre war… . Passt eigentlich nicht so ganz ins Bild. Die meisten dieser Typen sind eher Anfang 20 oder jünger“, erklärte er, stieg aus dem Wagen und ging schnellen Schrittes zu den Streifenkollegen, die bereits alles abgesperrt hatten.

„Darf ich vorstellen: Unsere neue Hauptkommissarin.“ Er deutete auf Abby.

„Abby Oberstädt, hallo“, stellte sie sich vor.

Die Polizisten Steinhauer und Heimsen, beide mittleren Alters, nickten ihr freundlich zu.

„Was genau haben wir?“, fragte Abby.

„Das ist Frau Lina Peters“, sagte einer der zwei Polizisten und deutete in Richtung des Krankenwagens, der fünf Meter entfernt stand. Sie war heute Morgen um 6:45 Uhr auf dem Parkplatz, um ihr Auto abzustellen und gegenüber“, er zeigte auf die andere Straßenseite „die Praxis aufzuschließen. Der Praxisparkplatz ist zurzeit wegen Umbauarbeiten gesperrt. Deswegen hat sie ausnahmsweise hier geparkt. Sie wird noch seelsorgerisch betreut. Hat wohl einen kleinen Schock bekommen als sie die Leiche sah. Kann man ihr aber auch nicht verübeln.“

Er ging mit Ihnen zum Fundort der Leiche und deutete auf den toten Körper.

„Es kann sich zumindest nicht um einen Raubüberfall handeln. Die Brieftasche und die teure Armbanduhr sind immer noch da“, lautete Steinhauers erste Analyse.

„Was ist mit dem Handy?“

„Wurde bisher nicht gefunden. Wir wollten die Leiche allerdings auch nicht bewegen.“

Der Mann lag blutverschmiert bäuchlings auf dem kalten Asphaltboden. Er hatte dunkle braune Haare, war groß und gut gebaut und trug einen edlen Designeranzug. Sein äußeres Erscheinungsbild schien ihm wichtig zu sein, denn er wirkte sehr gepflegt. Lina Peters musste sofort erkannt haben, dass der Mann tot war: Mehrere Einschläge am Hinterkopf, jeweils circa zwei Euro große Löcher klafften im Schädel. Man sah Knochen, Blut und etwas grau-beige Hirnmasse trat aus.

Nicht gerade sehr appetitlich, dachte Abby. Aber komischerweise hatte sie sich im Laufe der Jahre an den Anblick von Leichen jeglicher Art gewöhnt. Schwer fiel es ihr nur noch bei Kinderleichen. Das kam zum Glück selten vor.

„Weiß man schon, ob er hier getötet wurde?“ fragte Clemens Bredemeier die Streifenpolizisten.

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, ergriff Abby das Wort. „Für diese tiefen Löcher ist hier zu wenig Blut. Ich vermute, das Opfer wurde woanders erschlagen und auf diesem Parkplatz einfach nur abgelegt.“

„Das können die Kollegen von der KTU wohl besser einschätzen“, gab Clemens Bredemeier barsch zurück.

Er meinte die Kollegen der Abteilung Kriminaltechnische Untersuchung; im Volksmund auch „Spurensicherung“ genannt, was eigentlich falsch war. Dieser Begriff bezog sich nur auf die Tätigkeit, jedoch nicht auf die Berufsbezeichnung. Abby musste jedes Mal schmunzeln, wenn Freunde ihr begeistert von Krimis erzählten, um dann im Gespräch mit ihr ernüchtert festzustellen, dass diese Geschichten nicht annähernd der realen Polizeiarbeit entsprachen.

„Sind die schon unterwegs?“, fragte Clemens Bredemeier den Kollegen Steinhauer.

„Ja“, er nickte, „die müssten gleich eintreffen.“

Abby ließ sich wegen der harschen Bemerkung von Clemens Bredemeier nichts anmerken und fragte, ob man den Wagen des Opfers bereits gefunden hatte.

Als Steinhauer verneinte, hockte sie sich neben die Leiche und betrachtete das Opfer, Ramon Gesenius.

Dieser leicht südländisch aussehende Mann war in ihrem Alter. Das Gesicht und die Hände waren mit Schrammen übersät. Weitere Wunden konnte sie auf die Schnelle nicht finden.

Mit wem hast du dich nur angelegt, dass dich jemand so heimtückisch angreift, dachte sie.

„Er wurde von hinten erschlagen. Es war also kein offener Kampf, sondern geschah plötzlich.“

Clemens Bredemeier nickte nur und zeigte auf den Krankenwagen. „Lassen Sie uns zunächst mit der Zeugin sprechen.“

Abby erhob sich und fasste sich ans Knie. Ihr Meniskusriss machte sich wieder bemerkbar.

Da ist man Mitte 30 und fühlt sich schon wie 50. Das sind ja glorreiche Aussichten, sinnierte sie und trottete Bredemeier hinterher. Was sie jedoch noch viel mehr störte, war die Tatsache, dass Clemens Bredemeier ihr das Zepter aus der Hand reißen wollte. Lange würde sie sich das nicht gefallen lassen. Die weitere Vorgehensweise würde sie bestimmen, nicht er!

Lina Peters saß auf der Einstiegskante des Krankenwagens und hüllte sich in eine rote Wolldecke. Sie war gerade mal 19 Jahre alt, Deutschrussin und ihrer Kleidung nach zu urteilen, gehörte sie höchstwahrscheinlich einer Freikirche an. Sie hatte einen Jeansrock an und trug dazu weiße Turnschuhe. Die mittellangen blonden Haare waren zu zwei dünnen Zöpfen geflochten. Die Rettungssanitäterin öffnete jetzt die Blutdruckmanschette und machte Abby gegenüber eine beruhigende Geste.

„Es geht ihr schon viel besser.“, sagte sie und zog sich zurück in den Krankenwagen, damit Frau Peters in Ruhe befragt werden konnte.

„Frau Peters? Mein Name ist Abby Oberstädt, ich bin die Hauptkommissarin, die diesen Fall bearbeitet und das ist mein Kollege, Kommissar Clemens Bredemeier. Können Sie uns sagen, was Sie gesehen haben?“

Lina Peters schluchzte, versuchte sich aber zu fangen. „Ich bin zur Arbeit gefahren, wie jeden Tag. Heute musste ich ausnahmsweise auf diesem Parkplatz parken. Ich arbeite bei Dr. Busch, dem Augenarzt hier gegenüber. Aber auf unserem Praxisparkplatz werden heute neue Markierungen auf dem Boden angebracht. Die waren schon ziemlich verblasst, sodass es zu Streitigkeiten der Patienten kam. Die sind anscheinend alle nicht in der Lage, richtig zu parken.“ „Naja, wenn die Patienten Probleme mit den Augen haben und deshalb zu Ihnen in die Praxis kommen, kann man es ihnen kaum verübeln“, witzelte Abby. Lina Peters guckte sie lediglich verwirrt an.

„Wissen Sie noch, wie spät es war, als sie auf diesen öffentlichen Parkplatz gefahren sind?“, hakte Clemens Bredemeier ungeduldig nach.

„Ja, es war 6:45 Uhr. Ich schließe die Praxis für gewöhnlich um kurz vor 7 auf. Dann habe ich Zeit, Kaffee zu kochen und alles vorzubereiten, bevor Dr. Busch und die anderen kommen. Ich bin gern die erste halbe Stunde für mich, um in Ruhe in den Tag zu starten. Aber heute… heute war alles anders“, wimmerte sie.

„Das muss wirklich schwer für Sie gewesen sein“, versuchte Abby sie zu beruhigen. „Wann genau ist Ihnen die Leiche aufgefallen?“

„Ich bin rechts auf den Parkplatz gebogen, habe links geparkt und wollte dann den Parkplatz über die Einfahrt wieder verlassen, um zur Praxis zu gelangen. Neben dem Grünstreifen auf dem Behindertenparkplatz sah ich ihn dann. Ich dachte erst, dass es sich um einen Obdachlosen handelt oder jemand, der die Nacht durchgemacht und zu viel Alkohol getrunken hat. Hier am ZOB gibt es immer junge Leute, die sich herumtreiben und nachts im Sommer trinken bis der Arzt kommt. Ich verabscheue es, wenn man sich so wenig im Griff hat. Man sieht ja, was dabei herauskommt. Die Menschen benehmen sich wie Wilde!“, redete sie sich plötzlich in Rage.

Abby ging auf ihre Tirade nicht ein und versuchte wieder auf das eigentliche Thema zu kommen.

„Aber es war keine alkoholisierte Person, die dort lag“, brachte Abby Frau Peters wieder auf Kurs.

„Äh nein“, stotterte sie und plötzlich kamen ihr wieder die Tränen. „Ich wusste sofort, dass er tot war. Diese Löcher im Kopf waren so tief. Ich… ich konnte mir nie vorstellen, wie so etwas aussieht. Mir wurde so schlecht, dass ich in das Gebüsch gerannt bin und mich übergeben habe... Wer tut denn so etwas?“, fragte sie und wickelte die Decke noch fester um sich.

„Nun, das versuchen wir herauszufinden. Haben Sie bis zu diesem Punkt irgendjemanden auf dem Parkplatz gesehen, ein Auto, das gerade weggefahren ist oder irgendetwas, das Ihnen komisch vorkam? Hier könnte alles wichtig sein“, betonte Abby.

„Nein, da war kein anderes Auto. Der Parkplatz sah genauso aus wie jetzt.“

„Und wie ging es dann weiter, nachdem Sie sich übergeben haben?“, ergriff Clemens Bredemeier wieder das Wort.

„Ich habe den Notruf von meinem Handy aus gewählt und hier auf den Krankenwagen und die Polizei gewartet.“

„Haben Sie die Leiche berührt, den Puls gefühlt oder anderweitig versucht zu helfen?“, hakte Bredemeier nach.

Lina Peters schaute beschämt nach unten und gestand: „Nein, ich habe mich nicht getraut, ihn anzufassen. Ich konnte es einfach nicht. Außerdem habe ich gewusst, dass er tot ist.“

„Sie haben immerhin den Notruf gewählt und das war sehr gut“, versuchte Abby sie wiederaufzubauen.

So wie das Opfer ausgesehen hatte, musste er schon einige Stunden tot gewesen sein, vermutete Abby. Lina Peters hätte sowieso nicht mehr helfen können. So gab es wenigstens keine verunreinigten Spuren.

„Darf ich jetzt nach Hause? Mein Chef hat mir für heute frei gegeben. Ich möchte jetzt nur noch schlafen.“

„Ja, ich denke, Sie können gehen. Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, egal was, rufen Sie mich bitte an“, betonte Abby und gab ihr die druckfrische Visitenkarte. Sie war froh, dass diese bereits auf Ihrem Schreibtisch gelegen hatten.

In dem Moment traf auch das Team der KTU, der Kriminaltechnischen Untersuchung, ein.

Kapitel 3

Die vier Kollegen der KTU stiegen aus dem schwarzen Van. Der Leiter ging geradewegs auf Clemens Bredemeier und Abby zu, während die anderen den Kofferraum öffneten und die Ausrüstung herausholten.

„Guten Morgen Clemens“, begrüßte er Kollege Bredemeier und drehte sich dann zu Abby. „Ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt: Sebastian Hoffmann, Leiter KTU.“

Sebastian Hoffmann war circa Mitte 50, schlank und hatte schütteres dunkles Haar. Seine auffallend spitze Nase und die kleinen runden Gläser seiner Brille erinnerten Abby an eine Spitzmaus. Sie musste sich ein Grinsen verkneifen und fragte sich, ob andere auch eine gewisse Ähnlichkeit zu Tieren bei manchen Menschen entdecken konnten.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Hauptkommissarin Abby Oberstädt. Schön Sie kennenzulernen.“

„Was haben wir? Das Mordopfer ist ein junger Mann, nicht wahr?“

„Korrekt. Auf den ersten Blick handelt es sich meiner Meinung nach um direkte Gewalt durch einen stumpfen Gegenstand, was höchstwahrscheinlich auch die Todesursache ist. Genau können wir das jedoch noch nicht sagen, weil wir die Leiche nicht bewegt haben.“

„Ok, wir ziehen uns die Schutzanzüge über und dann geht es los. Wollen Sie dabei sein und zugucken?“, fragte er die beiden Kommissare.

„Nein, wir werden in der Zwischenzeit die benachbarten Wohnhäuser abklappern und die Nachbarn fragen, ob ihnen irgendetwas aufgefallen ist. Vielleicht hat jemand etwas gesehen“, hoffte Abby. „Danach stoßen wir gerne dazu.“

„Ich glaube wir haben schlechte Karten. Der Parkplatz ist durch die dichten Bäume relativ gut abgeschirmt und auf einem Parkplatz ist es normal, dass ständig Autos kommen und gehen. Da wird keiner der Nachbarn darauf geachtet haben“, resignierte Clemens jetzt schon.

„Warten wir es ab. Außerdem gab es doch hier in der Nähe eine Beschwerde wegen Ruhestörung. Da wird doch irgendjemand aus dem Fenster geschaut haben. Und wenn wir mit den drei Häusern fertig sind, hat Kollege Hoffmann vielleicht schon einige interessante Infos für uns.“

„Nur kein Druck, Frau Kollegin. Es dauert eben, solange es dauert! Führen Sie Ihre Ermittlungen durch. Ich mache die Spurensicherung“, stellte Sebastian Hoffmann klar und ging zurück zum Van.

Währenddessen gingen Abby und Clemens Bredemeier zu dem direkt gegenüberliegenden Einfamilienhaus. Es war ein kleines süßes Fachwerkhaus mit blauen Fensterläden aus Holz. Der Name Ritter stand auf der Klingel. Als sich die beiden nach mehrfachem Klingeln schon abwenden wollten, um zum nächsten Haus zu gehen, öffnete eine kleine alte Dame mit pinken Lockenwicklern im grauen Haar zögerlich die Tür. Abby schätzte sie auf Anfang 80.

„Hallo???“, krächzte die Frau leise.

„Sind Sie Frau Ritter?“, fragte Abby vorsichtig.

„Ja natürlich. Worum geht es?“

„Frau Ritter, mein Name ist Abby Oberstädt. Ich bin Hauptkommissarin bei der Polizei und das ist mein Kollege Kommissar Clemens Bredemeier. Wohnen noch andere Personen in diesem Haushalt?“

„Nein, nur ich. Sie sagten Polizei? Zeigen Sie mir bitte erst Ihren Ausweis.“ Frau Ritter war nun deutlich energischer geworden.

„Oh verzeihen Sie. Hier ist mein Ausweis“, sagte Abby und gab ihn ihr. Die alte Dame betrachtete den Ausweis ganz genau und nickte ihr dann zu.

„Frau Ritter, ist Ihnen heute Nacht oder in den frühen Morgenstunden etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Irgendein Fahrzeug, eine Schlägerei oder Ähnliches?“

„Weswegen denn? Ist etwas passiert?“

„Wir ermitteln in einem Mordfall“, mischte sich Clemens Bredemeier ein.

Frau Ritter erschrak, fing sich aber schnell wieder.

„Nun ja… hier fahren viele Autos die Straße entlang. Gerade wegen des Parkplatzes ist hier immer viel los. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Wer ist denn getötet worden? Doch nicht einer meiner Nachbarn?“

„Frau Ritter. Es ist Ihnen doch klar, dass wir Ihnen keine Details zu den Ermittlungen nennen können“, gab Clemens Bredemeier etwas ungehalten zurück.

Abby warf Bredemeier einen ernsten Blick zu und drehte sich wieder zu Frau Ritter.

„Nein, mit Ihren Nachbarn ist alles in Ordnung“, versuchte Abby sie zu beruhigen. „Wann sind Sie denn heute Morgen aufgestanden?“

„Wie jeden Morgen, um 6:30 Uhr. Ich stehe zwar früh auf, aber meine Hüfte macht mir viele Probleme, müssen Sie wissen. Ich brauche sehr lange, um mich fertigzumachen.“ Die alte Dame tastete mit ihrer knöchernen Hand an ihrem Kopf entlang. Man sah deutlich, dass es ihr unangenehm war, mit unfrisierten Haaren an der Tür zu stehen.

So alt und doch eitel, dachte Abby. Irgendwie süß!

„Das kann ich gut verstehen. Und haben Sie zu der Zeit aus dem Fenster gesehen?“

„Ja, aber da war nichts Besonderes.“

„Sind Sie vielleicht irgendwann nachts aufgestanden?“, hakte Abby verzweifelt nach.

„Nun ja. In meinem Alter schläft man leider nicht mehr durch. Warten Sie...“, stockte sie und rieb sich die Stirn. „Ich bin heute Nacht einmal ausnahmsweise auch in die Küche gegangen, weil ich so einen Durst bekommen habe. Der Matjes gestern Abend war sehr salzig. Ich habe tatsächlich etwas gesehen!“ Sie zückte den Zeigefinger mit einer raschen Handbewegung nach oben. Wie Wickie aus Wickie und die starken Männer, wenn er mal wieder die rettende Idee hatte. „Das war mir doch fast entfallen. Ein graues großes Auto fuhr auf den Parkplatz und hat beim Abbiegen den kleinen Mülleimer gerammt, der auf dem Grünstreifen steht. Die Marke kann ich Ihnen aber nicht nennen. Damit kenne ich mich nicht aus.“

„Können Sie das große Auto näher beschreiben?“, fragte Abby aufgeregt. „War es ein Kombi?“

„Nein, kein Kombi. Ich meine dieses neumodische Auto: einen Suuf.“

„Einen Saab?“, fragte Bredemeier genervt.

„Nein, einen Suuf“, beharrte Frau Ritter.

Abby verstand plötzlich, was die alte Dame meinte. Sie rief mit ihrem Handy einige Bilder von SUV`s bei Google auf und zeigte sie Frau Ritter.

„Ja, genau. Diese Dinger meine ich: Suuf! Aber mehr habe ich nicht gesehen. Es war schließlich noch so dunkel und trübe draußen.“

„Um welche Uhrzeit war das? Können Sie uns das sagen?“, fragte Clemens Bredemeier nun wesentlich freundlicher.

„Junger Mann, ich bin froh, dass ich mich überhaupt an etwas erinnern kann. Ich dachte erst, ich hätte es geträumt. Zurzeit verschwimmt bei mir vieles. Aber ich schätze es war so zwischen 3 und 5 Uhr morgens. Später nicht.“

„Konnten Sie sehen, wie jemand ausgestiegen ist?“

„Nein. Die Bäume schirmen alles ab.“

Abby reichte ihr die Hand. „Danke Frau Ritter. Sie haben uns sehr geholfen. Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt, gebe ich Ihnen meine Karte.“

„Ich hoffe, Sie finden den Kerl.“

Nachdem Abby und Clemens Bredemeier die zwei restlichen Nachbarn befragt hatten, ohne weitere Informationen zu erhalten, gingen Sie wieder über die Straße und betrachteten den Mülleimer vor dem Parkplatz. Er wies tatsächlich einige Schrammen auf, die darauf hindeuteten, dass jemand beim Einfahren auf den Parkplatz den Mülleimer leicht gerammt hatte. Abby machte einige Fotos, kratzte etwas Lack vom Mülleimer ab und ließ die Probe in einem kleinen Tütchen verschwinden. Diese Plastiktüten hatte sie immer dabei.

Sebastian Hoffmann und sein Team waren mit ihren weißen Schutzanzügen, Masken, Schuhüberziehern und Gummihandschuhen fleißig mit der Spurensicherung beschäftigt. Die Fotos waren bereits alle im Kasten. Nun wurde das Spurenzelt aufgebaut, um neugierige Blicke von Schaulustigen fernzuhalten. Die Leiche wurde jetzt vollständig ausgezogen. Dies war gängige Praxis, damit man andere mögliche Wunden oder Auffälligkeiten nicht übersah. Es erleichterte die Suche am Tatort nach der Mordwaffe oder anderen Gegenständen, weil man wusste, wonach man gegebenenfalls suchen musste. Auch wurde nach Spuren eines Kampfes, Blutspritzern, Fußabdrücken ermittelt und Gegenstände wie Getränkedosen und Zigarettenstummel eingesammelt.

Hoffmann, der Leiter der KTU, blickte hoch und hob abwehrend die Hand.

„Ich kann Ihnen noch nicht viel sagen. Die Todesursache liegt, wie vermutet, an den Kopfverletzungen mit einem stumpfen Gegenstand. Ich denke an eine Eisenstange oder einen Hammer. Des Weiteren finden sich im Gesicht und an den Händen diverse Abschürfungen. Ich bin mir jedoch sicher, dass die Leiche hier nur entsorgt wurde. Es handelt sich also um den Fundort der Leiche, aber nicht die Stelle, wo der eigentliche Mord passiert ist, weil hier viel zu wenig Blut ist. Es befindet sich allerdings noch eine leichte Platzwunde an der Stirn, die frischer zu sein scheint als die Wunden am Hinterkopf.“

„Kann es sein, dass die Leiche einfach aus dem Auto geworfen wurde?“, dachte Abby laut nach.

„Darauf deuten die Abschürfungen und die Platzwunde an der Stirn hin. Alles weitere macht die Gerichtsmedizin.“ Er zog sich die Handschuhe aus und entsorgte diese im Plastikbeutel. „Ach, was ich noch vergessen habe: Wir haben eine halb ausgebrannte Zigarette direkt neben dem linken Arm der Leiche gefunden. Wir müssen noch untersuchen, wie lange die dort schon gelegen hat und ob sie etwas mit dem Fall zu tun hat. Eventuell finden wir noch einen Abdruck oder DNA-Spuren.“

„Wer ist so doof und lässt ganz offenkundig seine DNA am Tatort?“, stutze Clemens.

„Lag vielleicht schon vorher da. Aber ich find`s gut, dass Sie der Sache nachgehen“, lobte Abby. Männer brauchen immer viel Lob. Sie müssen sich gebraucht fühlen.

Hoffmann nickte ihr dankend zu und pellte sich aus dem Schutzanzug.

„Haben Sie sein Handy gefunden?“

„Nein! Die einzigen Wertsachen sind hier in diesem Beutel.“ Er zeigte auf die Brieftasche und die Armbanduhr. Keine Autoschlüssel.

„Ok. Dann werden wir uns jetzt aufmachen und die Angehörigen informieren.“

Abby bedankte sich beim Team und ging mit Clemens Bredemeier zum Wagen. Plötzlich drehte sie sich wieder um. „Ach, was mir noch einfällt. Ich habe hier eine Probe vom Mülleimer genommen, der vor dem Parkplatz steht. Es handelt sich um einige Lackreste, eventuell von unserem Täter. Können Sie diese analysieren? Vielleicht erhalten wir Hinweise auf die Automarke und das Modell. Zumindest könnten wir diese später für eine Vergleichsprobe benötigen.“

Hoffmann runzelte die Stirn. „Wir sind hier nicht bei der Serie CSI! Das wissen Sie, oder!?“

„Es ist doch sicherlich einen Versuch wert! Aber wenn ich Sie überschätzt haben sollte…“

Mürrisch riss er ihr die Tüte aus der Hand und ging schweigend zu seinem Wagen. Männer…., dachte Abby. Männer!

Kapitel 4

Während Abby und Clemens Bredemeier zu Ramon Gesenius` Frau fuhren, herrschte Totenstille im Auto. Abby saß auf dem Beifahrersitz, starrte aus dem Fenster und grübelte vor sich hin. Sie hatte schon seit einigen Stunden das Gefühl, dass ihr neuer Partner sie nicht leiden konnte. Sie wusste nur nicht warum und beschloss ihn darauf anzusprechen.

„Darf ich Sie etwas fragen?“

„Wenn es denn sein muss…“, antwortete er mürrisch.

„Habe ich Ihnen irgendetwas getan? Oder sind Sie einfach grundsätzlich schlecht gelaunt?“, platzte es aus ihr heraus.

Nach einer langen Pause meinte er nur: „Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Es tut mir leid. Bitte lassen Sie uns von vorne beginnen.“ Er versuchte zu lächeln.

Offensichtlich wollte er nicht mit ihr über seine Probleme oder die Hintergründe für sein unwirsches Verhalten reden. Sie begnügte sich vorerst damit, dass es nicht an ihr lag.

„Okay!“, stimmte sie zu. Wann sind wir bei Frau Gesenius?“

„In fünf Minuten sind wir da. Ich habe übrigens vom Tatort aus noch kurz mit einem Kollegen telefoniert. Auf Ramon Gesenius ist ein schwarzer Audi A5 angemeldet. Lass uns gleich darauf achten, ob sein Wagen zu Hause geparkt ist.“

„Ok. Was denken Sie, wie lange es dauert, bis wir etwas von der Gerichtsmedizin hören? Frau Gesenius wird sicherlich wissen wollen, wann die Leiche freigegeben wird bzw. sie ihren Mann beerdigen kann.“ „Für gewöhnlich übernimmt Dr. Ellen van Dijk diese Fälle. Wahrscheinlich wird es wie gewohnt circa 1 Woche dauern. Ich gehe stark davon aus, dass die Obduktion erst morgen früh beginnt. Möchten Sie dabei sein?“

Er wurde im Laufe des Gesprächs tatsächlich freundlicher. Abby war froh, die Sache angesprochen zu haben. Unterschwellige Konflikte konnte sie wirklich nicht gebrauchen.

„Ja, auf jeden Fall.“

„Ah, da sind wir schon.“ Clemens Bredemeier parkte direkt auf dem Hof vor der offenen, großen Doppelgarage.

Sie standen vor einer grau angestrichenen Villa im Bauhausstil, die wie ein riesiger Kubus aussah. Große Glasflächen und eine riesige Außenterrasse machten den Eindruck perfekt. Nur die opulent verzierte Haustür passte nicht ins Bild. Clemens Bredemeier stieg aus und pfiff abfällig durch die Zähne.

„Das ist recht groß für 2 Personen. Ich habe eindeutig den falschen Job gewählt. Diese IT-Nerds tippen ein bisschen in ihre Tasten und zack können sie sich so ein fettes Haus leisten. Das ist doch mit unserer Besoldung niemals drin. Es sei denn man steigt immer weiter auf…!“

„Naja, sehen Sie es mal so. Sie sind am Leben und dieser arme Kerl kann nichts mehr von all dem genießen.“ Sie deutete auf das Haus und den penibel gepflegten Garten. Dann gingen Sie an der Garage vorbei.

„Kein A5, aber ein grausilberner Audi A3! Vielleicht in der Garage?“ Leider auch kein SUV und der Lack war auch völlig unbeschadet, dachte Abby. Aber das wäre auch zu einfach gewesen.

Eine Frau, circa Anfang 30 mit schwarzem Haar und perfekt geschminktem Gesicht, öffnete ihnen die Tür. Sie war klein und zierlich und erweckte sicherlich bei vielen Männern sofort den Beschützerinstinkt.

Da die Beamten in Zivil gekleidet waren, starrte Emilia Gesenius sie verdutzt an.

„Frau Gesenius?“ begann Clemens Bredemeier.

„Ja, bitte?“

„Das ist Hauptkommissarin Oberstädt und ich bin Kommissar Bredemeier. Dürfen wir eintreten?“

Beide zeigten der überraschten Frau ihre Ausweise und traten nach einem kurzen Kopfnicken der Hauseigentümerin ein. Sie standen nun in einem großen Foyer mit schwarzglänzenden Granitfliesen, in denen man sein Spiegelbild betrachten konnte.

„Was ist geschehen? Es ist doch immer jemand gestorben, wenn Beamte auf diese Weise an die Tür kommen. Ist etwas mit meiner Mutter oder meinem Mann?“, fragte sie aufgebracht und ging Richtung Wohnzimmer.

Nachdem sie auf dem großen Chesterfieldsofa mit schwarzem Leder Platz genommen hatten, setzte sich Frau Gesenius Ihnen gegenüber in einen Sessel und bat mit einem gequälten Blick um eine schnelle Antwort.

Abby hasste es, solche Nachrichten zu überbringen. Wusste sie doch selbst, wie es sich anfühlte, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Ehemann heute Morgen tot aufgefunden wurde. Wir möchten Ihnen unser tiefstes Mitgefühl aussprechen.“ Abby konnte Frau Gesenius nicht einschätzen. Bei den meisten Menschen gelang ihr das sofort; so, als könnte sie in die betreffende Person hineinblicken. Doch hier sah sie nur eine Wand auf der stand: ‚Du kommst hier nicht `rein.‘

Emilia Gesenius schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nicht sein. Er ist doch gestern Abend auf Geschäftsreise gefahren. Ramon befindet sich heute und morgen noch in Hamburg. Sie haben sich bestimmt vertan. Da muss ein Irrtum vorliegen.“

Dies war eine übliche Reaktion von Hinterbliebenen. Das Leugnen des Unbegreiflichen fiel den meisten leichter als sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen.

„Es besteht leider kein Zweifel daran, dass es sich um Ihren Ehemann handelt“, bestätigte Abby.

Wie betäubt starrte Emilia Gesenius ins Leere und fragte: „Hatte er einen Unfall?“

„Nein, er wurde hier in Minden auf dem Parkplatz an der Lindenstraße gefunden… und wir dürfen ein Fremdverschulden nicht ausschließen“, formulierte sie vorsichtig. „Möchten Sie vielleicht jemanden anrufen?“

Als Emilia Gesenius langsam begriff, was passiert war, rannte sie in die angrenzende Küche und übergab sich in das Spülbecken. Der Schock saß tief und Abby gab Clemens Bredemeier einen dezenten Hinweis, die Kollegin von der Seelsorge zu kontaktieren. Abby wollte gerade Frau Gesenius hinterhergehen als diese wieder das Wohnzimmer betrat.

„Mein Kollege verständigt gerade eine Notfallseelsorgerin. Sie wird Ihnen beistehen bis jemand, vielleicht von der Familie, sich um Sie kümmern kann. Sollen wir Ihre Mutter für Sie anrufen? Wie heißt Ihre Mutter?“

„Greta Hansen“, antwortete sie apathisch. Emilia Gesenius setzte sich langsam wieder in den Sessel, während Abby ihr ein Glas Leitungswasser aus der Küche holte und auf den Wohnzimmertisch stellte. Dabei fiel ihr ein großer Kratzer in dem Glastisch auf.

Nachdem Bredemeier die Kontaktdaten von Frau Hansen erhalten hatte, ging er kurz aus dem Zimmer, um zu telefonieren.

„Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?“, wagte sich Abby vor.

„Gestern Nachmittag so gegen 17 Uhr als wir uns verabschiedet haben. Er musste zu einem Kundentermin nach Hamburg. Wir haben vorher noch eine Kleinigkeit zusammen gegessen. Meine Mutter war auch kurz da.“

„Was haben Sie gegessen?“

Frau Gesenius starrte Abby an. Sie verstand offensichtlich die Frage nicht.

„Tut mir leid, Frau Gesenius. Diese Information benötige ich leider für die Autopsie.“ Abby schaute sie mitfühlend an.

Emilia Gesenius versuchte angestrengt, ihre Fassung zu bewahren und legte ihr Gesicht in ihre Hände. „Das darf doch alles nicht wahr sein… Wir haben Mohnkuchen gegessen, wenn sie es genau wissen wollen.“

„Und wissen Sie, ob er sein Handy mitgenommen hat?“

„Das hat er immer dabei!“

„Wir haben es bisher nicht gefunden und es bestand die Möglichkeit, dass er es zu Hause vergessen hatte. Deswegen frage ich.“

„Hier ist es auf jeden Fall nicht.“

„Ok. Können Sie mir noch etwas zu der Beschäftigung Ihres Mannes sagen? Wir wissen, er war Inhaber einer IT-Firma?“

„Er hat mit Guido Wellenstein, seinem Geschäftspartner, die Firma IT-WEGE aufgebaut. Ramon hat Programme für Unternehmen geschrieben. Ich habe allerdings nie genau verstanden, was er genau gemacht hat…Wie ist er gestorben?“, platzte es plötzlich aus ihr heraus.

„Dazu kann ich Ihnen noch keine Details nennen. Wie gesagt, wir müssen Fremdverschulden in Betracht ziehen. Er wurde mit Kopfverletzungen auf dem Parkplatz an der Lindenstraße gefunden.“

„Sie meinen Mord? Wer sollte Ramon etwas antun wollen?“, fragte sie mit zittriger Stimme.

„Hatte ihr Mann Feinde? Hat ihn jemand bedroht? Gab es Schwierigkeiten auf der Arbeit oder im Freundeskreis?“

Emilia Gesenius überlegte und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Auf der Arbeit war alles in Ordnung und Freunde haben wir kaum. Ramon hat immer nur gearbeitet und in der Freizeit unternehmen wir alleine etwas oder treffen uns mit meiner Familie.“

„Okay, danke. Können Sie mir vielleicht noch eine genaue Uhrzeit sagen, wann Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen haben?“

„Ich weiß es nicht. Es muss schon ungefähr 17 Uhr gewesen sein. Ich kam gerade wieder vom Garten ins Haus, weil es mir zu kalt geworden war. Ich fragte ihn, ob ich seinen Koffer für ihn packen soll, aber so etwas hat er immer gern selbst gemacht. Er hat für gewöhnlich nie gern Hilfe angenommen. Er war sehr eigenständig, müssen Sie wissen. Viele Männer lassen sich von vorne bis hinten bedienen, aber so war Ramon nicht.“

„Ok. Wenn ich das richtig verstehe, hat er seine Koffer gepackt und dann einige Minuten später das Haus verlassen. Danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“

Emilia Gesenius nickte.

„Wie haben Sie den Abend verbracht? Sind Sie zu Hause geblieben oder gestern noch ausgegangen?“, tastete sich Abby weiter vor.

Als sie nicht antwortete, wiederholte Abby die Frage erneut. Emilia Gesenius starrte auf den Kratzer in der Glasplatte des Wohnzimmertisches und blickte abrupt hoch. Nach der anfänglichen Schockstarre wurde sie langsam wütend.

„Was wollen Sie damit sagen? Benötige ich jetzt ein Alibi?“

„Es tut mir wirklich sehr leid, was Sie gerade durchmachen. Aber wenn ich den Mörder Ihres Mannes finden soll, benötige ich alle Informationen. Es handelt sich hier nur um eine reine Routinefrage“, versuchte Abby sie zu beruhigen.

Emilia Gesenius dachte eine Zeit lang nach und entgegnete dann: „Ich war den ganzen Abend zu Hause; allein!“

Clemens Bredemeier trat wieder ins Wohnzimmer und teilte ihr mit, dass ihre Mutter sich in Hannover zum Shoppen befinde, jedoch umgehend nach Minden fahren würde.

Emilia Gesenius blickte irritiert auf, konnte darüber anscheinend nicht weiter nachdenken und legte sich schließlich auf das rosagraue Kissen auf dem Sofa.

„Bitte lassen Sie mich jetzt allein.“

„Natürlich. Eine letzte Frage habe ich: Wollte Ihr Mann mit seinem Auto, einem schwarzen Audi A5, auf Geschäftsreise fahren?“

„Ja, ich habe ihn damit wegfahren sehen. Warum interessiert Sie das?“

„Der Wagen, der auf Ihren Mann angemeldet ist, wurde noch nicht gefunden und befand sich auch nicht auf dem Parkplatz. Aber das soll jetzt nicht Ihre Sorge sein. Darum kümmern wir uns. Bitte ruhen Sie sich aus. Die Dame von der Notfallseelsorge müsste gleich eintreffen“, redete Abby beruhigend auf sie ein und deckte sie mit der Wolldecke zu, die auf dem Sessel neben dem Sofa lag.

Abby ging in den Flur und ließ in der Zwischenzeit das Gespräch nochmal in Gedanken Revue passieren. Alles, was ihr wichtig vorkam, notierte sie umgehend. Hier konnte das kleinste Detail bedeutsam sein.

Nach zehn Minuten klingelte Erika Bach und stellte sich als die Seelsorgerin vor.

Sie führten sie in das Wohnzimmer und verabschiedeten sich.

Wieder im Wagen fragte Clemens Bredemeier: „Und? Was haben Sie für einen Eindruck?“

„Sollen wir uns nicht duzen? Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben. Wir werden eh intensiv zusammenarbeiten… .“

Er schaute sie verdutzt an und nickte: „Gern! Ich habe im Flur mitgekriegt, dass sie nicht sofort auf Ihre... ähm, deine Frage geantwortet hat.“

„Du meinst, wo sie sich gestern Abend und in der Nacht aufgehalten hat?“

„Genau. Denkst du es war die Ehefrau?“

„Ich versuche mich in diesem frühen Stadium nie festzulegen. Das solltest du auch nicht. Zunächst tragen wir die Fakten zusammen. Lass uns im Büro prüfen, wie viele Familienmitglieder es gibt und diese nach und nach befragen.“

„Ja, das stimmt. Aber kommt dir das nicht komisch vor? Erst rennt sie in die Küche, um sich zu übergeben – meiner Meinung nach eine normale Reaktion auf so eine schlimme Nachricht – und kurz danach ist sie wieder die Ruhe selbst, dann wütend und dann bricht sie das Gespräch ab.“

„Jeder Mensch trauert anders… Wir werden sie bald wieder befragen und sehen dann, ob wir deinen Verdacht weiterverfolgen sollten. Hast du den Riss in der Glasscheibe des Wohnzimmertisches gesehen, den sie so angestarrt hat? Dieser Sache möchte ich unbedingt beim nächsten Mal nachgehen! Lassen wir das Gespräch erstmal sacken und sehen dann weiter.“

„„Döner gefällig? Der beste Dönerimbiss der Stadt ist gleich in der Nähe. Ich lade dich ein.“

„Sehr gern. Für kulinarische Empfehlungen bin ich immer empfänglich.“

Kapitel 5

In ‚Dogans Dönerei‘ roch es köstlich. Der Besitzer war freundlich und reichte ihnen zwei mit Fetakäse gefüllte Zigarren aus Blätterteig. „Geht auf`s Haus für meine Freunde von der Polizei. Die Döner sind auch gleich fertig!“

Abby bedankte sich und drehte sich mit einem fragenden Blick zu Clemens um.

Clemens machte eine bescheidene Geste und erklärte, dass er Dogan im letzten Jahr geholfen hatte. Eine alte Dame hatte ihn angezeigt und beschuldigt, ihre Handtasche auf offener Straße gestohlen zu haben. Einen Tag später sei sie ihm in seinem Imbiss zufällig begegnet und hätte ihn sofort wiedererkannt.

„Dogan war völlig fertig mit den Nerven und hatte schon Panik, seine Kunden zu verlieren. Mir kam die Aussage der alten Frau jedoch gleich etwas merkwürdig vor. Daraufhin habe ich sie aufgesucht, um mit ihr zu reden und konnte schnell einige Widersprüche in ihren Antworten feststellen. Herauskam, dass sie ihm schon etliche wütende Briefe geschrieben hatte, weil sie gegenüber wohnte und ihr der Geruch aus Dogans Abluftanlage zu schaffen machte. Dogan hatte sie aber nie zuvor gesehen, er kannte nur ihre Briefe. Vielleicht ist sie auch nur eine kleine Rassistin. Auf jeden Fall konnte ich das Ganze dann klären und ihr deutlich machen, dass das Anzeigen erfundener Straftaten mit einer Geld– oder sogar Gefängnisstrafe geahndet werden kann. Sie hat die Anzeige sofort zurückgezogen.“

„Dann ist es natürlich kein Wunder, dass er sich so freut, dich zu sehen.“

Nachdem Clemens Bredemeier ihr einige Details zu den Kollegen und den einzelnen Abteilungen verraten hatte, fragte er sie: „Wie kommt es, dass du dich hier in Minden beworben hast? Ich habe gehört, dass du ursprünglich aus Hannover kommst. Da zu arbeiten ist doch wesentlich spannender als in einer Kleinstadt wie Minden.“

„Na hör mal… am ersten Arbeitstag schon einen Mordfall serviert zu bekommen, ist keinesfalls langweilig“, versuchte sie auszuweichen.

„Ja klar. Du weißt aber sicher, dass das eher die Ausnahme ist. Meistens haben wir mit Einbruchskriminalität oder leichten Gewaltverbrechen zu tun. Ein Mord ist schon ein seltenes Geschenk… Du weißt, wie ich das meine. Natürlich tut es mir für die Personen immer leid.“

„Ich verstehe dich. Dieses Gefühl, wenn man dem Täter ganz nah auf der Spur ist, hat schon fast etwas Berauschendes.“

„Du hast aber immer noch nicht auf meine Frage geantwortet…“

„Du heute Morgen aber auch nicht!“, konterte sie und wartete gespannt auf seine Reaktion. Würde er ihr jetzt sagen, warum er morgens so grummelig gewesen war? Er war jetzt locker und entspannt; wie ausgewechselt.

„Ok, ok“, er hielt die Hände hoch. „Ich ergebe mich. Du hast gewonnen…“ Er machte eine Pause und lächelte sie mit seinen leuchtenden rehbraunen Augen an. „Schade. Die Pause ist soeben zu Ende. Sprechen wir ein anderes Mal darüber.“ Grinsend erhob er sich vom Tisch und ging zum Ausgang.

Auch Abby war erleichtert, nicht auf ihre Vergangenheit und den damit verbundenen Umzug eingehen zu müssen. Natürlich war sie nicht verpflichtet, sich zu rechtfertigen. Sie wollte ihm jedoch auch keine fadenscheinige Geschichte auftischen. Sollte Clemens Bredemeier ein halbwegs fähiger Kommissar sein, würde er sowieso merken, dass sie nicht die ganze Wahrheit erzählte. Sie beschloss ihre Freundin Rica abends anzurufen, um ihr von ihrem neuen Kollegen zu erzählen. Rica würde eh keine Ruhe geben, bis sie nicht alle Details von diesem Tag gehört hatte.

Der Nachmittag brachte keine besonderen Erkenntnisse mehr. Sie hatten Kriminalrat Bredemeier über ihre Ermittlungen informiert und Clemens Bredemeier hatte die Funkmastüberwachung für die Mordnacht beantragt, um herauszufinden, wie viele Handys sich in dem Radius um den Tatort herum, eingewählt hatten. Auch gab er eine Fahndung nach dem Wagen des Opfers heraus.

Abby hatte unterdessen die Kontaktdaten der Angehörigen von Ramon Gesenius aus der Polizeidatenbank ausgedruckt. Hier fand sie jedoch nur die Familie seiner Ehefrau, da seine Eltern schon früh verstorben waren. Außerdem stellte sich Abby bei der Rechtsmedizinerin Ellen van Dijk vor und vereinbarte mit ihr für den nächsten Tag einen Termin um 9 Uhr für die Obduktion. Sie hasste diese Termine, aber es war üblich, dass mindestens eine Person des Ermittlungsteams und auch jemand von der Staatsanwaltschaft anwesend war. Letzteren hatte sie angerufen und dazu gebeten: Dr. Herbert Ehrenfeld.

Die Untersuchung an sich machte ihr nichts aus. Vielmehr war es die würdelose Art wie die Opfer einer schrecklichen Straftat ihre letzte Reise antreten mussten. Nackt und bloßgelegt vor aller Augen daliegend, aufgeschnitten, sodass buchstäblich das Innerste nach außen gekehrt wurde, um nach vollendeter Untersuchung wieder mit den eigenen Organen ausgestopft zu werden, als wäre nie etwas geschehen. Gewiss… der riesige Y-Schnitt verriet die Tortur. Doch diesen würden die Angehörigen zum Glück nicht zu Gesicht bekommen. Erst nach dem Tod sind wir alle gleich, philosophierte Abby in Gedanken.