Stirb seltsam! - Wiebke Sponagel - E-Book

Stirb seltsam! E-Book

Wiebke Sponagel

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Beschreibung

Frankfurt am Main, 2003. Unbeliebt, erfolgreich, exzentrisch, das ist Bigboss Henry Hartmann. Als er unter seltsamen Umständen in seiner Firma tot aufgefunden wird, nehmen seine Manager dies gut gelaunt zur Kenntnis. Doch dabei bleibt es nicht, das Morden geht weiter. Kommissar Max Vissani packt die Ermittlungen auf seine Art an: Den Ex-Rennfahrer befällt hin und wieder ein Hirnflimmern, ein erstaunlicher Quell neuer Wortprägungen und Erkenntnisse. Er trifft auf eine attraktive Zeugin, die schnelle Autos und Männer mit Tigergang liebt. Auf einen Psychopathen, der von irgendwoher die Strippen zieht. Und auf einen Tatort bei Lüneburg, der alles andere als idyllisch ist.

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Seitenzahl: 348

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Nachwort

Wiebke Sponagel

Stirb seltsam!

Kommissar Vissani ermittelt in Frankfurt

Ruhrkrimi-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Wiebke Sponagel

Taschenbuch: ISBN 978-3-947848-42-3

e-Book: ISBN 978-3-947848-43-0

Verlag: Ruhrkrimi Verlag /10/2021 (Originalausgabe)

Lektorat: Martina Arnold, Berlin

Titelfoto: Michael Hinz

Alle Personen, Namen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten!

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

https://www.ruhrkrimi.de

Das Buch

Frankfurt am Main, 2003. Unbeliebt, erfolgreich, exzentrisch, das ist Bigboss Henry Hartmann.

Als er unter seltsamen Umständen in seiner Firma tot aufgefunden wird, nehmen seine Manager dies gut gelaunt zur Kenntnis. Doch dabei bleibt es nicht, das Morden geht weiter. Kommissar Max Vissani packt die Ermittlungen auf seine Art an: Den Ex-Rennfahrer befällt hin und wieder ein Hirnflimmern, ein erstaunlicher Quell neuer Wortprägungen und Erkenntnisse. Er trifft auf eine attraktive Zeugin, die schnelle Autos und Männer mit Tigergang liebt. Auf einen Psychopathen, der von irgendwoher die Strippen zieht. Und auf einen Tatort bei Lüneburg, der alles andere als idyllisch ist.

© Wiebke Sponagel

Die Autorin

Wiebke Sponagel, Jahrgang 1960, promovierte über englische Geschäftskommunikation. Berufliche Stationen: Journalistin, B2B-Trainerin, Seminarleiterin und Portfolio-Gutachterin für die Leuphana Professional School/ Lüneburg, 20 Jahre zertifizierter Coach mit eigener Beratung in Frankfurt am Main.

Sachbücher: „Runterschalten!“ und „Downshifting“, Haufe Verlag.

Internet: https://www.vissani-ermittelt.de

Ich bin völlig normal. Ordentlich, gut organisiert. Bestimmte Dinge sind mir wichtig. Klopapier muss weiß sein, reinweiß, es muss den Haufen zudecken. Komplett. Sonst wird’s ein Scheißtag. Hier drinnen gibt’s nur graues Klopapier. Jede Menge Scheißtage. Gut, ein paar besondere Fähigkeiten habe ich. Gedanken lesen zum Beispiel. Wenn sie dich immer wieder wegschließen, und du musst alles geben, um raus zu kommen, lernst du das. Du weißt, was sie von dir wollen, bevor sie es sagen.

Oder Unsichtbar-Sein. Keiner merkt, dass ich da bin, wenn ich es nicht will. Wie ein Rochen, der sich auf dem Meeresboden im Sand einbuddelt. Und klug bin ich. Ich habe einen IQ von 132, bin kreativ und emotional unabhängig. Menschen brauche ich nicht. Die brauchen mich. Um sich aufzuspielen, den Experten zu geben, um ein Exempel zu statuieren. Sollen sie doch. Mir wurscht, solange sie tun, was ich will. Und das tun sie. Ich will hier raus und ich komme raus. Bald. Pronto, würdest du sagen, du Drecksbulle mit der Ventura-Fresse. Basta mit Pizza und Pasta. Wird ein echter Scheißtag für dich. Dein letzter Tag.

Jetzt `ne Zigarette, zuckte es im Stammhirn. Ausgerechnet. Das Rauchen hatte er längst aufgegeben, vor acht Jahren, zu Marions Fünfunddreißigstem. Mit großer Geste die letzte Kippe ausgedrückt. Lang her, alles Geschichte. Marion auch. Nur Nichtraucher war er geblieben. Umso absurder dieses Verlangen jetzt, angeschnallt, in dieser fliegenden Sardinenbüchse.

Noch fünf Minuten bis zur Landung, sagten die Bordbildschirme. Wieder ein Luftloch, wieder das Gefühl, tonnenschwer ins Bodenlose zu sacken. Vissanis Mageninhalt wollte in die Gegenrichtung. Schlucken, an was andres denken, die Hände in die Armlehnen krallen. Scheißspiel. HEILIGERPOLYGLOTTVERDAMMTER, lass uns heil runterkommen. Denk an etwas Schönes. Lauras Stimme bei der Fahrt zum Flughafen, mezzavoce, nur für ihn, wo sie doch sonst Opernsäle füllt. Ihr Abschiedskuss. Ein Versprechen auf mehr, das nächste Mal ...

Ein schreiender Säugling. Zwei Reihen weiter vorn testete er sein Lungenvolumen. Wird wohl mal ein zweiter Caruso, bei der Lautstärke ... Egal. An etwas Schönes denken. Der Golfo di Napoli im Morgenlicht. Doch die Magennerven krampften. Jetzt-bloß–nicht–kotzen. Nicht in diesem sündhaft teuren Designerhemd, das Laura ihm geschenkt hatte. Nur für sie hatte er es angezogen. Es spannt an ein, zwei Knöpfen. In ihrer Welt war bella figura wichtig, in seiner nicht. Sie war die gefeierte Primadonna, die Königin des San Carlo, ganz Neapel liebte und verehrte sie. Er ein italienischer Bulle aus Frankfurt. Oder umgekehrt.

Endlich. Draußen kam der Henninger Turm in Sicht, auf der anderen Seite der Stadt die Bankentürme. Nicht mehr lang, und sie wären unten. Dabei konnte gerade beim Landen alles Mögliche passieren. Vogelschlag, die Schubumkehr konnte versagen oder die Drosselklappen. Sie würden ungebremst über die Landebahn hinaus schießen wie ein Rennwagen über die curbs. Nur, dass es hier auf Rhein-Main kein Kiesbett gab.

Autorennen. Vissanis Leidenschaft, als er jung war. Zum Landesmeister seiner Klasse hatte er es gebracht. Selbst steuern, am Nardi-Lenkrad. Das Innenleben seiner Giulia erfühlen, wissen, wie sie über die beiden Flachstromvergaser atmete. Seine Giulia ... der heisere Ton ihres legendären Zweinockenwellenmotors, V-förmig im Kopf hängende Ventile, ein glatter Karosseriekörper, keine Heckflossen, keine Sicken. Als viertürige Familienkutsche tarnte sie sich und war dabei richtig böse. Irre viel PS unter der Haube. Ende der Siebziger konnten sich das nur Reiche leisten. Mit ihr konnte man sie alle kriegen oder hinter sich lassen, dafür liebten sie die Carabinieri und die Brigate Rosse. Ein Griff zum Schalthebel, man legt den Dritten ein, ohne Kupplung, man spürt, bei welcher Drehzahl das geht, und schon fliegt sie los.

Gleich setzte die Maschine auf. Vissani wollte an Laura denken, an ihre fast zwanzigjährige Urlaubsbeziehung. Stattdessen lieferte sein Gehirn Bilder von seiner Giulia, die in einen Turm von Altreifen schoss. Zu schnell waren sie in die S-Kombination gedriftet, der Grip war weg, wie in Zeitlupe sah er die Reifenstapel auf sich zukommen. Er entkuppelte, bremste, kuppelte wieder ein, steuerte, drehte am Lenkrad, aber sie gehorchte nicht. Immer näher kam die schwarze Wand. Er sah noch einzelne Teile durch die Luft wirbeln, hörte noch das Krachen. Ende und aus. Wochen später erfuhr er, dass sie ihn aus dem Haufen Blech hatten raus schneiden müssen.

Danach: Nur noch weiße Wände. SCHÄ-DEL-HIRN-TRAU-MA. Es dauerte lang, bis er das kapierte. Er lag da, regungslos, verkabelt, nur Watte im Schädel. Die Welt drehte sich ohne ihn. Am Ende der Reha gratulierte man ihm zur fast vollständigen Wiederherstellung seiner Gehirnfunktionen. Fast vollständig. Kleinere Gehirnzuckungen, Fehlschaltungen gewissermaßen, kommen bisweilen vor, erklärte der leitende Arzt. Wie ein Gewitter sei das, schnell aber heftig, führe bisweilen zu neuen Wortclustern, oder inneren Filmchen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Aber er sei doch sicher Cineast, als Italiener. Ein Schulterklopfen, und er war entlassen. So was musst du erst mal schlucken. Das dauert. Seine Giulia: Schrott. Ohne sie und mit unplanbaren Wetterereignissen im Oberstübchen weitermachen? Sinnlos. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen, dachte Vissani und bemerkte ein hartes Beben.

»Meine Damen und Herren, wir sind soeben in Frankfurt am Main gelandet. Wir möchten Sie bitten, die Gurte noch so lange geschlossen zu halten, bis… «

Endlich. Seine Rechte, eben noch eine erstarrte Eis-Klaue, taute auf unter dem Tätscheln seiner adlergesichtigen Sitznachbarin.

»Jetzt hammers geschafft!« Zwei Reihen Drittzähne blitzten auf. »Wissen Sie was, Sie erinnern mich an jemanden, diesen französischen Filmschauspieler, wie heißt er noch gleich, der in den Schwarzweißkrimis immer mit Jean Gabin zusammen gespielt hat.«

Lino Ventura. Wie oft er das schon gehört hatte. Der war Italiener, geboren in Parma. Egal. Einfach ahnungslos aus der Wäsche schauen. Er konnte es ohnehin nicht mehr hören, dieses Kompliment. Aber gut, so sind sie eben, die Frankfurter. Willkommen in der Hauptstadt der herzenswarmen Hessen. Hier, wo sie Cappuccino mit Sahne und Wein aus Äpfeln trinken, war er aufgewachsen. Frankfurt am Main. Hübsch hässlich für die Meisten.

Für Vissani la più bella città del mondo. Heimat eben. Seine Familie stammte aus Sizilien. Für ein paar Kollegen Grund genug, ihn mal Zitronenschüttler, mal Mafioso zu nennen. Letzteres hatte er ihnen schnell abgewöhnt. Aber das war eine andere Geschichte.

Angekommen, UNVERUNFALLTGRAZIEPERTUTTO. Ein Griff nach seinem zerknitterten Sakko in der Gepäckablage und der Ventura-Freundin einen guten Heimweg gewünscht. Beim Schritt in den Finger grüßte Rhein-Main mit Kerosin-Dämpfen und kalter, sonst nichtssagender Märzluft. Alles fühlte sich an wie ein ganz normaler Freitag, Anfang 2003. Der Frankfurter Flughafen bewältigte stündlich über vierzig Starts und Landungen. Für viele ist er ein Tor zur Welt, für Vissanis Kollegen vom Rauschgiftdezernat eine nicht abschaltbare Güllepumpe für Drogen verschiedenster Art. Menschenströme fluteten durch die Gänge des Terminals, Vissani mittendrin, Richtung Gepäckausgabe. Seine Reisetasche war unter den ersten Gepäckstücken auf dem Band. Deutsche Effizienz. Nichts anderes hatte er erwartet, PERFETTOMILLEGRAZIE. Jetzt erst mal mit dem Taxi ins Syrakus fahren, zu Francesca und Gianna, einen Espresso trinken.

Die Schiebetüren der Gepäckausgabe öffneten sich. Vor der Absperrung die übliche Ansammlung von Menschen, die auf andere Menschen warteten. Ohne hinzugucken, ging Vissani in Richtung Taxenstand. Da hörte er von rechts seinen Namen. Aus der Gruppe Wartender lösten sich zwei wedelnde Arme, eine prall gefüllte blaue Blouson-Jacke, zwei kurze Beine. Die Blaubeere kam auf ihn zu, es war Werner Schmachtel vom Einbruchsdezernat.

»Grüß Dich, Max, alte Pizzatasche. Hattest du nen guten Flug?«

MISTVERDAMMTERINSIEMEFUCKETTE.

»Ciao, Werner. Alles prima, Danke. Was bringt dich her? Sehnsucht nach dem Syrakus?«

Auf eins konnte er wetten: Francesca, Gianna und den Espresso konnte er erst mal vergessen. Die Arbeit hatte ihn wieder. Irgendein Tatort mit einer übel riechenden Leiche und ebenso gelaunten Kollegen erwarteten ihn. Also raus mit dem Handy, um Francesca mitzuteilen, dass sie nicht auf ihn zu warten brauchten. Schmachtel grinste verlegen, als müsste er einer Angebeteten einen Korb geben.

»Du, nichts lieber als das, nur, Büttner schickt mich.«

Wette gewonnen. Oberkriminalrat Büttner war ihr dauerlächelnder Vorgesetzter. Das Konzept `Urlaub` kannte er nur als Hindernis bei der Organisation der Dienstpläne. Vissani gab Schmachtel die Reisetasche, und während er ins Handy lauschte, sagte er:

»Dachte ich mir schon. Was liegt an?«

Es klingelte ein paar Mal, dann wurde er vom Anrufbeantworter aufgefordert, für eine Tischreservierung eine Rückrufnummer anzugeben. Klar, um die Uhrzeit gehen die Mädels nicht ans Telefon. Also ein Sätzchen aufsprechen und sich wieder Schmachtel zuwenden, der geduldig auf seinen Einsatz wartete.

»Du wirst es nicht glauben. Ich dachte auch erst, ich hätte mich verhört… « Schmachtel machte eine rhetorische Pause, als aber von Vissani nichts kam, spann er sein Rate-Quiz weiter: »Einen von Büttners Golf-Spielgefährten, hohes Tier aus der Wirtschaft, hat’s erwischt… «

Alles Weitere ging im Lärm einer Lautsprecheransage unter. Interessierte Vissani auch nicht besonders. Hohes Tier hin oder her, den Namen des Opfers und was er im Leben gewesen war, würde er schon noch früh genug erfahren.

»Bernie ist schon vor Ort, soll dich auch von ihm grüßen.«

Vissani nickte.

»Ach, und ich soll dir was von einer Frau Olschewsky ausrichten, die hat gestern bei Bernie angerufen, Moment mal.« Er hielt an und kramte in den Untiefen seiner Jeanstaschen. Ein Zettel kam zum Vorschein. »Katze hat Lampe ins Aquarium gestoßen, Guppies alle tot durch Elektroschock. Schaden: Zweihundert Euro. Bitte das Tier sofort nach Ankunft abholen.«

Vissani atmete tief durch. Er hatte für diese eine Woche das Katzenvieh bei der Hausmeisterfrau Olschewsky in Pflege gegeben. Und insgeheim gehofft, die selbsternannte Seele des Hauses, die sich immer nach seiner Ex-Frau Marion erkundigte, würde sich mit dem Tier anfreunden und es behalten. Das konnte er jetzt abhaken. Schmachtel war schon ein paar Takte weiter.

»Büttner legt größten Wert darauf, dass ihr die Sache übernehmt, sofort. Ich bring’ dich hin.« Er grinste provisorisch.

Schmachtel war ein Büttner-Protegé mit allen Vor- und Nachteilen. Vorteil: Ihm wurde eine Beförderung zum LKA in Aussicht gestellt. Nachteil: Dabei blieb es auch. Seit fünf Jahren war er Hauptkommissar im Einbruch, inklusive aller möglichen `Sonder-Aufträge` für Büttner. Heute durfte er Vissanis Chauffeur sein. Vissani hatte aufgehört, sich darüber zu wundern. Schweigend bahnten sich die beiden Hauptkommissare ihren Weg nach draußen.

Anfang der Nuller Jahre. Man glaubte, nochmal davon gekommen zu sein. Kein Weltuntergang zur Jahrtausendwende, kein Computerchaos bei der Zeitumstellung. Alles wie immer, nur der Euro knirschte neu in den Geldbörsen. Die Polizei trug noch grün, Funklöcher perforierten noch die Handygespräche. Die Apokalypse aber kam. Sie kam mit Verspätung, keiner hatte mehr mit ihr gerechnet. Nie zuvor hatte man Flugzeuge in Hochhäuser fliegen sehen. Nie zuvor war Ordnung so schnell in gelben Staub zerfallen. Alle konnten live dabei sein, rund um den Erdball. Das multimedial übertragene Bild der Feuerblase am Turm brannte sich in die Netzhäute ein, millionenfach. Flugzeuge und Türme. Von einem Tag auf den anderen waren sie eins, untrennbar verbunden wie Kohlenstoff und Eisen.

Der Schock saß tief. Besonders in Frankfurt, der einzigen deutschen Stadt mit einer Skyline. Wir sind als Nächste dran, dachten die Frankfurter und blickten bang in den Himmel. Und tatsächlich flog eines schönen Sonntags ein Spaßvogel in einer Sportmaschine Kreise über der Frankfurter City. Riesentohuwabohu. Vollsperrung der Innenstadt, Verfolgung durch Abfangjäger der Bundeswehr, Evakuierung der Hochhäuser – sonntags ist da kein Mensch – ganz großes Kino. Eine Kollektivhysterie auf ihrem Höhepunkt: Es h ä t t e auch uns erwischen können, mit einem Motorsegler … Krankfurt, Bankfurt, Mainhatten. Klingt gefährlich. Dabei sind da nur ein paar Dörfer zusammen gewachsen. Mittendrin wurden Hochhäuser gepflanzt, die sich durch Betonteilung vermehrten. Man kann die Stadt bequem zu Fuß durchqueren. Alle möglichen Leute zieht sie an, ohne dass artenreine Biotope entstehen. Es gibt das provinzielle und das kosmopolitische Frankfurt, die Stadt der Kleinbürger, der Linksintellektuellen und der Sextouristen, die Stadt des Geldes, der Studenten und der Drogensüchtigen, die glitzernde Innenstadt, die armseligen Randgebiete. Kein Wunder also, dass hier seltsame Typen endemisch vorkommen. Und kein Wunder, wenn sie ein seltsamer Tod ereilt.

Draußen vor dem Terminal an seinem Opel angekommen, zerknüllte Schmachtel kommentarlos das Strafmandat, das ihm das Parken in der Kurzzeit-Zone eingebracht hatte. Durch die offene Fahrertür warf er es nach hinten auf die Rückbank zu den Häkelkissen mit passender Decke, den Pizzakartons, den leeren Zigarettenschachteln und aufgeschlagenen Manga-Heften.

»Hat mein Sohn liegen lassen«, erklärte er, als er Vissanis Blick auf die rückwärtige Müllhalde bemerkte und hinter dem Steuer Platz nahm. Dai, salti del ponte, dachte Vissani, sagte aber nichts. Im Auto pennen, da kann man auch gleich von der Brücke springen. Schmachtel machte grad einen Rosenkrieg mit seiner Frau durch. Diesen Teil des Ehelebens hatte Vissani hinter sich. BASTAAUSGESTRAPATZT. Auf dem Beifahrersitz ein roter Schnellhefter. Schmachtel nahm ihn, damit Vissani einsteigen konnte und hielt ihn dem Kollegen hin:

»Für dich, von Bernie. Damit du weißt, mit wem du es zu tun hast.«

Perfetto, dachte Vissani. Lieber lese ich, als Schmachtels Fahrkünste mitzuerleben. Der Mann konnte mit Autos nicht umgehen. Null Gefühl im Kupplungsfuß. Vissani fing an zu blättern, während der Wagen losruckelte. Auf der ersten Seite ein Zeitungsausschnitt. Henry Hartmann, Frankfurts Kugellagermagnat mit aasigem Lächeln, umrahmt von zwei Dekolleté-Damen. Dazu die Bildunterschrift: »Gut gerüstet: Henry Hartmann beim Opernball.«

»Verdammte Scheiße«, murmelte Vissani, Schmachtel gab ein Grunzen dazu. Hartmann war nicht irgendwer, er war für Frankfurt, was der Mörtel für Wien war. Millionenschwerer Wirtschaftslenker mit Hang zum Enormen. Bei dem Kaliber würde der Fahndungsdruck immens sein. Ein Fall von öffentlichem Interesse, Druck von allen Seiten.

Für einen Moment die Augen schließen. Henry Hartmann. Erinnerungsfetzen verlassen ihre neuronalen Kavernen, versammeln sich vor Vissanis innerem Auge. Vorhang auf für King Henry, den Firmenchef mit Mittelaltertick. Besondere Merkmale: Exzentrischer Sonderling, im Geschäftsleben risikoaffin und instinktsicher. Brachte sein Unternehmen zur Marktführung in Europa. Ein Mann in den besten Jahren, mental jedoch in der Pubertät stecken geblieben: Albern, großmäulig und hinterhältig konnte er sein und dabei vernarrt in alles, was mit Rittern, Rüstungen und sonstigem altem Kram zu tun hatte. Mit dem Furor eines Sandburgen-Bauers hatte er seinen Firmensitz im Osten Frankfurts errichten lassen: Dem Vorbild einer mittelalterlichen Burganlage folgend, entstand ein Ringwall aus mannshohen Hecken, um Parkplätze, Fabrik- und Lagerhallen vor fremden Blicken abzuschotten. Gleich neben der Haupteinfahrt wurde ein bronzefarbener Glasturm hochgezogen, der Kontrolle übers Kommen und Gehen ermöglicht. Die Schaltzentrale des Burgherrn, vierzehn Stockwerke hoch. Offiziell sollte er `Bergfried` heißen, hatte aber schnell den Spitznamen `Rapunzelturm` weg, passend zu den langhaarigen persönlichen Assistentinnen des Hausherrn. Von Bergfrieds luftigen Höhen dirigierte Hartmann sein Reich der Kugel- und Rollenlagerfertigung: An einem eigens für ihn angefertigten Konferenztisch aus schwerem Eichenholz schwor er seine Mannen auf Monats- und Quartalsziele ein.

»Wenn Ihr nicht spurt, Jungs«, polterte er gern, »dann lasse ich Euch vierteilen.«

Der Umgangston im Hause war ... anders. Führungskonzepte, jährliche Zielvereinbarungen, sowas brauchte keiner. King Henry machte »Dichtigkeitsprüfungen«. Nur, wer »undicht« war, also Verfehlungen von Kollegen an ihn ausplauderte, bestand sie. Alkoholprobleme, geklaute Pakete Kopierpapier, solche Sachen. Der denunzierte Kollege konnte mit einem Rausschmiss rechnen, der Prüfling mit einer Gehaltserhöhung. Treue wurde belohnt. Ohnehin lagen die Gehälter bei HaKuTech über dem Durchschnitt. Schmerzensgeld für die meisten. Was noch fehlte zum Infantenglück, war ein öffentliches Unterwerfungsritual. So kam es, dass King Henry die »HaKuTech Ritterspiele« ersann. Alljährlich im Sommer fanden sie auf der Veste Otzberg statt, die einst Vorbild gestanden hatte für den Bau des Firmengeländes. Etwa vierzig Kilometer südöstlich von Frankfurt, am Rand des vorderen Odenwalds, ragt ihr Burgkegel aus einer sonst flachen Landschaft heraus. Siebenhundert Jahre alt, mehr Mittelalter geht nicht. Die meterhohe Ringmauer, der Innenhof mit dem frei stehendem Bergfried und dem Kommandantenhaus neben der Hauptzufahrt, all das lieferte die perfekte Kulisse für Hartmanns Spiele. Entlang der Burgmauer wurden Tribünen für Hunderte von Zuschauern errichtet. Karten waren lange im Voraus ausverkauft, denn nirgendwo sonst konnte man eine solche Schlammschlacht erleben. Da kamen die Herren Manager endlich mal runter von ihrem hohen Ross: In Rüstungen gesteckt und auf Pferderücken geklemmt, rammten sie sich mit Lanzen in den Morast. Jedes Mal, wenn einer runterfiel, grölte die Menge. Hartmann grinste dazu schmallippig von seinem einsamen Tribünenplatz herab. Dem Sieger überreichte er, begleitet von den Fanfarenstößen der firmeneigenen Trompetengruppe, eine pergamentene Schriftrolle. Mit dieser `Bulle` konnten die leitenden Angestellten ihre Überstunden in Urlaub umwandeln. Andernfalls verfielen sie.

So war sie, Hartmanns Ritterwelt, für ihn vollkommen normal, für Außenstehende vollkommen durchgeknallt. Störende Elemente - weibliche Führungskräfte - gab es nicht. Auch privat erwartete King Henry von seinen Jungs, dass sie »ungebunden« blieben. Keine Reibungsverluste! »Die Ritter von der trauringlosen Gestalt«, hießen sie in der Lokalpresse. King Henry war das schnurz, solange die Umsatzzahlen stimmten. Weibliche Begleitung taugte als Deko bei gesellschaftlichen Anlässen, stundenweise. Sonst konnte er darauf verzichten. Und sie auf ihn. Schwerer Knochenbau, ein massiges Gesicht, das bei geringster Aufregung wie der Watzmann in der Abendsonne glühte, darüber schüttere graue Haare – Hartmann war kein Frauentyp. Gleichwohl prahlte er, ein Minnekünstler zu sein, wenns drauf ankam. Im Eheleben jedenfalls nicht mehr. Schaudernd blickte er zurück in den Tunnel der Vergangenheit, in dessen Dunkelheit drei Exfrauen und etliche Besitztümer abgelegt waren. Daraus hatte er gelernt. Noch eine Heirat kam nicht in Frage. Schließlich wollte er sich ja nicht vierteilen lassen.

Hartmann war gerade fünfzig geworden, als Petra Härtel seine sterblichen Überreste am Morgen des dritten März im Sitzungssaal Eins fand. Sein Leib war mit einem ledernen Hosengürtel an den Chefsessel gezurrt. Eine kitschig rotbunte Seidenkrawatte hing locker um seinen Hals, sonst trug er nichts. Arme und Beine waren sauber vom Rumpf getrennt und lagen in Form einer Vier auf dem massiven Eichentisch drapiert: Der rechte Arm bildete die schräge Kante, das rechte Bein die senkrechte Linie, die vom linken Bein als waagrechter Linie gequert wurde, das Knie leicht angewinkelt. Ziemlich unmotiviert lag daneben in Verlängerung der Waagrechten der linke Arm - mit etwas Phantasie konnte man das Ganze als Vier minus lesen, allerdings wurde die Geometrie durch Lachen von austretendem Blut und Gewebeflüssigkeit gestört.

Im Tod hatte Hartmanns Gesicht, das für gewöhnlich, seinen Stimmungswechseln folgend, ein reges Mienenspiel zeigte, einen stumpfen, unwirschen Ausdruck, als ob er mit dem Zahlenarrangement auf dem Tisch nicht zufrieden wäre.

GORGONZOLATACKATACKASCHIMMELAZULUNDLOLLO.

Blau zuckende Blitze und eine Stimme von weit her.

»Max. MAX! Wir sind da!«

Sie hatten vor einem bronzefarbenen Bürohochhaus zwischen Polizeiwagen mit Rundumblaulicht eingeparkt. Schmachtel warf seinem Beifahrer mit dem roten Ordner auf den Knien einen ungnädigen Blick zu. Wie einem Kind, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Er wusste es nicht besser, hatte keine Ahnung von Vissanis Hirnsausen.

»Mensch Werner, Danke fürs Abholen«, stammelte Vissani eine Stunde zu spät. Er blinzelte und schüttelte den Kopf, um die darin enthaltenen Schimären loszuwerden. Sein lädiertes Hirn war mal wieder abgedriftet, zu Bildern von Ritterturnieren, reitenden Walküren mit wallenden blonden Haaren und gemarterten Firmenlenkern. Welches dieser Versatzstücke würde ihm wohl gleich begegnen? Teile der Tagträume waren Wiedergänger in seinem Leben. Vissani hatte sich daran gewöhnt. Zur Vorhersage der Börsenkurse taugten die Kopfkino-Einspielungen nicht, aber zum Wetten mit sich selbst. Er gewann jedes Mal.

Dunkelgraugrün jetzt, die Fassade des Turms. Eine Opernkulisse, die unheilvoll in den Himmel ragte. Feuchte Schwaden wehten umher, mehr Regen zog auf. Durch die Scheiben war eine Empfangsdame mit Marylin-Dauerwellen zu sehen.

»Na, dann auf zum Walkürenritt«, entschied Vissani und folgte Schmachtel durch den Eingang.

Ist schon ein Hingucker, so ein Alfa Montreal auf deutschen Straßen. Selbst die Rennfahrerlegende Stirling Moss hatte von diesem Kraftpaket mit V8-Motor geschwärmt. Lange Motorhaube, senkrechte Haikiemen, böser Blick – der perfekte Auftritt für den sportlichen Fahrer. Den Fahrer? Helen liebte es, diese Erwartung zu durchkreuzen. Grandios, jedes Mal die erstaunten Blicke, wenn sie als Frau aus- oder einstieg.

Es nieselte. Wup-wup, die Scheibenwischer taten ihren Dienst. Ein Freitag-Nachmittag-Termin bei Hartmann lief für beide Seiten nach bewährtem Muster ab. Helen würde Hartmanns selbstverliebten Reden zuhören, ihn über seine Angestellten, Konkurrenten und Exfrauen ablästern lassen. Auf ihr Zeichen würde er aufhören, mit einem lockeren »Na, was sagen Sie dazu?«, ihren Beitrag auf den Plan rufen. Sie würde dann ihrerseits zu einem Monolog ansetzen. Ihm unerbittlich seine Mickrigkeit vorführen, seinen defizitären Führungsstil, sein innerliches Pinschertum. Sie würde aufstehen und beim Dozieren in großen Schritten von seinem Territorium Gebrauch machen, ihre Brüste würden immer schneller auf und ab wiegen und ihre warme Altstimme würde in Wellen sich steigernder Modulation über ihn rollen. Das Holz-Lineal (Buche natur) auf seinem Schreibtisch lag für diese Fälle bereit: Sie würde es ergreifen, und damit rhythmisch kurz und kräftig auf die Schreibtischkante schlagen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Bei alledem würde sich Hartmann in seinem Drehstuhl wohlig winden und die abschließende Hausaufgabe, eine rhetorische oder kommunikative Übung, dankbar entgegennehmen. Helen war klar, dass diese Schuljungen-Schelte mit Coaching nichts zu tun hatte, aber das war eben ‘coaching customised for Hartmann’: Lukrativ, denn abgesehen von ihrem Honorar ließen sich auch manche seiner nebenbei fallen gelassenen Insidertipps in bare Münze umwandeln.

Das Handy meldete sich. Biancas Stimme klang sonderbar erregt, fast fidel aus dem Ohrstecker:

»Sie glauben nicht, was heute passiert ist!«

»Was denn, ist euer Chef gevierteilt worden?«, fragte Helen lahm.

Pause. – Ein Volltreffer?

»Bianca, sind Sie noch dran?«

»Ja, schon. Woher wussten Sie… ?«

»Gar nichts weiß ich. Sagen Sie bloß, das stimmt?«

»Ja, könnte man so sagen. Petra hat ihn heute morgen gefunden. Grau-en-haft, sage ich Ihnen! Seine Arme und Beine waren abgeschnitten und, und lagen auf dem Tisch rum, und zwar so, dass es wie eine vier mit Minuszeichen aussah. Und der Chef, naja, also der Rest von ihm, der saß im Sessel, split-ter-fa-ser-nackt! - Ist das nicht entsetzlich?«

Helen kam nicht zum Antworten, denn Bianca war noch nicht fertig:

»Also, alles was recht ist, das hat er nicht verdient. Wir sind alle ganz … betroffen.« Ein Innehalten, um der Pietät Genüge zu tun und sich zu schnäuzen. Schwerer Orkan in Helens Gehörgang. »’Tschuldigung. Ach, fast hätte ich das Wichtigste vergessen: Die Kriminalpolizei hat nach Ihnen gefragt, Helen, Sie kommen doch bald… ?«

In der Tat, der Rapunzelturm war schon in Sicht. Helen beendete das Gespräch und bog auf das Firmengelände ein. Nur mit viel Kurbeln konnte sie ihren angestammten Parkplatz neben dem Mercedes SL von Hartmann ansteuern – überall Polizeifahrzeuge. Heute kein Coaching customised for Hartmann. Heute noch nicht mal Hartmann. Das war noch nie vorgekommen.

Motor aus. Sie zog den Zündschlüssel, setzte ihre Brille ab und schaute nach draußen auf das Wimmelbild mit Blinklichtern, Absperrbändern und Polizisten. Durchatmen. Was mochte jetzt auf sie zukommen? Höchstwahrscheinlich Befragungen, vorschriftsmäßig einem vorgegebenen Muster folgend, typisch deutsch eben. Vermutlich durch beleibte, wenig humorbegabte, typisch deutsche Schreibtischkreaturen. Sie würde ihnen mit britischem Charme souverän begegnen. Also dann. Let’s face it. Sie öffnete die Tür und stieg aus.

Das Foyer von HaKuTechwar eine Manifestation sparsamer Zweckmäßigkeit. Eine etwa fünf Meter hohe, hell geflieste Halle mit Rezeptionsbereich, einer Sitzecke mit Hydrokulturpflanzen und einem zentralen Treppenhaus, das sich um den Aufzugsschacht wand. Besucher wurden hier identifiziert und angemeldet, daraufhin auf einen Warteplatz mit oder ohne Kaffee gesetzt, oder direkt zum Lift geschickt. Die übliche Prozedur für Helen hieß ‚Empfangsdame grüßen und gleich in den Vierzehnten fahren‘. Man kannte sie und außerdem hatte sie die gleiche Sicherheitskarte wie das Topmanagement mit Zugang zu jedem Stockwerk. An diesem Freitagnachmittag aber war alles anders. Am Empfangstresen lehnte ein junger Schlacks, der sich als Kommissar Bernhard Kluge vorstellte.

»Tag, Frau Toynbee. Sie sind die Beraterin von Herrn Hartmann, nicht? Gut, dass Sie da sind. Kommissar Vissani wartet schon auf Sie.«

Helen nickte und nahm den Aufzug. Vissani? Das klang nicht nach typisch deutsch. Also kein Standard-Bulle, wie sie ihn sich ausgemalt hatte?

Oben angekommen, war auch alles anders als sonst. Das Sesam-öffne-Dich an den gläsernen Eingangstüren funktionierte zwar wie immer, aber der sonst eher spärlich beleuchtete Korridor wirkte auf einmal hell und freundlich: Alle Türen zu den Büros und Konferenzräumen standen offen. Nur die vom Sitzungssaal Eins am Ende des Ganges waren geschlossen und mit Klebeband versiegelt. Eine in ein weißes Ganzkörperkondom gehüllte Gestalt kniete gerade dort, vor sich einen aufgeklappten Alukoffer. Aus den offenen Räumen drangen Gesprächsfetzen: »Tranchiert wie ein Truthahn«, kicherte jemand, und »Jetzt kann Schwanke endlich das Ruder übernehmen.«

Sie bog links um die Ecke in Richtung Vorzimmer, wo sie angeblich den Kommissar treffen sollte. Zwei von Hartmanns Vorzimmerdamen waren da, die dritte, Petra, hat sich wegen Übelkeit verabschiedet. Die beiden saßen, jede eine Tasse Kaffee in der Hand, eine Dose Kekse zwischen sich auf dem Marmortisch, in den ledernen Besucherfauteuils und unterhielten sich angeregt. Fast hätten sie Helens Eintreten nicht bemerkt.

»Jetzt hat er den Salat, der Chef«, sagte die eine gerade, darauf die andere: »Chefsalat!!« Gemeinsames Losprusten wie im Mädcheninternat.

Kaum ist der Boss weg, tanzen die Mäuse auf den Tischen, dachte Helen. Mit einem Nicken grüßte sie die beiden.

»Ah, da sind Sie ja, Helen. Wir haben uns schon gefragt, wo Sie bleiben.«

Helen bemerkte ein desolates Augen-Make-up. Tränen der Trauer auf den Despoten? Oder Lachtränen? Und tatsächlich. Wie auf Kommando wurde Bianca von kleinen Schluchzern geschüttelt. Nah am Wasser gebaut, sagt man dazu auf Deutsch, eine Disposition, die Helen fremd war. Sie wollte gerade etwas oberflächlich Taktvolles hervor bringen, als es an der offenen Tür klopfte. Es war Prochaska aus der Buchhaltung, zu dessen genetischer Ausstattung es gehörte, Aktenordner unter die Arme gepresst herumzutragen.

»Äh, ‘Tschuldigung, das sind die Unterlagen, die der Chef heute sehen wollte ... Ich weiß jetzt gar nicht, wohin damit.«

Prochaskas anämische Gestalt hatte stets etwas aufdringlich Akkurates - gerader Seitenscheitel im pomadig anliegenden Haar, weiße Hemden, die nach Weichspüler rochen, grauer Einreiher. Heute aber leuchtete in seinem blassen Gesicht eine rote Nase, die ihm etwas Clowneskes gab - auch er ein Wasseranrainer?

»Bitte gleich zu Herrn Schwanke«, antwortete Gerlinde Gönert. Obwohl erst seit einem Jahr bei HaKuTech, hatte sie, eine Personifikation von Sachlichkeit und Kompetenz, schnell das Vorzimmer- und Chefmanagement übernommen. Petra und Bianca, die Hartmann auch wegen ihrer Arbeitsweise seine Schneckchen nannte, hatten ihren Aufstieg misstrauisch beobachtet. Als sich aber herausstellte, dass ihre Gehälter weiter turnusgemäß anstiegen und sie nun mehr Freiheit bei der Urlaubsplanung hatten, akzeptierten sie die Neue klaglos, und diskutierten weiter ihre Föhnfrisuren.

Prochaska nickte, warf einen verschwommenen Blick in Richtung verwaistes Chefzimmer und machte auf dem Absatz kehrt. Im Flur hörten sie ihn leise schniefen. Helen fand, dass es für Beileidsbekundungen nun zu spät war. Würde ohnehin nur einen weiteren Tränenschwall heraufbeschwören. Also fragte sie:

»Wo ist denn dieser Kommissar Vissani? Er will mit mir reden.«

»Also, vorhin war er noch da … ich weiß jetzt auch nicht… « Gerlinde Gönert, die patente Office-Managerin, die sonst die schwersten Krisensituationen meisterte, sah sich irritiert um, fasste sich aber gleich wieder: »Der ist bestimmt irgendwo hier oben. Schrecklich, diese Leute. Verbreiten überall Chaos.«

Erst jetzt, nach Gerlindes Seitenblick, fielen Helen die geöffneten und halbleeren Aktenschränke auf. Bestimmt waren da Polizistenhände am Werk gewesen. Überhaupt sah Hartmanns Vorzimmer verändert aus. Die Zimmerlinde, die sonst in einem großen Kübel neben der Fensterreihe an der Besucherecke stand, hatte man vor den Eingang zum Chefbüro gerollt, wie einen Wachposten.

»Die grüne Truppe braucht wohl Verstärkung«, kommentierte Helen ihre Beobachtung, als von der Tür mit warmem Brio die Antwort kam:

»Stimmt. Wir bräuchten zum Beispiel kluge, psychologisch versierte Spezialisten, die uns beim Profiling helfen. Wäre das was für Sie?«

Helen drehte sich um und sah einen dunkelhaarigen, mittelgroßen Mann um die vierzig in einem zerknitterten Sakko eintreten. Sofort fiel ihr seine Ähnlichkeit mit diesem Filmschauspieler aus den Siebzigern auf … Lino Ventura. Dasselbe Knautschgesicht, der solide Körperbau eines Ringers, der den Sport vor einiger Zeit aufgegeben hatte: Muskulöse Schultern, Arme und Beine waren unter den Stoffbahnen ebenso zu erahnen wie ein kleiner Bauchansatz. Zu eng geschnitten, das Designerhemd, bemerkte Helen. Ein Geschenk? Ob da jemand will, dass er abnimmt? Den Typen schien es nicht zu kümmern, was man von ihm dachte. Er gab sich lässig und ließ sich nicht in die Karten blicken. So jedenfalls interpretierte Helen seinen unverbindlichen Blick. Auf seinen Wangen allerdings musste sich vor einiger Zeit eine mit langen Krallen bewehrte Furie ausgetobt haben. Oder war der Mann in einen Stacheldraht gefallen?

»Scheint gefährlich zu sein, so ein Job bei Ihnen.«

Er verstand sofort.

»Oh, das«, sagte er, mit der flachen Hand auf seine vernarbte Wange deutend, »Das Werk der hyperaktiven Katze meiner Ex-Frau, Cleo heißt sie, also die Katze. Sie mag mich nicht besonders.« Ein Schulterzucken signalisierte Gegenseitigkeit.

»Sie sind bestimmt Kommissar Vissani - Helen Toynbee.«

Keine Reaktion. Seltsam unbeteiligt und damit beschäftigt, beidhändig die Taschen seines Sakkos und seiner Hose zu durchsuchen, ließ er endlich ein halblautes »Freut mich, freut mich« hören. Ein ledernes Notizbuch kam zutage, dazu ein Lächeln. Hat nichts mit mir zu tun, aber steht ihm gut, dachte Helen.

»Wollen wir rüber gehen? Ist das okay, Frau Gönert, wenn ich wieder das Büro Ihres Chefs benutze?«

Gerlinde Gönert zuckte nur mit den Achseln und wandte sich wieder Kaffee und Keksen zu.

Blassgrüne Wände, ein Holztisch, zwei Stühle, ein vergittertes Fenster. Kein Grün, da draußen. Nur ein Innenhof, betonfarben. Für den täglichen Ausgang, allein oder in Gruppen. Der Besucherraum ist hoch, viereinhalb Meter vielleicht. Über dem Tisch hängt wie aus dem Nichts kommend eine leise summende Neonröhre.

»Was ist das Früheste, an das Sie sich erinnern können?«

Der Fleischklops blättert gelangweilt in seiner Akte. Null Blickkontakt. Wozu auch. Jede meiner Regungen wird gefilmt. Ich brauche nur mal zu zögern oder die Blickrichtung zu ändern, schon rätseln sie, was das zu bedeuten hat. Schließlich haben sie es mit einer malignen, narzisstisch schizoiden Persönlichkeit zu tun, oder so ähnlich. Darum geht es, so einen Stempel wollen sie mir verpassen. Und nebenbei noch meine `Schuldfähigkeit` beurteilen. Ist so einer überhaupt in der Lage, die Tragweite seiner Taten zu erkennen? Und dafür grade zu stehen? Entsprechend sind die Erwartungen an meine Performance. Einfach nur den Schlichten geben, geht nicht. Komplex wollen sie es haben.

»Haben Sie meine Frage nicht verstanden?«

Hackfresse schaut mich jetzt doch an. Brav. Ein Mindestmaß an Hingabe darf ich ja wohl erwarten.

Das Früheste, an das ich mich erinnern kann, ist mein Wunsch nach Vergeltung, du Wichser. Vergeltung für all die Demütigungen. Das war und ist das Intensivste, das ich denken kann. Und ich denke gern intensiv. Ich liege in meinem Kinderbett, starre an die weiße Decke – weiß ist meine Lieblingsfarbe, auch wenn alle sagen, es ist keine - und mache Pläne, wie ich sie fertig mache, die Drecksäcke. Geübt hatte ich da schon. Mit dem Hund der Nachbarn. Blöder Kläffer. Ging ganz einfach, mit Rattengift. Aber dir, Fleischklops, binde ich das nicht auf die Nase.

»Meine früheste Erinnerung ist… «

Kurzes Innehalten. Sie wollen ja was geboten kriegen. Gefühle. Angst am besten. Das ist menschlich. Sie wollen bestätigt kriegen, dass Täter früher selbst Opfer waren.

»Ich sitze im Dunkeln mit einem Strick um den Hals. Ich… « Wieder ein Zögern. Fleischklops macht Notizen.»Ich habe Angst.«

Ich schaue weg, auf den Boden, dann auf meine Hände. Kurz, wie ferngesteuert, balle ich sie zu Fäusten. Das reicht, um emotionale Aufgewühltheit mit einem Schuss Aggression darzustellen.

»Angst, wovor«, fragt er und schaut mir direkt in die Augen. Na also. Er will in die gepeinigte Kinderseele hinein blicken.

»Vor dem Alleinsein. Vor dem Dunklen. Sie haben mich zur Strafe in die Kammer ans Heizungsrohr gebunden. Ich ... ich weiß nicht, wann ich wieder raus komme. Oder ob überhaupt.« Ich rutsche auf meinem Stuhl rum, weiche seinem Blick aus. Die Körpersprache muss die Message unterstützen.

»Wie alt sind Sie da?«

Ich überlege sichtbar, lasse ihn warten.

»Weiß nicht. Vier oder fünf vielleicht.«

Ich spreche in unvollständigen Sätzen, stammle fast. Sie meinen, solche Fragen versetzen einen zurück in die traumatisch erlebte Kindheitsperspektive. Und Kinder im Vorschulalter, zumal, wenn sie sich fürchten, kriegen ja kaum die Kiemen auseinander.

»Warum hat man Sie so festgebunden?«

Tja, das möchtest du gern wissen, Fleischbällchen. Hattest, was sie eine schwere Jugend nennen, mit diesen Aknekratern im Gesicht, stimmt’s? Einsamkeit, Ausgeschlossensein, das kennst du. Da hab ich dein Mitgefühl. Nur: Ich brauch’s nicht! ICH nicht! Du brauchst sowas. Bin ich hier deine Bedürfnisanstalt? Mann, du gehst mir sowas von auf den Senkel. Hab noch anderes vor, als deine blöden Fragen zu beantworten. Es reicht. Zeit für einen emotionalen Ausbruch, aber in kleinen Dosen. Die Dramaturgie muss stimmen. Um so größer die Wirkung. Wieder auf dem Hintern rumrutschen. Ein leichtes Zittern der Hände, ein Zucken der Mundwinkel. Ein irritiertes Flattern des Blicks. Dann aufspringen, den Stuhl dabei umwerfen, durch den Raum tigern und losbrüllen.

»Warum, warum! Keine Ahnung! Ich weiß nicht, warum! Warum haltet ihr mich hier fest? Woche um Woche und kein Prozess? Wie geht sowas? Habe ich keine Rechte?«

Fleischklops ist der Schreck in die Glieder gefahren. Er glotzt mich an und schließt die Akte.

»Genug für heute.«

Er steht auf und geht auf die schwere Glastür zu. Na bitte, geht doch. Gleich habe ich wieder Zeit für mich. Fürs ungestörte Planen und intensiv Denken.

Ein paar Schritte vom Chefbüro entfernt, im Zimmer von Christian Schwanke, Forschung und Entwicklung, hielten Hartmanns Jungs eine spontane Krisensitzung. Hemdsärmel hochgekrempelt, Anzugjacken über den Stuhllehnen. Obwohl an einem Freitagnachmittag wie diesem andere Verpflichtungen in ihren elektronischen Zeitplanern standen – Golfen oder ein Besuch im Sudfass ganz in der Nähe – waren alle da, sprachen durcheinander.

Der übergewichtige Rolf Kresseboom: Accounts and Finances, mit Einstecktuch und goldbarrenartigem Chronographen am Handgelenk. Der kettenrauchende Stefan Hettler: Marketing und Vertrieb, der wie Kresseboom zwanzig Prozent des Stammkapitals hielt. Arbeitete rund um die Uhr und hatte schon einen Herzinfarkt hinter sich. Trotzdem blieb er dabei. Der Qualm, der ständig um ihn waberte, gehörte einfach zu seiner hageren, fast durchsichtigen Erscheinung. Karl Zimlich von der Produktion: Der Mann fürs Grobe, vom Chef geschätzt für seine Hauruck-Methoden. Neben dem ätherischen Hettler ein schwerer Brocken, wie aus Granitgestein gemeißelt. Er war der Fels, auf dem die Produktion ruhte, ein Hartmann-Treuer der ersten Stunde. Schließlich Piet van de Geer vom Personal: Hatte anfangs laut getönt, bei HaKuTech nicht alt werden zu wollen. Inzwischen war er seit sechzehn Jahren dabei und hatte es sich, wahrscheinlich aus Frustration darüber, zum Prinzip gemacht, in Konferenzen erst einmal alle Vorschläge zu torpedieren. Schwanke, ein schlanker Mann um die fünfzig, war die Ruhe selbst. Entspannt lehnte er, beide Hände auf dem Sims abgestützt, am Fenster. Man sah ihm nicht mehr an, dass er vor einem Jahr eine strapaziöse Chemotherapie über sich hatte ergehen lassen. Die Krankheit ist besiegt, sagte er, mit sechzigprozentiger Sicherheit besiegt sagten die Ärzte. Gerade wollte er anfangen, als es klopfte. Es war Prochaska aus der Buchhaltung, dessen hündische Ergebenheit gegenüber Hartmann bekannt war. Stockend brachte er vor, was er wollte:

»Der Chef wollte heute diese Unterlagen aus der Buchhaltung sehen. Frau Gönert meinte, ich soll sie Ihnen geben, Herr Schwanke.«

»Danke. Ach, Prochaska, wenn Sie schon mal da sind, können Sie eigentlich gleich diese Akte mitnehmen. Für Behle, zur Bearbeitung.«

Obwohl Behle in der IT-Abteilung im ersten Stock saß und die Buchhaltung im fünften untergebracht war, und obwohl es im Übrigen ein Hauspostsystem gab, nahm Prochaska die Akte widerspruchslos an sich. Den kleinen Umweg würde er gern in Kauf nehmen, wenn er damit dem neuen Chef dienstbar sein konnte. Der Austausch zwischen den beiden hatte keine Minute aber doch lang genug gedauert, um Schwankes Führungsanspruch zu verdeutlichen.

»Wie ihr inzwischen erfahren habt, ist Heinrich in ziemlich spektakulärer Weise von seinen eigenen Drohungen eingeholt worden. Sein Abgang wird zweifelsohne einige Wellen schlagen. Ich möchte euch deshalb dringend bitten, über alle Interna Stillschweigen zu bewahren.«

Schwanke schaute sich um. Die Männer von Hartmanns Tafelrunde machten, bis auf Hettler, der immer unter Strom stand, einen unaufgeregten Eindruck. Es war klar, was nun geschehen würde. Schwanke würde endlich, nach fast dreißig Jahren in der zweiten Reihe, die Führung des Betriebs, der früher seinen Eltern gehört hatte, übernehmen. Hettler brachte die allgemeine Stimmungslage auf den Punkt:

»Der Chef ist tot - es lebe der Chef!« Er hob ein imaginäres Sektglas an und prostete den anderen zu. Alle lachten. »Dann sollen wir auch keinem verraten, wer wohl den Alten so stilecht ins Jenseits befördert hat?«

Jähe Stille. Der dicke Kresseboom reagierte als erster.

»Mensch, Stefan, red’ doch nicht so’n Blödsinn. Dazu müssten wir ja erst mal wissen, wer’s war. Und bei allem Respekt vor deinen Marktforscherqualitäten - das weißt du doch selbst nicht.«

»Ein, zwei Ideen hätt ich schon, ihr nicht?«

Einen Augenblick lang war nur das mechanische Rattern eines Nadeldruckers von nebenan zu hören. Da merkte Hettler, dass er zu weit gegangen war.

»Only joking, only joking, wie unsere schöne Helen immer sagt. Nee wirklich, habe keinen Schimmer, wer es getan haben könnte.«

Schwanke ergriff wieder das Wort.

»Genau solche Spekulationen habe ich gemeint. Wir dürfen uns daran nicht beteiligen, auch wenn uns die Presse die Türen einrennt.« Mit einer schnellen Handbewegung fuhr er sich über die Augen, als ob er wabernde Nebelschwaden wegschieben müsste.

»Übrigens sollten wir hier mal ausmisten. Unser Verwaltungsaufwand ist einfach zu hoch. Ich habe schon mit verschiedenen Consulting-Unternehmen Kontakt aufgenommen.«

Seine Worte sickerten ein, die Jungs ließen sich nichts anmerken. Dann, nach einer kurzen Pause:

»Wie ihr ja alle wisst, hat Hartmann mich per Gesellschaftervertrag zu seinem Nachfolger bestimmt. Ich erbe seine Anteile. Damit wir so schnell wie möglich wieder handlungsfähig sind, schlage ich vor, wir treffen uns am Montag nach der Testamentseröffnung und besprechen das weitere Vorgehen.«

Das war das Stichwort für Piet van de Geer.

»Bestimmt keine schlechte Idee, jemanden von außen zu holen, der hier mal klar Schiff macht. Obwohl … manche von denen kosten mehr, als sie einbringen. Aber sollten wir nicht damit warten, bis der Alte unter der Erde ist? Ich kann mir schon die Schlagzeilen vorstellen: ‘Chef brutal zerstückelt - Geschäfte gehen weiter’.«

Mit einer Geste malte er die Worte in die Luft.

»Und solange sollen die Maschinen stillstehen?«, polterte Zimlich dazwischen, obwohl davon überhaupt nicht die Rede war. Ob das dazu passte, war ihm egal. Zimlich kannte keine Gesprächs- oder sonstige Konventionen. Es ging ihm immer nur um seine Maschinen. Die liebte er, diese lauten Ungetüme stampfen für ihn rund um die Uhr. Er hatte ein ungnädiges Schichtsystem eingeführt, das dem Betrieb und der Wartung der Produktionsanlagen Priorität gab. Vor HaKuTech war Zimlich Boxer und Werkzeugmacher gewesen und hatte sich, wie man so schön sagt, hochgearbeitet. Er hatte seine menschenverachtenden Ideen dem Chef vorgetragen und dafür den Leitungsposten bekommen. Manche seiner früheren Kollegen bezeichneten ihn unverblümt als Schleimer.

»Davon hat doch keiner was gesagt, Zimlich.«

Obwohl alle sich duzten, kam ihnen der Vorname des Produktionsleiters nicht über die Lippen. Er war immer der Zimlich gewesen, und das blieb er auch.

»Die Produktion läuft jetzt doch auch, oder?«

Zimlich nickte. Die Maschinen hatten noch nie still gestanden. Auch nach 9/11 nicht, als die amerikanischen Kunden die Einfuhr von HaKuTech-Komponenten für ein paar Wochen stoppten, um mit der `Achse des Bösen` niedrigere Preise aus zu handeln. Lieber auf Halde produzieren als sich erpressen lassen, lautete Hartmanns Devise. Einen Stillstand, bloß wegen seiner Beisetzung, das hätte der Chef nicht gewollt, erklärte Zimlich mit Nachdruck. Schwanke hatte unbeteiligt zugehört, doch jetzt brach es mit ungeahnter Vehemenz aus ihm heraus:

»Produktion hin oder her. Am Montag um halb zehn ist Testamentseröffnung, dafür ist gesorgt. Wir wissen, was drin steht. Damit ich mir einen Überblick über die laufenden Geschäfte aus euren Bereichen schaffen kann, treffen wir uns am Montag um 13 Uhr im kleinen Sitzungssaal - Ende und Aus.«

Damit ging er an seinen Schreibtisch, setzte sich und begann, ein Dokument zu lesen. Sie waren entlassen. Ohne weitere Worte zu wechseln, verließen die Männer den Raum. Hettler lag es noch auf der Zunge, zu fragen, ob Tatverdächtige ihr Opfer überhaupt beerben dürfen, aber er war schon einmal zu forsch gewesen. So stand auch er auf, nahm sein Jackett und ging schweigend wie die anderen hinaus.

Ein Raum wie ein Ballsaal, hell und weit und kaum möbliert. Passt. Hartmann in einer kleinen Butze? Undenkbar. Nur Dimensionen wie diese huldigten dem Führer. Das Fußvolk musste schon einige Meter auf dem erlesenen Orientteppich zurücklegen, um endlich am Schaltzentrum der Macht anzukommen: Ein schwerer Nussbaum-Schreibtisch, der Besucher auf Abstand hielt, mit nichts darauf als ein paar Schreibutensilien, einem Telefon und einem hölzernen Lineal. Daneben ein kolossaler Standglobus, eine lederne Sitzgruppe. Selbst die dunkle Holztäfelung gegenüber den Fenstern atmete Gediegenheit. An den Wänden aus matt glänzender Douglasienfichte gerahmte Exponate aus Hartmanns Wappensammlung. Schließlich, links und rechts der beiden Türen, zwei Meter lange Hellebarden aus dem Spätmittelalter, die Hartmann einem Kurator aus Oberbayern abgeschwatzt hatte.

Vissani schloss die Tür und ging behänd, als wäre er in Tanzsälen zuhause, zur Sitzgruppe. Er zog das Sakko aus, warf es auf einen der Sessel. Eine einladende Geste – Helen sollte Platz nehmen. Vissani merkte, wie sie ihn musterte, spürte ihre Neugier. Was, wenn sie jetzt die Fragen stellen dürfte? Was würde er ihr sagen?

Dass Freddie, der Zeichner vom Erkennungsdienst, ihn mal als Pitbull karikiert hatte? Das Bild hing in seinem Büro.

Dass er aber gar kein Kampfhund war und körperlichen Auseinandersetzungen von der Art, wie sie sein Beruf manchmal forderte, vermied?