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Friedrich Dürrenmatt

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Beschreibung

»Ursprünglich von Friedrich Dürrenmatt als eine Art literarisches Testament konzipiert, schreibt der Autor seit den siebziger Jahren an dieser Dramaturgie der Phantasie, die letztlich keinem literarischen Genre zuzuordnen ist: Anstelle einer konventionellen Autobiographie verfolgt Dürrenmatt die Geschichte jener Stoffe, mit deren Bewältigung und Bearbeitung er sich sein Leben lang beschäftigte.«

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Friedrich Dürrenmatt

Labyrinth

Stoffe I–III

Der Winterkrieg in Tibet

Mondfinsternis

Der Rebell

Diogenes

Labyrinth Stoffe I–III

1981 [ca. 1964–1981] Neufassung 1990

Der Leser hat das Buch für baares Geld gekauft und frägt, was ihn schadlos hält? Meine letzte Zuflucht ist jetzt, ihn zu erinnern, daß er ein Buch, auch ohne es gerade zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß. Es kann, so gut wie viele andere, eine Lücke seiner Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden, gewiß gut ausnehmen wird. Oder auch er kann es seiner gelehrten Freundin auf die Toilette, oder den Theetisch legen. Oder endlich er kann ja, was gewiß das Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren.

Schopenhauer

Der Winterkrieg in Tibet

Es ist immer wieder von irgend jemandem versucht worden, sein eigenes Leben zu beschreiben. Ich halte das Unterfangen für unmöglich, wenn auch für verständlich. Je älter man wird, desto stärker wird der Wunsch, Bilanz zu ziehen. Der Tod rückt näher, das Leben verflüchtigt sich. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestaltet, verfälscht man es: So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen, manchmal große Dichtungen – die Weltliteratur beweist es –, leider oft für bare statt für kostbare Münze genommen. Was nun mein Leben betrifft, so halte ich, es näher zu beschreiben, auch noch aus einem anderen Grunde für überflüssig. Gemessen am Schicksal von Millionen und Abermillionen, die lebten, leben, während ich lebe, und noch leben werden, wenn ich nicht mehr lebe, kommt mir mein Leben so privilegiert vor, daß ich mich schäme, es auch noch schriftstellerisch zu verklären. Wenn ich trotzdem über mich schreibe, so nicht über die Geschichte meines Lebens, sondern über die Geschichte meiner Stoffe; denn in meinen Stoffen drückt sich, da ich Schriftsteller bin, mein Denken aus, auch wenn ich natürlich nicht nur in Stoffen denke. Aber die Stoffe sind die Resultate meines Denkens, die Spiegel, in denen, je nach ihrem Schliff, mein Denken und damit auch mein Leben reflektiert werden. Doch gehören zu diesen Stoffen nicht nur die Stoffe, die ich geschrieben, sondern auch jene, die ich nicht vollendet oder nicht geschrieben habe. Indem ich vor allem diese skizziere, taste ich in der Entwicklung meines Denkens zurück wie eine Spur, der ich folge, und was ich aufscheuche, ist mein Leben. Gehe ich aber von meinem Leben aus, tauchen hinter meinen geschriebenen Stoffen die ungeschriebenen auf. Sie ruhen in meinem Gedächtnis, durch die Zeit mehr oder weniger undeutlich geworden, wie versunkene Gegenstände. Oft sind nur Bruchstücke ahnbar, kaum je das Ganze, um so mehr wuchern gerade sie oft weiter, klagen mich an als ungenutzte oder verspielte Gelegenheiten. Gewiß, die geschriebenen Stoffe sind die Ergebnisse meines Lebens: Doch ist Leben nicht nur Handeln, es ist vorerst Erleben, und wie Handeln Erleben voraussetzt, setzt auch Nichthandeln, Träumen und Tagträumen, Erleben voraus, Leben endlich. Wer schreibt, handelt, setzt Erlebtes und Leben um, unmittelbar oder mittelbar, den Beweggründen entsprechend, die einen zum Schreiben bringen, oft überlisten, je nach der Beschaffenheit dessen, der da schreibt: mittelbar, was mich betrifft. Ich gehöre weder zu den Exhibitionisten unter den Schriftstellern – nicht zu den schamlosen, die ihr Leben ummontieren, umdichten, umschachteln –, noch zu jenen, in deren Kübeln voller Esprit wir unversehens ertrinken. Ich zähle zu den Gedankenschlossern und -konstrukteuren, die Mühe haben, mit ihren Einfällen fertig zu werden, deren Einfälle ihre Konzepte, aber auch ihre Bekenntnisse immer wieder durchkreuzen; zu jenen Schriftstellern, die nicht von der Sprache her kommen, die sich vielmehr mühsam zur Sprache bringen müssen. Nicht weil ihre Sprache ihren Stoffen nicht gewachsen wäre: ihre Stoffe sind der Sprache nicht gewachsen, außerhalb von ihr angesiedelt, im Vorsprachlichen, noch nicht genau Gedachten, im Bildhaften, Visionären. Nicht meine Gedanken erzwingen meine Bilder, meine Bilder erzwingen meine Gedanken. So zielt meine Schriftstellerei von mir weg, wenn ich auch nichts geschrieben habe, das nicht in irgendeiner Beziehung zu etwas von mir Erlebtem steht, auch zu teils verdrängten, teils längst vergessenen Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken. Dabei verhalten sich die ungeschriebenen oder nicht vollendeten Stoffe unmittelbarer zu meiner Welt, zur Welt, wie ich sie erlebte und erlebe, als die geschriebenen Stoffe, die gefiltert, umgeformt, verformt, zwar immer wieder neu gestaltet, aber doch schließlich abgeschlossen, zur Sprache gebracht, damit der Sprache angepaßt, angenähert sind. Darum sind die ungeschriebenen und die unvollendeten Stoffe wichtig. Sie sind entweder noch nicht geschrieben, noch nicht zur Sprache gebracht, noch nicht Sprache, oder sie sind noch Versuch, noch nicht Abschluß, der immer nur zweifelhaft sein kann: Enden ist stets willkürlich, ein Aus-der-Hand-Geben, ein Verlieren schließlich, ein Vergessen, resignierend wie jedes Vergessen. Das noch nicht Geschriebene und das Unvollendete dagegen gehören mir. Es ist bloß gedacht, nur Phantasie oder etwas Angefangenes, dann auf die Seite Geschobenes, immer noch Mögliches, darum auch quälend. Indem ich diese ungeschriebenen oder unfertigen Stoffe, diese Phantasiefetzen und die Erlebnisse, ja die Zeit, durch die sie herbeigeführt wurden, zu rekonstruieren oder doch wenigstens zu skizzieren unternehme, versuche ich, sie zu vergessen, mich zu befreien, einen Ballast abzuwerfen, der mit den Jahren immer größer wird.

 

Zuerst sind Eindrücke: Das Dorf entstand, wo die Straßen Bern–Luzern und Burgdorf–Thun sich kreuzen, auf einer Hochebene, am Fuße des großen Hügels Ballenbühl und nicht weit vom Galgenhubel, wohin die vom Amtsgericht Schloßwil einst die Mörder und Aufwiegler gekarrt haben sollen. Durch die Hochebene fließt ein Bach, und die kleinen Bauerndörfer und Weiler dort brauchten einen Mittelpunkt, die Aristokraten ringsherum waren heruntergekommen, einer ihrer letzten erfror betrunken vor der Haustüre seines Schlößchens. Ihre Sitze wandelten sich in Alters- oder Erholungsheime um. Zuerst war an der Straßenkreuzung wohl nur ein Wirtshaus, dann fand sich ihm schräg gegenüber die Schmiede ein, später wurden die beiden anderen Felder des Koordinatenkreuzes von Konsum und Theatersaal belegt, letzterer nicht unwichtig, wies doch das Dorf einen Jodlerkönig, der Schmalz hieß, und sogar einen Dramatiker auf, den Lehrer Gribi, dessen Stücke von den dramatischen Vereinen des ganzen Emmentals gespielt wurden, vor allem Die Blümlisalp, ein ›Berndeutsches Sagenspiel in fünf Akten‹, an das ich mich nur noch schattenhaft erinnere: als der Vorhang fiel, polterte es hinterher gewaltig auf der Bühne, der Bergsturz begrub die reiche Alp mit seinen Fels- und Eismassen. Der Thunstraße entlang siedelten sich der Drucker, der Textilhändler, der Metzger, der Bäcker und die Schule an, die freilich schon gegen das nächste Bauerndorf zu, dessen Burschen mich auf dem Schulweg verprügelten und dessen Hunde wir fürchteten, während die Ersparniskasse, das Pfarrhaus, die Kirche und der Friedhof auf eine kleine Anhöhe zwischen der Thun- und der Bernstraße zu liegen kamen. Doch erst die große Milchsiederei, damals noch die Stalden AG, neben der steil ansteigenden Burgdorfstraße errichtet, machte das Dorf zu einem ländlichen Zentrum: Die Milch der ganzen Umgebung wurde in Kesseln hergefahren, von den Kleinbauern mit Leiterwagen, die von großen Hunden gezogen wurden, von den Großbauern mit Pferdefuhrwerken und von den entfernteren Dörfern her mit Lastwagen, die wir in Gruppen erwarteten, als wir später nach Großhöchstetten in die Sekundarschule mußten. Wir hängten uns an die schweren Fahrzeuge, wenn sie die Siederei wieder verließen, um so auf unseren Velos die Burgdorfstraße hinaufgezogen zu werden, voller Furcht, jedoch nicht vor der Polizei – dem dicken Dorfpolizisten fühlten sich alle gewachsen –, sondern vor dem Französisch- und Schreiblehrer, den wir Baggel oder Hegu nannten, vor dessen Lektionen wir zitterten, denn er war ein bösartiger Prügler, Klemmer und Haarzieher, der uns zwang, einander die Hände zu schütteln: »Grüß Gott, gelehrter Europäer«; und aneinandergehängt hinter dem rasselnden Lastwagen mit den tanzenden, nun leeren Milchkesseln malten wir uns den Lehrer als einen riesigen Berg aus, den wir zu besteigen hatten, mit grotesken Ortsbezeichnungen und entsprechend schwierigen Kletterpartien. Doch ist in meiner Erinnerung der Bahnhof wichtiger als die Milchsiederei mit ihrem Hochkamin, der mehr als der Kirchturm Wahrzeichen des Dorfes war. Der Bahnhof hatte das Recht, sich Bahnhof zu nennen – und nicht bloß Station, wie sich die Bahnhöfe in den anderen Dörfern ringsherum eigentlich hätten nennen müssen –, weil er ein Eisenbahnknotenpunkt war, und wir vom Dorf waren stolz darauf: Nur wenige Züge hatten den Mut, nicht anzuhalten, brausten vorbei nach dem fernen Luzern, nach dem näheren Bern. Auf einer Bank vor dem Bahnhof sitzend, sah ich ihnen mit einer Mischung von Sehnsucht und Abscheu entgegen, dann dampften die Lokomotiven, urweltliche Kolosse, vorüber und davon, hinter ihnen, durch die Scheiben der Wagenfenster sichtbar, Reisende, die nicht einmal den Bahnhof bemerkten, an welchem sie vorüberschossen. Und noch weiter zurück gleitet die Erinnerung, in die Unterführung, dank der die Bahngeleise die Burgdorfstraße überbrücken, und von der aus man auf einer Treppe geradewegs zum Bahnhof gelangt. Sie stellt sich mir als eine dunkle Höhle dar, in die ich als Dreijähriger mitten auf der Straße geraten war, von zu Hause ins Dorf entwichen, am Ende der Höhle war Sonnenlicht, aus dem die dunklen Schatten der Lastwagen und Fuhrwerke heranwuchsen. Doch ist nicht mehr auszumachen, wohin ich eigentlich wollte, denn durch die Unterführung gelangte man nicht nur zur Milchsiederei und zum Bahnhof, auch die besseren Leute wohnten am Steilhang des Ballenbühls, so meine Gotte, die Gattin des Dorfarztes, der ich später meine nie befriedigenden Schulzeugnisse zur Einsicht bringen mußte, auch der Kirchgemeindepräsident, die Prokuristen der Siederei, der Jodlerkönig, ferner behaglich dahinlebende Rentner, hergezogen der sonnigen Lage wegen, und außerdem der Zahnarzt und der Zahntechniker. Die beiden betrieben das Zahnärztliche Institut, das noch heute weite Teile des Landes malträtiert und den Ort berühmt gemacht hat. Beide besaßen Automobile und waren schon deshalb privilegiert, und des Abends schütteten sie das mit Plombieren, Zahnziehen und Gebißanfertigen gewonnene Geld zusammen, um es mit bloßer Hand zu teilen, ohne noch genauer abzuzählen. Der Zahntechniker war klein und dick; mit Fragen der Volksgesundheit beschäftigt, ließ er ein Volksbrot verfertigen, bei dem einen das kalte Grausen überkam. Der Zahnarzt jedoch war ein stattlicher Mann, dazu Welschschweizer, wohl Neuenburger, er galt als der reichste Mann im ganzen Amtsbezirk – später sollte sich diese Meinung als Irrtum erweisen. Aber sicher war er der frömmste, noch während des Bohrens redete er vom Heiland. Im Glaubenseifer wurde er nur noch von einer hageren Frau unbestimmten Alters erreicht, die sich stets schwarz kleidete. Zu ihr stiegen – nach ihrer Behauptung – die Engel nieder, um ihr den baldigen Tod eines Dorfbewohners anzuzeigen, ein Wissen, das sie meinem Vater freilich erst nach der Beerdigung anvertraute. Sie las während des Melkens die Bibel, und ich mußte nach dem Abendessen die Hausierer und Vaganten vom Pfarrhaus über die Ebene zwischen dem Dorf und Zäziwil zu ihr in die Hütte führen, wo sie übernachten konnten. Meine Eltern waren gastliche Pfarrsleute, sie wiesen niemanden ab und ließen mitessen, wer mitessen wollte, so die Kinder eines Zirkusunternehmens, welches das Dorf jährlich besuchte, und einmal fand sich auch ein Neger ein. Er war tiefschwarz und hieß Modidihn. Er saß am Familientisch links neben meinem Vater und aß Reis mit Tomatensoße. Er war bekehrt, dennoch fürchtete ich mich vor ihm. Überhaupt wurde im Dorfe viel bekehrt. Es wurden Zeltmissionen abgehalten, die Heilsarmee rückte auf, Evangelisten predigten, aber am berühmtesten in dieser Hinsicht wurde der Ort durch die Mohammedaner-Mission, die in einem feudalen Chalet hoch über dem Dorf residierte: sie gab eine Weltkarte heraus, auf der in Europa nur ein Ort zu finden war, unser Dorf, eine missionarische Wichtigtuerei, die den Wahn erzeugte, einen Augenblick lang, man befinde sich im Mittelpunkt der Welt und nicht in einem Emmentaler Kaff. Der Ausdruck ist nicht übertrieben. Das Dorf war häßlich, eine Anhäufung von Gebäuden im Kleinbürgerstil, wie man das überall im Mittelland findet, aber schön waren die umliegenden Bauerndörfer mit den großen Dächern und den sorgfältig geschichteten Misthaufen, geheimnisvoll die dunklen Tannenwälder ringsumher, und voller Abenteuer war die Ebene mit dem sauren Klee in den Wiesen und mit den gelben Kornfeldern, in denen wir umherschlichen, tief innen unsere Nester bauend, während die Bauern an den Rändern standen und fluchend hineinspähten. Noch geheimnisvoller waren die dunklen Gänge im Heu, das die Bauern in ihren Tenns aufgeschichtet hatten; stundenlang krochen wir in der warmen staubigen Finsternis umher und spähten von den Ausgängen in den Stall hinunter, wo in langen Reihen die Kühe standen. Der unheimlichste Ort war für mich der fensterlose obere Estrich im Elternhaus. Er war voll alter Zeitungen und Bücher, die weißlich schimmerten im Dunkel. Auch erschrak ich einmal in der Waschküche, ein unheimliches Tier lag dort, ein Molch vielleicht, das Grausen blieb, das mich erfaßte, wenn der Gemüsemann in seinem Laden unter dem Theatersaal mit seinem handlosen Arm einen Salatkopf auseinanderschob, auch der Schrecken über das Lebendig-Schlüpfrige der ersten Forelle, die ich im Bach fing: ich ließ sie wieder aus den Händen gleiten, sie schnellte hoch, dann fing ich sie wieder und schlug sie tot. Der Friedhof dagegen war ohne Schrecken. Meine Eltern gingen den Weg zwischen den Gräbern auf und ab, wenn sie etwas zu besprechen hatten, und meine Schwester und ich spielten dort Verstecken, oft um das Grab eines Schwesterchens herum, an dessen Geburt und Tod ich mich nicht erinnere, ich sehe nur noch, denke ich zurück, ein kleines schmiedeeisernes Kreuz mit einem Emailschild schattenhaft vor mir, aber den Namen, der auf dem Schild stand, habe ich vergessen. Wenn ein Grab ausgehoben wurde, richtete ich mich darin häuslich ein, bis der herannahende Leichenzug, vom Glockengeläute angekündigt, mich vertrieb, einmal freilich etwas spät: mein Vater sprach schon das Leichengebet, als ich aus dem Grab kletterte. Nicht nur mit dem Tod waren wir vertraut, auch mit dem Töten. Das Dorf kennt keine Geheimnisse, und der Mensch ist ein Raubtier mit manchmal humanen Ansätzen. Beim Metzger schauten wir zu, wie die Schlächtergesellen töteten, wir sahen, wie das Blut aus den großen Tieren schoß, wir sahen, wie sie niedersanken und starben und wie sie zerlegt wurden. Wir standen da, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, und dann spielten wir wieder auf dem Trottoir Marmeln: ahnungsvoller, als die Erwachsenen dachten. Nicht nur weil wir über das Sexuelle Bescheid wußten, wovon die Erwachsenen schwiegen, sahen wir doch die verhängten Hunde, und wie die wuchtigen Stiere träge Kühe bestiegen, und wir hörten die Knechte prahlen, was sie mit den Mägden anstellten. Auch für Kinder ist ein Dorf nicht die Welt. Es mögen sich Lebensschicksale darin abspielen, Tragödien und Komödien, das Dorf wird dennoch von der Welt bestimmt, in Ruhe gelassen, vergessen oder vernichtet, und nicht umgekehrt. Das Dorf ist ein beliebiger Punkt im Weltganzen, nicht mehr, zufällig, durch nichts bedeutend und deshalb austauschbar.

 

Die Welt ist größer als das Dorf: über den Wäldern stehen die Sterne. Ich machte mit ihnen früh Bekanntschaft durch den Lehrer Fluri, einen stillen, ernsten Mann, der vor seiner Heirat bei uns logierte und der die obersten Klassen unterrichtete. Ich zeichnete die Konstellationen: den unbeweglichen Polarstern, den Kleinen und den Großen Bären mit dem geringelten Drachen zwischen ihnen, ich lernte die helle Wega kennen, den funkelnden Atair, den nahen Sirius, den fernen Deneb, die Riesensonne Aldebaran, die noch gewaltigeren Beteigeuze und Antares. Ich wußte, daß das Dorf zur Erde und die Erde zum Sonnensystem gehört, daß die Sonne mit ihren Planeten sich um das Zentrum der Milchstraße bewegt, Richtung Herkules, und ich vernahm, daß der gerade noch mit bloßem Auge erkennbare Andromedanebel eine Milchstraße sei wie die unsrige. Ich war nie Ptolemäer. Vom Dorf aus kannte ich die nähere Umgebung, ferner die nahe Stadt und einen Ferienkurort in den nahen Bergen, darüber hinaus einige Kilometer Schulreisen, das war alles. Doch nach oben, in den Raum hinein, baute sich ein Gerüst von ungeheuerlichen Entfernungen auf, und so war es auch mit der Zeit: Die Vergangenheit war wirksamer als die Gegenwart, die nur wahrgenommen wurde, soweit sie in das Unmittelbare als das faßbare Leben des Dorfes zu dringen vermochte. Schon die Dorfpolitik war zu abstrakt, zu abstrakt auch die Rolle der Milchsiederei mit ihrem fernen Direktor, noch abstrakter die Politik des Landes, die sozialen Krisen, die Bankzusammenbrüche, bei denen die Eltern ihr Vermögen verloren – zu unbestimmt, zu bildlos alles; aber die Vergangenheit war faßbar. Von ihr berichteten die Erwachsenen. Meine Mutter erzählte die Bibel. Sie löste in der Sonntagsschule die Tochter des frommen Zahnarztes ab, bei der wir uns gelangweilt hatten. Wurden uns vorher fromme Sprüche mit sanfter kindlicher Stimme vorgeleiert, entrollte nun meine Mutter ein Epos. Zwar ließ sie Adam und Eva beiseite, die Geschichte war ihr zu genierlich, aber die Sintflut stellte sie gewaltig dar, Gottes Zorn: den ganzen Ozean kippte er über die Menschheit – nun schwimmt mal; Moses und Josua: Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond im Tal Ajalon. Bei diesem Befehl ging ein Ruck durch das Weltgefüge, mit der Sonne und dem Mond verharrten auch die Milchstraße und weiter noch der Andromedanebel einen Tag und eine Nacht in Unbeweglichkeit, statt sich in rasender Geschwindigkeit zu drehen und aufeinander zuzuschießen, während auf der kleinen Erde eine Schlacht tobte, Schilde aneinanderprasselten, Rosse aufgeschlitzt und Menschen zerhackt wurden. Mein Vater dagegen erzählte von den Griechen. Beim Hingehen, sei es durch einen dunklen Tannenwald nach dem Dörfchen Häutlingen oder steil hinauf ins ›Holz‹, zu einsamen Bauernhäuschen hoch über dem Dorf, schwieg mein Vater: Er dachte an seine Predigt, die er dann in einer Bauernstube halten mußte. Wenn wir darauf in tiefer Dunkelheit wieder hinabstiegen, kam er auf die griechischen Sagen zu sprechen, und die Helden und Ungeheuer, von denen er berichtete, kamen mir gleich vertraut vor, nicht nur weil ich die Namen am Sternenhimmel wiederfand, sondern weil mir die Namen und die Träger dieser Namen eins schienen: Der stärkste Mann, den es je gab, konnte nur Herkules heißen. An der Hand meines Vaters hörte ich von den zwölf Aufgaben, die der Halbgott zu lösen hatte, wie er den Titanen Atlas überlistete, der das Weltgebäude trug, keuchend unter der ungeheuren Last, die alles zerschmettern würde, ließe er sie fallen, wie er in die Unterwelt hinunterstieg und den Höllenhund bändigte, und während von Hünigen herauf der Kettenhund des Großbauern kläffte, an welchem wir vorbeimußten, erzählte mein Vater, wie der Niebesiegte, bevor er vom Nessushemd zerfressen wurde, die beiden Adler herunterschoß, die an der Leber des Prometheus herumhackten. Am liebsten jedoch erzählte mein Vater vom königlichen Theseus, wie er die Räuber Prokrustes und Pityokamptes besiegte, und vom Labyrinth des Minos, von Dädalus erbaut, den ungefügen Minotaurus gefangenzuhalten; ich erfuhr, wie der Vater des Theseus ums Leben kam: vergaß doch der Sohn, zerstreut wie er war, bei der Rückkehr von Kreta das weiße Segel zu setzen, worauf Aigeus sich ins Ägäische Meer stürzte in der Meinung, Theseus sei tot. Es ist gefährlich, wenn Väter zu sehr an ihren Söhnen hängen, Söhne sind ihnen gegenüber zerstreut; auch ich war es meinem Vater gegenüber, auch ich dachte wenig an und noch weniger über ihn nach. Wenn mein Vater auf Sisyphus oder Tantalus oder Ödipus zu sprechen kam, die von den Göttern verflucht worden waren, fragte ich, was denn ein Fluch sei, und mein Vater antwortete, das seien erfundene Geschichten, die Griechen hätten nicht gewußt, daß es nur einen Gott gebe. Aber einmal, als wir beide in einer verschneiten Nacht vom ›Holz‹ herunterkamen, erzählte mein Vater von einem Mann, der als armer Bursche Gott verflucht habe, und von da an sei es ihm immer besser gegangen, er sei reich geworden, doch immer trauriger; auch sagte er mir, es gebe eine Sünde, die Gott nicht vergeben könne, doch wisse niemand genau, worin diese Sünde bestehe – ein Geheimnis, das mich beschäftigte, weil es auch meinen Vater zu beschäftigen schien. Aber nicht nur meine Mutter und mein Vater verstanden zu erzählen, auch der Primarschullehrer Röthlisberger, dem ein Daumen fehlte. Er leitete den Hoffnungsbund, eine Jugendgruppe des Blauen Kreuzes. Und noch jetzt grüble ich bisweilen einer Geschichte nach, die er uns erzählte, wie einem verlorenen Traum. Sie spielte sich in einer düsteren Kneipe ab, noch jetzt spüre ich die Aufregung, in die mich die Geschichte versetzte, und noch jetzt tut es mir leid, daß ich sie nicht zu Ende hören konnte: Ich wurde krank, und als ich wieder gesund geworden war, leitete ein Herrenschneider den Hoffnungsbund. Ich ging nicht mehr hin. Der Schneider konnte nur beten, nicht erzählen. Diese Krankheit muß daher ebensowenig von mir inszeniert worden sein wie jene, die mich später befiel. Hatte ich zuerst die Krankheiten gespielt, um das Bett vor das Fenster schieben und wohlig die Thunstraße beobachten zu können, der entlang die unglücklichen Buben und Mädchen in die Primarschule trotteten; dann, in der Sekundarschule, um von Zeit zu Zeit die Attacken des Französischlehrers ins Leere laufen zu lassen; nun war es auf einmal kein Simulieren mehr: hohes Fieber, die Eltern fürchteten sich, mein Vater saß nachmittags an meinem Bett, der Arzt diagnostizierte ›Kopfgrippe‹, die Mutter wandte ihr Heilmittel an: Lehmwickel. Nach zwei Monaten war ich wiederhergestellt, aber beim 50-Meter-Lauf war ich nicht mehr einer der schnellsten wie vorher, sondern einer der langsamsten, und beim Fußball nur noch ›rechtsfüßig‹, auch vermochte ich seitdem nie mehr Ski zu fahren. Dafür entschädigte mich der Unterricht beim Geschichts- und Geographielehrer Dr. Ständer, in meiner Erinnerung rothaarig, dick und majestätisch. Er unterrichtete nicht, er schilderte. Er schilderte Geographie – Berge, Täler, Wälder, Gletscher, Quellen, Flüsse. Er schilderte Geschichte – schilderte Morgarten, wo Steine, groß wie Findlinge, und Baumstämme auf das österreichische Heer hinunterprasselten, schilderte Sempach, wo die Urschweizer mit Hellebarden und Morgensternen die Ritter zusammendroschen, die, mühsam von ihren Schlachtrössern gestiegen, in ihren zentnerschweren Rüstungen schwerfällig herumwatschelten; schilderte Murten, wo die Eidgenossen, statt lange zu beten, gegen das Lager Karls des Kühnen rannten, wo man noch die Messe las und der Herzog im Nachthemd Edelleute zu Rittern schlug. Nahten die Ferien, ließ Ständer den Lehrstoff liegen und schilderte die Nibelungen, teils nach Wagner, teils nach dem alten Lied. Die germanischen Recken zogen in meine Phantasie ein: Mime der Schmied, Fafner mit der Tarnkappe, Siegfried und Hagen, Dietrich von Bern und sein Waffenmeister Hildebrand, Kriemhild und König Etzel, am Ende das ungeheure Gemetzel in der brennenden Hunnenburg. Noch ahnten wir nicht, daß bald anderswo, außerhalb des Dorfes und des kleinen Landes, in dessen Mitte das Kaff nistete, ein noch größeres Gemetzel anheben würde. Mühelos integrierten wir das Gehörte in die Schlachten, die wir einander lieferten, zuerst mit roh gezimmerten Holzschwertern, Bohnenstangen und Holzgewehren, dann mit Fußball. Wir spielten nachmittagelang, oft bis in die Nacht hinein, oft müde bis zum Umfallen, und ich machte mit, auch nach meiner Krankheit. Und am Rande des Fußballfeldes saß in einem Wagen ein Knabe, der keine Beine hatte, von seiner Schwester behütet. Die Mädchen waren von unseren oft wütenden Spielen ausgeschlossen. Eine Freundin zu haben war nicht üblich. Über all dem thronten die Erwachsenen, sie herrschten über uns. Sie befahlen uns, in die Schule zu gehen: in die Sonntagsschule, in die Primarschule, in die Sekundarschule. Sie teilten unsere Zeit ein: wann wir schlafen, aufwachen, essen mußten. Ihre Befehle begrenzten unsere Kriege und Schlachten. Die Erwachsenen waren allgewaltig und hielten zusammen. Einige haßten wir, weil sie uns zu hassen schienen, erwiderten sie doch unseren Gruß nicht, und wir hörten auf, sie zu grüßen, so den Textilhändler, der neben uns wohnte und den wir fürchteten. Als er heiratete, standen die Leute vor der Kirche und wandten sich ab, und wir waren froh, daß auch die Erwachsenen ihn nicht mochten, daß es auch unter den Erwachsenen Haß und Neid gab wie unter uns; der Hochzeitszug bewegte sich wie ein Leichenzug auf die Kirche zu und wurde von ihr verschluckt. In der Nacht dann ein großes Fest; ich lag schon im Bett, als die Raketen hinaufzischten, verknatterten. Später sah man die schöne Frau des Textilhändlers nur selten. Seinen Garten durfte niemand betreten; vorsichtig ließ ich mich einmal in der Dämmerung von der Linde, in deren Gabelung ich meinen Holzverschlag hatte, zwischen die Johannisbeeren in den Garten hinunter und schlich ans Haus hinan, von Schreien und Flüchen angelockt, die zu mir drangen. Und als mein Vater mich mitnahm, eine Schwerkranke zu besuchen, an der Grenze seiner Gemeinde, gegen Oberdießbach hin, zeigte er mir einen baufälligen einsamen Hof abseits der Straße und sagte, dort habe eine alte Bäuerin gehaust, die ihm auf dem Totenbett gestanden habe, sie hätte ihren Vater und ihre Mutter vergiftet. Seitdem waren mir die einsamen Höfe und Hütten besonders geheimnisvoll. Sie lagen auf den Hügeln am Rande der Wälder, die etwas Domartiges haben, dringt man in sie ein, ein immerwährendes Dunkel unter den riesigen Tannen, durchbrochen von schrägen, balkenhaften Sonnenstrahlen; und sie lagen in den ›Krachen‹ zwischen den Wäldern, oft Stunden von Weilern oder größeren Ansiedlungen entfernt, die Straßen waren ungeteert und im Winter nicht begehbar. Die Bauern waren allein bei der Arbeit, die sie mechanisch verrichteten, allein auf ihren steilen Äckern, allein unter den kolossalen Wolken, allein unter dem Himmel, aus dem es niederbrannte oder aus dem es heranfegte, der pfeifende Wind, die peitschenden Regengüsse, der hämmernde Hagelschlag, aber auch allein mit ihren Familien; und oft, waren die Frauen verbraucht und waren die Bauern zu arm, um Mägde zu halten, griffen sie nach ihren Töchtern; und nur wenn der Blitz ihre Höfe in Brand setzte, kamen wir in die ›Krachen‹ geeilt oder die Hügel heraufgerannt, standen im weiten Kreis um den brennenden Hof, schauten zu, wie alles in den Flammen zusammenkrachte und prasselte. Das Vieh brüllte, Möbel standen herum, und die Feuerwehr, oft erst nach den Zuschauern angerückt, arbeitete nutzlos, so schlecht waren die Wege. Doch dann, wenn sich alles zerstreut hatte, wenn nur noch der Brandgeruch über den verkohlten Balken schwebte, war der Bauer mit seiner Familie wieder allein, verschwunden aus dem Gedächtnis des Dorfes. Einige zogen weg, einige wurden Knechte, die Frauen Mägde, die Kinder kamen zu fremden Bauern, einige vermochten sich einen neuen Hof zu bauen. Wenn der Schnee wieder alles zudeckte und sie nach den Arbeiten im Wald an den frühen Abenden in den Stuben hockten, sinnierten sie, warum sie verflucht waren, und die, welche verschont worden waren in ihren ›Krachen‹ oder auf ihren Hügeln, sinnierten im Mondlicht, warum gerade sie vor Gott Gnade gefunden hätten, obgleich sie bei ihren Töchtern oder beim Vieh gelegen hatten. Plötzlich war es dann wie Feuer in den Kammern, in denen sie sich schlaflos wälzten, und Gott sprach zu ihnen mit Donnerstimme. Gar mancher schrieb dann auf, was Gott zu ihm gesprochen hatte, und ließ es auf eigene Kosten oder auf Kosten seiner Anhänger drucken, und als ich einmal im oberen Estrich ein dickes schwarzes Buch fand, wie eine Bibel, brachte ich es meinem Vater und fragte, was es für ein Buch sei. Mein Vater antwortete nicht und nahm es mir weg. Ich suchte später wieder nach dem Buch, durchwühlte den oberen Estrich, aber ich fand es nicht mehr, es war mir, als sei ich auf das Geheimnis gestoßen, welches die Welt der Erwachsenen von der Welt der Kinder trennte. Aber noch war alles zusammengehalten – der Mutterschoß des Dorfes und die wilde Welt des Draußen, der Geschichte und der Sagen, die gleich wirklich waren, aber auch die unermeßlichen Gewalten des Alls – durch einen schemenhaften lieben Gott, den man anbeten, um Verzeihung bitten mußte, von dem man aber auch das Gute, das Erhoffte und das Gewünschte erwarten durfte wie von einem rätselhaften Überonkel hinter den Wolken. Gut und Böse waren festgesetzt, man stand in einem ständigen Examen, für jede Tat gab es gleichsam Noten, und darum war die Schule auch so bitter: sie setzte das himmlische System auf Erden fort, und für die Kinder waren die Erwachsenen Halbgötter. Die Welt der Erfahrung war klein, ein läppisches Dorf, nicht mehr, die Welt der Überlieferung war gewaltig, schwimmend in einem rätselhaften Kosmos, durchzogen von einer wilden Fabelwelt von Heldenkämpfen, umstellt von Geheimnissen, durchzuckt von Ahnungen, durch nichts zu überprüfen. Man mußte diese Welt hinnehmen. Man war dem Glauben ausgeliefert, schutzlos und nackt.

 

Als ich vor einigen Jahren das Dorf wieder besuchte, erkannte ich nur noch die Hügel, die es umgeben, den Hochkamin der Milchsiederei, einige Häuser, das Wirtshaus am Kreuzplatz, das Pfarrhaus, in dessen Garten einige Bäume fehlten, die Tanne etwa, auf die ich immer geklettert war, die Kirche umgebaut, alles kleiner, zusammengerückt, obgleich es sich doch ausgeweitet hatte, viel Industrie, so an der Bernstraße Lager von Heizkesseln. Ich fühlte mich fremd, nur als ich neben dem alten Schulhaus die Treppe hochstieg zu der Häusergruppe auf dem Hügel und an einem nassen Scheiterhaufen vorbeikam, fühlte ich mich plötzlich wieder zu Hause, ich war dem Geruch von nassem, gespaltenem Holz seit meiner Jugend nicht mehr begegnet. Gespenstisch dann die zweite Begegnung mit meiner Jugendzeit: Ein Pathologe an einem großen Spital zeigte mir voller Stolz den neu eingerichteten Seziersaal, vor dem Gebäude wartete ein Trüpplein Bauern darauf, den Großvater sehen zu dürfen, darunter ein altes Weib mit einem dürftigen Blumenstrauß, offenbar die Witwe, die Großmutter. Im Seziersaal lag der Großvater, ausgeweidet, auf anderen Seziertischen zwei weitere männliche Leichen, die Hirne in Schüsseln. Am Großvater und an einer anderen Leiche arbeiteten Assistenzärzte, die dritte wurde von einem Angestellten zusammengenäht, roh, als arbeite ein Sattler, die Leiche hopste. »Nicht so grausig«, bemerkte der Pathologe, wohl etwas verlegen über meine Gegenwart, »arbeiten Sie nicht so grausig!« Er fragte nach der Diagnose, die man dem Bauern in der medizinischen Abteilung gestellt hatte, bevor er starb, fragte nach dessen Alter – achtzig –, meinte, der könnte sich in der Rekrutenschule eine Syphilis geholt haben, er wolle doch sehen, wühlte in den Därmen des Großvaters. Neben dem Seziertisch stand eine Waage, wie sie in einer Metzgerei auf dem Verkaufstisch steht – sogar die Preise gab sie noch an. Einer der Assistenzärzte wog eine Leber. In der Tür erschien kurz ein Chirurg, Zigarette im Mundwinkel, erkundigte sich nach dem Befund dessen, der da eben zusammengenäht wurde, auf und ab hopste, die Diagnose war falsch gewesen. Darmdurchbruch, das stimmte, doch Nierenkrebs, Metastasen im Darm, der Chirurg verzog sich wieder, leicht indigniert. Der Pathologe triumphierte, rief die beiden Assistenzärzte herbei, an den Darmwänden hatte er Spuren einer alten Syphilis gefunden, typische Flecken, Sensation, eine Syphilis in einem so prachtvoll entwickelten Stadium war selten geworden, der Pathologe verlangte das Hirn zu sehen. In welcher Schüssel? In dieser? Nein, in jener. Auch hier Anzeichen von Syphilis, fabelhaft, eine durch sie verursachte Gehirnblutung hatte zum Tode geführt, nicht die diagnostizierte Lungenentzündung – welche Diagnose stimmt schon, reine Glückssache, wenn einer Nierenkrebs hatte, konnte es auch der andere haben. Der Pathologe wühlte im Unterleib des Großvaters, auch ein Nierenkrebs, erklärte er beglückt, die Duplizität der Fälle, das passiere ihm immer wieder, und der Angestellte meinte, statistisch gesehen hätten sie zwölf Leichen zuwenig, der Pathologe tröstete ihn, im Dezember hole man das Manko schon ein. Während all des Makabren, wissenschaftlich Emsigen, während des ganzen, durchaus nicht unfröhlich medizinisch-kriminalistischen Unterfangens weilte ich, abwesend, verstummt, wieder in meinem Dorf, sah ich die Schlächterei vor mir, spürte ich den Geruch von Wasser und Blut, den ich gerochen hatte vor mehr als vierzig Jahren, als damals die großen unschuldigen Tiere neben meinem Elternhaus zusammensanken und ihr Blut in dunklen Strömen in den Rinnstein floß.

 

Er entsprach nicht den Vorstellungen, die ich mir von einem Maler gemacht hatte. Er besuchte uns bisweilen, war sorgfältig gekleidet und trank mit uns im Gartenhaus Limonade. Meine Mutter sagte, er sei reich und unglücklich verheiratet, weil seine Frau eifersüchtig sei. Er hatte sich auf Landschaften spezialisiert, die sich mit Vorliebe um Gotteshäuser gruppierten. Eine solche hing in der Studierstube, wohin wir gerufen wurden, Geständnisse abzulegen, die mein Vater bekümmert und schweigend entgegenzunehmen pflegte. Das Bild, in Pastell, stellte eine ungemein grüne Wiese vor dem Kirchlein der ersten Gemeinde meines Vaters, Amsoldingen, dar. Andere Bilder kaufte ihm mein Vater nicht mehr ab. Dafür hing in seiner Studierstube die farbige Kopie eines Rembrandt in Originalgröße. Mein Vater hatte sie zum Staatsexamen erstanden: der Mennonitenprediger Cornelius Claesz von Anslo, beim Kerzenschimmer eine alte Frau tröstend. Ich liebte das Bild nicht. Cornelius Claesz glich dem immer reicher werdenden Inspektor der Mohammedaner-Mission. Ein anderer Kunstmaler wohnte irgendwo, vielleicht unter oder hinter dem Ballenbühl oder über dem Dörfchen Ursellen, genau wußte ich es nicht. Ich sah ihn einige Male im Jahr vor unserer Haustüre im Garten auf der Bank schlafen, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, der Entschluß, ein neues Leben zu beginnen und bei meinem Vater zu »unterschreiben« – wie der Beitritt zum Blauen Kreuz genannte wurde –, hatte ihn viele Schnäpse gekostet. Mein Vater ließ den Kunstmaler ausschlafen, er störe niemanden, und gegen Abend unterschrieb er dann, daß die Bekehrung selten mehr als eine Woche dauerte, kümmerte meinen Vater nicht, auch wenn er nur eine Woche nicht saufe, sei das schon ein Fortschritt. Dann tauchte ein dritter Kunstmaler im Dorf auf. Er war von Basel zurückgekehrt, wohin er zur Ausbildung geschickt worden war, nachdem mein Vater seine Eltern davon überzeugt hatte, daß Kunstmalerei ein anständiger Beruf sei. Er bildete meine Schwester und mich auf altertümliche Weise ab. Die Porträts sind in Öl auf Holz gemalt, ein Geschenk des Kirchenrats, im Hintergrund zeigt sich die bewaldete Hügellandschaft samt einigen Bauernhäusern in der Nähe des Dorfes. Ich habe den Maler als stattlichen, noch jüngeren Mann mit großen Augen und wildem Haar in Erinnerung. Zu meiner Enttäuschung malte er Landschaften, während mich Rembrandts Radierungen und Dürers Holzschnitte zur Apokalypse beeindruckten, das Hundertguldenblatt, die Kreuzigung in drei verschiedenen Fassungen: die Finsternis, über das Geschehen fallend, der Engel auf Feuersäulen einherschreitend, der Erzengel Michael seinen Speer in den Drachen stoßend, die Todesengel die Menschen hinmordend. Die Bilder stürzten auf mich ein. Sie ließen mich nicht mehr los. Ein Arzt, der eben erst im Dorf seine Praxis eröffnet hatte, lieh mir einen Band über Peter Paul Rubens, wohl nicht ohne Humor: meine Eltern waren verlegen über so viele Fleischmassen. Mich aber begeisterte die ›Amazonenschlacht‹, dieses tolle Durcheinander von Menschen und Rossen auf der Brücke, das Zuschlagen und Zustechen, wild schlägt Theseus zu, das Angreifen der Athener und das Flüchten der Amazonen, die in den Fluß stürzenden Pferde- und Frauenleiber, und selbst die Wolken schienen sich im düsteren Himmel zu bekämpfen; doch noch mehr beeindruckte mich die ›Löwenjagd‹, eine ›Menschenjagd‹ eigentlich, sind es doch die zwei rasenden Bestien, die über die Menschen herfallen, die sich verzweifelt wehren; der anspringende Löwe, die fauchende Löwin. Auch ein Buch über Arnold Böcklin, das mir der Arzt lieh, betrachtete ich stundenlang, immer wieder: der Faun, zwischen dem Schilf hervorgrinsend, die grellen Sonnenflecke, der ungeheure Drache aus einem Felsloch kriechend, die zwei Zentauren ineinander verkrallt über den Boden rollend, während ein dritter Roßmensch einen gewaltigen Stein über die beiden schmettert. Später fand ich in der Bücherwand der Studierstube Herman Grimms illustrierte Michelangelo-Biographie: das Jüngste Gericht, das Aufsteigen der Seligen, das Heruntersausen der Verdammten, der Höllenfürst Minos, von Schlangen umwickelt, deren eine in sein Geschlecht beißt, Charon, der mit seinem Ruder zuhaut. Ich begann, Michelangelo nachzuahmen. Mit den Frauen wußte ich weniger anzufangen: etwas Busen und lange Haare, noch spielten die Frauen in meiner Phantasie keine Rolle. Ich hielt es für unwürdig ›abzuzeichnen‹, mich an der Natur zu üben, beobachten zu lernen, ich meinte, ein Maler bewältige alles aus der Vorstellungskraft, was ich zeichnete, war jenseits von jeder anatomischen und biologischen Glaubwürdigkeit; es bedeutete etwas, das genügte, und so unbeschwert zeichne und male ich noch heute. Als ich Varlin eines meiner wenigen Ölbilder zeigte, die ›Katastrophe‹, entstanden 1968, starrte der große Maler überrascht auf das Gemälde und wollte nicht so recht glauben, was er da sah: In einer Schlucht auf einer Brücke prallen zwei mit Passagieren überfüllte Eisenbahnzüge in voller Fahrt zusammen; ein jeder aus einem Tunnel schie- ßend, ins Freie und ins Verderben rasend, prasseln sie auf eine weitere, tiefer gelegene Brücke, über die sich ein kommunistischer Umzug wälzt, so daß Brücken, Eisenbahnzüge, Passagiere und Kommunisten auf eine Wallfahrtskirche stürzen, die sich im Grund der Schlucht befindet und die ihrerseits im Zusammenbrechen unzählige Pilger unter sich begräbt, während oben, über der Schlucht, im blauen Frühlingshimmel die Sonne mit einer zweiten Sonne zusammenkracht, den allgemeinen Untergang der Erde und des ganzen Planetensystems einleitend. Varlin schwieg, und dann meinte er endlich, nicht ohne Sorge: »So was sollte ein erwachsener Mensch nicht malen.«

 

Ich gebe zu, Varlin hatte recht. Das eigentliche Abenteuer des Malens und Zeichnens, die Auseinandersetzung mit dem Objekt – darum porträtiere ich am liebsten – entdeckte ich erst spät, als mir aufging, daß Malen und Zeichnen nicht ein Abmalen und Abzeichnen sind, sondern ein Schildern; trotzdem gebe ich immer wieder meiner alten Neigung nach und zeichne und male aus der Phantasie. Auf meinem Schreibtisch liegt neben meinem Manuskript ein weißer Karton, lange unberührt; flüchtig gleitet einmal der Stift darüber, schnell ist etwa im Vordergrund eine Stadt skizziert, dahinter, noch hinter dem Horizont, zwei ungeheure Tiere, die sich bekämpfen, am Himmel Milchstraßensysteme; dann lasse ich das Blatt liegen, oft tagelang; irgendwann einmal beginne ich mit der Feder zu kritzeln, vorerst mit vielen Strichen etwas Himmel auszufüllen, plötzlich erfaßt mich die Leidenschaft, es ist, als erschaffe sich aus diesem Nichts, aus der weißen Leere des Kartons, von selbst eine Welt. Ich zeichne eine Nacht hindurch, zwei, ohne zu ermüden. Nie könnte ich das beim Schreiben. Das Bild entsteht unmittelbar vor mir, manchmal hefte ich es an die Wand, trete zurück, betrachte es von weitem, lege es auf den Schreibtisch, nehme eine Rasierklinge, schleife das Bild ab, hefte es wieder an die Wand, das Bild ist besser, doch nicht mehr so intensiv, ich lege es aufs neue auf den Schreibtisch – eigentlich wollte ich die Nacht durch schreiben –, arbeite mit dem Pinsel, dann mit der Feder, korrigiere mit der Rasierklinge, schabe von neuem, ziehe mit der Feder eine Linie nach, hefte das Bild an die Wand, trete zurück, das Hin und Her dauert bis in den Morgen. Überzeugt, die Federzeichnung sei jetzt in Ordnung, trotte ich müde den Garten hinab zum Wohnhaus, die Hunde folgen mir schläfrig, kaum daß ich den bleiernen See bemerke, die fernen, in der Frühe wie durchsichtigen Alpen, den mächtigen, sich aufhellenden Himmel. Doch schon vor dem Mittagessen arbeite ich an der Zeichnung weiter, obgleich ich doch zu schreiben hätte, aber ich habe der Versuchung nicht widerstehen können, die Zeichnung zu betrachten, nur noch ein Detail ist zu ändern, beim Zeichnen ändere ich ein zweites, ein drittes, rahme die Zeichnung ein, überzeugt, nun sei sie fertig, hänge sie an die Wand, jetzt erst sehe ich den entscheidenden Fehler. Bei einem Theaterstück ist dieses Zurücktreten erst in den letzten Proben möglich, Änderungen sind dann kaum mehr zu machen, verzweifelt korrigiert man Kleinigkeiten, die wesentlichen Fehler sind irreparabel, wie Schuppen ist es einem von den Augen gefallen, die entscheidenden Fehler sind meistens aus einem Verhältnisblödsinn heraus entstanden: man setzte beim Schreiben etwas voraus, was beim Zuschauer nicht vorauszusetzen war; und wenn man endlich dahintergekommen ist, wie es zu machen gewesen wäre, ist das Stück schon durchgefallen. Mein Kredit, den ich einmal auf der Bühne besaß, ist durch Lächerlichkeiten verspielt worden. Bei der Prosa ist dieses ›Zurücktreten‹, dieses ›Überschauen-Können‹ noch schwieriger. Die Prosa treibt im Zeitfluß dahin und davon. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dahintreiben zu lassen. Das Floß einer Konzeption zu zimmern, habe ich stets unterlassen; wie ich ›drauflos zeichne‹, schreibe ich drauflos, nur sind die Folgen beim Schreiben schwerer: eine Unterbrechung, eine kurze Reise usw. –, und ich bin nicht mehr im Zeitfluß. Und so beginne ich immer wieder von vorne, korrigiere das schon Geschriebene durch, schreibe es um. Scheint die Prosa endlich beendet, gilt es, sie druckfertig zu machen, geht es bei der ›Endkorrektur‹ auch nicht anders: immer ein neues Sich-Hingeben an die Zeit, die jedes Geschriebene davonträgt. Was ich ändere, entspricht einer neuen Zeitwelle, lese ich das zur Schrift Erstarrte wieder, möchte ich es auch schon geändert haben, nichts Schwierigeres, als Geschriebenes zu akzeptieren, darum der Widerwille gegen das Korrigieren, das mich zwingt, immer wieder zu korrigieren, immer noch einmal, immer wieder das letzte Mal. Zwar ist auch an einem Bild immer noch Wesentliches zu verändern, aber es ist zeitlos in seiner Unmittelbarkeit und so immer unter Kontrolle: Die Tiere und die Stadt sind zu verwachsen, die Tiere scheinen auf der Stadt zu lasten, wie ich nach Wochen sehe; ich brauche aber nicht neu zu beginnen, wieder in den ›Zeitfluß‹ zu tauchen. Ich schabe mit dem Skalpell eine Nebeldecke über die Stadt, aus der die Tiere steigen, die damit, in die Tiefe gerückt, gewaltiger werden, dann kratze ich jähe Lichtstrahlen in die Milchstraßensysteme, explodierende Supernovae. Während ich tuschzeichne, kratze und schabe, brüllen aus dem Lautsprecher Symphonien, Quartette, um mich anzufeuern, ich höre nicht hin, in mir sind alle Bilder, die ich gezeichnet und gemalt habe; glücklich, frei, erlöst vom Schreiben, von dieser ständigen unsäglichen Konzentration, forme ich eine Milchstraße dichter, lasse eine weitere in der Finsternis des Alls nur noch erahnen. Andere Bilder nehme ich nach Jahren von der Wand meines Schlafzimmers, endlich habe ich den Fehler entdeckt: Ich hatte den Turm zu Babel als halbfertige ungeheure Statue einer Frau dargestellt, aber von weitem sieht die Zeichnung doch nur wie die unfertige Statue einer Frau aus, ich arbeite an der Stadt, am Hintergrund, es nützt nichts; jahrelang scheint die Zeichnung mißglückt, dann begreife ich und zeichne in die Frau Wohnungen hinein, verwandle sie immer mehr in einen Turm, nun scheint es, als seien zwei Architekten am Werk, der eine will einen kolossalen Turm, der andere die Kolossalstatue einer Frau errichten. Oder dann stehe ich in der Nacht auf und pinsle am ›Weltall-Bild‹ in der Halle, um nach einer Stunde das Bild neu zu datieren – jetzt ist es fertig; wieder im Bett, weiß ich schon, was ich am andern Morgen ändern werde. Zwar zeichne und male ich dann wieder monatelang nicht, ja jahrelang, während ich, seit ich Schriftsteller bin, immer geschrieben habe, doch kehre ich, wenn ich male oder zeichne, stets in meine Kindheit zurück, die einzige Rückkehr, die möglich ist – jene zur Schöpferkraft des Kindes. Und immer noch scheint mir bisweilen, ich hätte der Versuchung des Schreibens widerstehen und bei der Malerei bleiben sollen. Im Dorf zeichnete und malte ich zuerst mit Farbstiften auf der Rückseite von auseinandergebreiteten Todesanzeigen. Mein erstes Bild in Deckfarben entstand im Atelier des Dorfmalers, mitten zwischen großen Studien, die er von Basel mitgebracht hatte. Er schenkte mir einen stabilen Karton, 1 m × 1 m. Ich malte die Schlacht von Sankt Jakob an der Birs und verbrauchte mehrere Tuben Zinnoberrot. Dann pinselte ich, kühner geworden, die Sintflut mit viel Kobalt- und Preußischblau, ein Gemälde, das der Dorfschreiner vor Begeisterung über meine künstlerischen Fähigkeiten einrahmte, meinen konsternierten Eltern schickte er dafür eine Rechnung, die ihren Begriffen nicht entsprach; er hatte für den Rahmen das beste Holz gewählt und es sorgfältig poliert. Ich malte und zeichnete weiter, illustrierte die Nibelungen, König Laurins Rosengarten und Gotthelfs Schwarze Spinne. In der Primarschule stand der Lehrer Gribi oft hinter mir, schweigend, ohne daß ich es bemerkte, er schaute zu, wie ich, statt zu rechnen, auf meine Schiefertafel die Seeschlacht von Salamis zeichnete oder den Untergang der Spartaner bei den Thermopylen. 1933 erhielt ich vom ›Pestalozzi-Kalender‹ für eine Zeichnung, ›Die Schweizer Schlacht‹, eine Zenith-Uhr. Die Zeichnung wurde abgebildet, und ich war so aufgeregt, als ich vor der Haustüre die Uhr auspackte, daß sie auf den Steinboden fiel. Sie war nicht mehr zu reparieren.

 

Das Kindergefängnis, das wir Schule nennen, angeblich eingerichtet, um den Kindern jene Bildung beizubringen, die sie nach der Einbildung der Erwachsenen haben sollten, um durch das Leben zu kommen, brachte, unterstützt von den Eltern und den Lehrern – sogar Gribi wurde einmal energisch –, auch mich nach und nach zur Strecke: Ich begann zu lesen. Was nicht selbstverständlich war. Wir Kinder sprachen das Landberndeutsch, das ich jetzt noch spreche, oft zum Entsetzen meiner Mutter, die stolz war, ein »schönes« Berndeutsch zu sprechen, »Stadtberndeutsch«. Sie war eine Bauerntochter und kam mir, was ihre Sprache anging, immer ein wenig wie eine Verräterin vor, während mein Vater leicht »anders« sprach, aber er war eben im Bernbiet »woanders« aufgewachsen, und somit war seine Sprache in Ordnung, wenn wir auch über einige Wörter lachten, die er gebrauchte. Gar nicht Berndeutsch war nun das Deutsch, das wir in der Schule lernen mußten. Dieses Deutsch war Schriftdeutsch und eine Fremdsprache, und was wir in der Schule lesen mußten, war weit weniger spannend, als was erzählt wurde, und was erzählt wurde, wurde auf Berndeutsch erzählt. Mein Vater, um meinen Stoffhunger zu befriedigen, war von den Griechen zu Hauff übergewechselt, von Hauff zu Gotthelf, ja er las sogar den alten Musäus, um mir davon erzählen zu können. Er bedachte nicht, daß er mich dabei am Lesen hinderte, denn was wir lesen sollten, war jene Lektüre, die die Erwachsenen bei den Kindern gerne sehen, weil sie sich wünschen, die Wirklichkeit des Kindes wäre so, wie die Jugendschriftstellerinnen sie darstellen. Ich mußte wie die anderen im Dorfe Christeli, Die beiden B und Heidi lesen, dabei hatte ich die Nibelungen und die Schwarze Spinne im Kopf; und wie den anderen verleidete mir die Schule den Robinson Crusoe, und vom Lesebuch weiß ich nur noch, daß es rot eingebunden war. Zwar stöberte ich, die Bibliothek meines Vaters gründlicher erforschend, Shakespeares Ausgewählte Werke ›samt beinahe vierhundert Abbildungen‹ auf, ich schaute mir die Illustrationen immer wieder an, die geheimnisvollen Sätze darunter beschäftigten meine Phantasie: »Derweil mein Mund dir nimmt, was er erfleht.« – »Nichtswürdiger, beweise es mir ja, daß meine Gattin eine Buhlerin!« – »O still! halt ein! sieh, wie’s da wieder kommt.« – »Ha, ha, sieh, er trägt harte Hosenbänder.« – »Mein Geist beginnt zu schwärmen. Komm, mein Junge.« – »Wie blutig über jenen busch’gen Hügel die Sonne blickt hervor.« – Aber weil ich den Zusammenhang nicht begriff, ließ ich sie liegen, ebenso die reich bebilderten Velhagen-&-Klasing-Bände über die Wiedertäufer und über Babylon und Ninive – ahnungslos, daß auch sie einmal wichtig für mich würden – und einen seltsamen Bildband über die Türken. Dann begann die Welt der Sagen zu versinken. Mit der Pubertät rückten andere Heroen ins Feld, nicht mehr griechische und eidgenössische, andere Stoffe beschäftigten meine Phantasie: zuerst ein religiöser Abenteuerroman, John Bunyans Pilgerreise,1660–1672 von einem englischen Laienpriester im Gefängnis geschrieben, »für den gläubigen Engländer auch heute noch nur der Bibel an Bedeutung nachstehend« (Großer Brockhaus,1953), die Wanderung eines Mannes namens Christ aus der Stadt Verderben nach dem Himmlischen Jerusalem. Daß darauf meine Eltern Karl May skeptischer gegenüberstanden, verwunderte mich, ging es doch bei ihm nicht minder fromm zu, auch hatten sich die Abenteuer kaum verändert: bekämpft bei Bunyan Christ im Tal der Todesschatten den Teufel, so wird bei Karl May Winnetou im Krater des Berges Hancock von Santer abgeknallt. Ein pensionierter Zuckerbäcker lieh mir die dunkelgrünen Bände der Gesamtausgabe. Er wohnte in der Grünegg, hieß Bütikofer und war ein stattlicher, zuckerkranker Mann mit einem schwarzen Bart. Bei ihm fühlte ich mich mehr zu Hause als bei meinen Eltern. Er rückte Band um Band heraus, und ich durfte die Bände heimnehmen und weiterleihen, man riß sich um sie; daß die Bände zerlesen zurückkehrten, machte ihm nichts aus. Ich las sie alle. In der Veranda bäuchlings auf dem Kanapee liegend, das wir aus dem Schlößchen des so grausam erfrorenen Aristokraten erstanden hatten, las ich meiner Mutter Winnetous Tod vor, mit verhaltener Stimme; Tränen in den Augen, als ich merkte, daß ihr Schluchzen Lachen war. Am meisten beschäftigte mich die Totenstadt in Ardistan und Dschinnistan. Der benachbarte Friedhof machte sie mir vertraut. In der Schulbibliothek fanden sich Jules Vernes Geheimnisvolle Insel und Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Ich stieg, wie einst Herkules in den Hades, mit Professor Lidenbrock vom isländischen Krater Sneffels in ein unermeßliches Höhlensystem hinab, überquerte ein immenses unterirdisches Meer, an dessen Ufern Pilzwälder standen und Mammutherden weideten, von Urmenschen bewacht. So fand ich in jener Literatur, von der nie gesprochen wird, die fast jeder in seiner Jugend liest und die das spätere Schaffen mehr prägt, als wir ahnen, all die Taten der Sagen und der Geschichte, des Glaubens und des Wissens wieder, von denen die Erwachsenen erzählt hatten. Von dem aber, was die Erwachsenen verschwiegen, zeugte ein geheimnisvolles rotes Buch, das der Sohn des Gärtners besaß, mit nackten Frauen darin und Mönchen, die an die Brüste von Nonnen griffen; auch das wanderte herum, es roch geradezu nach den Spermen all jener, die es beim Lesen in der linken Hand gehalten hatten. Und von der Welt, von der die Erwachsenen wenig wußten, wie wir glaubten, von der Welt jenseits des Dorfes und der nahen Stadt, jenseits des Ferienkurorts in den Bergen, berichteten kleine Hefte: John Klings Abenteuer, die wir am Bahnhofskiosk erstanden. Daß es diese Welt wirklich gab, bewies ein Zweidecker, der einmal auf der Ebene beim ›Inseli‹ landete und über die Felder holpernd endlich zum Stillstand kam. Das ganze Dorf rannte herbei. Aber auch im Zeppelin, der riesengroß, glitzernd und majestätisch über der nahen Stadt schwebte, konnten wir uns John Kling vorstellen, der in den Korridoren des Luftschiffs zigarrenrauchend Verbrechern nachjagte. Wir kamen angeradelt, und als der Zeppelin wieder entschwand, mußten wir zu Fuß nach Hause, ein ungeheurer Schneefall hatte das vorsommerliche Land bedeckt. Durchfroren kroch ich ins Bett zu meinen Heften, die ich im Schein der Taschenlampe las. Sie erzählten von großen Bösewichten, von unermeßlich reichen Bankiers, von Waffenhändlern, Gangsterchefs und Nabobs, die über Goldminen, Ölfelder und Finanzimperien regierten, Politiker bestachen und Völker ausbeuteten. Die unzähligen Hefte wanderten in der Sekundarschule von Hand zu Hand, geheim, denn die Lehrer versuchten, sie zu unterdrücken, der Meinung, für uns sei das ›gute Jugendbuch‹ die einzig richtige Lektüre: Als der Deutschlehrer mein Pult untersuchte, fand er ganze Stöße der verfemten Hefte. Zum Glück hatte ich die gelesen und nicht die Jugendbücher, denn der Kitsch brachte uns die Binsenweisheit bei, daß die Welt der Erwachsenen in Unordnung war, nicht die der Kinder, und es kam mir vor, als hätte der liebe Gott mit seinen zehn Geboten die Hauptschurkereien gar nicht geahnt, zu denen der Mensch fähig ist: Ich begann am Weltgebäude meiner Jugend zu rütteln, allzu schnell sollte es einstürzen.

 

Dem Dorf begegnete ich dann noch zweimal: Wir waren unterwegs zum Maler Varlin. Es war angezeigt auf einer blauen Tafel über der Autobahn. Wir fuhren vorbei. In Bondo blieben meine Frau und ich einige Tage. Von Varlins letzten Werken machte mir vor allem ein schmutzig ockerfarbenes, hochformatiges, doch nicht sehr großes Bild Eindruck, das tief im Raum oder im Leeren eine krepierende oder krepierte dicke, weiße Hündin mit einigen schwarzen Flecken zeigte. Ich wollte es erstehen, doch Varlin verlangte einen Preis, den ich mir nicht leisten konnte. Als ich mit Varlin nach Soglio hinauffuhr, erzählte er mir von seiner Krankheit, von der er genesen sei, doch als er mir berichtete, wie man ihn behandelt hatte, wußte ich, daß er verloren war. Er wollte mich noch malen. Sein Atelier war eine Art Scheune, voller Bilder riesigen Formats. Die Luft war stickig und heiß. Die überdimensionierten Bilder beunruhigten mich; erst viel später begriff ich, daß er sich damit gegen sein Sterben zur Wehr setzte. Ein Ausdruck seines Kampfes, von dem er wußte, daß er ihn verlieren werde, war auch, daß er mich und später seinen Freund Ernst Schröder auf dem entsetzlichen Bett hingestreckt