Storm Singer. Die schwebende Stadt - Sarwat Chadda - E-Book

Storm Singer. Die schwebende Stadt E-Book

Sarwat Chadda

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Beschreibung

Eine epische Reise zur Stadt über den Wolken

Die zwölfjährige Nargis hat eine außergewöhnliche Gabe: durch ihren Gesang kann sie Elementargeister beeinflussen – auch wenn dies des Öfteren schiefgeht. So bricht beispielsweise im Dorf versehentlich ein großes Feuer aus, als Nargis beim Drachensteigen zu den Windgeistern singt ... Als sie eines Tages über einen verletzten geflügelten Jungen stolpert, ändert sich ihr Leben schlagartig. Der Junge Mistral gehört dem herrschenden Luftvolk der Garudas an, die Menschen wie Nargis unterdrücken. Doch er braucht dringend Hilfe, denn sein Vater, der Regent, ist entführt worden – und nun droht etwas noch Schlimmeres an die Macht zu kommen. Trotz ihres Misstrauens entschließt sich Nargis, Mistral auf seiner Mission zu begleiten. Sie ist neugierig auf die Welt fernab ihrer Heimat – und vielleicht kann sie mit ihrer Elementarmagie endlich etwas bewirken? Das Ziel der beiden ist die sagenumwobene schwebende Stadt. Dort wird nicht nur Mistrals Vater vermutet, sondern auch der Grund dafür, dass es den Leuten in Nargis' Heimat so schlecht geht …

Bildgewaltig erzähltes Fantasy-Abenteuer mit hohem Suchtpotenzial

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Seitenzahl: 398

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Die zwölfjährige Nargis hat eine außergewöhnliche Gabe: Durch ihren Gesang kann sie Elementargeister beeinflussen – auch wenn dies des Öfteren schiefgeht. So bricht beispielsweise im Dorf versehentlich ein großes Feuer aus, als Nargis beim Drachensteigen zu den Windgeistern singt ... Als sie eines Tages über einen verletzten geflügelten Jungen stolpert, ändert sich ihr Leben schlagartig. Der Junge Mistral gehört dem herrschenden Luftvolk der Garudas an, die Menschen wie Nargis unterdrücken. Doch er braucht dringend Hilfe, denn sein Vater, der Regent, ist entführt worden – und nun droht etwas noch Schlimmeres an die Macht zu kommen. Trotz ihres Misstrauens entschließt sich Nargis, Mistral auf seiner Mission zu begleiten. Sie ist neugierig auf die Welt fernab ihrer Heimat – und vielleicht kann sie mit ihrer Elementarmagie endlich etwas bewirken? Das Ziel der beiden ist die sagenumwobene schwebende Stadt. Dort wird nicht nur Mistrals Vater vermutet, sondern auch der Grund dafür, dass es den Leuten in Nargis’ Heimat so schlecht geht …

Zum Autor

Als langjähriger Gamer beschloss Sarwat Chadda seine Leidenschaft für überdrehte, wilde Abenteuergeschichten auszuleben, indem er eine stabile zwanzigjährige Karriere als Ingenieur gegen eine höchst instabile, brandneue Karriere als Schriftsteller eintauschte. Seitdem wurde er in einem Dutzend Sprachen veröffentlicht, schrieb Comics, Fernsehsendungen und Romane. Mit seiner Frau, zwei mehr oder weniger erwachsenen Töchtern und einer unnahbaren Katze lebt er in London. Und, ja, er spielt immer noch jeden Mittwoch Dungeons & Dragons.

Sarwat Chadda

Storm Singer

Die schwebende Stadt

Aus dem Englischen von Fabienne Pfeiffer

SCHNEIDERBUCH

Deutsche Erstausgabe

© 2025 Schneiderbuch in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

Originaltitel: »Storm Singer«

Erschienen bei SIMON & SCHUSTER BOOKS FOR YOUNG READERS

An imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division

Text © 2025 Sarwat Chadda

Übersetzung aus dem Englischen: Fabienne Pfeiffer

Das Zitat stammt aus: William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum,

ins Deutsche übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Ditzingen: Reclam 1986.

Coverabbildung und Kapitelvignette: Brandon Dorman

Covergestaltung: Frauke Schneider

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783505153266

www.schneiderbuch.de

Facebook: facebook.de/schneiderbuch

Instagram: @schneiderbuchverlag

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheber/Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.

Für meinen Dad, der nun hoch über allen irdischen Sorgen dahinfliegt

»Und ist entsetzlich wild, obschon so klein.« Ein Sommernachtstraum

William Shakespeare

Ein Blitz um Mitternacht

Fünf Jahre zuvor

Mommy legt einen Finger auf ihre Lippen. »So leise wie ein Mäuschen, Nargis. Verstehst du? So leise wie ein Mäuschen.«

Ich nicke und strecke meine kleine Hand nach ihr aus. »Wir passen beide unter das Bett, Mommy.«

Mommy kniet vor mir. Ihr langes, glattes schwarzes Haar streift den Boden aus festgestampftem Lehm, während sie mir hilft, mich zu verstecken. Sie lächelt, doch in ihren Augen steht Angst. Am liebsten würde ich weinen.

Sie sieht die Tränen kommen und streicht mir über die Wangen. Ihre Finger sind schlank, aber stark; ihre Haut ist rau, aber warm. »Schhh. Schhh. Was habe ich eben gesagt?«

»So leise wie ein Mäuschen«, flüstere ich. Ich rolle mich unter dem Bett zusammen, meine Krücke fest an die Brust gepresst. Meine Fingerspitzen finden die Kerben von Daddys Schnitzereien. Normalerweise verleiht meine Krücke mir Kraft, aber in diesem Moment nicht. Ich fühle mich winzig und schwach. Wie ein Mäuschen.

Es knarzt auf dem Dach unserer kleinen Hütte, etwas kratzt an den getrockneten Palmwedeln, mit denen Daddy und Baba es letztes Frühjahr gedeckt haben. Ob jemand dort oben ist?

Und dann … das Flattern. Die spröden Wedel rascheln, so als würde der Wüstenwind auffrischen. Aber es ist windstill heute Nacht. Woher kommt der Sturm?

Daddy ist draußen. Er redet mit jemandem. Ich weiß nicht, mit wem. Bei uns kommt eigentlich nie jemand vorbei außer dem gierigen Pandit, und die Stimme des Besuchers klingt nicht nach ihm. Pandit grunzt beim Sprechen wie ein Schwein. Diese Stimme dagegen ist hart wie Metall. Sie gefällt mir nicht. Ich schmiege mich enger an meine Krücke.

Mommy drückt meine Hand ein letztes Mal. Ich will sie nicht loslassen, niemals. Ich ziehe an ihr. Sie kann sich auch hier verstecken.

Doch Mommy löst ihre Finger aus meiner Umklammerung und steht auf.

Von unter dem Bett aus beobachte ich, wie sie den Staub von ihrem fadenscheinigen Sari klopft, als wollte sie sich herausputzen, und dann den Blick durch die Hütte schweifen lässt. Unser Zuhause besteht im Grunde nur aus einem einzigen Raum, aber ganz hinten ist ein Bereich mit einem Vorhang abgeteilt – für Baba, wenn er mal hier ist. Die Hütte duftet nach süßen Blumen und bitteren Kräutern. Pflanztöpfe und Einmachgläser drängen sich auf den Regalen, und im Gebälk über unserem großen, klobigen Tisch baumeln Kräuterzweige. Die Schaufel, die Spitzhacke und Daddys andere Geräte für die Farmarbeit stehen alle sorgfältig aufgereiht neben der Tür.

Beinahe wirkt es, als wollte Mommy überprüfen, ob alles an Ort und Stelle ist – oder als wollte sie sich den Raum ins Gedächtnis einbrennen.

Sie zögert, nimmt ein Messer vom Tisch, öffnet dann die Tür und geht hinaus zu Daddy.

Daddys Stimme ist laut geworden. Dabei versucht er doch, niemals wütend zu werden. Wenn er wütend wird, geschehen schlimme Dinge.

Das Dach erzittert. Die Kerzenflammen beginnen zu tanzen. Ich sehe, wie die winzigen Feuergeister, die Afarit, panisch hin und her huschen.

Der Boden bebt, und Risse sprießen im Putz.

Mit einem Mal heult der Wind und die Tür fliegt auf, schwingt zornig in ihren ledernen Angeln.

Ich blinzele, als ein Schwall Sand hereinweht. Ich sehe Daddy, der jemanden außerhalb meines Blickfelds anbrüllt, und Mommy, die versucht, Daddy zu unserer Hütte zu zerren.

Ich will ihnen zurufen, dass sie herkommen und sich bei mir verstecken sollen. Aber ich muss so leise sein wie ein –

Die Tür schlägt so heftig zu, dass Putz von der Wand rieselt.

Ich höre ein Kreischen. So hoch und schrecklich wie Nägel, die über Schiefer kratzen.

Dann schreit Mommy.

Einen solchen Laut habe ich noch nie aus ihrem Mund gehört. Einen Laut, wie man ihn von sich gibt, wenn die eigene Welt in sich zusammenstürzt.

Der Schrei bricht ab. Einfach so.

Die Stille, die folgt, ist furchtbarer als der Schrei.

Der Wind flaut zu einem leeren, hohlen Stöhnen ab. Die Kerzen flackern und verlöschen.

Alles ist ruhig, bis auf mein Herz.

Die Tür öffnet sich einen winzigen Spalt.

Mommy liegt am Boden. Daddy liegt neben ihr. Ich weiß, dass beide nie wieder aufstehen werden.

Ich möchte schreien. Ich möchte weinen. Aber ich muss so leise sein wie ein Mäuschen.

Und dann, kurz bevor mein Herz zerspringt, sehe ich ein gleißendes weißes Licht, das die Dunkelheit durchschneidet.

Ich sehe einen Blitz um Mitternacht.

Kapitel 1

Mein Drachen war etwas Besonderes. Wendiger als ein Falke, stärker als ein Adler und schillernder als ein Eisvogel. Er beherrschte den Himmel. Er war mehr als nur ein Drachen: Er war ein Himmelskrieger. Ein Patang.

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und über der Wüste flirrte die Hitze. Ich saß so bequem wie irgend möglich im Schatten der raschelnden Blätter unseres großen alten Feigenbaums neben dem aus Steinen aufgetürmten Schrein meiner Eltern. Rings um mich verteilt standen und lagen meine Farbeimer, Pinsel und anderen Utensilien. Mein Werk war endlich vollbracht. Langsam drehte ich meinen Patang in den Händen, kostete aus, wie das Licht der noch tiefstehenden Sonne durch das bunte Seidenpapier fiel und einen Regenbogen wie eine Decke über meinen Schoß warf.

Die feurigen roten Wirbel verliehen ihm Zorn. Er würde nicht vor seinen Gegnern zurückweichen, sondern es mit jedem aufnehmen, jederzeit.

Ich hatte ihm außerdem graue Flächen aufgemalt, als Symbol für die Erde, für Kraft und Stärke. Ein Himmelskrieger, ein Patang, muss stark sein.

Dazu kamen geschwungene blaue Linien. Wasser ist kostbar, das weiß jeder.

Und zuletzt natürlich: Wind. Zarte Pinselstriche in Weiß für den Wind. Wind ist Leben, höchstpersönlich – Atem, Lachen, Geheimnisflüstern.

Das Einzige, was nun noch fehlte, war ein Name, doch diese Wahl lag nicht bei mir. Ich würde meinen Drachen verschenken, und zwar an –

Ein Poltern drang aus der Hütte. Es rumste, dann ein Schrei.

Ich lehnte meinen Drachen gegen den Baumstamm. »Baba? Alles in Ordnung?«

»Ich finde meine Hosen nicht!«

»Schau mal auf deinem Kopf nach!«

»Oye!«, rief er gereizt. »Nicht so frech, junge Dame! Ich bin dein Großvater und verdiene Respekt! Ich muss – Ah. Vergiss es!«

Es wäre nicht das erste Mal, dass Baba sich nach dem Aufwachen das erstbeste Kleidungsstück geschnappt und um den Kopf gewickelt hätte in der Annahme, es handele sich um seinen Turban.

Die Tür der Hütte schwang auf und Baba kam herausgehüpft. Während er noch damit beschäftigt war, seine Hosen zu binden, baumelte ihm der Turban lose vom kahlen Kopf. »Sitz nicht einfach untätig herum, Nargis! Hilf mir! Was machst du da –? Oh.« Er griff nach meinem Drachen und begutachtete ihn mit Kennerblick. Er drückte die Außenstäbe nach innen, testete die Biegsamkeit des Bambusrahmens, ließ ihn zurück in die Ausgangsform springen und suchte das Seidenpapier akribisch nach winzigsten Rissen ab. »Hervorragend, ein wahrer Patang. Hast du schon einen Namen für ihn?«

»Du weißt, ich baue sie nur, Baba.«

»Natürlich, natürlich.« Baba kratzte sich am Kinn und sein Blick schweifte nach Norden. »Der Wind bläst schon die ganze Woche aus dem Aithon herunter. Perfekt für die Drachensaison. Hast du den Sturm letzte Nacht mitbekommen?«

»Ich habe eine Sternschnuppe gesehen. Sie ist direkt aus den Wolken gefallen.«

»Und hast du dir etwas gewünscht?«, fragte er und mühte sich dabei mit seinem Turban ab. »Was stimmt denn bloß nicht mit diesem Stoff?«

»Mit dem Stoff ist alles in Ordnung. Dein Kopf ist bloß völlig unförmig.«

Baba grinste und entblößte dabei die wenigen Zähne, die ihm noch geblieben waren. »Das liegt an meinem Gehirn – es dehnt sich immer weiter aus, bei all den tiefsinnigen Gedanken, die mir ständig kommen! Jedenfalls: Hast du? Dir etwas gewünscht?«

»Na klar.«

»Und was?«, wollte er wissen.

»Das Übliche. Regen.«

Baba schnaubte. »Regen? Hier? Träum weiter, Mädchen.«

Ich kniff die Augen zusammen, um ihn genauer betrachten zu können. Seine Arzneitasche hing von seiner knochigen Schulter. »Willst du irgendwo hin?«

»Nach Lalpani«, erwiderte er und legte seinen Turban noch einmal neu um den Kopf. »Pandits Pfirsichbaum kränkelt.«

»Unser Pfirsichbaum. Er hat ihn von uns gestohlen. Von Dad.«

»Nargis –«

»Schau dich um, Baba. Sieh nur, wo wir leben.«

»Es ist für alle einfacher, wenn wir außerhalb von Lalpani wohnen. Wir haben hier doch alles, was wir brauchen, oder etwa nicht?«

Ich ließ den Blick verdrossen über unsere kleine Farm wandern. Die Hütte aus Lehmziegeln war so alt, dass die Wände sich bereits nach innen neigten, und die Palmwedel, die das Dach bedeckten, mussten dringend ausgetauscht werden. Ich war in einem fort damit beschäftigt, Sand aus dem Kräutergarten zu fegen, denn die niedrige Steinmauer hielt den Wind nicht im Geringsten davon ab, uns die umliegende Wüste in die Beete zu schaufeln. Vor dem Morgengrauen hatte ich die Wasserfurchen geschwemmt, die zu unserem kleinen Gemüsebeet führten, und dafür Eimer um Eimer aus dem Brunnen gezogen, doch die Morgensonne hatte alles längst wieder ausgetrocknet. Unsere Tomaten waren winzig, und im gelb blühenden Senfbeet gewann das Unkraut die Oberhand. »Wir verdienen etwas viel Besseres.«

Er seufzte. »Eines Tages sollst du alles haben, das verspreche ich. Kein Salwar Kamiz aus Flicken mehr – sondern Saris aus goldener Seide, und als Ohrringe wirst du Rubine tragen statt dieser Blechanhänger.«

»Mir gefällt das Geräusch, das sie machen.« Ich schüttelte den Kopf und ließ meine Ohrringe klimpern.

Rubine wollte ich überhaupt nicht. Ich wollte Diamanten.

Diamanten, die aus den Wolken fielen.

Regen.

Ich schloss die Augen und wandte mein Gesicht zum Himmel, stellte mir vor, wie Regentropfen auf meine Haut trommelten und mich bis auf die Knochen durchnässten.

Baba klopfte den Staub von seinen Sandalen. »Wie wäre es, wenn du dir mal die Haare kämmen würdest? Du schaust immer aus, als ob – Moment mal.« Er verengte argwöhnisch die Augen. »Was hast du dir da um die Stirn geschlungen?«

»Das? Damit halte ich mir bloß die Haare aus den Augen.«

»Du glaubst wohl, ich habe nur Grütze im Kopf.« Baba packte das lose Ende und ruckte fest daran.

»Aua, Baba!«

Er wedelte das lange Band vor meinem Gesicht hin und her. »Eine Zwille? Wie oft müssen wir darüber noch diskutieren? Ich versuche, eine ehrbare junge Dame aus dir zu machen, Nargis!«

»Ehrbar, Baba? Wir werden niemals ehrbar sein!« Ich schnappte ihm die Zwille aus der Hand und band sie mir wieder fest um den Kopf. Mit einem Extraknoten. »Du würdest ›ehrbar‹ nicht mal erkennen, wenn es dir aus den großen haarigen Ohren wuchern würde! Apropos: Die Haare müssen gekürzt werden! Soll ich die Schere holen?«

»Ich mag meine Ohren haarig. Und wofür brauchst du eine Zwille? Nicht für die Vögel, will ich hoffen! Du kennst das Gesetz. Die Patels mussten zur Strafe einen Sack Reis abgeben, als ihre Katze einen Spatz gerissen hat. Einen Spatz!«

»Ich verscheuche damit nur die Vögel aus unserem Garten, das ist alles. Sonst würden sie alle Samen fressen. Ich ziele immer daneben, Ehrenwort. Oder du stellst dich den ganzen Tag ins Beet. Das würde vielleicht auch funktionieren.«

»Wieso sollte ich – Oh. Als Vogelscheuche. Verstehe. So also siehst du deinen geschätzten Großvater, ja?« Seine Unterlippe bebte, während er sich nicht vorhandene Tränen fortwischte. »Oye, was habe ich nur getan, um ein solches Enkelkind zu verdienen?«

»Ich folge bloß deinem Beispiel, Baba.«

»Dann bin ich also schuld?« Er strich seine buschigen Augenbrauen glatt. »Ich dachte vorhin, ich hätte jemanden singen gehört.«

»Moms Lied. Das habe ich beim Gießen gesungen.« Ich blickte sehnsüchtig zum klaren Himmel hinauf. Nicht das kleinste Wölkchen. »Eines Tages wird es funktionieren.«

Baba lächelte versonnen. »Deine Mutter hatte eine lieblichere Stimme als jede Nachtigall! Von deinem Vater kann man das nicht behaupten. Er klang eher, als würde in seinem Hals ein Frosch ersticken.«

»Na, ein Glück, dass ich meine Stimme geerbt habe von … Quoak. Quoak.« Ich hustete theatralisch. »Tut mir leid. Der Frosch mal wieder.«

Normalerweise lachte Baba über diesen Witz. Nun aber kaute er stattdessen auf seinem Schnauzbart herum. Das tat er nur, wenn ihm etwas Sorgen bereitete. Und in letzter Zeit tat er es sehr oft.

»Ich begleite dich«, meinte ich. »Dieser Patang wird sehnsüchtig erwartet.« Ich rollte mich auf die Seite und griff nach meiner Krücke.

Wozu ist die gut, Daddy?

Damit du deinen Weg findest, Nargis.

Sechs Jahre waren seit dem Unfall vergangen, und auch wenn die Details längst verblasst waren, hielten die Schmerzen in meinem rechten Bein die Erinnerung lebendig, jeden Tag, vom morgendlichen Aufwachen bis zum Schlafengehen am Abend. Dad hatte gewusst, dass ich die Krücke mein ganzes Leben lang brauchen würde, und sich deshalb etwas Schlaues ausgedacht: eine Hülse über dem Hauptschaft aus Holz, die sich ausziehen ließ. Dadurch wuchs die Krücke mit, je größer ich wurde. Der Griff diente zugleich als Stift, der die Hülse in Position hielt. Ich zupfte das neue Polster zurecht, das ich um die Achselstütze genäht hatte, und pustete den Staub aus den Schnitzereien im Holz.

Dad hatte es geliebt, zu schnitzen. Auf meinem Regal drängten sich noch immer hölzerne Spielzeuge – am liebsten mochte ich einen Vogel, der die Flügel weit spreizte. Unsere Hüttentür, der Rahmen, sogar die Bettpfosten waren verziert mit Wirbeln und rätselhaften Mustern. Ich krümmte einen Finger nach dem anderen um den Griff der Krücke und hakte sie unter meine linke Achsel. »Bereit.«

»Gut, gut«, erwiderte Baba gedankenversunken und bearbeitete weiter seinen Schnauzbart.

»Es wird schon klappen, Baba.«

Er seufzte. »Letztes Mal hat es nicht geklappt.«

Er war gebeten worden, eines der Felder zu heilen, die den Dörflern gehörten – ein winziges Stück Boden mit mehr Steinen als fruchtbarer Erde, auf dem jedoch einst genug Weizen gewachsen war, um eine Familie zu ernähren. Wir wussten immer noch nicht, was bei dem Einsatz schiefgelaufen war. Das gesamte Feld war verdorrt, direkt vor unseren Augen. Baba war daraufhin krank geworden und hatte eine ganze Woche weder essen noch trinken können, sodass sein ohnehin dürrer Körper am Ende völlig ausgemergelt gewirkt hatte. Ich hatte sämtliche Kräuter aus unserem Garten ausprobiert, um ihn wieder auf die Beine zu bringen, doch nichts hatte geholfen. Ich hatte panische Angst bekommen. So etwas durfte nie wieder passieren.

»Ich mache es«, sagte ich.

»Hmm?«, fragte Baba. »Was machst du?«

»Lass mich für Pandits Pfirsichbaum singen. Mein Lied ist stärker denn je. Die Geister lauschen mir jetzt.«

Baba kniff die Augen so eng zusammen, dass sie beinahe in seinen Falten verschwanden. »Jedes Mal?«

»Ja. Fast jedes Mal. Meistens.«

»›Meistens‹ ist ein gefährliches Wagnis, Nargis.«

Ich gab noch nicht auf. »Was habe ich denn davon, dass ich die Elemente befehligen kann, wenn ich meine Kräfte nie nutzen darf? Erinnerst du dich an das Dal, das ich gestern Abend gekocht habe? Ich habe die Feuergeister dazu gebracht, Überstunden zu machen! Eigentlich wollten sie bloß in der Glut schlummern, aber ich habe ihnen ein paar Verse eingeflüstert, und schon sind sie wild umhergehüpft.« Ich hielt eine Hand über meinen Kopf. »So hoch!«

»›Befehligen‹, Nargis? Wir befehligen die Elementargeister nicht. Darum geht es nicht beim Geistersingen. Ein Lied soll erfreuen, verzaubern. Herzen berühren. Die Geister der Erde, der Luft, des Feuers und des Wassers bieten uns ihre Hilfe nur an, wenn wir sie freundlich darum bitten. Versuche nie, nie, niemals, einen Geist zu befehligen.«

Ich hob den Patang auf und ließ ihn von meinem kleinen Finger baumeln. Mit einem Mal fühlte es sich nicht mehr so besonders an, dass ich ihn erschaffen hatte. »Wie du meinst.«

Baba lächelte gütig, doch das linderte meine Enttäuschung nicht. »Hab es nicht so eilig. Wenn man Dinge überstürzt, passiert ein Unglück. Eines Tages wirst du genauso großartig sein wie dein Vater. Noch großartiger. Ein Lied wird kommen – und es wird alles verändern.« Er zwirbelte die Enden seines Schnauzers energisch nach oben. »Jetzt aber los, lass uns glänzen.«

Der Untergrund, den ich mir wünschte – den ich brauchte –, war eben, gerade, fest. Der Untergrund, mit dem ich mich herumschlagen musste, war das genaue Gegenteil. Meine Krücke versank in einem fort im Sand, begleitet von einem Zischen durch meine zusammengebissenen Zähne. Nur eine gute Meile lag zwischen unserer kleinen Farm und Lalpani, aber es war eine lange Meile – und das übelste Stück kam am Ende: der große Sandwall, übersät mit Bruchstücken von Ziegelsteinen und halb vergrabenem Schutt, der das Dorf umgab und den ich bei jedem Schritt hinauf verfluchte und bei jedem Schritt hinab verdammte.

Lalpani war nicht groß. Ein paar verstreute Felder und ungefähr zwanzig Hütten aus Lehmziegeln, dazu noch ein Brunnen und in der Nähe ein ausgetrockneter Fluss. Rinder ruhten im Schatten, zu schlapp, um die Fliegen fortzuwedeln, die ihre Körper umschwärmten. Räudige Hunde hechelten in der Hitze. Außer dem Wind fand kaum jemand den Weg bis hierher. Heiß und trocken nach seiner langen Reise, die ihn aus dem Aithon herab und durch die Wüste geführt hatte, schien der Wind an diesem Tag äußerst lebendig.

Jeder Drachen war eine grellbunte Scherbe im glühenden Himmel, manche verziert mit Bildern von Vögeln, Schmetterlingen und – natürlich – Garudas.

Die geflügelten Krieger herrschten über uns, forderten unsere Nahrung als Steuern ein und gaben uns im Austausch dafür rein gar nichts. Ich begriff nicht, weshalb wir, die Erdgebundenen, sie bewunderten. Vielleicht, weil es so einfacher war, ihnen zu dienen.

Drachen flitzten und tanzten über dem gesamten Dorf und raschelten dabei laut mit ihren papiernen Körpern. Kinder scharten sich auf sämtlichen Dächern, die Augen auf den Himmel geheftet. Sie lenkten ihre Drachen, indem sie geschickt an den Schnüren ruckten. Wer gewann, jubelte, während die Verlierer kreischten.

Himmelskämpfe waren eine ernste Angelegenheit.

Die Erwachsenen waren wie üblich damit beschäftigt, ihre Hütten zu reparieren, sich um die Tiere zu kümmern, Mahlzeiten über offenem Feuer zuzubereiten oder Teppiche aus Palmwedeln zu flechten. Man arbeitete – oder man verhungerte. Ich kannte sie alle, hatte den meisten schon einmal auf die eine oder andere Weise geholfen, und doch schenkte mir niemand auch nur ein Lächeln, als wir den Ort betraten.

Selbst nach all den Jahren hatten sie noch Angst. Mütter zogen ihre Kinder dichter an sich, als wir uns näherten. Ein paar berührten ihre Schutzamulette oder murmelten leise Gebete. Ich humpelte voran, den Blick stur geradeaus gerichtet, um all die finsteren Mienen nicht sehen zu müssen. »So oft haben wir ihnen schon geholfen, aber es macht überhaupt keinen Unterschied. Ich bin für sie eine Hexe.«

Baba schüttelte den Kopf. »Eine Geistersängerin. Sie verstehen es bloß nicht.«

»Wir heilen die Natur, Baba, und trotzdem verachten sie uns. Wieso? Sie sollten uns mit Jubel und Blumenkränzen begrüßen statt mit so viel … Hass. Macht dir das denn gar nichts aus?«

Baba kickte einen Stein aus dem Weg. »Seit wann kümmert es dich, was andere denken?«

Schon viel länger, als ich zugeben wollte.

»Beachte sie nicht«, meinte er und deutete nach vorn. »Deshalb sind wir hier.«

Die Bäume in einiger Entfernung erinnerten an spindelige Greise, die im Tanz erstarrt waren. Während wir näher kamen, offenbarten sie allmählich, dass ihre Äste voller juwelenartiger Früchte hingen. Ihr Laub zitterte im heißen Wind, und Spatzen, Stare und Amseln huschten durch ihre den Boden sprenkelnden Schatten. Der wahre Schatz Lalpanis.

Einige Dörfer – nicht viele – besaßen ein paar Dattelpalmen. Vaalipur nannte einen Papayabaum sein Eigen. Nur einen einzigen, doch er zog Kaufleute aus einem Umkreis von bis zu einhundert Meilen an, die mit den Bewohnern Handel treiben wollten.

Lalpani hatte einen ganzen Obsthain.

Orangen wiegten sich sanft zu einer Melodie, die niemand außer ihnen hören konnte. Ein knorriger Mangobaum beugte sich unter der Last seiner reichen Ernte. Es gab Kirschbäume und ein paar kräftige Bananenpflanzen neben großen, eleganten Palmen. Deren Blätter warfen breite Schatten über die Ziegen, die unten am Boden an zerborstenen Kokosnussschalen knabberten. Wasserfurchen – fast genauso leer wie unsere eigenen – verliefen in sorgsam gezogenen Reihen, gespeist von zwei Schadufs, die im Augenblick nutzlos an beiden Enden standen.

Wir hätten reich sein sollen. Jeder hier hätte in einem Palast wohnen müssen dank des Wohlstands, den diese Bäume dem Dorf hätten bescheren können – doch der Obsthain gehörte bis zur letzten Frucht nur einem einzigen Mann. Pandit.

Er wartete im Schatten unter einem seidenen Parasol und trank dabei Lassi aus einem geeisten Glas. Er hatte sich das Haar zu einem schmalen, leuchtend grün und blau gefärbten Kamm frisieren lassen, der mehr als fünfzehn Zentimeter aufragte – eigentlich sogar noch höher, doch die Spitze des Kamms neigte sich bereits schlaff nach unten. Die Tönung rann in sattem Türkis über Pandits ansonsten kahl geschorenen Kopf und in die Falten seines fleischigen Nackens. Die Tausenden Federn seines knöchellangen Umhangs schimmerten im Sonnenlicht: das strahlende Blau der Eisvögel, das lebendige Grün der Sittiche, das Scharlachrot der Tukane, dazu unzählige weitere, die aus fernster Ferne stammen mussten.

Ein Pfau. Jemand, der die Sitten und Gepflogenheiten der Garudas nachahmte. Ein Witz, wenn man es sich recht überlegte – ein Vogel, der nicht fliegen kann. Doch für uns alles andere als lustig. Als Besitzer des Obsthains war Pandit der reichste Mann des Dorfes. Und so nutzlos Pfauen auch sein mögen: Sie sind stolz.

»Namaste, Pandit Sahib«, grüßte Baba mit zusammengelegten Handflächen. »Ich würde Eure Füße berühren, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich anschließend in der Lage wäre, wieder aufzustehen. Meine Knochen werden alt, müsst Ihr wissen.«

Ich wackelte mit den Zehen meines verkrüppelten rechten Fußes. »Ich kann nicht knien. Tut mir wahnsinnig leid.«

»Du kannst nicht – oder du willst nicht?«, höhnte Pandit. »Beeilt euch einfach. Mein Obsthain stirbt, während ihr hier schwätzt.«

»Euer Obsthain?« Ich starrte ihm finster in sein lächerliches, farbfleckiges Gesicht. »Mein Dad hat jeden einzelnen dieser Samen gepflanzt. Sein Lied hat den Hain erschaffen. Jede einzelne Aprikose, jede Mango, jede Orange und jeder Pfirsich darin gehört uns. Ihr habt sie uns gestohlen.«

Pandits Augen verdunkelten sich. »Abgeltung für eure Schulden. Du kennst das Gesetz.«

»Das Gesetz der Kralle, meint Ihr.«

»Welches andere Gesetz sollte es geben?«, entgegnete Pandit. »Du verziehst sie, alter Mann. Jemand muss ihr ins Gedächtnis rufen, wer sie ist.«

»Oh, Nargis weiß sehr genau, wer sie ist«, meinte Baba. Dann räusperte er sich. »Gut, dass Ihr mich gerufen habt. Ich spüre den Schmerz des Pfirsichbaums bis hierher. Aber keine Sorge, im Nu trägt er wieder reife Früchte. Früchte, wie sie Alamuts würdig sind.«

»Leg einfach los«, fauchte Pandit.

Baba stupste mich voran, und wir betraten den Obsthain. Nur wenig Wasser sickerte durch die Furchen, die für die Bewässerung der Bäume angelegt waren. Auf der Oberfläche trieb gelblicher Schaum, und es roch faulig. Ich rümpfte die Nase. »Das Wasser ist verseucht. Deshalb ist der Pfirsichbaum krank.«

Baba runzelte die Stirn. »Und bald wird der Pfirsichbaum nicht mehr der einzige Leidtragende sein. Alle im Dorf nutzen denselben Brunnen.«

Der Grundwasserspiegel sank von Jahr zu Jahr, und das Wasser verschmutzte immer mehr. Bei uns regnete es nicht, seit Jahrhunderten nicht mehr, und die unterirdischen Flüsse trockneten aus. Wie lange mochte es noch dauern, bis Lalpani zu einem weiteren verwaisten Dorf wurde, das allmählich im Sand versank?

»Oye, Nargis!«

Arjuna rannte zwischen den Bäumen hindurch und kam schlitternd vor uns zum Stehen. Er starrte den Drachen an und grinste. »Na, wenn das nicht ein Meisterstück ist.«

Ich musterte ihn von oben bis unten. »Du siehst lächerlich aus.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und präsentierte stolz seinen eigenen getönten Kamm: smaragdgrün mit gelben Strähnen. Sein Umhang reichte ihm nur bis zur Taille, und die Federn bestanden aus zerknittertem Papier und schlaffen Stofffetzen. Echte Federn zu verwenden, gestand Pandit seinen Dienern nicht zu. »Ich finde, ich sehe großartig aus. Aber genug zum Thema Mode, wovon du ohnehin keine Ahnung hast«, sagte Arjuna und langte nach dem Patang. »Lass mich mal richtig schauen.«

Ich blockte ihn mit meiner Krücke ab. »Lass deine klebrigen Finger davon. Wo sind die Mangos, die du mir versprochen hast?«

»Mangos?«, erwiderte er ausweichend, noch immer ganz auf den Patang fokussiert.

»Sechs vollreife Mangos. Das war unsere Abmachung.«

»Sechs?«, wiederholte er entsetzt. »Aber ich dachte, wir sind Freunde!«

Ich schwang den Patang hin und her. »Soll ich auf zehn erhöhen?«

»Dann also sechs. Her damit.«

Ich übergab ihm den Drachen, und Arjuna pfiff leise durch die Zähne, während er den Rahmen begutachtete. »Ich hätte auch zehn bezahlt.«

Baba wies mit dem Daumen über seine Schulter. »Ab mit euch. Der Wind ist perfekt heute.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bleibe besser bei dir, Baba. Nur für alle Fälle.«

»Ich brauche kein Kindermädchen, Nargis. Jetzt verschwinde schon.«

Ich wollte ihm nur helfen, aber um die Elementargeister zu beschwören, braucht es Selbstvertrauen. Wenn ich hinter ihm stand, würde ihn das verunsichern. Baba zwirbelte noch einmal die Spitzen seines Schnauzers. »Ich komme bestens zurecht.« Und damit stapfte er hinüber zum Pfirsichbaum.

»Wir lassen ihn vom Wall aus fliegen«, erklärte Arjuna, der vor Aufregung auf den Fußballen wippte.

Ich stöhnte. Bis ganz nach oben sollte ich also noch einmal kraxeln? »Von diesem albernen Wall? Den hätten wir schon vor Jahren plattmachen sollen.«

»Dieser Wall dient dem Schutz des Dorfes, Nargis.«

»Wie das? Unsere Feinde kommen aus dem Himmel.«

Arjuna seufzte. »Die Garudas sind nicht unsere Feinde.«

»Nein, sondern unsere Herren. Noch schlimmer.«

»Hast du überhaupt jemals einen Garuda aus der Nähe gesehen?«, fragte er. »Ich schon. Keinen aus der Kaste der Raubvogel-Lords, aber uns hat einmal geschäftlich ein Eisvogel-Garuda besucht. Er hat Pandit eine seiner Federn geschenkt. Eigentlich unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von uns. Abgesehen von den Flügeln, natürlich.«

»Das ist ein ziemlich großer Unterschied. Und was ist mit ihren Krallen? Und den Schnäbeln?«

»Schnäbel haben nur ein paar von ihnen. Die meisten haben Gesichter wie wir«, antwortete Arjuna. Wir zankten schon seit Jahren über die Garudas, immer ohne Ergebnis. »Ein weiterer Brunnen ist versiegt. Pandit hat Hassan graben lassen, bis er auf Fels gestoßen ist. Nichts.«

»Baba wird Wasser für euch finden. Ach ja, bevor ich es vergesse …« Ich zog ein kleines, in Papier eingeschlagenes Päckchen aus meiner Schärpe und reichte es ihm. »Gib das Bina. Sag ihr, sie soll den Inhalt vor dem Schlafengehen in ihren Chai mischen. Aber nur eine Prise. Das ist Babas Traumwurzel – viel stärker als die Sägespäne, die alle anderen verkaufen. Wenn sie zu viel davon nimmt, schläft sie die ganze Woche durch.«

Arjuna nickte und verstaute das Päckchen, ehe er unser Gespräch wieder auf den Obsthain lenkte. »Was glaubst du, wie lange es dauert?«

»So was darf man nicht überstürzen. Sonst geschehen schlimme Dinge.«

»Lalpani braucht diese Pfirsiche. Ich habe –«

»Arjuna! Wo bleibt das Werkzeug, das du mir versprochen hast?« Das war Hassan, der Kuhhirte. »Die Hütte baut sich nicht von allein.«

»Wo bleibt der Eimer Milch, den du mir versprochen hast?«, gab Arjuna zurück. »Morgen, Hassan!«

»Werkzeug?«, fragte ich. »Wo hast du das denn her? Oder sollte ich besser nicht fragen?«

Er zwinkerte. Besser, ich fragte nicht.

Der Bäcker schenkte Arjuna einen Laib Naan, frisch aus dem Ofen, als wir vorbeiliefen. Nach kurzem Zögern reichte er mir ebenfalls ein Brot. Lakshmi winkte Arjuna zu ihrer Tür und steckte ihm einen Brief zu, den er überbringen sollte, und eine Rupie, um sicherzustellen, dass er niemandem verriet, wer der Empfänger war.

Arjuna war gutaussehend, charmant und freundlich – alles, was ich nicht war. Ganz Lalpani rätselte, weshalb wir befreundet waren. Wir waren gleich alt, ungefähr zumindest. Und wir kannten einander seit Jahren, im Grunde seit Arjuna angefangen hatte, Pandit zu dienen. Seine Eltern hatten ihn in die Knechtschaft verkauft. Für zehn Jahre – im Austausch gegen ein paar Säcke Getreide. Deshalb war Pandit so reich: Verzweifelte Menschen gingen verzweifelte Geschäfte ein – also zahlte Pandit so wenig wie möglich für so viel wie möglich.

Doch Arjuna hatte sich davon nicht unterkriegen lassen. Er mochte ein armer, ungebildeter Knecht sein, doch alle liebten ihn.

Fast alle.

Krish erwartete uns mitten auf der Straße, zusammen mit seinem Schlägerkumpel Angad. Er ließ seinen eigenen Drachen an der Schnur um seinen Finger kreisen. »Wieso arbeitest du nicht, Arjuna? Die Latrinen müssen gereinigt werden.«

Krish war Pandits Sohn, sein einziger Sohn, und jeder wusste, dass er eines Tages das Sagen haben würde. Dass Arjuna alle Arbeit machte, spielte keine Rolle. Den Profit strich Krish ein.

Jegliche Freude, jegliches Selbstbewusstsein verpuffte. Arjuna schlug die Augen nieder. »Euer Vater hat mir heute freigegeben. Die Regenzeit beginnt. Alle lassen diese Woche ihre Drachen steigen.«

Krish suchte den Himmel ab. »Regenzeit? Und wo sind dann bitte die Wolken?«

Ich trat zwischen die beiden. »Der Wind weht aus den Bergen herab. Von dort hat er immer den Regen gebracht.«

Krish grinste höhnisch. »Ah, Monsun meinst du. Eine bloße Märchenfigur.«

»Es gab sie wirklich«, sagte ich. »Aber die Garudas haben sie getötet.«

Krish wandte sich lachend zu Angad um. »Das ist typisch Nargis. An allem sind die Garudas schuld. Sie stößt sich den Zeh – und macht einen Garuda dafür verantwortlich. Sie findet ihre Krücke nicht – na, da ist doch sicher mitten in der Nacht ein Garuda vorbeigeflattert und hat sie geklaut.« Dann schwenkte seine Aufmerksamkeit wieder zu Arjuna und dem Drachen. »Dieser Drachen ist viel zu hübsch für einen Trampel wie dich. Gib ihn mir. Sofort.«

Ich hatte Tage darauf verwandt, den Drachen zu fertigen – für Arjuna. Krish würde ihn nicht bekommen. Ich stieß ihm meine Krücke vor die Brust. »Er gehört mir.«

Krish stutzte und runzelte die Stirn. »Alle wissen, dass du keine Drachen fliegen lässt.«

»Dann täuschen sich alle«, entgegnete ich. Ich betrachtete seinen fledermausflügeligen Patang und schnaubte. »Und jetzt zieh Leine, bevor ich deine Lachnummer in Fetzen reiße.«

»Du glaubst, du kannst es mit Rakshasa aufnehmen? Dem Dämon?«, knurrte Krish.

»Selbstverständlich.«

Aus dem Knurren wurde ein Feixen. »Die Wette gilt, Hexe.«

Ich hob meine Krücke erneut. Krish zuckte zurück. Dann wurden seine Augen schmal. »Na los, wenn du dich traust. Schlag mich und schau, was passiert.«

Mein Arm zitterte, so sehr sehnte ich mich danach, genau das zu tun. Doch mir war klar, dass das üble Folgen haben würde. Krish war nicht der Einzige, der mich als Hexe bezeichnete. Er war nur der Einzige, der es mir ins Gesicht sagte.

Ich ließ die Krücke sinken und bohrte ihre Spitze entschieden in den Boden.

Die beiden stolzierten davon. Arjuna drehte sich seufzend zu mir. »Das war knapp.«

»Es gibt eine bessere Strategie, um Krish ein wenig Respekt zu lehren«, sagte ich. »Nämlich, seinen Patang vom Himmel zu holen.«

»Und wie genau willst du das anstellen?«

»Was denkst du denn?« Der ganze Himmel war voller Drachen, die miteinander spielten und kämpften. Der Wind war günstig. »Ich werde schummeln.«

Kapitel 2

Nargis gegen Krish!

Die Hexe gegen den Erben von Lalpani!

Im Nu hatten wir Publikum. Die übrigen Kinder hielten nach wie vor ein Auge auf ihre eigenen Drachen in der Luft geheftet, verfolgten mit dem anderen jedoch, was sich bei uns zusammenbraute. Die Erwachsenen setzten ihr Tagwerk fort … in Zeitlupe. Auch sie wollten nichts verpassen.

Niemand forderte Krish heraus. Und wenn doch, dann im vollen Bewusstsein, dass es klug war, gegen ihn zu verlieren. Jeder hier in Lalpani hielt sich an gewisse Regeln.

Aber ich lebte nicht in Lalpani.

Krish war auf das Dach seines Hauses geklettert – mit drei Stockwerken das höchste Gebäude des Dorfes – und machte sich daran, die Schnur seines Dämonen-Patangs abzurollen.

Arjuna sah ihm von unten mit Expertenblick dabei zu. »Mach es nicht komplizierter als nötig, Nargis. Wickle deine Leine drei- oder viermal um seine, dann rucken und lockerlassen, rucken und lockerlassen, bis du seine Schnur durchtrennt hast und der Wind Krishs Dämon davonträgt.«

»Umwickeln. Rucken und lockerlassen. Kapiert.«

»Achte darauf, dass er nicht zu hoch über dir fliegt. Halte die Leine gespannt, aber nicht bis zum Anschlag. Locker zwischen den Fingern. Geh das Ganze mit Bedacht an, aber reagiere blitzschnell.«

»Nichts von dem, was du da erzählst, ergibt auch nur ansatzweise Sinn, Arj.«

»Du solltest dich auch auf ein Dach stellen. So erwischst du leichter die Aufwinde.«

Wir befanden uns auf dem offenen Platz in der Dorfmitte. Ich legte meine Krücke auf dem Boden ab und machte mich daran, die Schnur an den Rahmen des Drachens zu knoten. Probeweise ruckte ich schon einmal fest daran. »Ich kämpfe von hier unten.«

Arjuna ließ die Sache auf sich beruhen. Er wusste um meine Höhenangst.

Vorsichtig hielt er meinen Drachen in der Hand und ging rückwärts, während ich die Leine abrollte: drei Meter, vier Meter, sechs Meter. Selbst am Boden wurde der Drachen bereits vom Wind erfasst und angehoben.

»Er braucht einen Namen!«, rief Arjuna.

Ich spähte zu Krish hinüber, und prompt fiel mir der richtige Name ein. »Rebell?«

Arjuna gluckste und warf Rebell in die Luft.

Er trudelte wild in die Höhe. Er war lebendig. Der Wind hauchte der bebenden Brust aus Seidenpapier und den Bambusknochen Leben ein. Wenn ich ihn nicht rasch unter Kontrolle brachte, wäre der Kampf vorbei, ehe er begonnen hatte. Rebell versuchte auszubrechen, frustriert darüber, dass er an die Erde gefesselt war. Beinahe wäre er geradewegs in eine Mauer gekracht, doch mit einem beherzten Ruck schickte ich ihn weiter nach oben.

Arjuna rannte an meine Seite. »Leiste keinen Widerstand! Lass dich von ihm führen!«

Rebell pflügte durch eine Traube anderer Drachen. Er bewegte sich wie ein einflügeliger Garuda und hinterließ eine Schneise der Verwüstung.

»Achtung!«, brüllte Arjuna.

Rakshasa, der riesige Dämonen-Drachen, tauchte herab und wand seine Schnur um meine. Erwischte er mich, wäre es das gewesen.

Ich zog mit aller Kraft. Rebell entkam knapp.

Arjuna schnaubte hörbar. »Eigentlich kannst du ihm deinen Drachen auch gleich aushändigen. Krish ist besser als du.«

»Im Himmelskampf«, gab ich zurück.

Die Pazuzus, die Windgeister, spielten rings um uns herum. Ich spürte, wie sie meine Haut berührten und durch mein Haar fuhren, hörte ihr Gelächter im Rascheln der Dutzenden Drachen. Sie waren die wahren Rebellen. Es war leicht, die Kontrolle über Windgeister zu verlieren. Doch sie sollten mir ja nur einen kleinen Gefallen tun. Ich sah mich um. Baba war noch immer beschäftigt, ganz am anderen Ende des Obsthains.

Ich räusperte mich. Dass ich keine besonders liebliche Singstimme besaß, spielte keine Rolle. Ein Lied kommt nicht aus dem Hals, sondern aus dem Herzen.

Also sang ich für die Pazuzus.

»Seht ihr den Dämon dort oben im Blau?

Er spielt falsch und finster und weiß es genau,

verdient einen Dämpfer, den er nie vergisst!

Nur mit eurer Hilfe gelingt mir die List.

Herbei, hehre Winde, borgt mir eure Kraft,

auf dass ich dann schaffe, was sonst niemand schafft!«

Krish schrie auf, als die Geister seinen Dämonendrachen erfassten und so heftig daran zerrten, dass die Schnur ihm in die Finger schnitt. Er ließ los, und die Pazuzus drehten nun erst richtig auf. Sie warfen Rakshasa zwischen sich hin und her, trugen ihn in ihren Wirbeln durch den Himmel. Krish stand auf seinem Dach und staunte machtlos zu dem Drachen hinauf, der außerhalb seiner Reichweite wild dahintrudelte.

Rakshasa zischte über eines der offenen Feuer hinweg. Die Pazuzus peitschten die Asche und Glut auf, und mit einem Mal spratzten Funken in die Höhe und umstrudelten den Patang.

Ein Funke traf, und ein Funke genügte.

Rakshasas Fledermausflügel kräuselten sich, und der Bambusrahmen rauchte, als der Drachen in Flammen aufging.

Die Pazuzus genossen das Spektakel und pusteten den brennenden Patang in den Schwarm Drachen hoch über den Köpfen der Zuschauer: ein Inferno am Himmel.

»Nein. Nein. Aufhören!«, schrie ich.

Mit einem Mal war dort oben alles voller feuriger Geschosse, die auf die Hütten niedergingen.

Hütten mit knochentrockenen, hochentzündlichen Blätterdächern.

Rakshasa krachte in ein Dach und verstreute glühende Asche über die dürren Palmwedel, die im Nu Feuer fingen. Qualm stieg auf.

»Wasser! Holt Wasser!«, rief Arjuna und sprintete bereits Richtung Brunnen.

Immer mehr Drachen torkelten unkontrolliert herab. Menschen rannten kreischend umher. Tiere brüllten und stoben in Panik auseinander.

»Aus dem Weg, Nargis!« Arjuna zog den ersten Eimer Wasser aus dem Brunnen. Andere Leute schlossen sich ihm an, bildeten eine Reihe und gaben Töpfe, Krüge und noch mehr Eimer weiter.

Ich musste etwas unternehmen!

Andere Elementargeister. Das war die Lösung! Keine Windgeister. Neuer Wind würde die Flammen nur weiter anfachen –

Makaras. Die Wassergeister!

»Seht nur«, flüsterte Hassan. »Das Feuer geht aus.«

Wovon redete er?

Die brennenden Drachen erloschen wie ausgepustete Kerzen. Das bis eben lodernde Dach rauchte nur noch. Auch alle übrigen Feuer schrumpften zu kleinen, flackernden Flämmchen, die sich im Nu als dünne graue Rauchfäden verflüchtigten.

Arjuna trat neben mich. »Das war der Wahnsinn. Du hast das Dorf gerettet, Nargis.«

»Das war nicht ich.« Langsam wandte ich mich um …

Baba lag zusammengesunken am Boden, wenige Meter entfernt. Neben ihm kullerten reife Pfirsiche aus einem Korb in den Staub.

»Baba!« Ich hastete zu ihm. So schnell ich konnte. Schwang mein rechtes Bein zusammen mit der Krücke voran, machte ruckartige, ausgreifende Schritte mit dem linken, während der Kies unter meinen Füßen wegrutschte.

Aber wenn man etwas überstürzt, geschehen schlimme Dinge.

Meine Krücke blieb in einem Riss im Boden hängen. Nur wenige Zentimeter tief, doch er hielt die Krücke fest, während der Rest von mir nach vorn katapultiert wurde und ich das Gleichgewicht verlor.

Ich knallte auf die ausgedörrte Erde. Schmerz explodierte in meiner rechten Hüfte, peitschte durch mich hindurch – so brutal, als hätte mir jemand eine Nadel tief in den Knochen gerammt. Ich schnappte nach Luft, während ich über den Schotter schrammte und winzige scharfkantige Steine meine Handflächen aufschürften und meine Hosen an den Knien zerfetzten.

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte ich die überwältigenden Schmerzen niederzukämpfen. Doch einige Augenblicke lang gab es nichts anderes. Der Schmerz war mein Hier und Jetzt. Er ließ keinen Platz für irgendetwas sonst.

Bis ich wieder auf den Beinen stand, hatte Arjuna Baba bereits erreicht und träufelte Wasser auf seine gesprungenen Lippen. Baba stöhnte, und ein zarter Rauchfetzen schlüpfte ihm aus dem Mund.

Seine Haut war rot und wund und übersät mit Brandblasen. Von seinen Augenbrauen und dem beeindruckenden Schnauzbart war kaum mehr übrig als versengte Stoppeln. Er hatte die Hitze des Feuers in sich aufgenommen.

Der Rückprall. Das Risiko, das wir jedes Mal in Kauf nahmen, wenn wir einen Handel mit den Elementargeistern eingingen. Manchmal – meistens – genügten ihnen unsere Lieder. Aber wenn man zu viel verlangte, wenn die Geister keine Lust hatten, mitzuspielen, dann schleusten sie all ihre Energie geradewegs in einen hinein. Es hätte noch schlimmer kommen können – ich hatte bereits von Geistersängern gehört, die selbst in Flammen aufgegangen waren.

Behutsam schloss ich Baba in die Arme. Dabei achtete ich darauf, seine Verbrennungen nicht zu berühren, und spürte, wie sein Herz in der schmalen Brust hämmerte. »Komm. Ich helfe dir, aufzustehen. Wir können versuchen –«

Pandit stieß mich grob beiseite und packte Baba am Hals, hob ihn hoch und schüttelte ihn wild – wie ein Tiger ein gefangenes Kaninchen.

»Du dummer alter Narr! Schau nur, was du angerichtet hast! Du hättest beinahe mein Dorf zerstört!«, brüllte er.

»Lasst ihn los!«, schrie ich. »Es war nicht seine Schuld!«

Doch Pandit beachtete mich gar nicht.

Sondern schlug Baba fest ins Gesicht.

»Nein!«, kreischte ich, umfasste meine Krücke mit beiden Händen und schwang sie.

Der Griff erwischte Pandit genau am Kiefer, und er ging mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

Die Stille, die darauf folgte, war furchtbar.

Die übrigen Dörfler wichen zurück – aus Furcht, Pandit könnte seinen Zorn auch an ihnen auslassen.

Pandit spuckte Blut und einen Zahn in den Staub. Langsam richtete er sich auf, jeden Muskel bedrohlich gespannt.

Ich umklammerte noch immer mit zitternden Händen meine Krücke, fühlte mich neben Pandit mit einem Mal jedoch sehr klein. »Es war nicht Baba. Er hat Lalpani gerettet«, sagte ich, obwohl die Worte meine Brust beben ließen. »Ihr dürft ihn nicht dafür verantwortlich machen. Ich war es.«

Pandits Augen glühten. »Du bösartige Hexe. Du bist ein Fluch für uns alle. Dein Herz ist genauso verkrüppelt wie dein Körper. Hier bei uns ist kein Platz für dich.«

Das konnte er nicht so meinen. Unmöglich.

Pandit drückte den Rücken durch und holte Luft, atmete tief in die Brust, sodass jeder seine nächsten Worte hören konnte. »Du bist verbannt, für alle Zeit. Wagst du es jemals, zurückzukehren, werfe ich dich höchstpersönlich den Geiern zum Fraß vor.«

Kapitel 3

Ein Stein prallte gegen meine Schulter und brachte mich beinahe zu Fall.

Krish. Natürlich. Er hatte Pandits Worte gehört. Er wusste, was »verbannt« bedeutete. Er warf einen zweiten Stein nach mir. »Verschwinde! Verschwinde! Hexe!«

Einige Dorfbewohner folgten prompt Krishs Beispiel und hoben ebenfalls Steine auf.

»Lasst uns in Ruhe!«, schrie ich.

Wie konnten sie so sein? Wie konnten sie uns so sehr hassen, und so mühelos?

Niemand kam uns zu Hilfe.

Niemand außer Arjuna.

Er kniete sich neben Baba und half ihm beim Aufstehen. »Kommt, wir gehen zum Fluss, dort könnt Ihr Euch säubern.«

In diesem Moment liebte ich ihn über alles. »Arjuna« war auch der Name eines Helden aus einer uralten Sage, der Ungeheuer und Dämonen besiegt und ganze Königreiche erobert hatte. Doch in diesem Augenblick war mein Arjuna – der Junge mit dem albern gefärbten Kamm und dem pfauenhaften Getue – für mich der größte Held der Welt.

»Zurück hierher mit dir, Knecht!«, bellte Pandit, aber Arjuna reagierte nicht.

Und gegen Arjuna hoben die Dörfler ihre Steine nicht.

Wir machten uns auf den Weg zum Flusstor, durch den noch immer in der Luft hängenden Qualm und vorbei an schwelenden Hütten.

Langsam gingen wir den abschüssigen Pfad zum Fluss hinunter. Es waren nur einige Hundert Meter bis zum Ufer. Ich blickte mich nicht um, spürte jedoch die Blicke der Dorfleute auf uns. Niemand war uns durch das Tor gefolgt. Vielleicht fühlten sie sich innerhalb des Walls am Ende wirklich sicherer.

Baba sagte kein Wort, sondern setzte nur schlurfend einen Fuß vor den anderen. Zu Hause auf unserer Farm hatten wir Kräuter, die seine Haut kühlen und die Brandblasen schrumpfen würden. Dennoch machte ich mir Sorgen. Große Sorgen.

Wir halfen Baba, sich sitzend gegen einen staubigen Baumstumpf am Ufer zu lehnen, und Arjuna lief hinunter zum Flussbett und tauchte seinen Umhang in einen der brackigen Tümpel, die sich dort zwischen den Steinen gesammelt hatten.

Ich verlagerte unbehaglich mein Gewicht von einem Bein auf das andere, schabte mit der Krücke über den kiesigen Untergrund, schloss die Hände fest um den Griff und öffnete sie wieder. Baba wirkte so gebrochen. »Es tut mir leid, Baba. Hätte ich diese Pazuzus nicht gerufen, wäre nichts von all dem passiert.«

Baba hob nicht einmal den Kopf. »Wir werden schon zurechtkommen.«

Er klang hoffnungslos.

»Wie?«

»Wir suchen uns ein neues Zuhause. Weit weg von hier.«

Weit weg von hier? Würden wir anderswo anders behandelt werden? Oder warteten überall die gleichen verängstigten Blicke auf uns, die gleichen gemurmelten Flüche? Hexe. Hexe. Hexe.

Oder schlimmer: Würden die Leute mich durch die Gegend humpeln sehen, mit meinem merkwürdig abstehenden Fuß und meiner Krücke, und mitleidig die Köpfe schütteln?

Armes Kind. Sie muss eine solche Last sein für den alten Mann.

Schon möglich, dass ich eine Last war. Das Einzige, womit ich mich hätte nützlich machen können – das Geistersingen –, endete nur in einer Katastrophe. Die Luft roch noch immer nach Asche.

Arjuna kraxelte die Böschung wieder herauf. Sein Umhang war feucht und voller orangefarbener Flecken von den Mineralien im Wasser. »Besser ging es nicht.«

Wir legten Baba den Umhang über den Rücken, um seinen Körper herunterzukühlen. Dann wandte ich mich an Arjuna. »Pandit wird wütend auf dich sein, weil du uns hilfst.«

»Wieso sollte er?«

»Er hat dir befohlen, dich von uns fernzuhalten.«

Arjuna hob die Augenbrauen. »Ach ja? Ich habe ihn gar nicht gehört.«

»Praktisch«, meinte ich. »Ich habe keine Ahnung, wie ich mich dafür jemals bei dir revanchieren soll.«

»Du schuldest mir immer noch einen Drachen.«

Die Sonne kroch höher am Himmel empor. Doch ich schwitzte nicht nur wegen der Hitze. Es hatte mich beinahe alle Kraft gekostet, bis zum Fluss zu humpeln. Meine Hüfte pochte, und ganz gleich, wie intensiv ich meinen Oberschenkel massierte: Die Muskeln weigerten sich, zu entkrampfen, und drohten stattdessen in unkontrollierte Zuckungen zu verfallen, sollte ich auf die Idee kommen, bloß einen einzigen weiteren Schritt zu machen.

»Lass mich heute Abend mit Pandit reden«, sagte Arjuna. »Er wird es sich anders überlegen.«

Ich fing an, winzige Steinchen aus meinen Handflächen zu pulen. »Nachdem ich Lalpani beinahe niedergebrannt hätte? Nie im Leben.«

»Ich habe ein wenig Geld«, erwiderte Arjuna.

»Das Geld, das du gespart hast, um Pandit auszuzahlen? Wie viele Jahre musst du noch ableisten?«

»Noch acht, bis die Schuld meiner Eltern komplett beglichen ist.« Arjuna warf einen Blick zurück Richtung Dorf. »Dann bin ich frei, für immer, und ziehe los in ein Abenteuer oder auch zwei. Ihr könntet es in ein paar Tagen bis zur Krähenkolonie schaffen. Angeblich sind die Blätter dort aus purem Gold.«

Die Krähenkolonie. Die größte Stadt in ganz Bharat. Die größte – und gesetzloseste. »Und wie genau sollen wir dorthinkommen?«

Arjuna gestikulierte vage in die Luft. »Himmelsschiff.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete ich. »Eher würde ich den Weg durch die Wüste wagen.«

»Das ist gefährlich.«

»Genauso gefährlich, wie Hunderte Meter über dem Boden an einer Stoffhülle voll heißer Luft zu baumeln.«

»Hast du dir noch nie gewünscht, zu fliegen?«, fragte Arjuna.

Kurz stieg ein Bild in mir auf, eine Erinnerung: ein kleines Mädchen in seinen besten Kleidern. Mit einem Flügelpaar auf dem Rücken, das ihr Daddy für sie gefertigt hat, zur Feier des Jahreswechsels. Der Rahmen besteht aus Bambus, die Federn sind aus Seidenpapier in allen Farben des Regenbogens. Sie klettert bis in die Krone eines Feigenbaums und ruft zu ihren Eltern nach unten.

Schau nur, Daddy! Schau nur, Mommy! Ich bin jetzt eine Garuda! Ich kann –

Ich schüttelte den Kopf. »Nö.«

»Jeder will doch fliegen, Nargis.«

Armer Arjuna. All die Federn, und dennoch konnte er nicht einmal einen Zentimeter vom Boden abheben. »Wieso verehrst du die Garudas so sehr? Wir sind bloß Würmer in ihren Augen, und du weißt, wie Vögel zu Würmern stehen.«

»Die Garudas sind das geflügelte Volk. Keine Vögel. Sie sind wie wir, bloß –«

»Besser?«, spöttelte ich.

»Anders.«