8,99 €
Damit wird die Wartezeit bis zur 5. Staffel verkürzt!
Eine Stadt mit einem düsteren Geheimnis und ein junger Musiker, der sich aus ihren Fängen befreien muss
Hawkins, 1984: Eddie Munson kann es kaum erwarten, endlich seinen Abschluss an der High School hinter sich zu bringen und danach der langweiligen Kleinstadt für immer den Rücken zu kehren. Nur die Dungeons&Dragons-Abende mit dem Hellfire Club und die Auftritte mit seiner Band lassen ihn durchhalten. Dann lernt er in einer Kneipe Paige kennen, die für einen Plattenproduzenten in Los Angeles arbeitet und ihm die Chance bietet, etwas aus sich und seiner Musik zu machen. Er soll ihr ein Demo Tape seiner besten Songs zusammenstellen. Das kostet Geld – Geld, das Eddie nicht hat. Widerwillig wendet er sich an seinen Vater. Doch um das Geld zu verdienen, muss er bei dessen dubiosen Machenschaften mitwirken. Eddie bleibt keine andere Wahl – und schneller als gedacht steckt er tief in den Abgründen des allzu idyllischen Hawkins …
Zum Abschluss der Netflix-Serie, die alle Rekorde gebrochen hat: Eine Eddie Munson Story.
Wenn ihr noch tiefer in die mysteriöse Welt von STRANGER THINGS eintauchen wollt, lest gleich weiter:
>> STRANGER THINGS: Suspicious Minds. Das Geheimnis um Elfi
>> STRANGER THINGS: Finsternis. Die Wahrheit über Jim Hopper
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 384
Veröffentlichungsjahr: 2025
Caitlin Schneiderhan ist Drehbuchautorin und arbeitet mit verschiedenen Produktionsfirmen in Hollywood zusammen. Sie ist eine der Autorinnen am Set der Netflix-Produktion von STRANGERTHINGS und liebt es, mit 80er-Referenzen um sich zu werfen. Daher musste sie nicht lange überlegen, als sie gefragt wurde, ob sie den neuen Roman zur Serie schreiben möchte.
STRANGERTHINGS: Suspicious Minds. Das Geheimnis um Elfi
STRANGERTHINGS: Finsternis. Die Wahrheit über Jim Hopper
www.penguin-verlag.de
Caitlin Schneiderhan
Roman
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Flight of Icarus bei Del Rey,einem Imprint von Penguin Random House, New York.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2023 der Originalausgabe by Netflix CPX, LLC
und NETFLIXCPX International, B.V
This translation published by arrangement with Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)Redaktion: Susann Harring
Umschlaggestaltung: bürosüd
Umschlagabbildung: Jacket art: Tracie Ching; Jacket design: Scott Biel
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31729-4V001
www.penguin-verlag.de
Für all die kleinen verlorenen Schafe und die Menschen, die ihnen einen Ort geben, an dem sie sich zugehörig fühlen
»Okay. Du bist tot.«
Der Junge, der mir am Tisch gegenübersitzt, sieht mich mit offenem Mund an, wodurch seine glitzernde Zahnspange sichtbar wird. »Nein, bin ich nicht.«
»Du hast es allein mit einem Kraken aufgenommen. Du bist verdammt noch mal tot, Mann.«
Stan tritt mir gegen das Schienbein. »Jetzt sei nicht so hart zu ihm. Er ist ein Neuntklässler.«
»Er spielt schon seit fast einem Jahr. Hey, Kleiner …«
»Gareth«, murmelt Gareth hinter seiner Matte aus vollem, gewelltem Haar.
»Wie viele Trefferpunkte hast du?«
Er murmelt etwas Unverständliches, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich auf Mull reimt.
»Das habe ich mir schon gedacht. Also erkläre ich dir kurz den nächsten Teil.« Ich beuge mich vor, eine Hand auf je einer Seite meines Dungeon Master’s Screens. »Es ist der letzte Schlag, den das Monster mit seinen Tentakeln vollführt, der dich fertigmacht. Der Schmerz durchfährt dich und ist stärker als deine Willenskraft. Und deine Lunge zahlt den Preis dafür.«
Ronnie wirft mir ein Radiergummi an den Kopf. »Himmelherrgott, Eddie«, tadelt sie, aber ich kann die Belustigung in ihrer Stimme hören.
»Instinktiv versuchst du, Luft zu holen. Aber du bist drei Meter unter der Oberfläche des Solnor Ozeans, und der Rest deiner Truppe ist am Ufer. Dich kann also niemand retten, wenn das Wasser in deine Lunge eindringt.«
»Das ist echt abgefahren.« Dougie schaut mich ehrfurchtsvoll an.
»Und niemand sieht dich, als dein Körper ein letztes Mal zuckt und leblos in die schwarze Tiefe des Unbekannten sinkt. Und so endet die Geschichte von Illian dem Unbesiegbaren, halber Elf, Paladin und Held der verlorenen Reiche.«
Rund um den Tisch klatschen mir die anderen Beifall. Ronnie und Dougie sind die Motiviertesten, wobei Dougie sogar aufsteht.
Gareth dagegen sinkt auf seinem Stuhl zusammen und tippt niedergeschlagen mit einem Finger auf seinem d20-Würfel herum.
»Das ist Bullshit«, sagt er.
»Was ist los mit dir, Gareth?«, fragt Dougie. »Du hast gerade einen abgedrehten Munson-Todesmonolog bekommen. Das ist Gold wert.«
Gareths hagere Schultern sind bis zu seinen Ohren hochgezogen, während er Dougie wütend anfunkelt. »Soll ich mich darüber freuen? Er hat mich getötet!«
»Da bist du keine Ausnahme – er hat es auf uns alle abgesehen!«
»Okay.« Ich hebe beschwichtigend die Hände in dem Versuch, das Unwetter, das sich anbahnt, abzuwehren. »Würdet ihr mir, eurem bescheidenen Dungeon-Master, die Ehre erweisen, eure verdammte Klappe zu halten?«
Sie halten tatsächlich ihre verdammte Klappe. Was mir gerade genügend Zeit verschafft, um nacheinander jeder einzelnen Person in die Augen zu schauen … und mir zu überlegen, was zur Hölle ich als Nächstes tun soll.
Der Hellfire Club hat nicht gerade viele Mitglieder; mich selbst eingeschlossen sind wir nur zu sechst. Ronnie und ich sind schon seit der neunten Klasse Mitglieder, und obwohl sich Dougie eigentlich nicht unserem »Nerd-Club« anschließen wollte, hat er nach einem Monat, in dem er sich die Insiderwitze von unseren Hellfire-Treffen anhören musste, fast um einen Platz am Tisch gebettelt.
Stan, ein Elftklässler, kam im folgenden Jahr dazu, obwohl er immer mal wieder fehlt, da seine Familie sich aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt hat, dass Dungeons & Dragons das Werk des Satans ist und dass die bloße Berührung eines Würfels mit mehr als sechs Seiten genügt, um ihren geliebten Jungen in die Flammen der ewigen Verdammnis zu befördern. Deswegen versucht Stan, sich Geschichten über wöchentliche Algebra-Nachhilfestunden auszudenken, und hat Ronnie seinen gesamten Hellfire-Kram gegeben, damit sie die Sachen bei sich zu Hause aufbewahrt und seine Mom beim Schnüffeln nicht darauf stößt. Aber trotz all der Geheimniskrämerei kommt Stan nur zu zwei von drei Spielen.
Der Zehntklässler Jeff gehört schon seit zwei Jahren zum Hellfire Club, auch wenn es sich länger anfühlt. Er hat schon mit seinen älteren Brüdern gespielt, bevor er an der Hawkins High begonnen hat, und weiß beinahe so viel über das Spiel wie ich. Und er weiß definitiv mehr über das Bassspielen als ich, weshalb er ein willkommenes neues Mitglied von Corroded Coffin war. Er hat den Sound auf eine Art abgerundet, wie es Ronnie, Dougie und mir allein nie gelungen ist.
Tja, und dann gibt es noch den kleinen Neuntklässler Gareth, der die laminierte Tabelle mit den US-Präsidenten hinter mir so wütend anstarrt, als wollte er sie als Zielscheibe benutzen.
Das sollte er besser lassen. Wir können es uns nicht leisten, auf die rote Liste eines weiteren Lehrers zu kommen, da sich ohnehin schon so viele von ihnen weigern, sich die Schule mit »diesem satanischen Kult« zu teilen. Momentan versuche ich jeden Montag aufs Neue, mit den wenigen Lehrern, die ein bisschen Mitleid mit uns haben, zu verhandeln, dass wir mittwochs nach Schulschluss um zehn vor drei ihren Klassenraum für ein Würfelspiel benutzen können. Und jeden Montag, wenn ich Mrs. Debb wieder einmal nach ihrem bevorstehenden Ruhestand frage oder ich die Tafel in Mr. Vicks Labor wische, stelle ich mir die gleiche Frage: Warum tue ich mir das an?
Eine Antwort finde ich nie. Und doch bin ich hier, Woche für Woche. Ist das nicht die Definition von Wahnsinn?
»Du solltest dich freuen, Kleiner«, sage ich. »Du hast heute eine wertvolle Lektion gelernt.«
Ich spüre, dass Ronnie mich beobachtet. Sie dreht so schnell einen Bleistift zwischen ihren Fingern, dass er verschwimmt. Ich schaue nicht zu ihr.
Gareth schnaubt. »Wie wertvoll kann sie schon sein, wenn ich nicht mehr da bin, um das Gelernte anzuwenden?«
Wieder ist da diese Aura der Angst um Gareth, aber es ist nichts, womit ich mich hier vor den Augen der anderen auseinandersetzen kann.
»Nun, Jungs und Mädels«, sage ich und straffe meine Schultern, »ich glaube, damit ist unsere heutige Session beendet.« Lautes Ächzen ertönt, hauptsächlich von Stan und Dougie. »Wir treffen uns nächste Woche wieder, denn unsere Abenteuer führen uns tief in das Labyrinth von … Ralishaz dem Wahnsinnigen.«
Als ich zu Ende gesprochen habe, hat Gareth schon so wie gut wie alles zusammengepackt und wirft so schnell er kann die letzten Sachen in seinen Rucksack. Dann schiebt er seinen Stuhl mit einem fürchterlichen Quietschen zurück, stapft zur Tür und reißt sie schwungvoll auf.
Dougie sieht zu, wie die Tür hinter Gareth zufällt, und schnalzt mit der Zunge. »Der Typ nervt.«
»Halt die Klappe, Dougie«, entgegnet Ronnie gelassen. Sie sieht mich fragend und mit einer hochgezogenen Augenbraue an, aber ich bin längst aufgestanden und gehe um den Tisch herum.
»Wir treffen uns wieder zur gleichen Zeit«, sage ich über die Schulter, als ich den Raum verlasse. »Wenn ihr zu spät kommt, bekommt ihr die Illian-Behandlung. Comprende?«
Ein Chor aus »Klar« und »Was auch immer« folgt mir in den Flur.
Gareth ist bereits mehrere Schließfächer entfernt, er rennt fast.
»Hey!« Für eine Sekunde glaube ich, dass er nicht stehen bleibt. Aber dann tut er es doch und wendet sich mir zu. Dabei verdreht er die Augen und seufzt.
»Was?«
»Musst du irgendwo hin?«
»Meine Mom wollte mich schon vor zwei Minuten abholen, also ja.« Er funkelt mich an und zieht den Rucksack über seiner Schulter zurecht. Dabei rutscht der Saum, der am Träger hängen bleibt, ein Stück hoch, sodass ich etwas an seiner Taille erkenne, das lila und schmerzhaft aussieht. »Du hast mich gerade aus deinem Club rausgeworfen. Was willst du noch von mir?«
»Moment mal, wer hat was von Rauswerfen gesagt?«
»Du. Als du mich getötet hast.«
»Und?«
»Und …« Gareth tritt unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Illian ist raus. Also bin ich auch raus.«
»Dann kreierst du eben einen neuen Charakter.«
Gareth blinzelt mich an, als wären meine Worte geradezu eine Offenbarung. »Das geht?«
»Glaubst du, ich lasse jemanden entwischen, der verrückt genug ist, es mit einem Kraken aufzunehmen? Auf keinen Fall.« Ich beuge mich verschwörerisch zu ihm vor. »Diese anderen Arschlöcher halten es ohne dich keine Sekunde in Ralishaz’ Labyrinth durch.«
»Wird es schlimm werden?«
»So schlimm wie noch nie«, antworte ich und lache über Gareths Grinsen. »Wir müssen nur einen neuen Charakter für dich kreieren. Hast du morgen nach der Schule Zeit?«
»Ich muss meine Mom fragen«, antwortet Gareth, aber sein eifriges Nicken macht deutlich, dass er auch ohne Einwilligung seiner Eltern kommen wird.
Vom Schulparkplatz ist ein Hupen zu hören. Da wird jemand ungeduldig.
»Scheiße«, flucht Gareth. »Ich muss …«
»Alles klar, Alter.«
Er beginnt durch den Flur zu rennen, hält jedoch nach ein paar Schritten an, als könnte er nicht anders. »Du bist dir sicher, ja? Ich kann wiederkommen?«
»Solange du im Hellfire Club dabei sein willst, kannst du dabei sein.«
Er nickt mit leerem Blick, so als würde er sich die Worte einprägen. »Okay«, sagt er schließlich, dann flitzt er in Richtung Ausgang.
Ich schaue ihm hinterher, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.
»Wow. Und ich hab ausgerechnet heute meine Taschentücher zu Hause vergessen.«
Ronnie steht hinter mir, die Arme um einen überladenen Ordner geschlungen. Sie tut so, als würde sie sich die Augen abtupfen, als ich auf sie zugehe, und stößt einen lachenden Schrei aus, als ich sie mit meiner Schulter anrempele.
»Vorsichtig!« Sie stößt mich zurück. »Stan wird so was von sauer sein, wenn ich das Ding fallen lasse.«
»Hast du was zu sagen, Ecker?«
»Das Einzige, was ich mich trauen würde zu sagen, ist ›Kannst du mich mitnehmen?‹«
Ich verdrehe die Augen. »Das ist das letzte Mal.«
»Das letzte Mal«, verspricht Ronnie und folgt mir in Richtung Parkplatz.
Es ist nicht das letzte Mal, das wissen wir beide, aber Ronnies und mein kleines Drehbuch ist das Fundament unserer Freundschaft. Sie bittet mich um kleine Gefallen, und ich kann so tun, als wäre ich verantwortungsbewusst – wir haben beide etwas davon. So ist es schon, seit ich Dads Van zu Beginn des elften Schuljahrs geerbt habe. So ist es schon seit dem Tag, an dem Ronnie und ich uns kennenlernten.
»Was tust du da?«, fragte sie. Bereits mit acht war sie größer als ich und blickte mir mit ihrem abgetragenen Overall, in dem sie wie eine kleine Farmerin wirkte, über die Schulter. Was ich tat, war, mich selbst zu bemitleiden. Ein Anruf von einem alten Trinkkumpanen hatte meinen Dad dazu veranlasst, mit dem halbherzigen Versprechen »Ich bin gleich wieder da! Du weißt ja, wie der Herd funktioniert, oder?« zur Tür hinauszustürmen. Ich hatte die ganze Nacht damit verbracht, zur Einfahrt hinauszublicken und auf ihn zu warten, bis ich dort, wo ich saß, an das Fenster gelehnt eingeschlafen war.
Es war das erste Mal von vielen Malen, dass er von der Bildfläche verschwand. Doch das wusste ich damals noch nicht. Stattdessen habe ich mich zwei Tage lang im leeren Haus herumgedrückt und mich von Erdnussbutterbroten und Softdrinks ernährt, bis mein Onkel Wayne mitbekam, was vor sich ging, und mich zu sich in seinen Trailer holte, »bis Al sich wieder einkriegt und zurückkommt.«
Ich habe den Trailerpark gehasst, hauptsächlich weil Dad, wenn er zurückkam, nicht wissen würde, wo ich war. Doch Wayne wollte mir nicht glauben, als ich hartnäckig behauptete, dass ich als Drittklässler in der Lage sei, mich um mich selbst zu kümmern, sodass ich in dem verstaubten alten Loch festsaß und nichts tun konnte, als im nahe gelegenen Wald Löcher zu graben.
Und dort tauchte dieses andere Kind auf.
Ronnie war, wie sich herausstellte, auch gerade erst in den Trailerpark gezogen. Sie lebte bei ihrer Großmutter, weil ihr Vater tot und ihre Mom krank geworden war und begonnen hatte, mit den Wänden zu sprechen. Sie hatte braune Haare und braune Augen. Die Leute dachten immer, wir wären Geschwister, wenn sie uns zusammen sahen.
Auf ihre Frage hin erzählte ich ihr, dass ich ein Loch bis nach China graben würde, und sie fragte mich, ob sie helfen könne, da sie nichts anderes zu tun habe. Später fand ich heraus, dass das gelogen war und sie bewusst darauf verzichtet hatte, mit Granny Ecker M*A*S*H zu schauen, um Zeit mit mir zu verbringen. In dem Moment jedoch war ich zu sehr mit der Tatsache beschäftigt, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit eine Freundin zu haben, um Verdacht zu schöpfen.
Selbst als mein Dad zurück nach Hawkins kam, Geschichten von irgendeinem Arschloch in Kentucky erzählte, das ihm Geld schuldete, und mich wieder nach Hause holte, blieben Ronnie und ich eng befreundet.
Alle anderen Mitglieder des Hellfire Clubs haben Mütter, die sie nach der Schule abholen, und Familienfotos, die über dem Kamin hängen.
Es ist schön, jemanden zu haben, der auch kein perfektes Vorstadtleben führt.
»Nach Hause?«, frage ich, als ich den Motor anlasse.
Ronnie ist mittlerweile so groß, dass ihr Kopf beinahe an das Wagendach stößt, und ihre Cord-Baseballkappe füllt die letzten fehlenden Zentimeter für sie.
Sie nickt und legt den Ordner vor ihren Füßen ab. »Granny will, dass ich zum Abendessen da bin.«
»Aber du kommst doch heute Abend trotzdem, oder?«
Sie boxt mich so hart gegen den Oberarm, dass ich wahrscheinlich einen Bluterguss bekommen werde. »Du machst dir zu viele Sorgen.«
Wir foppen uns weiter, während ich die Straße in Richtung der Vororte von Hawkins hinunterfahre. Es ist entspannt – eine Routine zwischen uns.
Einmal, als wir dreizehn waren, glaubte ich kurzzeitig, dass wir vielleicht zusammen seien – eine Freundin zu haben, die mich so gut kannte, musste schließlich etwas Besonderes sein. Nachdem ich ein paar Wochen lang voller Sorge über diese Theorie nachgedacht hatte, beschloss ich, etwas zu unternehmen: Ich musste Ronnie küssen, um die Sache zu besiegeln.
Allerdings war ich nicht darauf vorbereitet, dass sie aufschreien und taumelnd zurückweichen würde, als ich mich zu ihr vorbeugte. »Was zur Hölle stimmt nicht mit dir, Munson?!«
Ich stammelte nur vor mich hin, errötete und lief davon wie ein Feigling. Ein paar Tage später, als sich die Lage wieder beruhigt hatte und wir uns nicht mehr fühlten, als würde die Welt untergehen, erklärte mir Ronnie, dass es nicht an mir persönlich liege. Sie glaubte, noch nie in jemanden verliebt gewesen zu sein, und fragte mich, ob das okay für mich sei.
Einen Moment dachte ich darüber nach. »Heißt das, wir können weiterhin Freunde sein?«
Sie boxte gegen meinen Arm, so wie sie es immer tat. »Sei nicht albern.«
Nun ächze ich nur, als Ronnie ihre Füße auf dem Armaturenbrett abstützt. »Ernsthaft?«
»Ich will nicht auf Stans Ordner treten. Und es ist nicht meine Schuld, dass dein Wagen zu klein ist.«
»Mein Wagen ist nicht das Problem. Es sind deine wahnsinnig langen Beine.«
»Ich verrate dir ein Geheimnis über diese wahnsinnig langen Beine.« Ronnie hat ihre Füße immer noch nicht runtergenommen, und weil ich weiß, dass ich diesen Kampf ohnehin verlieren würde, sage ich nichts. »In vier Monaten werden sie mich in mein neues Apartment in New. York. City tragen.«
Ich bin kurz davor, abrupt zu bremsen. »Nein!«
»Doch.«
»Du hast das Stipendium bekommen?«
Ronnie grinst. »NYU Class of ’88, Baby. Mit Stipendium.«
Jetzt trete ich tatsächlich auf das Bremspedal und fahre in Schlangenlinien rechts ran. »Heilige Scheiße! Heilige Scheiße! Wann …«
»Gestern Abend.«
»Gestern Abend?! Warum hast du es mir nicht schon früher erzählt?«
»Ich erzähle es dir jetzt.«
Ich weiß, warum sie damit hinter dem Berg gehalten hat. »Hey. Du weißt, dass ich mich für dich freue, oder?«
Ronnie zuckt mit den Schultern. »Jaa.«
Ich kaufe es ihr nicht ab. Denn Ronnie und ich sind uns sehr ähnlich. Das gleiche schlechte Elternhaus, die gleichen gebrauchten Klamotten, gleicher Haarschnitt. Gleicher Trailerpark. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen uns. Den gab es schon immer.
Veronica Ecker wird es zu etwas bringen. Sie wird ans College gehen und anschließend Jura studieren; sie wird Indiana verdammt noch mal hinter sich lassen.
Eddie Munson? Er wird in diesem blöden Ort sterben.
Es ist nicht ihre Schuld. Natürlich ist es nicht Ronnies Schuld. Sie war schon immer gut in der Schule. Ich dagegen habe nie einen Sinn darin gesehen. Für mich ist die Hawkins High nur ein Ort, an dem ich jeden Tag acht Stunden verschwende, ehe ich mich – wenn ich mich charmant genug nach Mrs. Debbys Enkelkind erkundige – für ein paar Stunden mit einem Block Millimeterpapier und einem zwanzigseitigen Würfel in irgendeinen leeren Klassenraum zurückziehe. Ronnie schreibt nur Einser, und die Lehrkräfte stehen Schlange, um ihr glänzende Empfehlungsschreiben auszustellen. Und ich hab den Nachnamen …
»Munson.«
Es wäre untertrieben, das Geräusch, das neben mir am Fenster erklingt, als Klopfen zu bezeichnen. Es ist eher ein Hämmern, so laut, dass ich mir kurz Sorgen mache, dass das Glas zerspringen könnte. Ronnie und ich fahren beide herum.
Das Herz rutscht mir in die Hose. Ich war so eingenommen von Ronnies Neuigkeiten und meiner eigenen Reaktion darauf, dass ich das Polizeiauto hinter mir nicht bemerkt habe. Ein Cop steht draußen und gibt mir grinsend zu verstehen, dass ich das Fenster herunterkurbeln soll.
»Schon wieder?«, murmelt Ronnie.
»Jedes Mal«, murmele ich zurück und öffne das Fenster. »Officer Moore. Was kann ich an diesem schönen Frühlingsnachmittag für Sie tun?«
Seine kurz geschorenen blonden Haare und der markante Kiefer verleihen ihm den typisch amerikanischen Superman-Look, aber ganz egal wie gründlich er seine Uniform bügelt und seine Schuhe poliert – nichts kann über seinen wachsenden Mittvierziger-Bierbauch hinwegtäuschen. Er war schon der Held der Polizei von Hawkins, bevor ich auf die Welt kam. Zumindest habe ich das gehört. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft er mich schon schikaniert hat, und seit ich achtzehn bin, ist es sogar noch schlimmer geworden. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, er hätte mich auf dem Kieker.
Moore schüttelt mit gespielt enttäuschter Miene den Kopf. »Hab mir schon gedacht, dass du es bist, Munson. Wie oft müssen wir diese Unterhaltung noch führen?«
»Das ist eine Frage, die Sie sich selbst stellen sollten, Officer. Schließlich sind Sie es, der mich immer wieder anhält.«
»Du bist Schlangenlinien gefahren.« Moore schnalzt mit der Zunge. »Hast du schon getrunken?«
»Nein.«
»Wir kommen gerade aus der Schule«, mischt sich Ronnie ein. Sie versucht mir zu helfen, aber das wird nichts bringen.
»Würde ich irgendwelche illegalen Substanzen finden, wenn ich den Wagen durchsuchen würde?«
»Die finden Sie doch nie.«
Moores Miene verfinstert sich. Er macht den Mund auf, vermutlich um mir zu befehlen, die Hintertüren zu öffnen, und ich mache mich schon darauf gefasst, eine Stunde zu verlieren, in der Moore den Van auseinandernimmt, so wie er es immer tut.
Doch das Radio in seinem Einsatzwagen beginnt zu knacken. »Officer Moore, wir haben einen Code zehn-sechzehn drüben auf der Fleming …«
Moore stößt ein genervtes Ächzen aus. Wenn es einen triftigen Grund dafür gäbe, dass er mich angehalten hat, würde er antworten, dass er beschäftigt ist, aber so …
»Ich behalte dich im Auge«, warnt er mich.
»Versprochen?« Ich klimpere mit den Wimpern und gebe keinen Laut von mir, als Ronnie mich mit dem Ellbogen in die Seite stößt.
Er schnaubt. »Jetzt lachst du noch. Aber selbst deinem Vater war in der Gefängniszelle nicht mehr nach Witzen zumute. Und dort endet ihr Munsons schließlich alle früher oder später.«
Wir schweigen, als Moore gemütlich zu seinem Wagen schlendert. Er schaltet die Scheinwerfer ein und fährt wenig später an uns vorbei. Während ich ihm hinterherblicke, versuche ich, meinen Griff um das Lenkrad zu lockern.
»Eddie«, beginnt Ronnie, aber ich kann es mir im Moment nicht anhören. Nicht von jemandem, der ein goldenes Ticket hat … jemandem, in den die Welt investiert.
»Nimm deine Füße runter«, sage ich.
Sie gehorcht ohne Einwand.
»Du willst doch nicht zu spät zum Abendessen kommen.« Dann trete ich das Gaspedal durch.
Wenn ich schon nicht in die weite Welt hinauskomme, kann ich zumindest zu ihr fahren, so schnell ich kann.
Das Hideout ist der Laden mit dem treffendsten Namen von ganz Indiana. Das Gebäude befindet sich an einem Ort, der für niemanden günstig gelegen ist – irgendwo zwischen einem stillgelegten Stahlwerk und einem brach liegenden Maisfeld. Doch obwohl diese Gegend den Ruin jedes anderen Geschäfts bedeutet hat, eignet sie sich perfekt für eine verrufene Kneipe – Betonung auf verrufen –, die Menschen aufsuchen, wenn sie das Tageslicht nicht mehr ertragen können. Die Fenster sind schon seit einer Ewigkeit zugemauert, da es schwieriger ist, jemanden durch eine solide Wand zu werfen, der Teppichboden wurde noch nie gereinigt oder gesaugt, und die Theke ist so klebrig, dass sie ihr eigenes Ökosystem entwickelt hat.
Was verrät es über mich, dass diese Bar einer der Lichtblicke in meinem Leben darstellt?
»Junior! Bier!«
Bev, die stolze Besitzerin dieses edlen Etablissements, seit ihr »herumstreunender Mann« (ihre Worte) vor zehn Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist, hat kastanienbraun gefärbtes Haar, kneift die Augen immer leicht zusammen und schreit grundsätzlich so laut, als wäre die Musik voll aufgedreht oder die Bar komplett überfüllt. Aber das Hideout ist kein Ort, an dem man feiert, sondern an dem man herumschleicht.
Deswegen erschreckt mich Bev mit ihrem Geschrei jedes Mal fast zu Tode. »Herrgott«, murmele ich und lasse dem betrunkenen Sam beinahe meine Kiste mit leeren Gläsern auf den Kopf fallen.
Der alte Mann lallt nur etwas Unverständliches und schlürft weiter seinen billigen Whisky.
»Sie nennt dich immer noch Junior?«, fragt Ronnie. Sie, Jeff und Dougie drängen sich um einen hohen Tisch und wechseln sich ab, aus der einen Flasche Bier zu trinken, die sie sich von ihrem zusammengekratzten Geld leisten konnten.
Jeff blickt immer wieder nervös in Bevs Richtung, als würde sie heute Abend plötzlich beschließen, sich darum zu scheren, dass er kaum sechzehn ist. Im Hideout wurde noch nie irgendjemand nach seinem Ausweis gefragt, und Bev wird bestimmt nicht heute Abend damit anfangen.
»Ich dachte, du hast ihr gesagt, sie soll damit aufhören«, fügt Ronnie hinzu.
»Das werde ich tun. Ich muss nur …« Ich wedele mit der Hand und gehe in Richtung Theke, bevor Ronnie mich auffordern kann, meinen Satz zu beenden.
Zu dem Zeitpunkt, als ich die Kiste klappernd absetze, funkelt mich Bev bereits wütend an. »Ich bezahle dich nicht, damit du mit deinen Freunden schwatzt.«
»Du zahlst mir ohnehin kaum was«, erwidere ich. »Apropos … Es ist zehn.«
Bev verdreht die Augen. »Du findest immer eine Ausrede, um nicht arbeiten zu müssen.« Sie will mich nur ärgern.
Anstatt darauf einzugehen, werfe ich ihr meinen besten Hundeblick zu.
Endlich gibt Bev nach. »Na schön. Geh! Und zögere die Sache nicht wieder hinaus.«
»Das würde mir im Traum nicht einfallen.« Eilig wische ich mir die Hände am Spültuch ab. Dann fange ich Ronnies Blick auf und nicke ihr zu. Showtime.
Die Bezeichnung Bühne ist etwas übertrieben, denn es ist nur ein Podest, das Bevs herumstreunender Ehemann aus Kantholz zusammengeschustert und gegen die Wand geschoben hat. Es knarrt verdächtig unter jedem Schritt, und ich bin mir sicher, dass es eines Tages einfach unter mir nachgeben wird und ich mir den Fuß breche.
Aber es dient als Bühne. Und, noch wichtiger, es dient als Bühne, auf der Corroded Coffin auftreten darf (als Gegenleistung dafür, dass ich mich vier Abende pro Woche hinter der Theke abrackere). Und das muss genügen.
Es dauert nicht lange, bis Ronnie, Jeff und Dougie aufgebaut haben – als ich meine Gitarre aus dem Hinterzimmer hole, sind sie so gut wie fertig. Ronnie ist früher gekommen, um ihr Schlagzeug schon mal aus meinem Van zu laden, und Jeff und Dougie müssen nur noch Gitarre und Bass in die abgenutzten Verstärker einstöpseln, die Bev nie wegräumt. Ich springe neben Jeff auf die Bühne, wobei ich das Knarren des Holzes unter mir ignoriere, und lege mir den Gitarrengurt um.
»Wahnsinnspublikum heute Abend«, merkt Dougie trocken an.
Jeff, stets der Optimistische, zuckt mit den Schultern. »Der betrunkene Sam ist noch wach. Das ist doch was.«
»Scheiß drauf«, erwidere ich. »Wir sind hier, um zu spielen.«
Ronnie dreht einen Drumstick zwischen ihren Fingern. »Dann lasst uns loslegen.«
Ich erwidere ihr teuflisches Grinsen. Dann drehe ich mich so schwungvoll, wie es die winzige Bühne erlaubt, zum Publikum um und …
Manchmal, wenn wir als Corroded Coffin zusammen spielen, passiert etwas Merkwürdiges. Es ist, als würden wir einen heftigen Sturm oder Tornado oder einen verdammten Hurrikan heraufbeschwören. Etwas Großes, wie eine Naturgewalt. Aber all diese erschreckende Macht überwältigt uns nicht. Sie hebt uns hoch, trägt uns, und wir lassen uns von ihr treiben, bis der letzte Ton verklungen ist. Mitgerissen von dem Wirbelsturm der Musik fliegen wir.
Und heute Abend … heute Abend ist es ein Hurrikan. Das spüre ich schon beim ersten Schlag, den Ronnie zu Whiplash vollführt, und als dann die Gitarren einsetzen, verliere ich mich gänzlich. Ronnie gibt einen Rhythmus vor, der mich antreibt, während ich mich abwechselnd auf Jeff und Dougie fokussiere – Harmonie, Melodie, Harmonie …
Als ich wieder im Hier und Jetzt ankomme, hechele und schwitze ich, und in der Luft schwingt immer noch die Rückkopplung der Verstärker nach. Meine Finger kribbeln. »Wir sind Corroded Coffin!«, rufe ich in einen Raum voller Leute, denen wir egal sind. »Der nächste Song heißt …«
Plötzlich gerate ich beim Titel ins Stottern, sodass Jeff schon die ersten Akkorde von Electric Eye spielt, ehe er bemerkt, dass ich noch gar nicht fertig bin. »Sorry«, murmele ich, und als ich es noch einmal versuche, klappt es einwandfrei. Wir spielen das Lied, lassen uns treiben …
Nur gibt es diesmal keinen unaufhaltsamen Sturm. Ich verliere mich nicht. Denn meine volle Aufmerksamkeit gilt etwas, von dem ich meinen Blick nicht abwenden kann.
Im Hideout ist eine neue Person.
Sie sitzt an der Bar, vor sich ein kleines Glas mit einer braunen, wahrscheinlich ungenießbaren Flüssigkeit. Die Knöchel hat sie um die Beine ihres wackeligen Barhockers gehakt, und obwohl ich in dem schummrigen Licht nicht viel von ihrem Gesicht erkennen kann, sehe ich, dass ihr Knie im Rhythmus wippt. Alle anderen in der Bar beißen einfach die Zähne zusammen und warten darauf, dass wir endlich abhauen. Doch dieses Mädchen … hört zu. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben habe ich ein Publikum, das mich hören will.
Es ist berauschend. Ich spüre, dass das Gefühl in meine Knochen, meine Haut, meine Finger eindringt. Unter dem Blick dieses Mädchens verflüssige ich mich – nicht wie Wasser, sondern wie Quecksilber. Als Electric Eye endet, tue ich etwas, das ich vorher noch nie getan habe: Ich gehe direkt zum nächsten Song über, ohne Pause, ein Akkord nach dem anderen, bis wir fliegen.
Es kann nicht ewig so weitergehen. Bev funkelt mich hinter der Bar wütend an und tippt auf ihre Uhr. Aber ich bin noch nicht bereit, aufzuhören. Als die letzten Töne von Ozzy verklingen, werfe ich meine Hand in die Luft.
»Danke, dass ihr so ein tolles Publikum seid«, rufe ich laut genug, um Bev Konkurrenz zu machen. Ich habe vielleicht den Verstand verloren, aber in der Stille, die auf meine Worte folgt, meine ich, das Mädchen mir zuzwinkern zu sehen. »Wir haben heute noch eine Nummer für euch …«
»Junior …«, versetzt Bev, aber ich habe mich schon zu meinen Bandmitgliedern umgedreht.
»Was zur Hölle soll das, Eddie?«, fragt Dougie.
»Fire Shroud«, sage ich. »Lasst es uns ausprobieren.«
»Das Lied haben wir bisher nur bei den Proben gespielt«, protestiert Jeff.
»Es gibt für alles ein erstes Mal.«
Dougies Augäpfel treten fast aus seinem Schädel hervor. »Du bist verrückt. Die Leute wollen ja schon unsere Coverversionen nicht hören. Sie haben definitiv keinen Bock auf unsere Songs.«
Ich gehe nicht auf seine Bemerkung ein. »Ronnie?«
Aber Ronnie sieht an mir vorbei zur Bar – zu dem Mädchen. »Fire Shroud …«, sagt sie, wobei ihr Blick belustigt zurück zu mir huscht. Sie weiß ganz genau, was ich denke, und findet es witzig. »Weißt du was? Das ist eine grandiose Idee.«
Dougie kommt nicht mehr dazu, zu protestieren, weil sie ihre Drumsticks bereits einsetzt und uns in Zugzwang bringt. Jeff und Dougie beeilen sich, hinterherzukommen, und bald haben wir uns alle in das Lied eingefunden.
Wir spielen unsere eigene Musik vor Publikum. Ich singe den Text eines Songs, den ich selbst geschrieben habe. Es ist nicht perfekt – ich versinge mich ein- oder zweimal, und Jeff vergisst den Refrain –, aber auf der anderen Seite ist es genau das: perfekt.
Das Knie des Mädchens an der Bar wippt immer noch zum Rhythmus. Zum Rhythmus meines Liedes.
Ich habe gerade die letzte Note gesungen, als die Verstärker ein letztes ohrenbetäubendes Quietschen von sich geben. Ich zucke zusammen und zucke direkt noch einmal zusammen, als ich Bevs Gesicht sehe. Sie steht mit dem Verstärkerkabel in der Hand neben der Bühne und sieht unglaublich wütend aus.
»Treib es nicht auf die Spitze«, zischt sie und lässt das Kabel fallen, als wäre es eine Klapperschlange. »Ich bekomme wegen dir noch Migräne.«
»Das war super«, schwärmt Jeff und verstaut seinen Bass wieder im Kasten.
Dougie tut es ihm gleich, ein bisschen leiser – er wird mir nicht ohne Weiteres verzeihen, dass ich ihn einfach so ins kalte Wasser geschubst habe.
»Das war super«, wiederholt Jeff.
Ronnie pikt mich mit ihrem Drumstick in den Rücken. »Gut gemacht«, lobt sie und schiebt sich die Sticks in den Gürtel.
»Willst du was trinken?«, frage ich sie. »Geht aufs Haus. Ich bin dir was schuldig, nachdem du mich in meinem Vorhaben unterstützt hast.«
Sie grinst nur. »Warum revanchierst du dich nicht, indem du später mein Schlagzeug in deinen Van lädst? Denn wenn du das, was wir gerade getan haben, verschwendest, indem du mit mir trinkst, werde ich dir das nie verzeihen.«
Sie nickt nicht gerade subtil in die Richtung des Mädchens, und ich erröte bis zu den Ohren.
»Ronnie.«
»Viel Spaß!«, flötet sie und hüpft von der Bühne.
»Du bist ein Arschloch«, zische ich.
Aber Ronnie winkt mir nur zu; den Rücken hat sie mir schon zugekehrt, und ihre Schultern beben vor Lachen – im nächsten Moment fällt die Tür hinter ihr ins Schloss.
Bev ist mit einer Packung Zigaretten durch den Hinterausgang verschwunden, wobei sie sich über ihre Kopfschmerzen beschwert hat, so wie sie es nach jedem unserer Auftritte tut. Jeff und Dougie haben sich mit Ausreden über Hausaufgaben und strenge Eltern ebenfalls aus dem Staub gemacht. Familienkram. Schulkram. Normale Dinge.
Das Mädchen aber ist immer noch hier, immer noch an der Bar, als wäre es eine Stammkundin wie Sam. In einem zutiefst schockierenden Anflug von Selbstdisziplin gehe ich zweimal durch die Bar, um leere Gläser abzuräumen, ehe ich mir erlaube, wieder in ihre Richtung zu sehen. Die ganze Zeit über bin ich mir ihrer Anwesenheit, ihrer wippenden Füße, der Geräusche der schmelzenden Eiswürfel in ihrem Glas überbewusst. Ihr Blick scheint sich zwischen meine Schulterblätter zu brennen.
Sie sieht mich nicht an, als ich schließlich direkt auf sie zugehe, nicht einmal dann, als ich fünf schmutzige Gläser geräuschvoll neben ihr auf der Theke abstelle. Ich atme tief durch. Soll ich den Mund halten? Soll ich etwas sagen? Was soll ich sagen? »Wie fandest du uns?« »Du bist die einzige Person, die uns jemals zugehört hat – hat es dir gefallen?« … »Habe ich dir gefallen?«
Doch dann ist sie die Erste, die spricht. »Nicht schlecht.« Ihre Stimme klingt leise und rau – aber vielleicht liegt das auch daran, dass die Luft im Hideout zu fünfundneunzig Prozent aus Zigarettenqualm besteht. Sie stützt sich wieder mit beiden Ellbogen auf der Theke ab, was ich als jemand, der dafür verantwortlich ist, die Theke zu reinigen, als mutig empfinde. Ihre Augen wirken in dem schwachen Licht riesig und dunkel, sie schaut direkt geradeaus durch die Bar, als würde sich in Bevs flackerndem Neonschild ein Schatz verbergen.
»Dein Drink oder die Musik?«
»Definitiv nicht der Drink.« Ihr Mund verzieht sich zu einem kleinen, schiefen Lächeln. Ich frage mich, welche Lippenstiftfarbe sie trägt. In diesem Licht ist das schwer zu sagen. »Ich habe Whisky Cola bestellt. Aber ich weiß nicht recht, was das ist.«
»Bev hat alle Mischgetränke auf illegalem Weg erstanden«, erkläre ich. »Das ist unser feinster Whisky Cola. Von mehr als zwei wirst du blind.«
Sie lacht. Es ist so ein schöner Klang, dass ich blinzele. »Ich bin Paige«, stellt sie sich vor und streckt ihre Hand aus. Als sie sich mir endlich zuwendet, erhasche ich den ersten Blick auf ihr Gesicht.
Sommersprossen, ist mein dümmlicher erster Gedanke – nur ein Wort, wie ein verdammter Neandertaler. Aber ich kann nichts dafür, denn sie hat eine Menge davon, auf der Nase und den Wangen, eingerahmt von kinnlangem, zerzaustem dunklen Haar.
»Eddie.« Die erste Silbe klingt quiekend, und ich vergesse vollkommen, ihr ebenfalls die Hand zu reichen.
»Munson, richtig?«
Ich muss mich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Game over. Sie weiß, wer ich bin, was bedeutet, dass sie auf keinen Fall für einen weiteren Drink bleiben wird.
»Ja?« Ich klinge viel zu defensiv, doch ich weiß, was nun kommt. Es ist besser, sofort die Reißleine zu ziehen.
Sie schenkt mir ein selbstzufriedenes Lächeln, das mich vollkommen aus dem Konzept bringt. »Ich wusste, dass du es bist, als ich dich auf der Bühne gesehen habe. Ihr seid mittlerweile richtig gut.«
»Äh«, ist das Einzige, was ich herausbringe.
»Junior-High-Talentshow. Winter 1981. Ihr habt eine Coverversion von Exciter gespielt, die für ziemliches Aufsehen gesorgt hat.«
Das ist noch nett ausgedrückt. Wir mussten uns den Rest der Woche mit den Mitgliedern des Elternbeirats auseinandersetzen, die unseren Eltern die Türen einrannten, weil sie sich Sorgen darüber machten, dass Corroded Coffin versucht, ihre Kinder zum Satanismus zu bekehren.
Und dieses Mädchen war offenbar Zeugin des Ganzen. Mittlerweile sollte mir aufgegangen sein, wer sie ist, aber mir will es einfach nicht einfallen.
Nach ein paar Momenten, in denen ich sie mit leerem Blick anstarre, hat Paige Mitleid. »Paige Warner«, sagt sie. »Hawkins High, Abschlussklasse ’82.«
Das sagt mir etwas. »Warner …«
»Mein Bruder besucht immer noch die Schule«, hilft sie mir auf die Sprünge. »Elfte Klasse. Er ist in der Baseballmannschaft.«
Was bedeutet, dass er wahrscheinlich mindestens einmal ein Mitglied des Hellfire Clubs verprügelt hat. »Willst du noch einen Drink?«, frage ich, denn wenn es eines gibt, worüber ich im Moment nicht sprechen will, dann ist es Highschool-Sport.
Sie zieht eine Augenbraue hoch, als wüsste sie genau, was ich vorhabe. »Werde ich davon nicht blind?«
»Was wäre das Leben ohne Risiko?«
Ich gehe mit einer Geschmeidigkeit, die mich selbst beeindruckt, hinter die Theke. Mir bleiben ungefähr fünf Minuten, bevor Bev von ihrer Migränepause, die eigentlich eine Zigarettenpause ist, wiederkommt und mich anschreit, weil ich nicht arbeite, also muss ich jede Sekunde nutzen. »Ein großer oder ein kleiner Schuss?«
»Klein. Ich muss heute Abend noch meinen Eltern gegenübertreten.«
Ich mische ihren Drink und schütte fast eine gesamte Dose No-Name-Cola in ihr Glas, ehe ich es ihr hinschiebe. »Hier«, sage ich und sehe zu, wie sie einen Schluck trinkt. »Dann bist du also nur zu Besuch hier. Sonst hätte ich dich längst in der Gegend gesehen.«
»Mhm«, macht sie und beobachtet mich über den Rand ihres Glases hinweg.
»Mhm«, äffe ich sie nach und ziehe die Nase kraus. »Tu nicht so, als wäre das eine Antwort. Du hast es aus diesem schrecklichen Ort rausgeschafft und bist wieder zurück … für wie lange, weiß ich nicht. Und aus irgendeinem Grund hast du beschlossen, dass du hier etwas trinken willst, obwohl es haufenweise Läden im Ort gibt, bei denen du nicht Gefahr läufst, auf dem Parkplatz vollgekotzt zu werden.«
»Was, wenn ich dir erzähle, dass dies die einzige Bar im Umkreis von dreißig Kilometern ist, die eine Bühne hat, und ich Live-Musik hören wollte?«
Ich werfe einen Blick auf die schlechten Verstärker und die knarrende Bühne. »Dann würde ich dich fragen, was so schlimm daran wäre, dreißig Kilometer zu fahren?«
Sie lacht erneut.
»Es sei denn, du wolltest uns im Speziellen sehen.«
»Bevor du dir was einbildest: Nein. Es war nur ein glücklicher Zufall.«
»Glücklich, mhm?«
»Sicher.« Sie zuckt mit den Schultern und fährt mit einem Finger über den Rand ihres Glases. »Du hast recht, ich bin zu Besuch hier. Meine Großmutter ist gerade gestorben, und ihr Haus ist sozusagen ein Kriegsgebiet. Sie hat eine Menge gehamstert. Ich bin für eine Weile hier, um meiner Familie beim Ausräumen zu helfen, und es ist schrecklich. Wir haben, ich weiß auch nicht, drei tote Katzen gefunden?«
»Das sind ganz schön viele tote Katzen.«
»Ja«, pflichtet sie mir bei. »Und vielleicht liegt es tatsächlich an den toten Tieren, aber ich vermisse L. A. fürchterlich. Und dieser Laden ist das, was dem Roxy in Hawkins, Indiana, am nächsten kommt.«
»Wow. Los Angeles?« Wow. »Wow.« Ich schüttele den Kopf, um die Bilder von Sand, Surfbrettern und Sonnenschein aus meinem Kopf zu verbannen. »Ich hatte ohnehin schon Mitleid mit dir, weil du wieder herkommen musstest. Und dann auch noch aus Kalifornien.«
Sie legt den Kopf schief. »Nicht alles hier ist schlecht.«
Etwas in der Art, wie sie mich ansieht, bringt mich aus dem Konzept, und endlich kann ich benennen, woran es liegt. Es ist ungewohnt. Normalerweise sehen alle, die Eddie Munson anschauen, den Versager des Ortes, den Freak. Aber Paige … Sie sieht mich an wie einen Menschen.
Wie einen Menschen, über den sie herfallen will.
Seit meinem desaströsen Kuss mit Ronnie vor fünf Jahren habe ich nicht gerade im Zölibat gelebt. Es gab Nicole Summers in der zehnten Klasse und – ebenfalls unvergesslich – Cass Finnigan Anfang dieses Jahres. Aber bei beiden Mädchen habe ich gespürt, dass ich für sie nur … eine Art Mutprobe war. Sie hatten kein Interesse daran, mich kennenzulernen. Sie wollten nur ihren Freundinnen erzählen, wie es war, mit dem Freak zusammen zu sein.
Aber damit haben sie mir nicht das Herz gebrochen. Ich hatte ohnehin nicht vor, eine feste Beziehung zu führen. Doch unter Paiges Blick …
»Ja, also …« Ich räuspere mich. »Das Roxy, hm?«
»Das Roxy, das Troubadour, Whisky à Gogo … Ich bin fast jeden Abend in einem dieser Läden.«
»Das hört sich … Ehrlich gesagt hört sich das traumhaft an.«
»Das stimmt. Und an einigen Tagen ist es das tatsächlich. Aber meistens ist es nur mein Job. Ich bin Scout. Na ja, Junior-Scout. Scout-Assistenz.«
»Und damit meinst du … du bist Pfadfinderin?« Ich deute mit drei Fingern einen Salut an.
Ihre Nase kräuselt sich, als sie grinst, und die Sommersprossen tanzen.
»Talent-Scout für eine Plattenfirma, du Schlauberger. WR Music. Ich arbeite für Davey Fitzroy, er ist …«
»Ich weiß, wer Davey Fitzroy ist.« Mir ist ein wenig schwindelig, oder vielleicht werde ich auch verrückt. Es ist tatsächlich verrückt, in Hawkins die beiläufige Erwähnung einer Person zu hören, deren Namen ich bisher nur auf der Hülle meiner Lieblingsplatten gelesen habe. »Er ist ein Genie.«
»Klar. Unter anderem.«
Ich bemühe mich, meinen bewundernden Blick abzulegen, und ziehe eine Augenbraue hoch. »Hast du Geschichten auf Lager?«
»Ich habe …« Sie bricht mit einem reumütigen Lachen ab. »Ich habe zwei Jahre hinter mir, in denen ich bekiffte Gitarristen und betrunkene Drummer abwehren musste, die dachten, der schnellste Weg zu meinem Boss führe über mich. Aber das hätte selbst dann nichts gebracht, wenn ich auf sie gestanden hätte. Daveys Lieblingsbeschäftigung ist es, Leute niederzumachen, und bei WR wird man nur befördert, wenn man jemanden findet, den sie unter Vertrag nehmen – also stecke ich in einem schönen Dilemma, bis Davey mich feuert oder ich kündige.« Sie trinkt einen Schluck und redet dann schneller weiter. »Ich meine, ich gehe zu all diesen Konzerten, besonders von Bands, die noch nicht bekannt sind. Ich halte Ausschau nach Leuten wie euch, wie Corroded Coffin, die seit Ewigkeiten in runtergekommenen Spelunken spielen. Aber auch wenn sie fantastisch sind, habe ich noch nie eine Band entdeckt, die Davey unter Vertrag nehmen wollte. Sie haben nicht das, wonach er sucht.«
»Und das wäre?«
»Etwas, das echt ist. Man merkt immer, wenn Leute auf der Bühne wirklich sie selbst sind. Und wenn man es findet, kann man nicht wegsehen.« Sie tippt das Eis in ihrem Glas mit einem schwarz lackierten Fingernagel an. »Unter uns gesagt – und das muss ein Geheimnis bleiben …«
Ich lege mir eine Hand aufs Herz. »Barkeeper unterliegen der Schweigepflicht.«
»Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich noch so weitermachen kann. Ich meine, ich liebe Musik. Ich liebe sogar das Musikbusiness oder das, was es sein könnte. Aber es gibt darin keinen Platz für mich …«
»Junior!« Bevs Stimme klingt wie ein Peitschenhieb in der Nacht.
Ich weiche vom Tresen zurück und umklammere meinen Lappen mit beiden Händen, als könnte er mich vor der ein Meter fünfzig großen, nach Tabak riechenden Flutwelle beschützen, die sich drohend über mir aufbaut.
»Ich hab dir doch schon vor einer Ewigkeit gesagt, du sollt das Fass auswechseln.«
»Eine Sekunde, Bev …«, sage ich, aber Paige trinkt bereits ihr Glas aus, schiebt ihren Hocker zurück und hängt sich ihre Handtasche über die Schulter.
»Wir sehen uns«, sagt sie.
»Junior!«
»Ich werde hier sein«, sage ich zu Paige und sehe ihr hinterher, als sie an dem betrunkenen Sam vorbeigeht und die Bar verlässt. Und als ich ins Hinterzimmer eile, um das neue Bierfass zu holen, wird mir bewusst, dass ich lächele.
Etwas, das echt ist. Und wenn man es findet, kann man nicht wegsehen.
Ich glaube, ich weiß genau, was Paige meint.
Ich stehe immer noch unter Strom, als ich den Van auf die Philadelphia Street lenke. In einem anderen Universum, in dem es nicht zwei Uhr morgens ist, hätte ich vielleicht gesummt. Wäre über dem Boden geschwebt. Wie heißt es noch gleich in romantischen Filmen?
Leute wie ihr. Nein, das ist nicht der Filmspruch, aber das hat Paige gesagt. Als sei es ein Kompliment. Leute wie ihr.
Ich schüttele mich und biege auf den Kiespfad vor dem Haus ein. Konzentrier dich, Munson. Du musst schlafen.
Doch das ist leichter gesagt als getan, denn als ich die Wagentür öffne und hinaus auf den Rasen springe, erblicke ich etwas, das mir das Herz in die Hose rutschen lässt.
Das Küchenlicht schimmert schwach durch den Spalt zwischen den Vorhängen, obwohl ich weiß, dass es nicht an sein sollte. Doch das ist es nicht, was mich so beunruhigt; es sind die zwei Paar Stiefel neben der Haustür. Eines davon ist alt, aber tadellos sauber und wurde mit großer Präzision vor der Wand abgestellt. Das andere Paar ist mit Schlamm übersät und wurde offenbar achtlos weggekickt, denn ein Stiefel ist umgekippt.
Es ist dieses Paar, das mein Blut rauschen lässt. Ich kenne diese Stiefel. Ich habe öfter, als ich zählen kann, beobachtet, wie sie sich aus meinem Leben entfernt haben.
Mein erster Impuls ist es, so schnell ich kann durch die Tür ins Haus zu stürmen. Doch ich werde den Stiefeln nicht die Genugtuung geben, mich für sie abzuhetzen. Also lasse ich mir Zeit damit, meine Gitarre aus dem Kofferraum zu holen, mir den Tragegurt über die Schulter zu hängen und die Stufen bis zur Haustür hochzugehen.
Dad besetzt beide Küchenstühle. Auf einem sitzt er, auf dem anderen hat er die Füße abgelegt. Eine Dose Spaghetti mit einem Löffel darin steht auf dem Tisch. Dad hat sich nicht mal die Mühe gemacht, den Metalldeckel vollständig zu entfernen. Er steht ab wie eine Blüte mit rasiermesserscharfen Kanten, die das beschützt, was eigentlich mein Abendessen sein sollte.
Onkel Wayne hat es sich erspart, um einen Platz zu kämpfen. Er lehnt an der Küchenzeile, die Hände tief in seinen Taschen vergraben. Neben ihm auf dem Boden steht eine Plastiktüte voller Lebensmittel. Es ist kein ungewöhnlicher Anblick, denn Wayne glaubt immer noch, dass ich nicht in der Lage bin, mich selbst zu ernähren, weshalb er alle zwei Wochen hier aufkreuzt, um Mikrowellengerichte und Dosensuppen in den überfüllten Regalen und dem schimmeligen Kühlschrank zu verstauen.
»Da ist er ja!«, ruft Dad, als er mich sieht, und nimmt die Beine vom Stuhl.
Wayne nickt mir nur zu, ohne den Blick von Dad abzuwenden. »Eddie«, sagt er. Er hat noch nie viel gelächelt, aber jetzt zeichnet sich zusätzlich das Runzeln auf seiner Stirn ab, das ausschließlich seinem Bruder vorbehalten ist.
»Willst du deinen alten Herrn nicht begrüßen?«, fragt Dad.
Mir wird bewusst, dass ich seit fast zwanzig Sekunden im Türrahmen stehe und ihn anstarre.
»Seit wann bist du hier?«, frage ich.
»Seit zwei Stunden. Der Verkehr auf der I-80 war die Hölle.«
»Joliet?«
»Wer hat was von Joliet gesagt? Vielleicht war ich ja in Chicago.«
»Das Staatsgefängnis ist in Joliet«, merkt Wayne an.
Dad streckt seinem Bruder die Zunge heraus. »Ihr habt wohl kein Vertrauen in mich.« Er erhebt sich mit ausgebreiteten Armen. »Wie wär’s mit einer Umarmung?«
Mein Widerwille sollte größer sein, während ich gehorsam auf ihn zugehe. Ich sollte auf dem Absatz kehrtmachen, wieder in meinen Van steigen und in die Nacht hinausfahren. Denn die Geschichte beginnt immer auf die gleiche Art – mit einer Umarmung, die nach Leder, Zigaretten und billigem Aftershave riecht. Und sie endet auch immer gleich.
Trotzdem erwidere ich seine Umarmung.
