Straße 816 - Michal Ksiazek - E-Book

Straße 816 E-Book

Michal Ksiazek

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Straße 816« ist eine erstaunliche Reisereportage über den letzten Urwald im Osten Europas. Ein Buch zum Innehalten und Verweilen, eine poetische Wanderung der Sinne. An der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine schlängelt sich die Straße 816 durch die unberührte Flusslandschaft des Bugs. Durch Michal Ksi?zeks Augen sehen wir eine erstaunliche Artenvielfalt, die woanders vor dem Aussterben bedroht ist, aber in der grünen Lunge Polens überleben kann – Insekten, Pflanzen und vor allem Vögel: Bluthänflinge, Erlenzeisige und die größte Eule der Welt, den Uhu, der fähig ist, eine Gans, einen Reiher oder gar einen kleinen Hund zu fangen. Die wenigen Menschen, die der Wanderer trifft, haben das Leben gesehen, sie tragen die Erinnerungen in sich, ob jung oder alt. Seit Jahrhunderten ist dies ein Grenzgebiet verschiedener Ethnien, Konfessionen und Kulturen. Katholische Polen, orthodoxe Ukrainer, deutsche Vernichtungslager, Sobibór lag gleich an der 816, und auch Treblinka war nicht weit weg. »Straße 816« ist ein fesselndes Buch, das die überwältigende Naturschönheiten mit dem Grauen der Geschichte zu verbinden vermag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 208

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michał Książek

Straße 816

Eine Wanderung in Polen

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall

FISCHER E-Books

Inhalt

DIMENSIONOben Der saftige Speichelfleck des [...]Chełm Am Busbahnhof in Chełm [...]Entfernung Ich blieb an der [...]Nacht Die Straße lief, ich [...]Übernachtung Horodło machte neugierig, allein [...]Zwischen Wieder steckte ich zwischen [...]Tag Vielleicht war es Nebel; [...]Horodło Der Geruch eines frischen [...]Asymmetrie Jetzt galt es einen [...]Vögel Die Banden von Erlenzeisigen [...]Kreuze Etwas war geschehen auf [...]Schwarzspecht Dieser alte Wald bestand [...]Farbe Es dämmerte, und die [...]Der Fremde Dubienka. Der Name [...]Welt In meinem Quartier bei [...]Uchańka Die Kirche der Feindseligkeit [...]Winter Der Winter begünstigte das [...]Profanum In Husynne machte ich [...]Grenze Im Laden von Dorohusk [...]Schnecken Meine Füße weckten mich. [...]Grünfink Und da kam ein [...]STRASSE 816Hier Es goss wie im [...]Spät Der Regen hatte aufgehört. [...]Nester Wenn man von Horodło [...]Hniszów In der Kurve Richtung [...]Wo lang Wenn man nach [...]C-330 Im nahe gelegenen Marysin [...]Hniti, faulen Ich ging. Für [...]Dort Es ergab sich, dass [...]Das Verb »gehen« Heute Abend [...]Richtung Der Friedhof einer historischen [...]Polesie Stare Stulno wies alle [...]Finken Der Distelfink oder Stieglitz [...]Hinein Aufwachen auf einem grünen [...]Włodawa Włodawa ohne Juden ergibt [...]Hinaus Die historische Ausstellung des [...]Raubwürger Aus all diesen Gründen [...]Antipoden Die Ränder der Dörfer [...]Kräuterdieb In dem Dorf Stawki [...]Brot In dem Dorf war [...]Mehlschwalben Die ersten paar Schritte [...]Stille Hinter Sławatycze ging man [...]Laden Die Helligkeit, die aus [...]Die andere Seite Der achte [...]Anwesenheit Ich erwachte in einem [...]Sünde Fünf Kilometer vor Terespol, [...]FLUSSOsten In Terespol ging die [...]Mist Aus der Tiefe des [...]Fluss Neple lag hinter dem [...]Karte Irgendwo hatte ich ihn [...]Blicke Die erste vollständige Phrase [...]Janów Mehr als der Ortsname [...]Straße 698 Pawłów Stary. Eine große [...]Lied Ich fragte nach einer [...]Westen Die ersten Laute des [...]REKAPITULATIONEin Ganzes Das Trampen von [...]Włodawa Włodawa im April verdiente [...]Seitenstreifen Wenn schon gehen, dann [...]Straße 816 Wenn du in ein [...]Vogelknöterich Ich ging von Okopy [...]Nach Süden Es erforderte große [...]Quartier In den Orten, in [...]Steppe Am frühen Morgen pfiffen [...]Kraska, Blauracke »Ich trete Ihnen [...]Wind, Sauerstoff, Silizium Die Strecke [...]Geometrie In der Nacht weckte [...]Rückkehr In Sibirien ist die [...]Vögel Durch die Orte, die [...]Kreuz Ein orthodoxes Wegkreuz. Golden, [...]Blickfeld Dieses seltsame Gefühl: in [...]Skryhiczyn »Zuerst war da das [...]Vermehrung In dem feuchten Wald [...]Busbahnhof Nichts ist imstande, die [...]Übernachtung Die Bewohner alter Häuser [...]Ikonostase Ich erwachte wie immer [...]Nahe In der Nähe. Unweit. [...]Herr Jan Unter der angegebenen [...]KÄNOZOIKUMEpoche Das Bewusstsein war irgendwo [...]Siemiatycze Als ich die Stadt [...]Häuschen Man könnte lange durch [...]Nacht Ich fand keinen rationalen [...]Der heilige Berg Ich erwachte [...]Mielnik Wärmeliebende pontische Pflanzenwelt, xerothermische [...]Entortung Niemirów litt an einer [...]Für lau Man merkt es, [...]Straße 19 Es waren mehrere Namen, [...]Namen Die Ulmen entlang der [...]Hier »Ich bin von hier«, [...]Kleszczele Ein Blick weckte mich, [...]Gummibärenbande Am nächsten Tag ging [...]Kreuze Jenseits des Bugs, angefangen [...]Długi Bród In Długi Bród [...]August Was geht im Juli [...]URWALD VON BIAŁOWIEŻABiałowieża Das Wichtigste ist immer [...]Fremdsprachen Es ist gut, nach [...]Ankunft Das Wichtigste ist immer [...]

DIMENSION

Oben Der saftige Speichelfleck des Obdachlosen auf dem Bahnhof in Lublin hatte dieselbe Farbe wie der Himmel. Als wäre ein bisschen davon heruntergetropft. Die Identität der Farben war so verblüffend, dass ich mich über die Spucke beugte, um besser zu sehen. Ich suchte eine Parallele. Ja, genau so war der Himmel: schleimig und tuberkulös. Graues, verdrecktes Linoleum mit Adern in dieser kranken Farbe. Man hätte gern mit einem Schrubber so lange gewischt, bis das Azur durchkommt. Oder wenigstens die Troposphäre. Denn immer, wenn ich losfahre, blicke ich nach oben, um das Wetter zu sehen. In der Sprache der Steppenvölker, die oft nach oben schauen, ist »Himmel« neben »Luft« und »Zeit« eine der Bezeichnungen für Wetter, fast ein Synonym.

In der Steppe macht der Himmel die Hälfte des Blickfeldes aus, die Hälfte der Welt. Die Metamorphosen des Himmels und sein Zorn bilden die Meteorologie; Regen kommt nicht hinter den Bergen hervor, sondern vom Himmel, Gewitter ziehen nicht vom Wald heran, sondern vom Himmel. Von weitem sichtbar, sind die Wettererscheinungen mit dem Himmel identisch geworden. Als die Nomaden nach Westen vordrangen, brachten sie die etwas zu großen Bedeutungen ihrer Wörter mit, und wer weiß, vielleicht hat nicht viel gefehlt, und wir hätten aus ihrer Sprache ein Nomen entlehnt, das die Aussicht, das Blickfeld beschreibt. Sie blieben über Jahrhunderte in Lublin, woran der Name des Stadtteils Tatary erinnert, und die Grenze des Steppenstaates reichte eigentlich bis Chełm, das über hundert Jahre lang den Khanen Tribut leistete. So begann meine Reise nach Osten, so lief das.

Chełm Am Busbahnhof in Chełm begriff ich, dass es gut wäre, hier zu bleiben. An der östlichen Wand herumzulungern, den Verkehr zu beobachten und darin irgendeine Regelmäßigkeit zu suchen. Der Fahrer war außergewöhnlich höflich. An der Haltestelle Nummer vier stand eine vergessene Tasche, die niemand stehlen wollte. Eine Mutter hielt ihre Tochter fest an der Hand. Eine Kohlmeise und eine Blaumeise suchten in größter Eintracht auf demselben Ast nach etwas zu fressen. Ich kaufte mir ein Brötchen mit Buchweizen, ja, mit Buchweizengrütze, schmackhaft und nahrhaft wie Wodka. Welche guten, bescheidenen Menschen kamen auf die Idee, ein Brötchen mit Buchweizengrütze zu füllen? An diesem Morgen wollte ich in Chełm bleiben, dort wohnen und die dortige Neigung zum Maßhalten, vielleicht sogar zur Armut erforschen, obwohl ich mir das eine wie das andere auch einbilden konnte.

Vor dem Busbahnhof war ein pompöser Manövrierplatz aus der Zeit der späten Volksrepublik erhalten. Mit sechseckigen Pflastersteinen aus Beton ausgelegt, drängte er das Bild einer Honigwabe auf. Nur die Parkbuchten an den Haltestellen waren aus schwarzem Asphalt. Die Verbindung der zwei Materialien wirkte hier vollkommen angemessen, der Beton und der Asphalt waren so alt, dass sie einen ähnlich ehrwürdigen Zustand erreichten wie Stein und Holz. Hier und da grinsten auf dem Platz die bekannten Visagen der Autosan-Busse, dieser gutmütigen Ungetüme aus der Kindheit, mit denen ich meine ersten Reisen unternommen habe. Die Bilder ihrer Motorhauben muss ich mir aus derselben Ferne ins Gedächtnis rufen wie die Gesichter meiner Schulkameraden aus der ersten Klasse. Und damit auch die Überzeugung, dass die Autosan-Busse uns mit ihren großen Scheinwerfern betrachten und an uns denken. Zwei andere Drachen waren aus der Herde der Busse verschwunden: der schmutzige Jelcz und der alte Leyland.

Die nördliche Frontfassade des Busbahnhofs bildete ein längliches Gebäude ohne auch nur das bescheidenste schmückende Element. Ästhetisch war es nicht, mit Sicherheit aber geometrisch. Errichtet in der Zeit des Exodus aus den Holzhäusern in gemauerte Häuser. Es knüpfte an nichts an und erinnerte an nichts. Es drückte die reine Freude und Genugtuung über seine Wände und seine Decke aus, über die Wärme, die es spendete. Über die Widerstandsfähigkeit gegen Insekten und Pilze. Ja, es war eine Flucht vor der Natur. Der Sieg über das Wetter. Und Ausdruck des Stolzes darauf, dass es nicht aus Holz war.

Der polnischen Sprache widerfährt auf dem Busbahnhof in Chełm etwas Gutes. Der Satz beginnt zu wogen, manchmal stark sinuskurvenförmig, aber nicht so sehr, dass er nicht zu verstehen wäre. Man wird sich klar darüber, dass es in der Sprache Akzent und Intonation gibt, Melos und Melodie. Dass die Wörter und Aussagen viele überflüssige Schnörkel enthalten, unnötige Noten, Unpraktisches. Wie bei manchen Vögeln. Als ginge es nicht nur um Kommunikation, sondern um mehr. Als wäre die Ausschmückung der Information wichtig, die phonetische Schnitzerei.

Im Bus stach meine Fremdheit hervor wie ein grober Rechtschreibfehler. Ich wollte nach Raciborowice fragen, das hinter dem Strzelecki-Wald liegt, aber ich verwechselte etwas, diesen Teil der Landkarte kannte ich nicht. Im Übrigen wirkte allein meine andere Aussprache, der Klang meiner Stimme wie eine andere, dunkle Hautfarbe. Die Passagiere schauten mich immer wieder an, noch als wir aus der Stadt hinausfuhren. Der Bus kam an Straßen vorbei, die auf die Namen berühmter Polen getauft waren, dank deren konnte ich eine Art Gemeinschaftsgefühl mit den übrigen Reisenden empfinden. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte gesagt: »Schließlich sind wir durch Piłsudski und Mickiewicz verbunden!«

In Raciborowice hielt der Bus an einer kleinen Straße nach Osten. Ihren Anfang bewachten zwei betrunkene Typen und eine Tigerskulptur in einem Gärtchen. Ich ging am Rand des Strzelecki-Waldes Richtung Ukraine. Nach Horodło waren es vierundzwanzig Kilometer. Zur Linken erstreckte sich der Strzelecki-Landschaftspark, zur Rechten fruchtbare Felder. Das Blickfeld zur Linken war also rechtlich geschützt, das zur anderen Seite pflügten und düngten Bauern. Kaum war ich den ersten Kilometer marschiert, da tauchte ein Mann mit Bart auf und lud mich zum Mittagessen ein. Beinahe sofort. Das schien also schon der Osten zu sein.

Der Bärtige erzählte, und draußen vor dem Haus, in dem wir Wurst und Zwiebeln aßen, standen sieben Walnussbäume. Die Bäume trugen jedes Jahr reichlich Früchte, zur Freude der Mäuse in der Umgebung. Obwohl schon Dezember war, lagen die Nüsse noch da. Die Nager hatten eine Weide hier, und zwar gleich drei Arten: die Feldmaus, die Brandmaus und die Gelbhalsmaus. Wir aßen, knabberten noch ein paar Nüsse aus dem Mäusegarten, und ich ging weiter. Wir verabredeten uns fürs Frühjahr »irgendwo im März«. Als wäre der März ein Ort, als hätte er eine Grenze und eine Topographie.

Entfernung Ich blieb an der Schwelle zur Entfernung stehen, um den Moment zu erfassen, in dem die Entfernung angetastet wird. Das erinnerte an einen Satz über einen Graben oder einen Kopfsprung von einem hohen Ufer und erforderte Mut. Es war nicht vollkommen zu kontrollieren, vorauszusehen. Anfangs dachte ich, es hätte in dem Augenblick begonnen, als ich aus dem Haus ging, aber nein – erst auf der Straße lag die Entfernung. Die Straße lief, die Richtung führte, die Entfernung war unbeweglich. Ich stieß mich von hinten ab, und irgendwie ging es. Das Vorne ist eine sehr universelle Richtung, nicht so eingegrenzt wie der Norden, Süden oder sogar der Osten, der im Vergleich zum Vorne wie eine gewöhnliche Spurrille in der Straße aussieht.

Nacht Die Straße lief, ich ging. Mich interessierte jede der Ausdehnungen, die in Raum und Zeit existieren. Die Parameter der Gegenstände, der Bäume, des Himmels. Die ganze im Blickfeld verborgene Dimension – Längen, Breiten, Höhen und Entfernungen, Umfänge und Tiefen. Ich benutzte auch Stunden und Viertelstunden, sogar Lux, Töne und seltene Substantive. Den Weg maß ich mal in Schritten, mal in Atemzügen. Die totale Dimension, vollkommen, beschlossen in einem einzigen aufmerksamen Blick wie in einer mathematischen Summe. Könnte man all das nur aufzeichnen, mit einem einfachen Muster, um es in Erinnerung zu behalten.

In der Abenddämmerung, in der Nähe von Kułakowice, jagte ein Sperber. Er flog tief, mit den Spitzen der Flügel, als stieße er sich mit den Enden der Schwung- und der Steuerfedern vom Boden ab. Es sah aus, als liefe er. Er verstand es, jede Vertiefung des Geländes, jede Verdichtung der Dämmerung zu nutzen, um zu verschwinden. Um plötzlich auf einem Hof zwischen Sperlingen zu erscheinen und zu töten. Der Sperber hat außergewöhnlich starke Greiffänge, die in Krallen enden. Sie erinnern an eine Falle. Damit zermalmt er kleinere Vögel, indem er ihr Rückenmark zerquetscht. Gibt es zartere Wirbelsäulen als die der Stare, Sperlinge und Meisen? Na ja, vielleicht haben die Goldhähnchen, das Winter- und das Sommergoldhähnchen, eine noch zartere Lebenssaite im Rücken.

Später begann es zu regnen. Die Leute blieben in ihren Häusern. Wie auch die Kühe, Schweine und Hühner. Es gab hier die noble Gewohnheit, an der Straße Kirschbäume zu pflanzen, und diese Süßkirschen wuchsen hoch und bildeten gerade, mächtige Stämme. Ganz wie Kiefern. Wahrscheinlich war das der ertragreichen Schwarzerde zu verdanken. Es war gut, zwischen diesen hohen Kirschbäumen zu gehen, immer weiter Richtung Osten, der einfach die Abenddämmerung war. Ich ging, und die fruchtbare Nacht schüttete alles zu. Man fiel hinein wie ein Samenkorn in die Furche, tief und unwiederbringlich.

In Stefankowice endete die Straße. Das heißt, es gab sie noch, aber sie teilte sich, verlief nach links und nach rechts, doch aus der Landkarte ging hervor, dass sie geradeaus führen müsste. Wieder dieser lästige Widerspruch zwischen Zeichen und Wirklichkeit, und Verwunderung, fast schon Protest. Ich konnte nicht glauben, dass an der Stelle, wo auf der Karte eine Straße eingezeichnet war, in Wirklichkeit ein Haus stand. Die Karte sprach mich mehr an als die Realität. Bis ich begriff, dass der Urheber der Landkarte die Nachbildung des Gebietes vereinfacht hatte; ein paar Schritte nach rechts genügten, um das wunderbare, asphaltierte Kontinuum zu finden, die Fortsetzung, ja sogar das Futur, die Zukunft.

Ich ging und ging und ging. Sieben Stunden nach Horodło. Es muss eine tiefe Trance gewesen sein, denn an manche Abschnitte kann ich mich gar nicht erinnern, als hätte es sie nicht gegeben. Sicherlich wegen der Nacht, dunkel wie Schwarzerde. Sie soff die Gegenwart weg wie der Hund die Pfütze; so redeten die zwei Typen aus Raciborowice über das Trinken: Saufen. Die Nacht soff und fraß, daher erschien sie so üppig und prächtig, nicht abzuwarten. Die Zeit müssen die Menschen nachts erfunden haben, als sie auf das Licht warteten. Am Tage wäre niemand darauf gekommen, mit ziemlicher Sicherheit. Am Tage nahmen die Menschen den Raum wahr. Die Zeit, diese Ur-Intuition, ist in der Nacht über uns gekommen. Ich zerbrach mir den Kopf, wo ich sie verbringen, wie ich sie befriedigen konnte.

Übernachtung Horodło machte neugierig, allein durch seinen Namen. Durch seine Lage auf der Landkarte und die ziemlich große Anzahl von Holzhäusern. Ich konnte mich von früher an das Städtchen erinnern – es lag in meinem Gedächtnis wie in der rechten unteren Ecke der Karte des Strzelecki-Waldes, wo ich vor ein paar Jahren zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern Forschungen zu Vögeln betrieben hatte. Wir hatten ganze Tage damit verbracht, Horste von Schreiadlern, Habichten und Sperbern zu suchen, Nester von Baumfalken, Mäusebussarden und der rätselhaften Wespenbussarde. Ungeduldig hielten wir Ausschau nach dem mythischen Schlangenadler, einem aussterbenden Raubvogel, der sich hauptsächlich von Schlangen und Eidechsen ernährt. Von der Ukraine trennte uns nur die Straße 816, und auf der Landkarte stach der seltsame Name Horodło ins Auge.

Je tiefer ich zusammen mit Regen und Dunkelheit nach Horodło vordrang, desto mehr glaubte ich an Horodło. Die Häuser traten erst allmählich hervor, als wollten sie nicht vollständig existieren. Als hätte jemand die Beschwörung oder die Schöpfungsworte nicht zu Ende gesprochen. Was da war, existierte nur dank der Straßenlaternen und dank der Notizen, die ich unter einer der Laternen hinkritzelte. Das Zentrum der Stadt machte nach vierundzwanzig Kilometern Fußmarsch großen Eindruck auf mich. Reif, stattlich, gut zum Ausdruck gebracht. Am Fuß eines recht großen Hügels stand eine alte Feuerwache. Weiter oben war mit Mühe und Not eine orthodoxe Holzkirche auszumachen. Kreuze auf den Kuppeln waren nicht zu sehen, wodurch die Kirche himmelhoch erschien. Ein Stück weiter eine weiße gemauerte Kirche, überdimensioniert wie der römische Katholizismus. Gegenüber der orthodoxen Kirche blinkten die Neonlichter des kleinen Hotels Sława. Aber für eine Übernachtung an der Grenze, in einem Ort mit einem Namen, an den ich seit fünfzehn Jahren dachte, verlangten sie einen gesalzenen Preis. Angeblich war außerhalb der Stadt, »eine Stunde gehen«, ein Quartier für Arbeiter und LKW-Fahrer.

Drei Kilometer weiter klopfte ich an die Dunkelheit, und sie tat sich auf. Ihr Inneres war ein längliches Zimmer, das in eine offene Küche mündete und mit einem Dutzend Liegen zugestellt war. In der Luft hing ein intensiver Geruch: von männlichen Füßen, männlichen Achselhöhlen und noch etwas. Die Hausherrin wollte mich nicht aufnehmen, weil die Arbeiter – Maurer, am Grenzübergang im nahen Zosin beschäftigt – erst an diesem Tag weggefahren und die Betten noch nicht gemacht waren. Erst als ich erzählte, dass ich von weit her, aus Raciborowice kam, ließ sie sich erweichen. Sie fragte nicht, wozu ich hier war. Auch nicht für wie lange. Sie stellte einen Stapel Fischbouletten, Brot und Tee auf den Tisch. Ich solle zahlen, so viel ich will, sagte sie. Und bleiben, solange es nötig wäre. Das war zweifellos schon der Osten.

Einer ihrer Söhne brachte eine Kiste mit Artefakten, die er auf den hochgelegenen Feldern am Bug gefunden hatte: neolithische Äxte, Schaber, Messerchen aus Feuerstein. Ich muss sein Vertrauen geweckt haben, denn er zeigte mir auch ein für ihn besonders wertvolles Bajonett aus dem Zweiten Weltkrieg und eine Fahrradklingel aus der Vorkriegszeit. Am meisten Freude bereitete es ihm aber, wie er sagte, wenn er ein Versteck voller Zigaretten fand. Wenn es den Ukrainern gelang, ein paar Stangen herüberzuschmuggeln, fürchteten sie die Grenzkontrolle und versteckten die Ware an Orten, die ihren Komplizen in Polen bekannt waren. In diesem Jahr hatte der Junge sieben Stangen gefunden und seine Mutter sogar elf. Morgen würden sie wieder suchen gehen.

Ruhig schlief ich ein, nur die Beine wollten sich immer noch bewegen. Ich war satt von im Bug, also in der Grenze gefangenen Fischen. Eigentlich hatte ich mich an der Grenze selbst satt gegessen, ja, ich hatte ein Stück von ihr gegessen. Ich hatte ihre Linie verletzt wie der Borkenkäfer das Holz. Ich hatte die Grenzlinie zwischen Polen und der Ukraine geschwächt. Ach – zwischen der Europäischen Union und dem Osten. Also trug ich einen Teil des limes orientalis in mir – war aus ihm gemacht.

Zwischen Wieder steckte ich zwischen Territorium und Landkarte, scheinbar wissend, wo – und doch war nicht alles klar. Der Zustand wurde begleitet von einem Gefühl ähnlich der Schizophrenie, einer Spaltung des Ichs, als existierten zwei Gehende. Ein Ausharren in der Grätsche, eine Unentschlossenheit zwischen den Welten. Eine hermeneutische Dissonanz oder so. Der Schlüssel hierzu war der Maßstab, denke ich, der eine Grenze setzte, eine schmerzliche Grenze. Es erforderte physische Anstrengung, die Kontrolle zu erlangen, eine Anspannung der Muskeln, aber es lohnte sich. Die Landkarte stellte eine vollkommene Idee der Welt ringsum dar, und letztendlich erlaubte sie mir, mich wiederzufinden. Zwischen Karte und Territorium, nicht anders.

Tag Vielleicht war es Nebel; ich sah da Ruhe. Sie hatte die Nacht auf den Wiesen am Bug verbracht. Als die ersten Sonnenspitzen sie erreichten, begann sie zu zerfallen. Zuerst erschienen Risse, geradlinig wie die Gerten der Aschweide, danach spinnenartige Muster in der Form von Sträuchern. Schließlich verschwand sie fast vollständig, verwandelte sich in kleine Partikel, schwarz und beweglich wie Vögel. Ich erwachte langsam und zelebrierte den ersten Blick. Die scharfen Strahlen der jungen Sonne taten weh, stachen wie Splitter in die Netzhaut.

Die Wirtin erzählte gern. Am Fluss gebe es immer noch die »Aktion Bug«, seit in Polen der Zigarettenpreis hochgegangen sei. Und was war die »Aktion Bug«? Massenhafter Schmuggel auf ganzer Länge des Flusses. Sie schmuggeln in Booten und Schlauchbooten. Am oberen Bug hat ein Draufgänger einen Motordrachen benutzt, Zigaretten sind ja leicht. Als er sich der Grenze näherte, schaltete er einfach den Motor ab, warf das Paket knapp hinter den Fluss und verschwand Richtung Ukraine. Die Schmuggelware wird auf dem Wasser und in der Luft transportiert, und wenn die Preise in Polen weiter steigen, dann werden sie einen Kanal unter dem Bug graben. Menschen kommen eher nicht, obwohl – neulich hätten die Zöllner im Glockenturm in Stróże ein paar »Bambus-Inder« gefunden. Sie fragen den Pfarrer: »Woher kommen diese Leute?« Und der Pfarrer darauf – da sei wohl ein Wunder geschehen.

Vor dem Haus verlief die Woiwodschaftsstraße Nr. 816, auch die Nadbużanka, die Bugstraße, genannt. Ein Verschlafener hätte sie für den Fluss selbst halten können. Sie führte auf hochgelegenen Feldern am Bug entlang, manchmal durch Wälder, an der Grenze von Wiesen und Feldern. Die Menschen haben sie langsam, über Jahrhunderte hinweg gebaut, um nicht völlig vom Fluss abhängig zu sein. Die ersten Abschnitte der zukünfigen Nadbużanka kann man schon auf einer Karte Mitte des 19. Jahrhunderts sehen. Damals gab es den Abschnitt zwischen Horodło und Dubienka. Flussabwärts, nach Włodawa, fuhr man auf dem Bug, und nach Kodeń führte schon ein befestigter Weg. Von Kodeń nach Terespol und weiter am Bug entlang gab es keine größere Straße. Die Straße war der Bug. Aber auf einer Karte vom Ende des 19. Jahrhunderts gibt es die Nadbużanka schon – als ganz dünne, unterbrochene rote Linie. Es ging sich gut auf ihr an diesem Morgen, zurück nach Horodło.

Das weiße Papier lockte mich in die Tiefe eines Kiefernjungwaldes, aber er barg keine geschmuggelten Zigaretten. Dafür trat ich in einen großen Haufen, den ein ukrainischer Schmuggler hinterlassen hatte. Aber es gab keinen Grund zum Schimpfen, denn das Wäldchen verdeckte eine abgeschiedene Böschung, in der Nisthöhlen des Bienenfressers zu sehen waren. Merops apiaster ist einer der farbenprächtigsten und seltsamsten Vögel Europas. Seine Nester legt er in Tunnel, die in sandige Steilhänge gegraben sind, was ihn irgendwie mit der entfernten Welt der Säugetiere verbindet. Der Bienenfresser hat die Größe eines Staren und ist bunt wie ein Glühlämpchen. Als müsste er selbst den bis zu zwei Meter langen und dunklen Brutkorridor erleuchten. Unsere Art heißt Merops apiaster, gewöhnlicher Bienenfresser, aber es gibt auch den Merops orientalis, den Smaragdspint.

Und wieder der Gedanke: Das Grenzgebiet versammelt alle möglichen Besonderheiten. Sowohl bei den Menschen als auch bei den Vögeln, Pflanzen, Insekten. Heute nach dem Frühstück fasste meine Wirtin das Gespräch kurz zusammen: »Arbeitslosigkeit hab ich noch nie erlebt.« Und sie ging los, Zigaretten suchen; im Wald, auf den Feldern und am Fluss.

Horodło Der Geruch eines frischen Haufens verjagte die Traumreste. Die Schwarzerde des Höhenrückens von Horodło strotzte vor Fruchtbarkeit. Sie prahlte mit Stapeln von Zuckerrüben, groß wie Fußbälle, mit uralten Linden, die in den Ort führten. Selbst die Straße 816 erschien hier breit und fett wie ein Wels aus dem Bug. Mitten in dieser Fülle konnte man nicht umhin, an Befruchtung und Vermehrung zu denken. An Glück, Liebe, Kindheit, aber auch an den allgegenwärtigen Tod. Dieser hatte mit Sicherheit mehrmals in der ehrwürdigen fensterlosen Kate Einzug gehalten, die schon in Horodło selbst stand. Offensichtlich war der Letzte, der dieses Haus gebraucht hatte, gestorben. Andere kamen hierher, um es zu zerstören. Zusammen mit dem Regen, dem Pilz und dem Wind. Es gab kein Substantiv, das diesen Zustand beschrieben hätte; weder Ruine noch Schutthalde war das richtige Wort für das, was hier entstanden war.

Einen Augenblick später wäre ich beinahe in die Tiefe gestürzt. Auf dem Schlosshügel stolperte ich über die Grenze der Europäischen Union wie über ein nahe am Boden gespanntes Seil. Der Bug schlich sich hier unmerklich bis an den Ort heran und mit ihm das unsichtbare Verbot, das fremde Territorium. Ich wäre von der steilen Böschung direkt in den flüssigen Limes gefallen. Die Grenze war hier das Wasser, die Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff. Ich sah sie direkt vor mir. Die Linien des westlichen und des östlichen Ufers, mit der kaum wahrnehmbaren Strömung dazwischen. Der Wunsch, diese Grenze zu überschreiten und zu sehen, was auf der anderen Seite geschehen würde, war groß. Nicht die Autorität der Staaten und deren verworrenes Recht, nicht die Außenminister oder der weißrote Pfosten hielten mich zurück, sondern die Angst vor Kälte und Feuchtigkeit. So früh am Morgen wollte ich nicht frieren.

Horodło war leer wie auf der Karte. Nur zwei steinerne Löwen im Park zeugten davon, dass vor langer Zeit hier etwas Wichtiges geschehen war. Dass hier eine ungewöhnliche Union zwischen zwei Nationen geschlossen worden war. Plötzlich tauchten drei ortsansässige Säufer auf, lachend und lärmend, als wollten sie sich über die Vergangenheit der Stadt lustig machen. Sie hatten recht, von den Grenzen der Polnisch-Litauischen Union war heute so gut wie nichts übrig. Sie haben nur insofern überdauert, als die zwei Flüsse noch fließen, die sie einst ausmachten. Das kränkliche Horodło sah aus wie eine Stadt, die nicht imstande war, das Gewicht ihrer Geschichte zu tragen.

Ich suchte etwas Altes, etwas aus der Zeit der Union. Die Herkunft der Löwen schien mir unsicher. Die Bäume waren verdächtig jung. Und der gut ins Blickfeld komponierte Schnörkel der Straße 816, mit der Kirche auf der einen und den Häusern auf der anderen Seite, war schließlich mit Asphalt bedeckt. Anscheinend existierte ja noch die urbane Struktur der früheren Stadt, die diese Union hätte retten können, aber am Morgen erschien sie äußerst ephemer und hinter zeitgenössischen Bauten versteckt. Da war zum Beispiel die östliche Fassade des Marktplatzes: ein kleines Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert, daran klebte ein gemauertes Haus aus der Zwischenkriegszeit, und zum Schluss kam ein Quader aus der Volksrepublik Polen. Erstaunlich, dass die Volksrepublik ebenso zerfiel wie das 19. Jahrhundert.