Straßen von gestern - Silvia Tennenbaum - E-Book

Straßen von gestern E-Book

Silvia Tennenbaum

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Beschreibung

Dort, wo heute in Frankfurt die Doppeltürme der Deutschen Bank aufragen, kommt 1903 Lene Wertheim zur Welt. Die Wertheims sind eine alteingesessene jüdische Familie mit festen Grundsätzen: Man feiert Weihnachten als prunkvolles Familienfest - zum Entsetzen der orthodoxen Verwandtschaft. "Die Juden sind wie alle anderen, und wenn sie es nicht sind, sollten sie es sein", erklärt Eduard Wertheim, Bankier, Kunstsammler und Mäzen, seinen Nichten und Neffen. Lene erhält 1938 in Paris für sich, ihren zweiten Mann und ihre Tochter Ausreisevisa für die USA. Aber nicht alle Wertheims haben das Glück, sich rechtzeitig vor den Nazis in Sicherheit bringen zu können. Silvia Tennenbaum berichtet in kraftvollen Bildern vom Aufstieg einer jüdischen Familie im Kaiserreich, begleitet ihre verschlungenen Wege durch die Weimarer Republik und lässt uns Leser Flucht und Tod im "Dritten Reich", Vertreibung und Rettung eindringlich miterleben. Ein großer, epischer Roman unserer Zeit.

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Seitenzahl: 1007

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Titel

Silvia Tennenbaum

Straßen von gestern

RomanAus dem Englischen von Ulla de Herrera

Schöffling & Co.

Im Andenken an meine MutterLotti Steinberg, geb. Stern,die in meinem Leben und meiner Arbeitimmer gegenwärtig ist.

Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.Rainer Maria RilkeErste Duineser Elegie

Karte

Erstes Kapitel

1903

EDUARD WERTHEIM fand alle Babys häßlich, und er versäumte es nie, dies ihren Müttern mitzuteilen. Als er an einem strahlenden Frühlingstag das Wohnzimmer seiner Schwägerin betrat, um sich zum erstenmal Helene anzusehen, die in Caroline Wertheims Armen lag, rief er: »Mein Gott! Sie sieht aus wie ein wütendes Äffchen!«

Hedwig, die Kinderfrau, schnaubte entrüstet, und das zaghafte Lächeln verschwand aus Carolines Gesicht. Sie saß auf einer eleganten Empire-Chaiselongue, einen weichen, weißen Morgenrock aus Musselin über ihrem voluminösen Batistnachthemd, doch sie fühlte sich nicht wohl; ihre Brüste waren fest umwickelt, um den Milchfluß zu unterbinden. Dr.Schlesinger, der Arzt der Familie, beachtete es nicht, wenn sie über ihren unbehaglichen Zustand klagte, und verordnete weiter Ruhe und leichte Nahrung. »Kein Gänseschmalz«, sagte er schmunzelnd.

Trotz der Beschwerden versuchte Caroline, zu all ihren Besuchern freundlich zu sein, besonders zu Edu, über den sie sich häufig ärgerte. »Ich finde, sie ist schön«, sagte sie. »Du magst einfach keine Babys!«

»Sie wird schön sein, sobald sie anfängt, ihrer Mutter zu ähneln«, erwiderte Edu galant. Eine Wolke von Zigarrenrauch quoll aus seinen Nasenlöchern; er wartete darauf, daß Caroline ihm verzieh.

»Das Kind wird noch ersticken«, brummte Hedwig, nahm Lene aus den Armen ihrer Mutter und rauschte mit ihr hinaus.

Caroline, die keineswegs besänftigt war, wußte nicht, was sie mit diesem Schwager reden sollte, der sich, obwohl erst zwanzig, das Air eines Mannes von Welt gab. Er war gerade von einem zweijährigen Aufenthalt in Amerika zurückgekehrt und hatte ein festes Urteil über alles und jedes. Aber auch er wußte im Augenblick nichts zu sagen. Er besaß noch nicht die nötige Ungezwungenheit im Gespräch mit Frauen und auch nicht die Gewandtheit, einen toten Punkt in der Unterhaltung mühelos zu überwinden. Er war geistreich und witzig, aber er brauchte ein männliches Gegenüber, um in bester Form zu sein; bei Frauen wurde sein Esprit allzu leicht zur Kränkung.

»Jetzt, da ich das kleine Monstrum bewundert habe, kann ich mich verabschieden«, sagte er. Caroline lächelte ihm erleichtert zu. Sie hatte weder etwas für seinen Zigarrenrauch noch für seinen Humor übrig, und seine Selbstgefälligkeit empfand sie als beleidigend.

»Ich danke dir für deinen Besuch«, sagte sie, seinen flüchtigen, pflichtschuldigen Kuß entgegennehmend. »Wir haben uns alle gefragt, ob du wohl in Amerika bleiben würdest.«

»Amerika ist nichts für mich«, verkündete er großspurig. »Die Männer haben nicht einen kultivierten Knochen im Leib; sie könnten ebensogut mit Kriegsbemalung herumlaufen wie die Indianer. Und die Frauen! Alles alte Vetteln! Und Frauenrechtlerinnen«, setzte er hinzu. Er war aufgestanden, um zu gehen, blieb aber einen Augenblick stehen– ein schlanker, gutaussehender Mann, in das Beste gekleidet, was englische Schneiderarbeit liefern konnte– und blickte sich im Zimmer um. Er sah, wie das Licht, das über die Mahagonimöbel glitt, den alten Teppich in einen üppigen, farbenfrohen orientalischen Garten verwandelte. Es war schön, wieder daheim in Deutschland zu sein, vor allem in Frankfurt, bei den Seinen.

Edu drückte die Zigarre in dem sauberen Marmoraschenbecher aus, der genau in der Mitte der Brokatdecke auf dem kleinen Tisch neben der Tür stand. »Laß es dir gutgehen«, sagte er zu Caroline, die ihre Augen vor der eindringenden Sonne geschlossen hatte, »und grüße meinen Bruder Nathan von mir.«

»Wir sehen uns am Samstag«, murmelte sie.

Er schloß behutsam die Tür. Es war niemand in der unteren Halle, um ihn hinauszulassen, und so nahm er selbst seine Melone vom Hutständer und hinterließ kein Trinkgeld für das unaufmerksame Hausmädchen. Er stieg die breiten Stufen vor dem Haus seines Bruders hinab, und sein Blick fiel auf den lila Flieder, der in duftender Fülle kaskadenartig über die Gartenmauer fiel, und die stattliche Kastanie, über der zarte, weiße Lämmerwolken im endlosen blauen Maienhimmel schwebten. Aber er sah auch, daß die geschwungene steinerne Balustrade gereinigt werden mußte und daß das Eisentor einen neuen Anstrich brauchte.

Edu war mit sich und der Welt zufrieden. Er beschloß, auf dem Heimweg einen Bummel durch den Palmengarten zu machen. Während er gemächlich dahinschlenderte, dachte er an die Zeit in New York, wo er im Bankhaus Kuhn, Loeb & Co. gelernt hatte. Für ihn war es eine Verbannung gewesen. Er hatte seine Arbeit gewissenhaft, ja sogar eifrig erledigt, aber es war ihm nicht gelungen, seine Einsamkeit zu überwinden. Die lärmenden Amerikaner, voller Optimismus und Naivität, hatten ihn eingeschüchtert. Er hatte keine Freunde gefunden. Und er war nicht, wie er gehofft hatte, von den besten amerikanischen Familien mit offenen Armen empfangen worden, obgleich sein Vater, Moritz Wertheim, sich seiner guten Beziehungen zu Jacob Schiff rühmte.

»Mein Großvater hat in der Judengasse direkt gegenüber von den Schiffs gewohnt«, sagte Moritz jedesmal, wenn er an die Zeit im Judenviertel zurückdachte, »und die Familien waren eng befreundet. Alle Welt spricht über die Rothschilds, aber sie sind nicht die einzige bedeutende Familie, die aus dem Frankfurter Ghetto stammt. Sie sind die reichste, gewiß, aber auch einigen anderen von uns ist es nicht gerade schlecht ergangen.« An diesem Punkt angelangt, neigte er sich unweigerlich vornüber. Er hielt diese kleine Rede schon fast gewohnheitsmäßig jedem seiner Kinder und Enkel, sobald sie alt genug waren, ihn zu verstehen. »Und etwas darfst du nicht vergessen«, pflegte er zu sagen. »Es gibt noch eine andere Art von Prestige– die alten Juden nannten es jichus–, und davon besaß unsere Familie sehr viel, selbst als wir noch nicht das Geld hatten.«

»Ich weiß«, pflegte Edu seinem Vater zu antworten, aber die kleine Predigt umschwebte seinen Kopf wie die Dämpfe, mit denen seine Mutter Erkältungen kurierte– ein seltsam duftender Hauch der Vergangenheit, ohne Beziehung zu dem, was er als Gegenwart kannte.

»Es hat etwas mit Rechtschaffenheit und Tugend zu tun, mit Güte und Ehrfurcht vor denen, die Reichtümer des Geistes besitzen: Wissen und Gelehrsamkeit. Geh hin und lies– aber natürlich kannst du das nicht– die Worte auf den Grabsteinen des alten Friedhofs, dann wirst du wissen, was deine Vorfahren für so wichtig hielten, daß die Welt es erfahren und Gott nicht vergessen sollte.«

Daraufhin lehnte sich Moritz immer in seinem Stuhl zurück, und Edu machte ein ernstes Gesicht, denn er wußte, daß das von ihm erwartet wurde. Aber jetzt fragte er sich, warum er während seiner Lehrzeit so wenig von Jacob Schiff zu sehen bekommen hatte, wenn die Familienbeziehung so eng war, wie sein Vater behauptete. Nur ein einziges Mal war er zu einem Freitagabend-Essen eingeladen worden. Es hatte ihn, wie er seiner Familie berichtete, nicht sehr beeindruckt. Die Frömmigkeit stieß ihn ab. »Stellt euch vor, die Männer mußten Scheitelkäppchen tragen! In der heutigen Zeit!« Außerdem (und dies war, wie er zugab, nicht die Schuld von Jacob Schiff) wurde New York von einer Million oder mehr mittelloser Einwanderer überschwemmt, von denen viele, wenn nicht die meisten, Juden aus Osteuropa waren. »Ihr werdet schon sehen, was das für einen Antisemitismus in ihrer kostbaren Demokratie hervorrufen wird«, sagte er, und seine Mutter, Hannchen, nickte. Sie stimmte immer mit Edu überein; er war der jüngste ihrer fünf Söhne und ihr erklärter Liebling.

Edu schlenderte zufrieden durch den Palmengarten, den er wegen seiner Vielfalt an heimischen und exotischen Pflanzen liebte. Er hatte seine Wege und Treibhäuser ausgekundschaftet, solange er denken konnte, hatte die Blumen und Kakteen, die tropischen Palmen und Orchideen genau untersucht und sogar ihre lateinischen Namen gelernt. Die Gärtner kannten und grüßten ihn. Obwohl sie im allgemeinen wortkarg waren, erklärten sie ihm sogar hin und wieder die Pflege einer besonders kostbaren Pflanze. Pflanzen zu züchten erschien Eduard Wertheim eine großartige und befriedigende Beschäftigung; die schwere Arbeit wurde mit Schönheit oder süßem Duft belohnt, und man brauchte dabei keine rührselige Zuneigung zu zeigen.

AN DEM SAMSTAG nach Edus Besuch beim Baby traf sich die ganze Familie Wertheim nachmittags im Haus von Nathan und Caroline in der Guiollettstraße. Samstags kamen sie, wenn nichts anderes auf dem Programm stand, für gewöhnlich zum Tee zu Nathan. Der Sonntag gehörte unwiderruflich den Eltern, Hannchen und Moritz, einschließlich des Mittagessens um Punkt eins. Nathan, ein Rechtsanwalt, war der älteste Sohn und der gesetzteste, pedantisch und melancholisch und ein wenig eigenbrötlerisch. Er hielt seinen kleinen Spitzbart kurz, und die Enden seines Schnurrbarts waren ganz leicht gezwirbelt. Obwohl erst dreißig, war er fast kahl und sich dessen so peinlich bewußt, daß er sich nie ohne Hut photographieren ließ.

Der zweite Sohn, Siegmund, neunundzwanzig, arbeitete in der Wollgroßhandlung seines Vaters und galt als der gewandteste der ganzen Familie. Er war auch der sorgloseste, und er spielte Cello– wenn auch schlecht. Man hörte ihn häufig sagen, er hätte als Landedelmann geboren werden sollen, damit es ihm erspart geblieben wäre, jeden Tag zur Arbeit gehen zu müssen. Im Büro flirtete er mit den Sekretärinnen und gewann mit seinem Charme die Sympathien der Handlungsreisenden. Nie arbeitete er eine Minute länger als nötig. Sein Schwiegervater war sehr reich. Pauline, seine Frau, hatte, da sie in Luxus aufgewachsen war, schon früh einen Blick für Kleider und eine Vorliebe für üppige Gesellschaften entwickelt.

Gottfried, achtundzwanzig und unverheiratet, war seit seinem dritten Lebensjahr zu seinem guten Aussehen beglückwünscht worden, und obgleich alle erwartet hatten, daß er zu einem eitlen Mann heranwachsen würde, hatte doch niemand gedacht, daß Genußsucht und Hemmungslosigkeit eine so große Rolle in seinem Leben spielen und seiner Fähigkeit, wirkliche Freunde zu gewinnen, solch enge Grenzen setzen würden. Gottfried arbeitete ebenfalls in der Firma seines Vaters und drängte ihn, größere Risiken einzugehen, als der alte Mann für klug hielt. Die Beziehung zwischen den beiden war keine sehr glückliche.

Der fünfundzwanzigjährige Jacob, wortkarg und intelligent, hatte nie zu hören bekommen, daß er gut aussehe. Vielmehr sah man in ihm das häßliche Entlein der Familie, aber er hatte schon als Kind entdeckt, daß sein Vater seine geistigen Gaben schätzte und ihretwegen gegen ihn nachsichtig war. Er hatte, wie seine Mutter es ausdrückte, »mehr Jahre, als ihm guttaten«, auf der Universität verbracht, und er spielte im Amateurquartett seines Bruders Siegmund die zweite Geige.

Außer Gottfried trafen an diesem Sonnabendnachmittag alle Brüder pünktlich bei Nathan ein. Es war wieder ein herrlicher Frühlingstag, und Edu schwang eine Rede über sein Lieblingsthema: Er analysierte den amerikanischen Charakter und beschrieb die schlechten Lebensbedingungen im Armenviertel von New York. Nathan, der gerade von einem kurzen Aufenthalt in Berlin zurückgekehrt war, bemerkte dazu, daß auch dort die Einwanderung polnischer Juden zu einer Bedrohung würde.

»Dann können wir Gott danken, daß wir in Frankfurt leben.« In Jacobs Stimme lag ein Anflug von Sarkasmus.

»Sie werden auch hierher kommen«, sagte Siegmund.

»Ich lag in New York nachts im Bett und stellte mir vor, daß ich wieder hier wäre, durch den Palmengarten ging oder mit der Straßenbahn nach Bockenheim fuhr. Um einzuschlafen, zählte ich im Geist der Reihe nach die Haltestellen auf.«

»Gab es denn nichts in New York, was dir gefallen hat?«

»Ich habe gelernt, unter Wilden zu überleben. Mir gefiel der Gedanke, Herr meines Schicksals zu sein.«

Die Männer saßen im Salon zusammen, während die Frauen im Wintergarten plauderten; er ging auf den Garten hinaus, der jetzt, auf dem Höhepunkt des Frühlings, eine überraschende Vielfalt von Grün zeigte– vom glänzenden Dunkel der Magnolien bis zu den federartigen, gelblichen Blättern der Linden. Und das alles wurde von zwei Rotbuchen und einer alten Kastanie überragt. Älter als das Haus, älter als irgend jemand, der jetzt lebte, hatten sie bereits auf diesem Stück Land gestanden, ehe die Stadtmauern niedergerissen wurden, ehe die Juden die engen Grenzen des Ghettos verlassen durften. Vielleicht standen sie sogar schon dort– natürlich noch zart und jung–, als Goethe seiner Geburtsstadt Lebewohl sagte.

Die Fenster des Wintergartens waren geöffnet, und die Frauen unterhielten sich angeregt, während die Kinder– Carolines Zwillinge, Ernst und Andreas; ihre Älteste, Emma; und Pauline Wertheims zwei Töchter, Jenny und Julia– unter den wachsamen Blicken von Fräulein Gründlich, der Erzieherin, auf den Kieswegen spielten. Lene schlief, vor Wind und Sonne geschützt, in ihrem Kinderwagen, die kleinen Hände trotz des milden Frühlingswetters in Fäustlingen aus rosa Wolle, ihr widerspenstiger schwarzer Haarschopf von einer dazu passenden rosa Mütze bedeckt.

Es war nicht ungewöhnlich, daß die Männer und Frauen getrennt zusammensaßen. Wenn die Familie beisammen war– entre nous, wie sie es nannten–, sprachen die Männer gern über ihre geschäftlichen Probleme, während die Frauen über die Dienstboten und die jüngsten Skandale im vornehmen Westen Frankfurts schwatzten. Obgleich sie alle gebildet und frei von Vorurteilen waren, sahen sie es doch als gegeben an, daß das Leben einer wohlhabenden bürgerlichen Familie von festen Grundsätzen und Regeln bestimmt wurde, die jedem seinen Platz zuteilten: Die Frauen hatten ihren Wirkungskreis und die Männer einen anderen; Kinder lebten in einer Art Niemandsland (»man sieht sie, aber man hört sie nicht«); und Dienstboten gehörten zum »ungewaschenen Volk«. Hannchen Wertheim inspizierte persönlich jeden Morgen die Fingernägel ihrer Mädchen und schnupperte diskret an der Kleidung der Dienstboten. Nur Jacob, den das endlose Gerede der Männer über Geschäfte langweilte, sowie Carolines Schwester, Eva Süßkind, stellten gelegentlich die Unveränderlichkeit der gesellschaftlichen Ordnung in Frage. Eva war neunzehn und wollte studieren oder arbeiten; keinesfalls wollte sie heiraten. Sie hatte »fortschrittliche« Ansichten, und man nahm an, daß der frühzeitige Tod ihrer Mutter und ihr eigenes herbes Gemüt gleichermaßen zu ihren unkonventionellen Anschauungen beigetragen hatten. Hannchen war überzeugt, daß sie sich weniger schroff geben würde, wenn sie hübscher wäre, aber Caroline wußte, daß das Wesen ihrer Schwester, nicht ihr Gesicht, für ihre unabhängige Art und Weise verantwortlich war. Manchmal hatte sie den vagen und flüchtigen Wunsch, selbst etwas von Evas Zielstrebigkeit zu besitzen.

Die Süßkinds waren von niedrigerer Herkunft als die Wertheims. (Und zwar– so sah es Moritz–, weil sie noch nicht lange in der kultivierten Atmosphäre Frankfurts lebten.)

Carolines Vater war Drogist. Er war erfolgreich, das war nicht zu leugnen, aber sein Laden und seine Wohnung lagen in der Grünen Straße, nahe dem Zoo, im schrecklich ungepflegten Osten der Stadt. Er stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Mainz und war schon als junger Mann nach Frankfurt gekommen. Seine Angehörigen waren einfache und fromme Landjuden, die schlammbespritzte Stiefel trugen und alle in einem Raum schliefen– zweifellos zusammen mit den Hühnern! Gewiß, Süßkind war ehrgeizig, und er hatte sich hochgearbeitet. Er war entschlossen, seinen ältesten Sohn, Jonas, auf die medizinische Fakultät zu schicken, und Elias, der jüngere, sollte an der Freiburger Universität Kunstgeschichte studieren. Elias und Edu waren Schulfreunde gewesen, und die meisten Klagebriefe des heimwehkranken jungen Lehrlings in Amerika waren an Elias gerichtet.

Hannchen Wertheim war mit ihrem Charme und Esprit wie immer der Mittelpunkt der Runde, die sich an diesem Samstag im Wintergarten versammelt hatte. Es kümmerte sie dabei nicht im geringsten, daß es das Haus ihres Sohnes und nicht ihr eigenes war. Sie beherrschte das Gespräch überall, selbst das der Männer, und hatte schon so manches Ladenmädchen zum Weinen gebracht und zahllose Händler in Angst und Schrecken versetzt. Sie war sehr stolz– stolz, mit einem guten und erfolgreichen Mann verheiratet, stolz, die Mutter von fünf Söhnen, stolz, eine Bürgerin von Frankfurt am Main zu sein. Sie verkündete ihr Urteil über alles, selbst über ihre Söhne, und verhehlte nie, wer ihr Liebling war oder wer ihr mißfiel. Daß ihre Ehe mit Moritz eine glückliche war, stand außer Zweifel; auch das ließ sie alle wissen. Moritz vergötterte sie und schrieb ihr all das Gute zu, das in der Familie geschah. Wenn irgend etwas danebenging, so geschah es, weil Hannchen dabei nicht ihre Hand im Spiel gehabt hatte. Sie war eine stämmige Frau, gutaussehend, aber nicht schön, einen Kopf größer als ihr Mann, und sie ging an einem Ebenholzstock, den sie eigentlich gar nicht benötigte. Sie war in Bockenheim, damals ein kleiner Ort westlich von Frankfurt, geboren, wo ihre Familie eine kleine Möbelfabrik besaß. Ihr Vater hatte schon als junger Mann die frommen Bräuche aufgegeben, aber Hannchen versäumte es nie, an den hohen Feiertagen in die Synagoge zu gehen oder am Todestag ihrer Eltern eine Spende zu schicken.

Moritz war geborener Frankfurter. Seine Familie war schon im frühen siebzehnten Jahrhundert in der Judengasse der Altstadt ansässig gewesen, und er kannte sich in der Geschichte ihrer Bewohner und der Topographie ihrer alten Behausungen ebensogut aus wie im Textilgeschäft. Er sagte allen, die es hören wollten, oft und mit großem Vergnügen, daß mehr Juden als Christen ihre Wurzeln bis ins Frankfurt von 1500 zurückverfolgen konnten. Jetzt, da er kurz davorstand, sich zur Ruhe zu setzen, und ein wenig leidend war, ging er den Leuten mit diesem Thema oft auf die Nerven, und viele seiner Bekannten, vor allem die Nichtjuden, fingen an, ihn zu meiden. Obwohl ziemlich klein, war er immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung mit seinem großen Kopf mit dem schneeweißen Haar, dem altmodischen Schnurrbart und dem Backenbart. Er war halsstarrig in seiner Abneigung gegen die Preußen, die 1866 als Eroberer in Frankfurt einmarschiert waren, und gerecht mit seinen Söhnen. Jacob stand seinem Herzen am nächsten, schien am meisten dazu geeignet, die geheiligte Tradition von Bildung und Gelehrsamkeit wiederaufleben zu lassen, die in dem hartnäckigen Kampf, aus dem Ghetto in eine führende Stellung in Frankfurts Kaufmannschaft aufzusteigen, verlorengegangen war. Diese Handelswelt war in der Tat bedeutend, denn Frankfurt hatte eine lange kaufmännische Tradition, auf die Goethe allerdings mit all der Geringschätzung herabgesehen hatte, deren sein Genie fähig war.

Moritz hatte für Jacob einen Treuhandfonds errichtet, für den Fall, daß er eines Tages außerstande sein sollte, sich einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen. Seine Chancen, einen Ruf an eine Universität zu bekommen, waren zweifellos gering; man mußte immer noch zum Christentum übertreten, um für annehmbar befunden zu werden, und bei Jacobs störrischem Stolz war es höchst unwahrscheinlich, daß er sich zu solch einem Schritt entschließen würde. Seine Brüder hatten keinen Einwand gegen dieses Arrangement erhoben, obgleich sie gegen Jacob äußerst kritisch waren. Vor allem Edu ließ sich keine Gelegenheit entgehen, ihn wegen seiner nachlässigen Art, sich zu kleiden, und seines ungeregelten Lebens herunterzuputzen. Aber er konnte nie lange ärgerlich bleiben, denn Jacob war großzügig und gutmütig, und er amüsierte sie mit seinem Talent zur Pantomime.

»Einen unnützen Intellektuellen zum Sohn zu haben verleiht der Familie einen gewissen Cachet«, sagte Moritz an diesem Nachmittag im Salon in einer Wolke von blauem Rauch. Und dann setzte er mit gedämpfter Stimme und erhobenem Zeigefinger hinzu: »Es ist sehr viel besser, als ein schwarzes Schaf zu haben, einen Homosexuellen oder einen Dieb, den man in die Tropen schicken muß. Wie ihr euch vielleicht erinnert, erwähnt sogar die Haggadah den ›schlechten‹ Sohn. Es gibt ihn in zahlreichen angesehenen jüdischen Familien.«

In diesem Augenblick öffnete sich wie auf ein Stichwort die Tür, und Gottfried trat ein. Er trug eine Blume im Knopfloch und strömte einen starken Geruch von Haarwasser aus.

»Puh!« Edu schnitt eine Grimasse.

»Wir haben gerade über dich gesprochen«, sagte Jacob, dem strengen Blick seines Vaters ausweichend.

»Sicher nicht sehr freundlich«, erwiderte Gottfried. »Verzeih, daß ich zu spät komme«, sagte er, an Nathan gewandt, »aber der Friseur hat mich warten lassen. Er sagte, es sei nicht seine Schuld, er habe den französischen Kulturattaché rasieren müssen. Habe ich viele von Edus Geschichten über Amerika versäumt?«

»Er beklagt sich über New Yorks Elendsviertel«, sagte Siegmund, »und glaubt, die Neger könnten unruhig werden.«

»Ich würde lieber etwas über die besseren Leute hören«, bemerkte Gottfried, sich an Edu wendend. »Hast du denn keinen Kuhn oder Loeb kennengelernt?«

Edu errötete zornig.

»Laß den armen Jungen in Ruhe«, sagte Moritz, »und geh deine Mutter begrüßen.«

Als Gottfried hereinkam, sprachen die Frauen gerade über Hannchens Hausmädchen. »Was, sie ist schon wieder schwanger?« fragte Pauline ungläubig.

»Ich konnte es auch kaum glauben«, erwiderte Hannchen. »Stell dir vor, zum drittenmal! Gott sei Dank sind die ersten zwei gestorben.«

»Hat sie nicht versucht, es abzutreiben?« fragte Caroline zögernd. Sie hatte immer ein behütetes Leben geführt, und das Wort »abtreiben« machte sie schaudern. Es beschwor schreckliche Bilder herauf– von armen Leuten in düsteren Zimmern, in denen es nach Kohl und Desinfektionsmitteln roch. Schmutzige alte Frauen gingen dort mit Stricknadeln ihrer grauenvollen Arbeit nach. Ein Wunder, daß nicht noch mehr ihrer Opfer starben.

»Sie hat das erste abgetrieben«, sagte Hannchen, »und ist tagelang nicht zur Arbeit gekommen. Als sie schließlich eintraf, blaß wie der Tod, blutete sie immer noch, und ich mußte Dr.Schlesinger rufen. Zum Glück kam er sofort. Das zweite Baby war eine Frühgeburt und hat nur ein paar Stunden gelebt. Sie hat monatelang darüber gejammert, ohne mir je zu sagen, was wirklich geschehen ist.«

»Ich kann meine Mädchen auch nicht dazu bringen, über ihr Privatleben zu sprechen«, bemerkte Pauline, der noch nie zuvor in den Sinn gekommen war, daß Dienstmädchen ein Privatleben haben könnten.

»Sie glauben, wir wollen uns in ihre Angelegenheiten mischen«, sagte Caroline.

»Wo wir doch nur versuchen, ihnen zu helfen«, mischte sich Gottfried ein, der im Türrahmen gestanden und das Gespräch mitangehört hatte.

»Mach dich nicht über uns lustig«, sagte Hannchen.

»Keine Sorge«, erwiderte Gottfried, »du kannst sicher sein, daß die sogenannten Christen ihre Hausangestellten sehr viel schlechter behandeln als wir.«

Hannchens Schwester Berthe, die so klein und dick war, daß man ihr den Spitznamen Queen Victoria gegeben hatte, betupfte sich den Mund mit einer Leinenserviette– die sie selbst zu Carolines Hochzeit umsäumt und mit Initialen bestickt hatte– und sagte: »Mir scheint, daß wir von nichts anderem als von Dienstboten reden.« Sie war eine alte Jungfer und konnte sich nur stundenweise eine Reinemachefrau leisten.

Es war dunkler geworden im Wintergarten, der Tag ging langsam in Dämmerung über, das Grün des Gartens verblaßte zu einem fahlen Violett; die Kinder waren längst wieder im Kinderzimmer.

»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns zu den Männern gesellen«, sagte Caroline, und sie gingen in den Salon.

Gottfried sah auf seine Taschenuhr. »Ich muß gehen«, sagte er. Er schüttelte seinem Vater die Hand und küßte seine Mutter pflichtschuldig auf die Stirn.

»Kannst es nicht erwarten, von uns wegzukommen?« fragte Moritz wie jedesmal, wenn Gottfried davoneilte.

»Ich komme zu spät zu einer Verabredung«, war die stets gleichlautende Antwort.

»Ich weiß nicht, warum er sich die Mühe macht, überhaupt zu erscheinen«, bemerkte Edu, nachdem die Tür hinter seinem Bruder zugeschlagen war.

»Ich war heute in der Buchhandlung«, berichtete Pauline der Gesellschaft im allgemeinen, »und habe entdeckt, daß eine deutsche Übersetzung von The Picture of Dorian Gray erschienen ist…«

»Ich bin überrascht, daß man es genehmigt hat«, sagte Berthe.

»Natürlich habe ich es in Englisch gelesen«, fuhr Pauline fort, »aber ich habe einen Blick auf die Übersetzung geworfen und fand sie recht gut. Ich kann das Buch sehr empfehlen. Es ist außerordentlich originell.«

»Der Mann ist ins Gefängnis gesperrt worden«, sagte Berthe.

»Worüber redet ihr eigentlich?« fragte Hannchen ein wenig verärgert. Sie sah es nicht gern, wenn ihre Schwester die Unterhaltung beherrschte.

»Er war ein moralisch entarteter Mensch«, erklärte Berthe selbstgerecht.

»Hast du noch andere kulturelle Neuigkeiten für uns?« fragte Moritz Wertheim seine Schwiegertochter Pauline.

»Ich habe gehört, das Städel bemüht sich um Gelder, um einen großen Rembrandt aus einer Wiener Sammlung zu erwerben.«

»Das ist die Chance für dich«, sagte Jacob. »Wenn du dem Städel das Geld gibst, sicherst du dir den Aufstieg in den Olymp der Kultur und gleichzeitig wirst du in die ersten Kreise aufgenommen.«

»Hatten die Schiffs gute Gemälde?« fragte Hannchen, an Edu gewandt.

»An dem Abend, als ich dort war, war es so dunkel, daß ich nicht richtig sehen konnte, was sie an den Wänden hängen hatten«, erwiderte er. »Die Möbel waren gediegen, die Bilder vermutlich auch.«

»Sicherlich hat man doch in Amerika nicht viel Sinn für große Kunstwerke?« bemerkte Jacob ironisch.

»Groß, groß, groß«, schnaubte sein Vater verächtlich. »Edu sagt, sie interessieren sich dort drüben nur für Quantität.«

An den Wänden von Moritz’ und Hannchens großem und stattlichem Haus in der Neuen Mainzer Straße hingen zahlreiche Kopien von Gemälden alter Meister, deren Originale man jenseits des Mains in den Sälen des Städel sehen konnte.

»Ich rate dir, zu dem Fonds für den Ankauf von ›Samson und Delila‹ beizusteuern«, sagte Edu.

»Woher weißt du, um welches Bild es geht?« fragte Pauline, gekränkt, daß er über Informationen verfügte, die ihr vorenthalten worden waren.

»Ich habe meine Quellen«, erwiderte er mit einem huldvollen Lächeln.

»Die neuen Arbeiten, die von den Künstlern der Berliner Sezession ausgestellt werden, sollen absolut phantastisch sein«, sagte Pauline rasch und war hoch erfreut zu sehen, daß sie das letzte Wort in der Angelegenheit hatte. Edu nahm sich vor, Elias nach diesen Bildern zu fragen.

Ein letzter goldener Sonnenstrahl, der aus den dunklen Wolken am Horizont hervorbrach, durchflutete das Zimmer. Er glitt über die Glastüren der Vitrine und ließ die silbernen Gegenstände darin einen Augenblick lang aufblitzen. Ehe er hinter der hohen, vom Flieder überwucherten Mauer verschwand, traf sein glühendes Licht auf den Teerosenstrauß, der in einer schlanken Kristallvase auf dem Flügel stand.

Caroline, die allein auf dem Ecksofa saß, empfand diesen Augenblick als »magisch«. Sie ließ sich gern von solch kleinen farbenfrohen Details fesseln. Sie gaben ihr das Gefühl, so etwas wie eine Künstlerin zu sein.

»Die Tage werden länger«, sagte Hannchen und fuhr dann ohne Zusammenhang fort: »Ich lese gerade Die Buddenbrooks von Thomas Mann.« Sie seufzte. »Es ist sehr lang, wie Romane eben so sind.«

»Nicht länger als Krieg und Frieden«, sagte Jacob, »und auch nicht ganz so gut.«

»Er verrät alle Familiengeheimnisse«, sagte Berthe, stolz, den Roman schon bei seinem ersten Erscheinen vor zwei Jahren gelesen zu haben. »Das Buch hat ganz Lübeck in Aufruhr versetzt.«

»Ich bin Thomas Mann einmal in München begegnet«, sagte Pauline mit Genugtuung, »auf einem Kostümfest.«

Die alte Biedermeieruhr schlug sechs, und Moritz holte seine Taschenuhr heraus, um sich zu vergewissern, daß die beiden Zeitmesser übereinstimmten. Siegmund und Jacob gähnten, fast unisono. Es blieb noch viel Zeit bis zum Abendessen, und ein paar Minuten lang schwiegen alle, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Hannchen dachte an die ruhigen, friedlichen Sabbatnachmittage in ihrem Elternhaus. Sie hatte nie wieder dergleichen erlebt. Jetzt gab es Sorgen und Ablenkungen, verborgene Strömungen von Bitterkeit. Ihre Gedanken schweiften nie weit vom Thema Gottfried ab– er würde bestimmt in Schwierigkeiten geraten. Sie erinnerte sich an den ersten Zwischenfall, der ihre Befürchtungen hinsichtlich seines Charakters bestätigt hatte. Er hatte eine Goldmünze aus dem Portemonnaie des Kindermädchens gestohlen. Moritz hatte ihn natürlich bestraft. Er hatte ihm eine gehörige Tracht Prügel verabreicht und ihm befohlen, die Münze zurückzugeben und sich zu entschuldigen. Gottfried tat das widerwillig, denn er wußte genau, daß man ihm nicht verzeihen würde. Kinder aus gutem Hause bestahlen einfach keine Dienstboten.

Es war plötzlich dunkel geworden; Hannchen konnte in den Ecken des Zimmers nichts mehr erkennen. Vielleicht irrte sie sich, und alles würde gut ausgehen. Sie zog es vor, unangenehme Gedanken zu verscheuchen. Es war besser, an erfreuliche Dinge zu denken. Wo sollten sie zum Beispiel ihre Sommerferien verbringen? Es gab so viele hübsche Orte, die Welt wurde mit jedem Tag leichter zugänglich.

»Macht doch um Himmels willen Licht!« sagte Moritz, und dann fingen sie alle langsam an, sich zu verabschieden.

GOTTFRIED WAR FROH, daß er sich so früh aus dem Staub gemacht hatte. Der Abend war schön, die Luft mild– wenn nur seine eigenen Gefühle der Jahreszeit entsprochen hätten! Er war zornig, ohne zu wissen, warum. Die friedliche Atmosphäre der Stadt störte ihn. Er fand sie erstickend, selbstzufrieden, eine Stadt voll bourgeoiser Tugend– und Laster. Kein Wunder, daß seine Familie sie liebte! Den ganzen Nachmittag hatte er sich ihre Loblieder anhören müssen, die gut zu Edus abschätzigen Bemerkungen über New York paßten. Wie lächerlich froh sein Bruder war, wieder »zu Hause« zu sein. Warum hatte man statt dessen nicht ihn geschickt? Er hätte Amerika im Sturm erobert, hätte es mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Edu hatte nicht den Charakter, den man brauchte, um in jenem Land der unbegrenzten Möglichkeiten erfolgreich zu sein. Man mußte ein Spieler sein– dessen war Gottfried sicher–, um New York zu erobern. Nur ein Dummkopf konnte glauben, daß die Zukunft hier lag.

Er ging schnell durch die zunehmende Dunkelheit, ohne auf den Weg zu achten, den er gut kannte. Deshalb bemerkte er die zwei Männer nicht, die sich ihm auf dem Bürgersteig näherten, bis sie plötzlich unmittelbar vor ihm auftauchten. Er sah sie zu spät und stieß mit dem kleineren der beiden zusammen. »Verzeihung«, sagte Gottfried, aber sie versperrten ihm den Weg, und er mußte sie ansehen. Natürlich waren sie betrunken. Sie standen in der Nähe einer Straßenlaterne, die gerade angegangen war. »Saujud!« sagte der größere, und der andere wiederholte: »Saujud!«

»Was?« sagte Gottfried gedehnt. Er war auf die feindselige Haltung der Männer nicht vorbereitet. Sie hoben die Fäuste– zwei ehrbare Bürger mit steifen Filzhüten und gutgeschnittenen Anzügen, die Augen glasig vom Alkohol. »Du hast uns genau verstanden«, sagte der kleinere, und da lief Gottfried los. Er machte sich einfach davon und rannte den Rest des Weges nach Hause– wie ein kleiner Junge, der sich vor Angst in die Hosen macht, sagte er sich, als er die Haustür hinter sich schloß. Er schämte sich. In Wirklichkeit war nichts geschehen, man hatte ihm lediglich ein häßliches Wort ins Gesicht geschleudert; so etwas passierte häufig. Ihm war das bisher noch nie widerfahren, aber er wußte, das war bloßer Zufall. Warum schämte er sich so? Er war in Schweiß gebadet, und seine Knie zitterten. Sobald er in seiner Wohnung war, ließ er heißes Wasser in die Wanne laufen. Er schenkte sich einen Cognac ein und saß lange in dem warmen Bad, bemüht, an nichts zu denken.

DIE KUTSCHE holte Moritz und Hannchen pünktlich um halb sieben ab. »Komm«, sagte Hannchen zu Berthe. »Vite, vite!« Sie hatte es eilig, nach Hause zu kommen, und ließ ihre Ungeduld an der kleinen, dicken Frau aus, die sich dafür nur um so länger und umständlicher von der übrigen Familie verabschiedete. Als sie schließlich im Wagen saßen, gab jeder von ihnen Laute der Billigung, des Behagens und der Müdigkeit von sich.

»Wir müssen unbedingt ein Automobil haben«, sagte Hannchen und legte Moritz die Hand aufs Knie, während das Pferd in flottem Tempo durch die Straßen trabte, vorbei an der Oper, am Reiterdenkmal WilhelmsI. und den Trauerbuchen in den Anlagen, dem anmutigen Park im englischen Stil, der einen grünen Gürtel um die Altstadt bildete.

»Vergeßt mich nicht!« sagte Berthe, die nur ein paar Ecken weiter nach Norden wohnte und nicht einsehen konnte, weshalb sie nie zuerst abgesetzt wurde.

»Bruno weiß Bescheid«, erwiderte Moritz mit einer Kopfbewegung in Richtung des Kutschers. »Er fährt dich heim, sobald er uns nach Hause gebracht hat. Hast du es denn besonders eilig?«

»Nein, nein«, sagte Berthe, die auf die Gefälligkeiten anderer angewiesen war.

»Mathilde Rothschild hat eins«, sagte Hannchen.

»Ein was?« fragte Moritz.

»Ein Automobil. Du hast selbst gesagt, daß der Tag kommen wird, wo niemand mehr einen Pferdewagen benutzt.«

»Was ich sage und was ich meine, ist nicht immer das gleiche.«

»Es wäre ein schönes Geburtstagsgeschenk«, sagte Hannchen im Flüsterton. Sie wollte nicht, daß Bruno sie hörte.

Das Haus der Wertheims in der Neuen Mainzer Straße stammte aus den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Sein schlichter, fast strenger klassischer Stil wurde jetzt, da eine eklektischere und prunkhaftere Architektur in Mode gekommen war, als altmodisch angesehen, aber es gefiel Hannchen und Moritz. Es war ein sehr großes Haus. Als sie es 1878 kauften, verkörperte es das Äußerste an Vornehmheit und eine Pracht, die sich Moritz’ Großvater, der Galanteriewaren in der Judengasse verkauft hatte, nie für einen seiner Nachkommen hätte vorstellen können.

Sie hatten hier ihre fünf Söhne großgezogen, und Edu wohnte immer noch in einem geschmackvoll »modernen« Appartement im zweiten Stock. (Die anderen Räume waren vor einigen Jahren in dem damals vorherrschenden düsteren und überladenen viktorianischen Stil neu ausgestattet worden.) Der weitläufige Garten hinter dem Haus hatte eine ausgedehnte grüne samtige Rasenfläche, auf der manchmal Krocket gespielt wurde. Der Rasen konnte sich zwar an Größe nicht mit dem der Rothschilds messen, aber der Gärtner schwor, daß er ihm in der Beschaffenheit nicht nachstand.

Moritz fand es töricht, mit den Rothschilds zu wetteifern, aber er ließ Hannchen das Vergnügen– in Grenzen. Er würde ihr vielleicht wirklich das Auto kaufen, dachte er bei sich, falls man Bruno beibringen konnte, es zu fahren.

EDU HATTE SEINE ELTERN nicht nach Hause begleitet; er wollte mit Nathan unter vier Augen sprechen. »Laß uns in deinem Arbeitszimmer einen Cognac trinken«, sagte er.

Siegmund und Pauline, die die Kinder schon lange vor Einbruch der Dunkelheit mit ihrer englischen Gouvernante heimgeschickt hatten, waren gerade im Begriff, sich zu verabschieden. »Pauline braucht viel Ruhe«, sagte Siegmund. »Sie ist nämlich wieder enceinte.«

»Zum drittenmal«, murmelte Jacob.

»Nach zwei Mädchen wird es diesmal vielleicht ein Junge.«

»Ich wollte sagen, du hast uns die gute Neuigkeit heute schon zum drittenmal erzählt«, sagte Jacob.

»Eine gute Neuigkeit kann getrost wiederholt werden«, sagte Caroline, der die Wortgeplänkel ihrer Schwäger immer Unbehagen verursachten. Die Atmosphäre in ihrer Familie hatte sich durch große Zurückhaltung ausgezeichnet– zweifellos eine Reaktion auf den Tod ihrer Mutter. Als seine Frau mit achtundvierzig an Brustkrebs starb, hatte sich Benedict Süßkind konsequent bemüht, seine Kinder ohne die Hilfe einer ständigen Haushälterin oder– Gott behüte– einer zweiten Frau zu versorgen. Sie wurden eine eng verbundene Familie, aber es erforderte Geduld und Nachsicht von seiten aller. Benedict ermahnte seine Kinder ständig, freundlich zueinander zu sein und böse Worte und zornige Erwiderungen hinunterzuschlucken.

Die Sippe der Wertheims hatte keinen Grund, sich eine solche Zurückhaltung aufzuerlegen. Von Anfang an standen sie in lebhaftem Wettstreit miteinander und hielten es nur vor Außenstehenden für notwendig, sich würdevoll und einig zu zeigen. Die Jungen wurden angehalten, nicht nach Art der Ostjuden mit den Händen zu reden, und man bemühte sich sehr, ihnen Hochdeutsch beizubringen und jeden Anflug des vulgären Frankfurter Dialekts zu vermeiden. Dabei hatte Moritz jedoch einen schlechten Einfluß, denn alle seine Lieblingswitze und -geschichten mußten im typischen Tonfall der Frankfurter erzählt werden.

Sobald Siegmund und Pauline fort waren, eilte Caroline nach oben, um nach dem Baby und den Zwillingen, Ernst und Andreas, zu sehen. Jacob folgte dicht hinter ihr, denn die dreijährige Emma hatte ihn gebeten, ihr gute Nacht zu sagen. Sie war ein dunkeläugiges kleines Mädchen mit einem hübschen, runden Gesicht, das von Korkenzieherlocken eingerahmt wurde. Der melancholische Gesichtsausdruck, den sie von ihrem Vater geerbt hatte, machte sie, wie Jacob meinte, viel zu ernst für ein Kind ihres Alters.

»Wie geht es meinem kleinen Liebling?« fragte er.

»Ich wußte, daß du kommen würdest«, flüsterte Emma.

Jacob küßte sie.

»Gib meiner Puppe auch einen Kuß«, bat sie, und er tat es.

»Versprichst du mir, daß du morgen früh lächelnd aufstehen wirst?« sagte er.

»Wenn du mir eine Geschichte vorliest.«

»Jetzt?«

Sie nickte.

»Es ist spät.«

»Dann werde ich morgen nicht lächeln.«

Jacob drehte das Licht höher und nahm den Struwwelpeter aus dem Regal. »Welche Geschichte soll ich vorlesen?« fragte er. »Die von Paulinchen, das mit den Streichhölzern gespielt hat und ganz und gar verbrannte?«

Bevor er zu der Stelle kam, wo die zwei Katzen über der Asche des kleinen Mädchens weinen, war Emma fest eingeschlafen.

Als Caroline ins Kinderzimmer schaute, gab Hedwig dem Baby gerade die Flasche. Lene fuchtelte zufrieden mit den kleinen rosa Händchen in der Luft, während sie mit aller Kraft an dem Sauger zog. »Hoffentlich ist ihr nicht kalt«, sagte Caroline und berührte sanft einen der nackten kleinen Füße. Die Kinderfrau warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Carolines Brüste schmerzten immer noch, und sie fragte sich zum hundertstenmal, warum sowohl die Ärzte als auch die anderen Frauen ihrer Gesellschaftsklasse es nicht für richtig hielten, daß man sein Kind selbst nährte. Sie spürte, daß sie ebensosehr eine Gefangene ihrer Stellung im Leben war wie diejenigen, die weniger vom Glück begünstigt waren als sie.

Hedwig legte das Baby an ihre Schulter, um es aufstoßen zu lassen, und klopfte ihm sanft den Rücken.

»Sie sieht wirklich wie ein Äffchen aus«, murmelte Caroline, während sie zusah, wie das rote, faltige Gesicht mit dem widerspenstigen Haarschopf schläfrig auf die Schulter der Kinderfrau sank.

»Wie bitte?« fragte Hedwig.

»Sie ist ein süßes, dickes Baby«, sagte Caroline.

Die Jungen schliefen fest in ihrem Zimmer: Ernst hielt einen Teddybär umklammert, während Andreas an einem Zipfel seiner Decke nuckelte.

Als Caroline wieder herunterkam, wartete Jacob in der Halle auf sie. »Ich möchte mich verabschieden«, sagte er. »Deine Tochter und ich hatten ein sehr nettes kleines Tête-à-tête.«

»Sie ist immer so blaß«, sagte Caroline, »und obgleich ihr Gesicht rund ist– das hat sie von meiner Familie–, ist sie sehr zart. Ich mache mir Sorgen um sie.«

Caroline fand, daß Jacob der verständnisvollste ihrer Schwäger war. Er war der einzige, der bereit war, die sanfte Seite seines Charakters zu zeigen. Aber er war auch in mancher Hinsicht der zurückhaltendste; wenn ein gewisser Punkt erreicht war, pflegte er wie ein Geist zu verschwinden.

»Ich muß gehen«, sagte er. »Grüß Nathan und Edu von mir. Sag ihnen, ich weiß, daß sie vertrauliche Dinge besprechen.«

»Wo sind sie?«

»Im Arbeitszimmer.«

Er küßte Caroline leicht auf die Wange und ging hinaus, kam aber nach einer Minute zurück, weil er seinen Hut vergessen hatte.

Caroline ging wieder nach oben in ihr Wohnzimmer, um sich auszuruhen. Sie war müde und wollte nicht über Emma nachdenken. Fräulein Gründlich betreute die Kinder sehr gewissenhaft, und es bestand in Wirklichkeit kein Grund zur Sorge, selbst wenn Emma schlecht aß. Dr.Schlesinger sagte, sie sei eines jener Kinder, die zwar zart, aber auch sehr robust waren. Caroline zog das Kleid aus und legte sich auf die Chaiselongue. Es war dunkel und behaglich im Zimmer; das Fenster stand offen, und sie konnte den Flieder riechen. Eine Mattigkeit überfiel sie, die weit größer war als bloße Erschöpfung. Plötzlich schien ihr, als liebte sie ihre Kinder nicht wirklich, als sei sie im tiefsten Grunde ihres Herzens eine kalte und gefühllose Frau. Jene »magischen« Augenblicke, die sie bewegten und ergriffen, waren selten ein Ausdruck von Liebe– es sei denn jener Liebe, wie Narziß sie empfand, als er im Wasser sein Spiegelbild erblickte. Diese Magie wurde hervorgerufen von der Harmonie lebloser Dinge, von Licht, von Farben, unabhängig von menschlichen Gefühlen. Wäre sie eine echte Künstlerin gewesen, hätte man ihr vielleicht verziehen, daß sie nur darauf reagierte, aber das war sie nicht. Sie hatte etwas Talent, ihr Skizzenbuch war angefüllt mit reizenden kleinen Aquarellen, aber– was hatte das schon zu bedeuten? Sie würde künftig ein wenig angestrengter arbeiten, sagte sie sich, während Schläfrigkeit ihre Gedanken zu verwirren begann. Sie hatte bereits vergessen, daß sie noch einen Augenblick zuvor ein Gefühl der Leere empfunden hatte.

EDU UND NATHAN saßen einander gegenüber in dem behaglich eingerichteten Arbeitszimmer, das Nathan als Büro diente. Hannchen hatte die Möbel ausgesucht, zu denen unter anderem ein wahrhaft imposanter Schreibtisch gehörte. Die Platte war mit Maroquin eingelegt, und die Schubladen waren mit Messingbeschlägen verziert. Nathan, dessen Anwaltstätigkeit nicht seiner fürstlichen Umgebung entsprach, saß am Schreibtisch und spielte mit einem Brieföffner.

»Du wirkst nervös«, sagte Edu, der mit seinen zwanzig Jahren älter aussah, als er war. Sein Gesicht war, abgesehen von dem säuberlich gestutzten Schnurrbart, glatt rasiert, sein leicht gewelltes Haar sorgfältig gekämmt. Er ähnelte Nathan und auch seinen anderen Brüdern in der geraden, straffen Linie seines Mundes, den leicht herabhängenden Augenlidern und den markant gezeichneten Brauen. Der verschleierte Blick, den ihm die herabhängenden Lider verliehen, ließ ihn in sich gekehrt erscheinen und erweckte bei seinen Gesprächspartnern oft den Eindruck, daß er nicht bei der Sache war, während er in Wirklichkeit jede Einzelheit wahrnahm. Nathan hingegen schien unter den gleichen Lidern wie aus großer und unergründlicher Tiefe hervorzublicken. Er erfaßte weniger die Einzelheiten als vielmehr die Logik dahinter; oft schwieg er lange Zeit, um dann ganz plötzlich eine überraschende gedankliche Verbindung herzustellen. Er besaß weder Edus Eleganz noch Siegmunds Charme, Gottfrieds Eigenwillen oder Jacobs Intelligenz. Es war nicht leicht, ihn zu charakterisieren. Vielleicht lag das daran, daß er der Erstgeborene war, derjenige, über den seine Eltern mehr gewacht hatten als über die anderen.

»Ich bin nicht nervös«, sagte Nathan. »Worüber willst du mit mir sprechen?«

»Wie du weißt, werde ich am Montag mit der Arbeit bei Wertheim und Söhne beginnen– das heißt, offiziell«, erklärte Edu ein wenig hochtrabend. »Inoffiziell mache ich mich dort schon seit einiger Zeit mit den Geschäftsvorgängen vertraut. Ich habe einiges gelernt in New York.«

»Und das willst du hier anwenden?« Nathan überrumpelte seinen Bruder. Eigentlich hatte Edu die Absicht gehabt, langsamer vorzugehen.

»Ja, natürlich.«

»Warum sagst du das mir? Sprich mit Papa.«

»Ich glaube, es gibt Probleme…« Nathan schwieg, und so fuhr Edu fort: »Offengestanden, sie betreffen Gottfried.«

»Er ist nachlässig und gedankenlos. Das ist nichts Neues.«

»Er erhält seinen Anteil am Gewinn, also muß er auch das Seine dazu beitragen.«

»Was gedenkst du zu tun?«

»Wir müssen uns reorganisieren– langsam und vorsichtig, aber von Grund auf und umfassend.«

»Ich weiß immer noch nicht, weshalb du zu mir gekommen bist. Hast du die Absicht, vor Gericht zu gehen? Willst du juristische Schritte ergreifen?«

»Ich glaube nicht, daß das nötig sein wird– vorläufig.«

»Aber du hast daran gedacht?«

»Ich habe alles durchdacht.« Edus Gesichtsausdruck belebte sich und zeigte heftige Gefühle. »Ich habe viele Ideen, und ich möchte, daß du auf meiner Seite bist, wenn es Schwierigkeiten gibt. Papa wird alt, er ist nicht mehr so interessiert, denkt nicht mehr voraus. Man muß die Dinge nicht nur in Gang halten, sondern man muß auch für die Zukunft gerüstet sein.«

Nathan sah seinen Bruder nicht an, aber er lauschte seinen Worten, die stahlhart klangen.

»Ich will erfolgreich sein«, sagte Edu, »und ich habe die Kenntnisse, das Rüstzeug dafür. Ich bin kein Spieler wie Gottfried, ich habe nicht diesen ungestümen Charakter… aber ich werde das Geschäft zum Blühen bringen wie nie zuvor.«

Nathan war von Edus entschlossenem Ehrgeiz beeindruckt. »Und Siegmund?« fragte er.

»Siegmund ist rechtschaffen und ehrlich, aber unstet. Er interessiert sich für andere Dinge. Paulines Geld wird ihm immer eine gewisse Sicherheit bieten. Er macht seine Arbeit– und macht sie gut–, aber mehr auch nicht. Ich bin derjenige, der Papas Nachfolger sein wird. Und ich glaube, er weiß das, obwohl er nie darüber gesprochen hat. Er will ›fair‹ sein, aber war-um hat er mich nach Amerika geschickt? Weil er weiß, daß ich innerhalb von zehn Jahren Wertheim und Söhne zum größten Unternehmen seiner Art in Frankfurt– vielleicht sogar in Deutschland– machen werde.«

»Und Gottfried ist dir dabei im Weg?«

Edu stand auf und kam zum Schreibtisch. »Gottfried muß aus dem Geschäft ausscheiden«, sagte er ruhig und bestimmt. »Es wird auf die Dauer für alle Beteiligten billiger sein, wenn Papa ihn in eine andere Firma einkauft.«

GOTTFRIED KONNTE DIE ERINNERUNG an die unangenehme Begegnung auf der Straße nicht loswerden. Nachdem er aus der Wanne gestiegen war, schenkte er sich noch einen Cognac ein und legte sich aufs Bett. Er hatte für den Abend eine Karte für Die Meistersinger und war zu einem späten Abendessen mit Nellie verabredet, einem Mädchen aus dem Chor. Ihr Bild, auf dem sie für eine winzige Rolle in einer Oper kostümiert war, deren Namen er immer wieder vergaß, stand auf einem Tischchen in seinem Schlafzimmer. Er hatte seiner Mutter nicht erlaubt, seine Wohnung einzurichten; sie war nur einmal dagewesen, um sie zu begutachten, und hatte ihren byzantinischen Einschlag beanstandet. Vom Bett aus konnte er Nellies Bild sehen, und es half ihm, seine Gedanken auf den vor ihm liegenden Abend zu lenken.

Gottfried hatte sie zum erstenmal an einem Wintertag gesehen, auf der Fußgängerbrücke, die über den Main von Frankfurt nach Sachsenhausen führt. Sie war wie ein kleines Mädchen gekleidet, die Hände in einem Muff aus weißem Kaninchenfell und eine dazu passende Kappe auf den blonden Locken. Es gab buchstäblich Hunderte von Mädchen wie sie in der Stadt, aber Gottfried erkannte ihr Gesicht, als er sie eine Woche später auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Römer zum zweitenmal sah. Er lächelte ihr zu, und sie blickte rasch fort. Das dritte Mal sah er sie an einem kalten windigen Tag auf dem Opernplatz. Diesmal folgte er ihr und beobachtete, wie sie durch den Bühneneingang die Oper betrat. Mittlerweile war er entschlossen, sie kennenzulernen. Das war nicht weiter schwer. Ein wohlhabender junger Mann aus guter Familie konnte so etwas mühelos arrangieren. Doch Nellie zeigte kein Interesse; Gottfried nahm an, daß ihre Gleichgültigkeit vorgetäuscht war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mädchen in ihrer sozialen Stellung abgeneigt sein könnte, ein Liebesverhältnis mit einem Mann seiner Gesellschaftsschicht anzufangen. Sie traf ihn einmal zum Kaffee und erklärte, daß es in ihrem Leben keinen Platz für eine Liaison gebe– weder mit ihm noch mit jemand anderem. Sie erzählte (und Gottfried war überzeugt, daß sie log), sie sei die einzige Stütze einer verwitweten Mutter (man konnte nur lachen über dieses Klischee) und arbeite hart an ihrer »Karriere«. Gottfried schickte weiter Blumen und Konfekt. Ihre Unnachgiebigkeit reizte ihn. Und Nellie gestattete ihm weiterhin, sie zum Kaffee oder einem Glas Wein einzuladen. Ein- oder zweimal ging sie mit ihm an einem Sonntagmorgen spazieren.

Aber dann geschah eines Tages, was er erwartet hatte. Er traf sie an einem Samstagnachmittag im Zoo. Als sie behauptete, müde zu sein, führte er sie in das Restaurant, von dem aus man einen schönen Blick hatte und das von Touristen und jungen Liebespaaren bevorzugt wurde. Dort angekommen, brach Nellie in Tränen aus und erzählte schluchzend ihre kummervolle Geschichte. Natürlich ging es um einen Schwindler, der falsche Versicherungspolicen verkaufte und arme Witwen um ihre kärgliche Pension betrog. Gottfried nahm sich nicht die Mühe, sehr aufmerksam zuzuhören, sondern sagte lediglich: »Wieviel brauchen Sie?« Als Nellie beteuerte, daß er sie mißverstehe, daß sie nur ein kleines Darlehen haben wolle, küßte er ihr die Hand, sagte ihr, sie sei bezaubernd, und steckte hundert Mark in ihre Handtasche mit der Bitte, kein Wort mehr darüber zu verlieren.

Das war vor drei Wochen gewesen, und Gottfried freute sich darauf, die Früchte dieser Transaktion zu ernten– vielleicht sogar an diesem Abend. Er wollte nicht allzu direkt sein und hatte sie nicht gedrängt, aber er hatte sie zum Abendessen in einige der besten Restaurants von Frankfurt geführt und ins Theater eingeladen. Jedesmal, wenn sie eine Auster aß oder Champagner trank, wußte sie, daß sie dafür würde bezahlen müssen; jede Rose, jede Erdbeere, in Sahne getunkt, war ein Anerkenntnis ihrer Schuld; und jedesmal, wenn sich ihre Zunge zwischen ihren Lippen zeigte, um einen Klumpen italienisches Eis von ihrem Löffel zu lecken, wuchs Gottfrieds Verlangen nach ihr.

Auf seinem Bett liegend, betrachtete Gottfried seinen nackten Körper. Er überlegte– sehr sorgfältig–, was er anziehen würde. Er hatte die betrunkenen Männer vergessen, dachte nur noch an Nellie und den Abend, der vor ihm lag.

SIEGMUND UND PAULINE waren zu einem Diner bei den Seligmanns eingeladen. Sie liebten beide die Vorbereitungen für einen Abend in glanzvoller Gesellschaft und ließen sich genügend Zeit zum Anziehen, um entspannt und in bester Form zu sein, wenn sie schließlich ihr bescheidenes Haus für die kurze Wagenfahrt zu einer der vielen eleganten Villen im Frankfurter Westen verließen. Die Villa der Seligmanns gehörte zu den imposantesten. Im Jahr 1870 erbaut, hatte sie drei Stockwerke und ein voll ausgebautes Souterrain mit Bar und Dienstbotenräumen. Jedes der Zimmer im Erdgeschoß war in einem anderen Stil eingerichtet, vom Musiksalon in Louis-quinze bis zum Eßzimmer im Stil der Florentiner Hochrenaissance; es gab sogar einen Wintergarten mit pompejanischen Fresken– alles in allem ein »Palast«, wie Pauline zu sagen pflegte. Die pièce de résistance (und eine ständige Quelle der Belustigung für die respektlosen Wertheim-Söhne) war eine Kuppel über dem großen Treppenhaus, die in prächtigen Farben mit der Gestalt der »Liberty« bemalt war. »Sie bewacht ihre Investitionen«, hatte Siegmund trocken bemerkt, als er die Dame zum erstenmal sah.

Aber sosehr sich Pauline auch über solche Angeberei mokieren mochte, sehnte sie sich doch danach, selbst einen solchen »Palast« zu besitzen und ein großes Haus zu führen.

Carolines Widerstreben, an dem lebhaften gesellschaftlichen Treiben teilzunehmen, war ihr unverständlich. Sie konnte sich die qualvolle Angst nicht vorstellen, von der ihre Schwägerin jedesmal gepackt wurde, wenn sie unter dem Schutzdach einer luxuriösen, hell erleuchteten Villa aus ihrem Wagen stieg.

Seit sie Nathans Haus verlassen hatten, hatte sie über Caroline nachgedacht, und während das Mädchen jetzt ihr Haar bürstete– einhundert Striche morgens und einhundert abends–, wiederholte sie in Gedanken alle Punkte, die sie an ihr auszusetzen hatte, angefangen damit, wie nachgiebig Caroline zugelassen hatte, daß ihre Schwiegermutter den Kauf der Einrichtung für ihr Haus überwachte. Die alte Dame war mit Caroline einfach zu A. Bembé gegangen (zugegeben, es war das beste Geschäft) und hatte in Bausch und Bogen die Möbel für acht Zimmer bestellt. Ebenso schien Caroline auch ihre Kleider alle auf einmal zu kaufen und war immer ein wenig hinter der augenblicklichen Mode zurück, als müsse sie sich erst vergewissern, wie dieser Stil an allen anderen Frauen der Stadt aussah, ehe sie es wagte, ihn selbst auszuprobieren. Und wenn ihr dann etwas gefiel, trug sie es viel zu lange.

Siegmund kam ins Schlafzimmer, als das Mädchen gerade mit dem letzten Bürstenstrich fertig war. Er stellte sich hinter seine Frau und band sich die Frackschleife vor ihrem Spiegel. Das Mädchen trat zurück und beobachtete das Paar mit stumpfen, leicht vorstehenden Augen.

»Wird heute abend wieder Musik geboten?« fragte Pauline.

»So wie immer«, erwiderte Siegmund. »Ich hoffe nur, es ist nicht irgend so ein musikalisches Wunderkind.«

»Hoffentlich haben sie den Flügel stimmen lassen«, sagte Pauline. »Weißt du noch, wie verstimmt er letztesmal war?«

Siegmund hob ihr Haar und küßte sie auf den Nacken. Sie spürte, wie ein wollüstiger Schauer durch ihren Körper lief.

Er war in ihren Augen immer der bestaussehende der Wertheimschen Jungen gewesen. Sie erinnerte sich, wie sie ihn als dreizehnjährigen Buben auf dem Schulweg an ihrem Haus hatte vorbeikommen sehen. Schon damals hatte sie ein Auge auf ihn geworfen, und er wußte es. Ihre Liebe war von Anfang an stark sinnlich betont gewesen, und sie hatten trotz Moritz’ Murren jung geheiratet.

»In einer Viertelstunde bin ich fertig«, sagte sie. Wie sehr sie sich auf die Vergnügungen des Abends freute!

JACOB HAUSTE in einer großen, unordentlichen Wohnung in der Fahrgasse, in einem Haus, das aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert stammte. Wie viele der Häuser in der Altstadt war es nicht mehr in bestem Zustand, und es wohnten dort auch nicht die besten Leute. Hannchen ging nie dorthin, aber Moritz, der gern den Spuren seiner Vergangenheit folgte, stieg hin und wieder keuchend die drei Treppen hinauf, um sich mit seinem Sohn zu unterhalten.

Jacob hatte eine Haushälterin namens Gerda, die zugleich seine Geliebte war, und das war wohl der Hauptgrund, weshalb Hannchen keinen Fuß über seine Schwelle setzte. Die Beziehung war nicht gerade skandalös, aber sie erregte hier und dort Anstoß, so diskret sich Jacob auch verhielt– und er war von Natur aus diskret. Er brachte Gerda nie zu öffentlichen Veranstaltungen mit, und er hatte sie nie irgendeinem Mitglied seiner Familie vorgestellt. In mancher Hinsicht, sagte er sich oft schuldbewußt, war es, als ob sie nichts weiter als ein Möbelstück wäre.

Gerda war noch nicht zwanzig. Sie hatte einen Sprachfehler, der ihr viel Kummer bereitete und sie überaus schüchtern und beinahe stumm machte. Sie sprach mit fast niemandem außer Jacob, der gütig und sanft zu ihr war. Man hatte sie für einfältig gehalten, aber es war nur ihre Unfähigkeit, deutlich zu sprechen, ihr verzweifeltes Suchen nach passenden Worten, was die Leute in ihrem kleinen hessischen Heimatdorf veranlaßt hatte, sie als Kretin zu betrachten. Jacob hatte sie lesen und schreiben gelehrt, und es machte ihr Freude, ihre drolligen und manchmal verdrehten Eindrücke von Frankfurts Straßenleben niederzuschreiben.

Sie war vom Land gekommen, um Arbeit zu suchen, aber das Stellenvermittlungsbüro weigerte sich wegen ihres Sprachfehlers, sie zu vermitteln. Schließlich landete sie als Wäscherin in einem dampfigen Keller, wo sie von früh bis spät auf einem kalten Steinfußboden stehend arbeitete. Eines Tages, als sie bei einer von Jacobs Nachbarinnen, die für ihren Geiz bekannt war, Hemden abgeliefert und die Frau unter irgendeinem Vorwand die Bezahlung verweigert hatte, traf Jacob sie weinend auf seiner Türschwelle an. Mit viel Geduld gelang es ihm, sie zum Sprechen zu bringen und zu erfahren, was geschehen war, und daraufhin ging er wütend zu der Frau und forderte von ihr das Geld der Wäscherin. Gerda war ihm dankbar und erbot sich, seine Wäsche zu waschen, aber Jacob gestand ein wenig verlegen, daß er sie ins Haus seiner Mutter brachte. Er fragte sie jedoch, ob sie bereit wäre, seinen Haushalt zu besorgen. In einer plötzlichen Anwandlung von Mitleid bot er ihr viel zuviel Geld, und sie nahm seinen Vorschlag sofort an.

Jacob ahnte nicht, daß ihre Beziehung jemals vertrauter werden würde. Es lag in seiner Natur, die Dinge leichtzunehmen, und er gab nie zu– nicht einmal vor sich selbst–, wie sehr er sie liebte. Als sie in sein Leben kam, hatte er gerade ein sechsjähriges Studium der Geschichte und Philosophie in Göttingen beendet; jetzt schrieb er eine Dissertation über Immanuel Kant, lernte privat bei einem ständig verschnupften alten Rabbiner Hebräisch und las mit einem emeritierten Professor der klassischen Philologie griechische Texte. Trotz dieser ernsthaften Arbeiten wurde er von seinen Freunden als Clown angesehen, denn er konnte beinahe alles darstellen, von einem Floh bis zum Kaiser. Sein Gesicht, unschön nach den Maßstäben seiner Familie, war ausdrucksvoll, aber auch er fand sich nur für Komik geeignet.

Rückblickend erkannte Jacob, daß die Beziehung (wie alle Dinge dieser Art) wahrscheinlich bereits in dem Augenblick besiegelt worden war, als er vor seiner Wohnungstür stehenblieb, um dem Mädchen zu helfen. Nachdem er sie einmal in sein Leben aufgenommen hatte, paßte sie sich mit ungewöhnlichem Feingefühl seinen Gewohnheiten an.

Sie wurden lange Zeit nicht intim. Beide waren schüchtern und fürchteten, zurückgewiesen zu werden. Als Jacob sie schließlich in sein Bett nahm, geschah es ohne Vorbedacht. Er hatte am Schreibtisch an seiner Dissertation gearbeitet, während Gerda in einem Lehnsessel saß und nähte. Als Jacob von seiner Arbeit aufblickte, um ihr etwas zu sagen, bemerkte er, daß sie eingeschlafen war. Er stand auf, um sie ins Bett zu schicken, und als er sich über sie beugte, legte sie wie ein kleines Kind die Arme um seinen Hals. Erst als sie die Augen öffnete, merkte sie, daß er es war. Aber die zärtliche Berührung hatte stattgefunden, und sie reagierten beide darauf.

JACOB WIRKTE nachdenklich und ein wenig verdrießlich, als er an diesem Samstagabend nach Hause kam. Gerda hatte schon des öfteren bemerkt, daß er häufig nervös war, wenn er seine Verwandten besucht hatte, aber sie sprach nie mit ihm darüber. Seine Familie war für sie ein Buch mit sieben Siegeln; sie hatte keine Vorstellung von seinen Eltern und Brüdern, kannte sie nur von den Bildern, die auf Jacobs Schreibtisch standen; und diese Photographien hätten ebensogut die steinernen Gesichter der Könige an den Portalen von Chartres oder die gemalten Profile von Pharaonen in einem ägyptischen Grab sein können, so wenig sagten sie ihr über ihre Persönlichkeit oder ihr Leben. Moritz, der prinzipiell nur »hereinschneite«, wenn sie ausgegangen war, um Einkäufe zu machen, war für sie kaum realer als die Photographien. Wenn sie sich zufällig auf der Treppe begegneten, wandte sie das Gesicht ab, und er blickte geradeaus.

Gerda hatte noch nie einen Juden gekannt, ehe sie Jacob traf. Sie wußte nicht einmal, daß er jüdisch war, bis das Mädchen eines Nachbarn es ihr sagte. Der Gedanke erschreckte sie eine Zeitlang, und manchmal sah sie ihn unvermittelt an, als wolle sie ihn in seinem jüdischen Wesen ertappen, was ihr aber– zu ihrer großen Erleichterung– nie gelang.

Beim Abendessen murmelte Jacob undeutlich vor sich hin, während er darauf wartete, daß Gerda ihm die Speisen servierte. Sie dachte, er rede mit ihr, und fragte: »Was?«

»Es wird Schwierigkeiten geben«, sagte er. »Edu und Gottfried werden früher oder später aneinandergeraten– wahrscheinlich eher früher.«

Gerda brachte ihm eine Schüssel heiße Kohlsuppe. Sie wußte nicht– denn er hatte es ihr nie gesagt–, daß er andere Kost gewohnt war.

»Edu glaubt, alles zu wissen, nur, weil er in Amerika war. Nicht etwa, daß er irgend etwas Interessantes über das Land erzählen kann; man bekommt nur immer wieder zu hören, was er daran auszusetzen hat. Aber wenn man ihn zum Beispiel bittet, die sozialen Verhältnisse zu schildern, versagt er völlig. ›Du hättest Tocqueville lesen sollen‹, sagte ich ihm. ›Wer ist das?‹ war alles, was er darauf geantwortet hat. Aber er wollte es nicht wirklich wissen.«

Jacob sprach zu Gerda, als ob er zu sich selber spräche. Er tat es schon so lange, daß er nicht einmal mehr merkte, daß sie nur die Hälfte von dem verstand, was er sagte.

»Das war köstlich«, erklärte er, als er mit seiner Suppe fertig war. Die Komplimente, die er Gerda machte, galten ausschließlich ihrer Kochkunst. Alles andere, was er an ihr liebte, faßte er nicht in Worte.

Gerda nahm die leere Schüssel fort und brachte ihm einen Teller mit Kalbswürstchen und gebratenen Zwiebeln. Sie schenkte ihm ein Glas Bier ein und setzte sich mit verschränkten Armen an den Tisch, um ihm beim Essen zuzusehen. Sie aß immer hinterher, allein, und Jacob versuchte nicht, sie von dieser Gewohnheit abzubringen, obwohl sie in seiner Gesellschaft herzhaft aß und trank, wenn sie in ein Wirtshaus in Sachsenhausen gingen oder zu Apfelwein und Rippchen nach Kronberg oder Niederhöchstadt im Taunus fuhren.

Nach dem Essen rauchte er eine Zigarre, und während Gerda aß und abwusch, machte er seinen üblichen Spaziergang zum Main hinunter. Er ging den Kai entlang zur Friedberger Anlage, dann am alten Zolltor und dem aufgelassenen jüdischen Friedhof vorbei wieder nach Hause. Er bemerkte, daß die Luft feucht geworden war und Nebel vom Fluß aufstieg. »Wir bekommen Regen«, sagte er zu Gerda. An diesem Abend blieb er lange auf und las Griechisch, während Gerda seine Socken stopfte.

EDU HATTE FÜR SICH und Elias zum Abendessen um acht einen Tisch in einem der besten Restaurants der Stadt reservieren lassen. Er hatte vor, das Geschäft für eine Weile zu vergessen und sich auf angenehme Gesellschaft und gutes Essen zu konzentrieren. Allmählich lernte er, sich zurechtzufinden. Er ging hin und wieder in die Oper und ins Theater oder mit Siegmund und Pauline in Konzerte– wobei er nicht nur die Musik genoß, denn wenn er mit ihnen ausging, wurde es immer ein anregender, lebhafter Abend. Auch dabei war er darauf bedacht, vielleicht das eine oder andere zu lernen. Erfahrung war der Schlüssel zu allem. Wenn man genügend davon besaß, konnte man jede Situation analysieren, als ob sie ein Schlachtplan wäre, und sie beherrschen. Auf diese Art konnte man allein seines Weges gehen, war die Herde für alle Zeiten los. Auf diese Art war man frei.

Edu lebte sparsam. Er aß so oft wie möglich zu Hause, spielte nie und gab nicht viel Geld für Frauen aus. Er hatte nur wenig Garderobe, aber die Anzüge, die er besaß, waren aus dem besten Material und tadellos gearbeitet.

Mit diesem Abendessen, das er schon einige Wochen im voraus geplant hatte, wollte er seine Rückkehr nach Frankfurt feiern. Und er hatte seinen Freund Elias dazu eingeladen, weil er ihn gern hatte, aber auch– mehr unbewußt–, weil er sich vor ihm brüsten wollte. Elias diente ihm als Folie. Ebenso wie Edu stand er am Beginn seiner Laufbahn, aber im Gegensatz zu ihm interessierte er sich ausschließlich für seine Arbeit. Er wollte nicht zugeben, daß er ehrgeizig war, aber Edu wußte es besser. Es war einer der Gründe, weshalb sie Freunde waren. Außerdem hörte Edu gern zu, wenn Elias von seinen Kursen in Kunstgeschichte erzählte. Edu mochte aus Pflichtgefühl ins Theater und in Konzerte gehen, aber ins Städel ging er mit Staunen und einem Gefühl, das an Liebe grenzte. Gemälde verfehlten nie ihre Wirkung auf ihn, und er beneidete Elias um die vielen Stunden, in denen er Kunstwerke betrachten konnte.

Edu traf etwas zu früh im Restaurant ein. Der Oberkellner kannte ihn nicht, wußte jedoch sofort Bescheid, als er seinen Namen nannte. Edu mußte nicht warten, und der Tisch, zu dem man ihn führte, war gut. Elias kam mit ein paar Minuten Verspätung im Sturmschritt herein; er sah abgehetzt und nervös aus. Sein Schal schleifte hinter ihm her.

»Komm ich zu spät?« fragte er und keuchte dabei besonders heftig, um zu zeigen, wie sehr er sich bemüht hatte, pünktlich zu sein.

»Keineswegs«, sagte Edu, ihm großmütig verzeihend.