Stumme Schuld - Nima T. Decker - E-Book
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Stumme Schuld E-Book

Nima T. Decker

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Beschreibung

Ein Sog aus Lügen, Schuld und Gewalt – kannst du die Wahrheit finden?
Ein beklemmender Psychothriller, der im Gedächtnis bleibt

Als die junge Kriminalpsychologin Lea Lindman aufs Präsidium gerufen wird, rechnet sie nicht damit, dass sie der schwierigste Fall ihrer Karriere erwartet. Keiner will ihr sagen, weshalb der harmlos wirkende Junge, der jetzt vor ihr sitzt, verhaftet wurde. Und auch Tommy weigert sich zuerst mit ihr zu sprechen. Doch dann schafft Lea Lindman das, was keiner mehr geglaubt hätte: Sie dringt zu ihm durch und bringt ihn dazu, seine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die sie an allem zweifeln lässt, was sie über Schuld und Gerechtigkeit zu wissen glaubt …

Erste Leserstimmen
„verstörend realistisch und unglaublich spannend“
„der Roman hat mich von der ersten Seite an wahnsinnig gepackt“
„Lest dieses Buch, es wird euch nicht mehr loslassen!“
Nima T. Decker weiß genau, wie er den Leser fesselt ...“
„super Schreibstil trifft auf unglaublich spannende Geschichte“

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Seitenzahl: 303

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Über dieses E-Book

Als die junge Kriminalpsychologin Lea Lindman aufs Präsidium gerufen wird, rechnet sie nicht damit, dass sie der schwierigste Fall ihrer Karriere erwartet. Keiner will ihr sagen, weshalb der harmlos wirkende Junge, der jetzt vor ihr sitzt, verhaftet wurde. Und auch Tommy weigert sich zuerst mit ihr zu sprechen. Doch dann schafft Lea Lindman das, was keiner mehr geglaubt hätte: Sie dringt zu ihm durch und bringt ihn dazu, seine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die sie an allem zweifeln lässt, was sie über Schuld und Gerechtigkeit zu wissen glaubt …

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe August 2019

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-860-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-852-0

Covergestaltung: Rose & Chili Design unter Verwendung von Motiven von © Runrun2/shutterstock.com und © PellissierJP/pixabay.com Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

E-Book-Version 08.01.2024, 15:14:54.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Stumme Schuld

Für Christa»Wie viel Zeit brauchst du noch?«»Ein ganzes Leben.«– N.T.D. 2016

–1–

Tommy

Mancherorts heißt es, Regentropfen seien wie Tränen, und wenn es regnet, teilt die Welt so ihr Leid mit. Lea hasste Regen. Und sie hasste Tränen. Letzteres sah sie bei ihrer Arbeit bereits viel zu oft.

Die Psychologin blickte von ihrem Notizblock auf. Dicke Tropfen prasselten gegen das Fenster. Wie passend. Seit Tagen regnete es ununterbrochen aus Wolken, die die Stadt in einen feuchten Schleier hüllten. Sie hingen unbarmherzig tief und ließen all das Wasser frei, das sie so lange in sich aufgenommen hatten. Oder das Leid – je nachdem, ob man dem Glauben schenken mochte. Lea beobachtete den Regen, der wild gegen die Scheibe peitschte, eine Zeit lang missmutig, schweifte kurz ab, schüttelte dann aber den Kopf, weil sie sich vom Klang der Tropfen nicht von ihren Gedanken abbringen lassen wollte. Warum war sie hier? Das fragte sie sich seit dem Anruf des Kriminalhauptkommissars an diesem Morgen, aber man hatte sie bis jetzt völlig im Dunkeln gelassen. Absichtlich. Lea atmete geräuschvoll durch die Nase. So hatte sie sich ihren ersten eigenen Fall für die Polizei nicht vorgestellt.

Seit anderthalb Jahren arbeitete sie nun schon in der Praxis von Dr. Stevens, um Erfahrung zu sammeln, aber dass ihr der Fall so vor die Füße fallen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Nicht zum ersten Mal in der letzten halben Stunde blickte sie zur Tür gegenüber und wartete, dass sich die Türklinke wie von selbst nach unten drückte. Aber sie rührte sich nicht. Bald würde sie mehr wissen. Das hatte man ihr jedenfalls gesagt. Der Kriminalhauptkommissar hatte sie mitten in einem Patientengespräch angerufen – auf ihrer privaten Nummer! – und ihr einen einmaligen Fall in Aussicht gestellt. Lea musste an das Telefonat denken, das sie vor wenigen Stunden geführt hatten.

Das Klingeln des Handys klang genauso eindringlich wie die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Spreche ich mit Doktor Lindman?«

Für einen kurzen Augenblick war sie so verblüfft, dass sie einen Moment brauchte, um zu antworten. »Wie bitte?«

»Doktor Lindman, spreche ich mit ihr?«

»Am Apparat.«

»Gut. Hier ist Kriminalhauptkommissar Beck. Können Sie frei sprechen?«

»Wenn Sie so fragen, ich bin mitten in einer Sitzung mit einem Patienten.«

»Sagen Sie für heute alle Termine ab!«, würgte sie der Mann ab. »Bevor wir weiterreden, die wichtigste Frage zuerst: Haben Sie heute schon die Nachrichten gesehen?«

»Nein, wieso?«, wollte Lea wissen.

»Gut, dann tun Sie es auch nicht. Lassen Sie die Finger von allen Fernbedienungen, Zeitungen, Mobiltelefonen oder was weiß ich von Geräten, auf denen Sie Zugriff auf irgendwelche Medien hätten. Haben Sie verstanden?"

»Ja, aber …«

»Keine Zeit dafür, Doktor Lindman, hören Sie mir genau zu. Ich habe einen außergewöhnlichen Fall, vielleicht sogar den Fall des Jahres, und will Sie als Psychologin dabeihaben. Wenn Sie Ihre Sache gut machen, wird es sich für Sie lohnen, das verspreche ich Ihnen. So leid es mir tut, weitere Informationen kann ich Ihnen am Telefon nicht geben. Sie werden mehr erfahren, wenn Sie herkommen.«

»Wohin soll ich kommen?«

»Aufs Polizeipräsidium natürlich. Aber Sie müssen sofort aufbrechen.«

»Sofort? Sie meinen, jetzt gleich?«

»Leider gebietet der Fall höchste Eile und duldet keinen Aufschub. Eine sprichwörtliche Jetzt-oder-nie-Situation. Also, wie entscheiden Sie sich, Doktor Lindman?«

Hätte sie ablehnen sollen? Natürlich nicht. Dieser Fall konnte ihr Sprungbrett zu einer eigenen Praxis sein. Darauf hatte sie zu lange hingearbeitet, um sich von kleinen Unannehmlichkeiten aufhalten zu lassen. Eines hatte Lea bei ihrer Ankunft allerdings ein flaues Gefühl im Magen bereitet: Der Aufmarsch der Journalisten vor dem Polizeipräsidium war enorm. Dutzende Reporter standen mit ihren Blitzlichtkameras vor den Gittern der Einfahrt und riefen wild durcheinander. Doch ehe Lea im Regen durch das Stimmengewirr auch nur ein paar Sätze verstehen konnte, hatte sie bereits ein reserviert dreinblickender Mann am Rande der Menge ins Visier genommen. 

»Sind Sie Doktor Lindman?«, rief er ihr im tosenden Regen entgegen.

»Die bin ich«, antwortete sie nicht minder laut.

Er war ganz in Zivil, und nur seine ID-Karte, die ihn als Kommissar Mayer auswies, bestätigte seinen Dienstgrad. »Gut, bitte zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«

Lea reichte ihm das Dokument.

Nachdem er ihre Identität geprüft hatte, hellte sich sein Gesicht etwas auf. »Sie also hat Doktor Stevens empfohlen! Endlich sind Sie da, alle warten schon auf Sie.«

»Können Sie mir verraten, was los ist? Als wir telefoniert haben, hatte es Ihr Chef nicht so mit Informationen. Und dass Doktor Stevens auch vor Ort ist, hat er mit keinem Wort erwähnt.«

»Er war hier. Darüber hinaus kann ich Ihnen keine Auskunft geben, sorry, Anweisung von oben.«

Lea hatte ohnehin nicht damit gerechnet. Als Mayer sie zum Hintereingang des Präsidiums führte, warf sie noch einmal einen Blick über die Schulter, direkt in das Blitzlichtgewitter. Beck hatte nicht untertrieben, es musste wirklich etwas Außergewöhnliches passiert sein. Etwas außergewöhnlich Schlimmes.

Mayer führte sie durch das Treppenhaus und vorbei an drei, vier Räumen, in denen es von Behördenmitarbeitern nur so wimmelte. Lea sah Gruppen von Polizisten in Uniform, die meistens dabei waren, von einem Kommissar in ähnlich legeren Jeans, wie Mayer sie trug und in denen das Hemd hastig hineingesteckt war, Dienstanweisungen entgegenzunehmen. Lea versuchte gar nicht erst, etwas von dem Gerede aufzuschnappen. Einerseits senkten Mayers Kollegen sofort ihre Stimmen, sobald sie die beiden erblickten, andererseits wollte sich Lea nicht selbst im Weg stehen und übereifrig sein. Auch wenn es schwer war, sie musste sich wohl an Becks Anweisungen halten, wollte sie für den Fall infrage kommen. Nachdem Mayer sie durch einen Gang zu einem Vorraum gebracht hatte, bat er sie mit einer knappen Geste, gegenüber der einzig anderen Tür Platz zu nehmen.

»Und jetzt?«, fragte Lea an Mayer gerichtet, der sich schon wieder zum Gehen wandte.

Sein Zeigefinger hob sich in ihre Richtung. »Sie warten.« Der Zeigefinger senkte sich auf seine Brust. »Ich gehe. Beck wird wissen wollen, dass Sie hier sind.« Mayer nickte ihr aufmunternd zu. »Noch etwas Geduld, Doktor Lindman, bald wissen Sie mehr.«

Dann verschwand er durch die andere Tür und ließ Lea allein. Egal. Durch das Fenster hinter ihr konnte sie wenigstens einen Blick auf den Innenhof werfen. Wenn es doch nur nicht regnen würde. Die Äste eines Baums wogten im Wind hin und her, und auch die Fensterscheibe bekam einiges an Wasser ab. Kaskadengleich peitschte es gegen das Glas und gab ein lautes Trommeln von sich.

Lea seufzte. Sie hasste Regen.

Nach einer gefühlten halben Stunde hatte das Warten schließlich ein Ende. Schnelle Schritte näherten sich der gegenüberliegenden Tür, und Lea richtete sich auf, noch bevor die Türklinke mit einem hektischen Ruck nach unten gedrückt wurde.

»Kriminalhauptkommissar Beck«, stellte sich der ältere Mann im dunklen Anzug vor.

Lea schätzte ihn auf Ende fünfzig, und sein durch und durch weißes Haar bekräftigte ihre Annahme. Das also ist der Mann, mit dem ich telefoniert habe.

»Sind Sie die Psychologin?«, fragte er und reichte ihr die Hand. Sein Griff war fest, nicht zu stark, dass er ihre Hand quetschte, aber dennoch stark genug, um Lea gebannt zu halten.

»Das ist richtig. Wir haben telefoniert«, antwortete sie.

Beck nickte. »Gut, dass Sie da sind. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Er ließ ihre Hand los, machte einen kleinen Schritt von ihr weg und schaute sie eindringlich an. »Zuerst das Allerwichtigste: Was wissen Sie?«

Lea sprach aus, worüber sie sich den ganzen Vormittag den Kopf zerbrochen hatte. »Ich habe keine Ahnung.«

Der Kriminalhauptkommissar nickte erneut und beobachtete sie noch eindringlicher. »Sie haben seit heute Morgen keine Medien verfolgt? Keine Nachrichten, kein Internet, keine Anrufe, die die Zusammenarbeit seitens der Polizei mit Ihnen hätte aufklären können?«

»Nein, ich habe wirklich keine Ahnung, warum Sie mich herbestellt haben«, sagte sie, diesmal mit deutlicherem Unmut in der Stimme, sodass es Beck auch hören konnte.

»Ich kann Ihren Verdruss über die Unklarheit der Umstände sehr gut nachvollziehen, Doktor Lindman, aber seien Sie versichert, dass es absolut nötig ist, sollten Sie den Fall übernehmen. Den ersten Psychologen mussten wir bereits abziehen … Sie kennen Doktor Stevens, nehme ich an.«

Das war eine starke Untertreibung. »Doktor Stevens war mein Doktorvater, zurzeit assistiere ich ihm bei seinen Fällen. Aber das konnten Sie mit Sicherheit auch schon in Erfahrung bringen.«

»Natürlich …«

»Und natürlich war ich nicht Ihre erste Anlaufstelle, Hauptkommissar Beck.«

Nach Mayers Worten hatte Dr. Stevens sie empfohlen. Warum wusste sie nichts davon?

»Ich will offen sein«, fing Beck diplomatisch an, »Sie waren nicht meine erste Wahl. Doktor Stevens ist unser Kriminalpsychologe, hätte er sich nicht so für Sie eingesetzt, wären Sie auch nicht meine zweite gewesen. Dafür schienen Sie uns einfach zu unerfahren zu sein.« Er machte eine Pause, ein abschätzender Blick streifte sie. Hielt er sie für zu jung? »Wie alt, sagten Sie, sind Sie noch gleich?«

Aha. Bingo. »Ich sagte gar nichts«, entgegnete Lea kühl. Beck sollte aufhören, sie hinzuhalten, und endlich anfangen, zu erzählen, was Sache war. »Wenn Sie wissen möchten, ob ich mich einem eigenen Fall gewachsen fühle, lautet die Antwort Ja. Und ich bin siebenundzwanzig.« Ihr war natürlich bewusst, welchen Eindruck sie gerade machte, aber wenn sie schon ohne jegliche Hintergrundinformationen – wie es normalerweise üblich war – hierher zitiert und wie ein kleines Kind ob ihrer Fragen im Dunkeln gelassen wurde, dann hatte man von ihr nicht mehr zu erwarten. Hauptkommissar hin oder her.

Schon rechnete Lea damit, dass Beck sie wieder wegschickte, als sich ein Lächeln auf sein faltiges Gesicht legte. »Sie haben Feuer, Doktor Lindman. Das werden Sie brauchen«, sagte er und wirkte versöhnlicher. »Verzeihen Sie mir meine Skepsis, unsere Nerven in der Abteilung liegen blank. Stundenlang haben wir ihn zu verhören versucht, aber wir schaffen es nicht, auch nur ein Wort aus ihm herauszubekommen.«

Ihm? Lea wurde hellhörig. »Also handelt es sich um einen Mann?«

»Um einen Jungen, um genau zu sein«, erwiderte Beck.

Lea war verwirrt – so ein Aufstand wegen eines Jungen? »Aus welchem Grund mussten Sie Doktor Stevens abziehen?«, fragte sie.

»Er hat zu viel gewusst. Deshalb kann ich auch Ihnen im Moment nicht mehr sagen.«

»Was können Sie mir denn sagen? Nach unserem Gespräch bin ich so schnell hergekommen, wie ich konnte, aber niemand macht den Mund auf. Warum bin ich hier, wozu brauchen Sie mich?«

»Sie sollen ein erstes psychologisches Gutachten erstellen. Das ist Ihre Aufgabe. Deshalb sind Sie hier.«

»Ich verstehe nicht ganz, ich kann ein psychologisches Gutachten nur erstellen, wenn ich den Patienten kenne, um den es geht.«

»O, Sie werden ihn kennenlernen, aber alles zu seiner Zeit. Was ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt sagen kann, ist, dass es sich um einen siebzehnjährigen Jungen handelt.«

Großartig, einfach großartig. Ihr erster eigener Fall und gleich wurde es ihr unnötig schwer gemacht. »Wie soll ich ohne Hintergrundinformationen solch einen Fall angehen? Das sind ziemlich wenige Angaben, um überhaupt eine Analyse zu beginnen.«

»Doktor Lindman, stellen Sie Ihr Licht bloß nicht unter den Scheffel. Doktor Stevens hat Sie uns mit Nachdruck empfohlen, von Ihrem Einfühlungsvermögen sprach er in den höchsten Tönen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es nicht leicht wird. Aber Sie müssen sich schon selbst ein Bild machen.« Beck drehte sich um, ging durch die Tür und bedeutete ihr, ihm in den Raum zu folgen, aus dem er gekommen war.

Lea wusste nicht recht, was genau sie erwartet hatte, aber vermutlich nicht den klischeehaften Verhörraum, wie es ihn in jeder Krimiserie gab. Er war zweigeteilt, sie befand sich mit Beck in jenem Teil, in dem man das ganze Geschehen ungestört überwachen konnte. Eine Wand, in der ein lang gezogenes Glasfenster eingefasst war, trennte die beiden vom eigentlichen Geschehen im anderen Teil. Der Tisch darin war ein simples Gestell aus Resopalplatte und Metallbeinen. Hinein kam man durch eine Tür links vom Glas, die Wände waren mattgrau gestrichen, wohl, um eine gewisse Distanz zu dem zu halten, was in solchen Räumlichkeiten gefragt und besprochen wurde. Eine Neonröhre, die an zwei kurzen Stahlseilen hing, sandte ihre kalten Lichtwellen über den Tisch in jeden Winkel des Raums.

Er war nicht leer. Beck trat vor die Scheibe und winkte Lea zu sich. Zwei Männer unterhielten sich dahinter mit einem Jungen. Mit dem Jungen. Einen der beiden, Kommissar Mayer, kannte sie bereits, den anderen hatte sie jedoch noch nie gesehen. Der trug wie Mayer Jeans – die Farbe war einen Stich dunkler – und Hemd, jedoch war seines weitaus zerknitterter als das seines Kollegen. Darüber hing ihm eine abgewetzte Lederjacke locker am Leib, die ihn in der Kombination ziemlich verwegen aussehen ließ. Den Eindruck verstärkte vor allem sein mittellanges Haar, das weniger sorgfältig gekämmt war als das von Mayer und in puncto Sittsamkeit bei Weitem nicht gegen die akkurate weiße Mähne des Hauptkommissars ankam.

Vielleicht waren sie doch nicht so dringend auf Lea angewiesen, wie es Beck ihr weismachte, denn anscheinend war das Verhör schon in vollem Gange. Zumindest sah es danach aus, als würden sie sich unterhalten, denn Lea konnte kein einziges Wort von dem hören, was in dem Raum gesprochen wurde.

»Halbdurchlässiger Spiegel«, brummte Beck und nahm ihr damit die Frage aus dem Mund. Er tippte kurz gegen das Glas. »Feine Sache, so was.«

Wäre Lea allein gewesen, hätte sie die Hände trichterförmig an die Lippen gelegt und irgendetwas gerufen, um festzustellen, ob die anderen tatsächlich nichts hörten oder nur so taten, als könnten sie Lea und den Hauptkommissar hinter der Scheibe nicht erkennen, ließ es aber doch lieber bleiben. Er schien nicht die Art Vorgesetzter zu sein, der solch ein Experiment zu schätzen wusste, deshalb verließ sie sich einfach darauf, dass sie hier tatsächlich geschützt vor den Blicken der anderen waren.

Bumm! Ein stummer Schlag mit der Faust auf den Tisch von Mayers Kollegen ließ Lea zusammenzucken und ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Szene vor sich richten. Der Kommissar gab ein überzeugend einschüchterndes Bild ab, den Jungen allerdings schien dessen Aufbrausen kaum zu berühren. In Wahrheit ließ es ihn völlig kalt. Wüsste es Lea nicht besser, fiele es ihr schwer, zu glauben, dass er der Grund war, dass vor und im Polizeipräsidium so ein Wirbel gemacht wurde, und es ließ sich nicht vermeiden, dass ihr eine zentrale Frage immer wieder vor das geistige Auge trat: Was hat er getan?

Sie musterte seine Züge genau, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches feststellen. Er sah aus wie ein ganz normaler Teenager. Schlaksige Statur, zerzaustes kastanienbraunes Haar und dunkle Augen, unter denen Schatten lagen. Ob das von Müdigkeit oder von etwas anderem herrührte, konnte sie auf die Schnelle nicht beurteilen. Das Auffälligste an ihm war, dass er so unauffällig wirkte – nun, bis auf seine Kleidung natürlich. Er trug einen graublauen Overall, der ihm vermutlich von der Polizei zur Verfügung gestellt worden war. Blieb der Verdächtige in Untersuchungshaft, war es nicht unüblich, dass die Kleidung konfisziert wurde und der zu Verhörende erst umgekleidet werden musste.

Der Psychologin fiel in diesem Augenblick auf, dass die Männer die Einzigen waren, die sprachen, die Lippen des Jungen hatten sich bisher kein einziges Mal bewegt, was die Kommissare jedoch nicht weiter kümmerte. Mayer hatte lässig auf seinem Stuhl Platz genommen, der andere mit der Lederjacke war inzwischen aufgestanden und baute sich vor dem Jungen auf, seinen Metallstuhl weit nach hinten geschoben. Anders als die beiden konnte sich der Verdächtige nicht zurücklehnen. Er saß ihnen reglos gegenüber, und erst jetzt entdeckte Lea die Handschellen, die seine Arme auf den Tisch zwangen.

»Kommissar Bachmann«, Beck deutete auf den Mann in der Lederjacke, »und Mayer vernehmen ihn noch. Die da drinnen können uns weder sehen noch hören.« Er lenkte Leas Aufmerksamkeit auf ein neben dem Fenster eingelassenes Bedienfeld. »Jedenfalls nicht, solange wir es nicht wollen. Umgekehrt hingegen …« Er drückte einen Knopf, dann ließen die Lautsprecher an den Wänden ein kurzes Knacken ertönen. Nach einem knappen akustischen Übergang waren männliche Stimmen zu hören, und Lea konnte das Gespräch mitverfolgen, das den Lippenbewegungen der Kommissare im Verhörraum deutlich zuzuordnen war.

»Will wohl immer noch nicht mit uns reden, was?«, sagte Bachmann über den Kopf des Jungen hinweg.

»Sieht nicht so aus, als würde er in nächster Zeit mal den Mund aufmachen.« Mayer nickte zustimmend. Anders als sein Partner schien er etwas gelangweilter von der ganzen Situation zu sein. »Womöglich will er auch einfach nicht mit uns reden«, meinte er und zuckte mit den Schultern.

»Meinst du?« Bachmann setzte ein verdutztes Gesicht auf. »Wieso sollte er nicht mit mir reden wollen?«

Mayer verzog den Mund wie jemand, dessen Aufgabe es war, eine unbequeme Wahrheit zu verkünden. »Versteh das jetzt nicht falsch, aber … na ja, du kannst schon manchmal ein ziemliches Arschloch sein«, erklärte er im diplomatischen Ton.

Bachmann winkte unwirsch ab. »Das sagt meine Frau auch immer. Aber woher will er das wissen? Der kennt mich doch gar nicht!« Er baute sich seitlich vor dem Jungen auf und stierte ihn an. »Stimmt das? Hältst du mich für ein Arschloch?«

Die Spannung, die auf den wenigen Zentimetern zwischen den beiden wuchs, war selbst im Vorraum zu spüren. Lea schaute zu Beck, der all das aufmerksam verfolgte. Wie viel Freiraum gab er seinen Kommissaren bei der Befragung des Jungen? Würde er überhaupt eingreifen? Die Sekunden verstrichen unerträglich langsam, doch der Junge hielt Bachmanns durchdringendem Blick stand. Keiner der beiden schien den Drang zum Blinzeln zu verspüren, keiner wollte sich die Blöße geben und der Erste sein, der den Augenkontakt brach.

Ganz bedächtig, beinahe träge, wandte der Junge den Kopf gerade nach vorne, weg von Bachmanns imposanter Darstellung. Seine Augen blieben zwar noch kurz auf den Kommissar gerichtet, schlossen sich aber, und als seine Lider wieder aufschlugen, ging sein Blick ins Leere. Bachmann zog die Luft scharf ein und lief vor Wut rot an. Fast schien es, als überlegte er, dem Jungen eine runterzuhauen, gab sich dann aber mit der reinen Vorstellung zufrieden.

Schließlich drehte er sich zu Mayer um, ging zu seinem Stuhl zurück und klatschte dabei in die Hände. »Aus dem Jungen ist nichts rauszukriegen. Dabei glaube ich, dass er so viel zu erzählen hätte.«

Lea hielt die beiden für ein eingespieltes Team. Gewiss arbeiteten die Kommissare schon lange zusammen und waren bestens aufeinander abgestimmt. Und ihr Eindruck bestätigte sich – Mayer machte prompt an der Stelle weiter, wo Bachmann aufgehört hatte.

»Mit Sicherheit! Jugendliche in seinem Alter haben doch ständig was zu erzählen. Mein Kleiner textet mich immer zu, bis mir die Ohren abfallen.«

»Die Jugend von heute weiß eben, was abgeht«, warf Bachmann ein. »Was waren wir doch für Idioten, als wir so jung waren. Haben den ganzen Tag nur Blödsinn angestellt.«

»Wie sieht es bei dir aus?«, fragte Mayer den Jungen. »In letzter Zeit mal irgendwas angestellt, das du loswerden möchtest?« Er machte eine kurze Pause. »Komm schon, Junge, ich weiß es doch! Willst du nicht mit uns darüber reden?«

Es trat eine Stille ein, die erst wieder von Bachmann durchbrochen wurde. »Er? Niemals … Sicher hat er eine triftige Erklärung für alles. Wahrscheinlich hatte er einfach einen schlechten Tag.«

»War das der Grund?«, fragte Mayer mitfühlend. »Hattest du einen schlechten Tag?« Gespannt wartete er auf eine Regung des Jungen, der sie weiterhin strikt ignorierte und zwischen den beiden Kommissaren hindurch an die Wand schaute.

Bachmann bemühte sich, gelassen zu wirken, was ihm aber einiges abverlangte, denn sein ganzer Oberkörper war angespannt, wie unter Strom.

Was die beiden hinter dem Spiegel im Sinn hatten, war Lea natürlich klar. Sie versuchten, den Jungen zu reizen, ihn in Sicherheit zu wiegen und aus der Reserve zu locken. Es war gut durchdacht und mochte bei so manchen sicher zum erwünschten Ergebnis führen, aber nicht bei diesem Jungen. Lea schüttelte kaum merklich den Kopf – so werden sie ihn nie zum Reden bringen. Die beiden Kommissare auf diese Art auf ihn anzusetzen, würde nicht die Lösung sein.

Schließlich hielt es Bachmann nicht mehr aus. »Junge, mach den Mund auf!«, platzte es aus ihm heraus, und er fuchtelte dabei wild mit dem Arm durch die Luft. »Hey, wir verstehen dich. Wir haben es genauso gehasst wie du. Immer die gleiche Scheiße, Tag für Tag! Manchmal wäre ich auch gerne hingegangen und hätte …« Weiter kam er nicht, und Lea erfuhr nie, was genau der Kommissar getan hätte.

Beck hatte sich prompt eingeschaltet und den Knopf der Sprechanlage gedrückt. Sofort waren die Stimmen aus den Lautsprechern verstummt, dann betätigte er den benachbarten Knopf und mischte sich lautstark ein. »Das genügt jetzt! Kommen Sie raus.« Er ließ den Schalter los und wandte sich an die Psychologin. »Die beiden sind gut, das muss ich den Kollegen lassen. Aber manchmal reden sie einfach zu viel.«

Als die beiden Kommissare zu ihnen traten, stellte Beck ihr die beiden noch einmal vor. Bachmann nickte nur knapp, fast schon verstimmt, Mayer hingegen begrüßte sie mit einem Lächeln. Sie schienen ihre Rollen aus dem Verhörraum nicht abgelegt zu haben.

»Bachmann war bei der Verhaftung des Jungen beteiligt«, erklärte Beck, »Mayer haben wir erst später hinzugezogen, als wir angefangen haben, ihn zu befragen.«

»Da drinnen ist es wohl nicht so gelaufen wie geplant«, sagte Lea und schüttelte beiden die Hand. »Das Verhör, meine ich.«

»Scheiße, nein …« Bachmann ließ ein trockenes Lachen hören. »Ein Verhör kann man das kaum nennen.«

»Die Befragung verlief bisher ziemlich einseitig«, räumte Mayer ein.

Lea beschlich das Gefühl, dass er der Umgänglichere der beiden war, sein Partner hingegen trat ihr etwas zu forsch auf. »Hat er sich Ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt mitgeteilt?«

»Keine Chance. Wir nehmen ihn seit Stunden in die Mangel, aber ohne Erfolg«, antwortete Mayer.

»Er weigert sich, zu reden?«, hakte sie nach.

Mayer schüttelte den Kopf. »Er weigert sich, mit uns zu reden. Seit seiner Verhaftung hat der Junge kaum ein Wort gesagt.«

Kaum? »Also hat er bereits mit Ihnen gesprochen?«

»Nur flüchtig, Doktor Lindman. Am Anfang hat er andauernd gesagt, dass er nur mit jemandem redet, der nicht weiß, was vorgefallen ist«, erklärte Mayer.

»Und Sie haben trotzdem versucht, ihn zum Sprechen zu bewegen?«, fragte Lea und unterdrückte die Anklage in ihrer Stimme nicht. Nicht zu fassen. Wenn sie ihn weiterhin bedrängten, war es vorauszusehen, dass sich der Junge immer mehr verschloss. Auf diese Art würden sie rein gar nichts aus ihm herausbekommen.

»Natürlich haben wir es weiter versucht. Wie gesagt, ohne Erfolg«, verteidigte sich Mayer. Mit einer Rüge der Psychologin hatte er nicht gerechnet. Hilfesuchend blickte er zum Hauptkommissar, doch Beistand fand er nicht bei ihm, sondern bei Bachmann, der die Arme vor der Brust verschränkte.

»Das ist immerhin unser Job. Nur aus dem Kleinen ist nichts rauszubekommen, noch nicht«, sagte er. »Unglaublich, dass er kein Wort verliert über das, was passiert ist. So einen hat man nicht alle Tage.«

»Bachmann …«, mahnte Beck den Kommissar.

»Und diese Augen …«, fuhr Bachmann fort, ohne sich um den Einwurf seines Vorgesetzten zu kümmern. »Ist euch schon mal aufgefallen, wie er mich ansieht? Keine Ahnung, warum wir überhaupt unsere Zeit mit ihm vergeuden. Der Fall ist doch glasklar. Der Staatsanwalt hat alles, was er braucht, was will er da noch ein Gutachten? Immerhin wissen wir, was er getan hat! So viele Tote, und alle …«

Es gibt also Tote! Leas Gedanken überschlugen sich, und sie versuchte, sich aus den wenigen Informationen, die sie aufgeschnappt hatte, so gut sie konnte, ein Bild zu machen. War der Junge ein Mörder? Oder waren andere Umstände verantwortlich dafür? Sie blickte durch den halbdurchlässigen Spiegel. Noch immer saß er teilnahmslos auf seinem Stuhl. Wenn sie ihn so sah, traute sie ihm kaum einen Mord zu. Aber Lea wusste, dass der Schein trügen konnte. Stille Wasser sind tief. Und dieser Junge war sehr still.

»Bachmann!«, bellte Beck den Kommissar an, der sich um Kopf und Kragen redete. »Noch ein Wort über den Fall und ich sorge persönlich dafür, dass Sie noch vor Ende der Woche wieder Streife fahren. Also halten Sie den Mund!«

Bachmann biss sich auf die Lippe und schien einen Augenblick lang hin- und hergerissen, weiterzureden, entschloss sich aber dagegen und begnügte sich damit, Lea finster anzufunkeln. Es lag auf der Hand, dass er es ganz und gar nicht komisch fand, vor einer Außenstehenden derart abgemahnt zu werden. Hinzu kam, dass sie der Grund war, weshalb er nicht offen über den Fall sprechen durfte. Lea wollte vermeiden, dass die Emotionen hochkochten – das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein Kommissar, der sein Revier verteidigen wollte.

Schließlich war es Mayer, der zu schlichten versuchte. »Wie auch immer«, warf er ein. »Auch Doktor Stevens hat er schnell die kalte Schulter gezeigt. Sie haben sich kurz unterhalten, aber als ihm klar war, dass wir ihn über die Geschehnisse aufgeklärt hatten, war Schluss. Von da an hat er den Doktor wie Luft behandelt.« Er nickte kurz in Richtung Verhörraum. »Eines muss man ihm lassen: Er zieht das wirklich durch – der Junge hat Schneid.«

Bachmann gab einen verächtlichen Laut von sich. »Der hat Schiss, nichts weiter«, ätzte er. »Deshalb will er Zeit schinden und stellt Forderungen. Und wir lassen uns auch noch darauf ein!« Er redete sich in Rage, Zornesröte kroch seinen Hals empor.

Mit dem Temperament wird er womöglich wirklich noch vor Ende der Woche Streife fahren, dachte Lea.

Bachmann wurde laut. »Chef, lassen Sie mich fünf Minuten mit ihm allein und ich bring ihn zum Reden. Scheiße noch mal, ich bring ihn zum Singen!«

»Das Einzige, was Sie erreichen werden, ist, dass Sie ihn noch mehr einschüchtern. Dann wird er sich niemandem mehr öffnen, auch mir nicht«, warf Lea ein.

»Das sehe ich genauso«, lehnte Beck den Vorschlag des Kommissars ab. »Die einzige Person, die sich ab jetzt mit dem Jungen unterhält, ist Doktor Lindman. Sie ist die Expertin, deshalb ist sie hier.« Und an Lea gewandt fügte er hinzu: »Was das Gespräch mit ihm angeht, haben Sie freie Hand. Nur beschaffen Sie mir das Gutachten. Ich will die ganze Geschichte und alles, was dahintersteckt!« Es folgte ein schneller Griff in seine Hosentasche. »Das werden Sie brauchen.« Er reichte Lea ein Diktiergerät.

Den Missmut darüber, der sich in ihrem Gesicht abzeichnete, verbarg Lea nicht. Sie hielt nicht viel von solchen Hilfsmitteln.

»Es muss sein«, meinte er nur.

Lea akzeptierte das, aber eine Sache war ihr dermaßen wichtig, dass sie sie dem Hauptkommissar sogleich nahelegte. Er willigte ein, Bachmann allerdings zeigte sich von ihrem Vorschlag ganz und gar nicht begeistert.

»Ihm die Handschellen abnehmen?«, platzte es aus ihm heraus. »Haben Sie den Verstand verloren?«

»Er ist noch fast ein Kind«, hielt sie kühl dagegen. »Was ich bisher gesehen habe, zeigt mir, dass er sich mir nur öffnen wird, wenn wir ihn nicht wie einen Verbrecher behandeln.«

»Aber genau das ist er!« Der Kommissar schien mit seinen Nerven am Ende. »Haben Sie überhaupt die leiseste Ahnung, was der Junge da drinnen getan hat?« Er fuchtelte mit der flachen Hand vor seinem Gesicht, aber Lea ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Nein, eben nicht. Und es liegt auch in Ihrem Interesse, dass es vorerst so bleibt! Oder möchten Sie dem Staatsanwalt erklären, dass er auf sein Gutachten warten muss, nur weil einer der Kommissare den Mund nicht halten konnte?«

Das hatte gesessen. Bachmann schnappte nach Luft und wollte bereits zu einer bissigen Bemerkung ansetzen, als ihm Beck erneut ins Wort fiel. »Schluss jetzt, alle beide!«, rief er. »Bachmann, gehen Sie raus, und holen Sie sich einen Kaffee.«

»Danke, Chef, aber ich hatte schon einen doppelten …«

»Dann holen Sie gefälligst mir einen! Nur machen Sie, dass sie Land gewinnen, ich will Sie hier nicht sehen, solange Sie Ihr Temperament nicht im Griff haben, verstanden?« Seine Stimme klang endgültig.

Von der erneuten Rüge tiefrot im Gesicht, blickte Bachmann zu Boden und brummte etwas vor sich hin, von wegen, er habe sein Temperament immer im Griff.

Beck schien das anders zu sehen. »Ob Sie mich verstanden haben?«, wiederholte er.

»Schon gut, ich hab’s kapiert.«

Mayer klopfte seinem Partner aufmunternd auf die Schulter. »Komm, ich könnte auch eine Pause vertragen. Sollen sich die anderen mit dem Jungen herumschlagen.« Er schob ihn langsam Richtung Tür, und bevor sie sich hinter ihnen schloss, warf Mayer Lea noch einen entschuldigenden Blick zu.

»Nehmen Sie ihm sein Verhalten nicht übel«, bat Beck. »Seit der Verhaftung des Jungen hat er sich rund um die Uhr mit dem Fall befasst, und bis jetzt kam nichts dabei raus. Ich kann seine Frustration verstehen, mir geht es nämlich genauso.«

Lea winkte ab, sie war nicht nachtragend, dennoch musste die Sache jetzt richtig angegangen werden. »Ich schlage vor, Sie lassen mich das tun, weshalb mich Doktor Stevens empfohlen hat. Lassen Sie mich mit dem Jungen reden, und Sie bekommen Ihr Gutachten.«

Beck nickte bedächtig. »Ich werde Sie mit ihm allein lassen, keiner wird sie beide stören. Sie können ihm sogar die Handschellen abnehmen.« Er hielt ihr einen kleinen Schlüssel vor die Augen und ließ ihn in ihre ausgestreckte Hand fallen. Er schaute sie eindringlich an. »In einem allerdings gebe ich Bachmann recht: Lassen Sie sich von seiner ruhigen Art nicht täuschen! Hätten Sie unsere Informationen, würden Sie darauf bestehen, dass er die Handschellen anbehält.«

Natürlich würde ich das, dachte Lea und lächelte schief. Beck schien das zu wundern, denn noch bevor sie die Klinke zur Tür des Verhörzimmers in der Hand hatte, fragte er, woran sie dachte.

»Dass Sie gut daran taten, mir nichts zu sagen«, antwortete sie.

–2–

Ein flüchtiger Blick. Es war die einzige Regung, die der Junge zeigte, als Lea den Raum betrat. Ansonsten saß er so, wie er es schon in Gegenwart der Kommissare getan hatte, und verlor seinen Blick wieder an der Wand ihm gegenüber. Hinter ihr fiel die Tür mit einem leisen Klicken zu. Lea wurde sich schlagartig der Isolation bewusst, in der sie beide sich nun befanden. Es gab nur noch den Jungen und sie, daran konnte auch das lang gezogene Glas nichts ändern, in dem sie, anstatt nach draußen blicken zu können, nur sich selbst sah. Hier drinnen wurde es zu einem ganz gewöhnlichen Spiegel, aber sie wusste ja, dass es keiner war. Beck stand mit seinen Kommissaren auf der anderen Seite und beobachtete alles, was sie tat. Ein beklemmendes Gefühl, und es behagte ihr ganz und gar nicht.

Wenn es ihr schon so erging, wie fühlte sich erst der Junge? Üblicherweise kamen Patienten in eine Praxis und fanden sich in einem sicheren Umfeld wieder. Hinter dem Schleier von Anonymität und Geborgenheit erzählten sie dann – und nur dann – von auferlegten Zwängen, zerreißenden Konflikten, geheimsten Sehnsüchten und tiefsten Ängsten. Und es war der Herangehensweise des Psychologen geschuldet, ob sie sich öffneten, das war Lea bewusst, aber die Räumlichkeit war ein nicht zu unterschätzender Faktor dabei.

Deshalb war Lea vom Erfolg ihres Unternehmens noch nicht völlig überzeugt. Der Raum wirkte trostlos und kalt vom weißen Licht. Er war nicht zur Gemütlichkeit konzipiert, sondern sollte einschüchtern, in Unbehagen versetzen. Verdächtige und Straftäter – nicht immer voneinander zu trennen – sollten sich isoliert fühlen, ausgeliefert, verlassen. Dadurch konnte ihr Widerstand gebrochen werden, um die benötigten Informationen zu erlangen. Meistens jedenfalls. Lea ließ den Jungen nicht aus den Augen.

An dir haben sich Bachmann und Mayer die Zähne ausgebissen. Was hast du getan, das dich heute da sitzen lässt? Und warum?

Lea stellte Bachmanns Stuhl beiseite und setzte sich auf den verbliebenen dem Jungen gegenüber. Ihre Mappe und das Diktiergerät schob sie erst einmal beiseite, beides brauchte sie noch nicht. Erst jetzt, als sie dem Jungen so nah war, sah er sie direkt an. Soll ich ihm jetzt schon die Handschellen abnehmen? Vielleicht wäre es besser, zu warten, auch wenn es sonst nicht ihre Art war – Beck hatte recht, sie durfte ihm ihr volles Vertrauen nicht so früh schenken, selbst wenn er so aussah, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Immerhin, die Presseleute vor dem Polizeipräsidium waren sicher nicht ohne Grund aufgefahren. Lea bekam eine Gänsehaut und spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Saß sie wirklich einem Verbrecher gegenüber? In ihrer Vorstellung hatten die stets anders ausgesehen. Grobschlächtige Gestalten, böswillig funkelnde Augen, spitzzüngige Münder …

Die braunen Augen, in die Lea gerade blickte, wirkten ganz und gar nicht wie die eines Killers. Kein Aufbegehren, kein Widerstand lagen darin. Nur Trauer und Schmerz, verborgen hinter einer Maske des Schweigens.

»Mein Name ist Doktor Lindman.« Lea versuchte nicht, dem Jungen die Hand zu reichen, denn sie wusste, er würde sie nicht ergreifen, selbst wenn es ihm mit den Handschellen möglich gewesen wäre. Soweit waren sie noch nicht. »Keine Angst, ich bin nicht von der Polizei«, sagte sie und ließ ihre Worte einen Augenblick wirken. »Ich arbeite als Psychologin, ich bin nur hier, um mit dir zu reden.«

Der Junge zeigte keine Regung, sie wusste also nicht, ob er sie verstanden hatte, aber er wandte die Augen auch nicht von ihr ab, ähnlich wie er es bei Bachmann getan hatte.

Also machte sie weiter. »Ich weiß, dass du bereits mit einem Kollegen, Doktor Stevens, gesprochen hast. Und dass du ihn abgewiesen hast.« Wieder eine Pause, diesmal, um ihren nächsten Worten mehr Bedeutung zu verleihen. »Ich möchte, dass du mir vertraust.«

Der Junge legte den Kopf schief und öffnete den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Er schien abzuschätzen, ob er das, was sie ihm erzählte, für bare Münze halten konnte. Doch das konnte er. Ganz egal, was Beck von dem Jungen hören wollte, an erster Stelle kamen für Lea die Patienten. Das war zwar nicht das übliche therapeutische Gespräch, wie sie es aus der Praxis ihres Doktorvaters kannte, aber sie konnte trotzdem erkennen, dass der Junge Hilfe brauchte.

Dafür musste er sich ihr allerdings zuerst öffnen. Sie konnte niemandem helfen, den sie nicht wenigstens in Ansätzen kannte oder verstand. Manche ihrer Kollegen behaupteten zwar, Menschen auf den ersten Blick einschätzen zu können, aber davon hielt Lea überhaupt nichts. Ihr erster Eindruck unterschied sich oft von dem, was sie nach einiger Zeit des Gesprächs in Erfahrung brachte. Der Mensch und dessen Psyche – vor allem in einem so jungen Alter wie dem des Jungen – waren zu komplex und zu vielen Reizen und Wünschen unterworfen, als dass man sich nach kurzer Zeit ein Urteil, weder über das eine noch das andere, erlauben konnte. Deswegen schenkte sie auch dem wenigen, das Bachmann gesagt und angedeutet hatte, kaum Beachtung. Sie wollte sich selbst ein Bild von dem Jungen machen.

»Mir wurde berichtet, du willst nur mit jemandem reden, der nichts von dir weiß. Deshalb hast du auch Doktor Stevens weggeschickt, nicht wahr? Du hast geglaubt, er würde dich verurteilen.« Lea machte eine kurze Pause. »Wenn du Angst haben solltest, dass mir dein Fall bereits bekannt ist, kann ich dich beruhigen. Weder weiß ich, was, noch warum du getan hast, was dich heute hier in Handschellen sitzen lässt«, fuhr sie fort und erkannte, wie sich seine Anspannung zu lösen begann. »Ich kenne nicht mal deinen Namen.«

Seine Augenbrauen zogen sich kurz zusammen, wieder öffnete er den Mund, und wieder schloss er ihn gleich darauf. Er machte es ihr wirklich nicht leicht. Immerhin zeigte er irgendeine Regung. Sie musste ihn fordern, ihn aus der Reserve locken. Lea hatte ihn bald so weit, das immerhin konnte sie spüren.

»Erzähl mir, was passiert ist«, bat sie leise. Er schwieg. »Du kannst mir vertrauen.«

Immer noch Stille. Dann …

»Tommy.« Seine Stimme war anders, als Lea erwartet hatte. Nicht eingeschüchtert oder verängstigt, vielmehr aufgeklärt, als hätte er sich mit seiner Situation abgefunden. »Mein Name ist Tommy.« Der Satz klang, als hätte er ihn bereits viele Male sagen müssen.