Stummes Trauma - Helena Kubicek Boye - E-Book
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Stummes Trauma E-Book

Helena Kubicek Boye

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Beschreibung

Als eine Frauenleiche unweit der forensischen Psychiatrie in Säter gefunden wird, brodelt die Gerüchteküche. Was geht in der Klinik vor sich, in der Schwedens gefährlichste Straftäter behandelt werden?  Das muss sich auch Anna Varga fragen. Nach den schockierenden Todesfällen in der geschlossenen Abteilung empfindet die Psychologin den Wechsel in die ambulante Psychiatrie eigentlich als Befreiung. Doch dann stellt sich heraus, dass es sich bei der Toten um ihre Patientin Felicia Frost handelt. Eine junge Frau, die aufgrund von depressiven Episoden bei Anna in Behandlung war. Und plötzlich beginnt der Albtraum von neuem. Führte ärztliches Versagen zum Tod der labilen Felicia, oder war es womöglich Mord? Und was hat es mit den seltsamen Bissspuren auf sich, die an der Leiche gefunden wurden?  Anna beginnt selbst zu ermitteln und dringt immer tiefer in die Abgründe vor, die sich in der kleinen Gemeinde am Rande Dalarnas auftun …  Als Printausgabe und Hörbuch bei Saga Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks

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Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

eBook-Ausgabe September 2025

Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2020 unter dem Originaltitel »Kallare än i« bei Bokfabriken, Stockholm.

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2020 by Helena Kubicek Boye

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2025 by SAGA Egmont

im Vertrieb bei Egmont Verlagsgesellschaften mbH, Berlin

Copyright © der eBook-Ausgabe 2025 by dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / shutterstock AI

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)

 

ISBN 978-3-69076-017-1

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected] . Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

 

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Helena Kubicek-Boye

Stummes Trauma

Thriller

Aus dem Schwedischen von Christine Heinzius

 

Prolog

 

Der dunkelgrüne Nadelwald rund um den See ist schneebedeckt, und die ohrenbetäubende Stille flüstert ihm zu, dass er mit dem, was ihn schon so lange quält, Schluss machen soll. Er lässt den Motor an, gibt ordentlich Gas und spürt, wie sich die Lederhandschuhe an seine Hände schmiegen. Der Motor dreht höher, und hinter dem Schneemobil spritzt der Schnee wie eine Fontäne hoch.

Der Schneescooter fährt in rasendem Tempo über den gefrorenen See und hinterlässt eine vulgäre Spur in der glatten, tiefen Schneedecke. Sein Herz pocht heftig, und sein Puls beschleunigt sich wie der Scooter. Das Adrenalin benebelt und belebt ihn gleichzeitig. Der Schweiß im Nacken fühlt sich wie aggressive Ameisen an.

Vor sich sieht er, wie sich die Beute bewegt, um ihr Leben rennt. Er gibt Gas. Stellt sich auf und fährt rasant eine Kurve. Dann setzt er sich wieder, weil die Beschleunigung ihn auf den Sitz zwingt. Er beißt die Zähne zusammen, jetzt wird er das, was er begonnen hat, zu Ende bringen.

Die Kufen des Schneemobils rutschen, als er schon wieder schnell wenden muss, weil die Beute vor ihm abrupt die Richtung ändert, zum Seeufer und in den Wald hinein.

Die Beute sieht sich panisch um. Ihre Blicke treffen sich, die Pupillen kohlschwarze Magnete, die einander anziehen, das Tiefschwarz unendlich. Die Augen sind entsetzt, der Mund vor Angst geöffnet. Das Motorengeräusch des Scooters durchschneidet die Stille wie eine Motorsäge. Er steht wieder auf dem Schneemobil, gibt Vollgas, und als er in der richtigen Position ist, fährt er direkt auf sie zu. Direkt über sie.

Als er mit dem Schneemobil aufprallt, spürt er das in der ganzen Maschine wie einen harten und gleichzeitig weichen Stoß, durch den er fast das Gleichgewicht verliert.

Über den schneebedeckten See hallt ein verzweifeltes Geräusch. Die Beute wird im Bogen über den Schnee geworfen und fällt schlaff aufs Eis, leblos. Er sieht keine Bewegung. Nicht mal ein Zucken. Aber er muss sicher sein. Erst nachdem er noch eine Runde mit dem Scooter gefahren ist, Anlauf geholt hat und sie dann noch einmal überfahren hat, spürt er, wie sich Erleichterung in seiner Brust ausbreitet. Die Tat ist vollbracht. Der Schnee, der durch den Scooter in Wolken aufgestoben war, legt sich hinter ihm auf den Körper. Bald sieht man kaum mehr, dass da etwas unter dem Schnee liegt. Nur noch das Blut breitet sich in den Kristallen aus und malt ein hellrotes Muster ins Weiß.

Der Mann sinkt wieder auf den Sitz, lehnt sich an die Rückenlehne und atmet ein paar Mal ruhig ein und aus. Feuchter Dampf tritt aus seinem Mund. Er sieht sich um. Er ist immer noch allein auf dem Eis, niemand hat ihn gesehen. Plötzlich hört er in der Ferne einen herzzerreißenden Schrei und dreht sich schnell um. Woher kam der denn? Vielleicht ein Echo? In der Nähe sieht er niemanden, aber ihm ist klar, dass er sofort wegmuss. Er wirft noch einen letzten Blick auf sein Opfer. In ihm steigt der Hass wieder hoch, und er rotzt auf das Opfer.

Er schaltet den Motor wieder an. Der Wind pfeift, und er muss den Kragen hochschlagen, weil es bitterkalt ist. Während er in Richtung Land und in den Wald fährt, peitscht der Wind hinter ihm und verwischt rasch die Spuren im Schnee.

Schnell biegt er zur nächstliegenden Scooterspur ab, dadurch verschwindet die Spur hinter ihm völlig.

Kapitel 1

 

Der wolkenlose Himmel war strahlend blau, wohin man auch sah, glitzerte und blendete der Schnee. Nach den heftigen Sturmböen in der Nacht war der Wind inzwischen abgeflaut, und die Brise fühlte sich auf Elisabeths Wange nur noch wie ein leichtes Streicheln an. Sie bremste mit einem Schlittschuh, hielt an und atmete tief ein. Die frische Luft hier draußen auf dem Ljustern-See brannte in der Nase. Sie lächelte vor Glück, drehte sich um und schaute nach Säter. Die weiße Kirche in der Mitte des Ortes voller roter Häuser und etwas davon entfernt das Sägewerk.

Es war so schön, aber immer, wenn sie die Gebäude des Krankenhauses westlich des Sägewerks sah, wurde ihr mulmig zumute. Wie viel Böses sich wohl hinter diesen Mauern befand! Sie war dankbar, nicht genau zu wissen, welche Patienten dort eingesperrt waren. Aber die rechtspsychiatrische Klinik in Säter war weithin bekannt, vielleicht sogar berüchtigt. Durch einen Film über einen der Insassen namens Quick war die Gerüchteküche nicht gerade abgekühlt. Hätte ihr Mann nicht eine Stelle beim Landkreis bekommen, wäre sie niemals hier gelandet und hätte die Chance bekommen, sich ihrer Kunst zu widmen. Sie sah ihn jetzt vor sich. Die Liebe ihres Lebens. Vor vielen Jahren hatte sie davon geträumt, dass sie beim Schlittschuhfahren mindestens zwei Kinder im Schlepptau hätten. Aber es kamen keine. Es hatte Zeit gebraucht, aber Elisabeth hatte ihren Frieden damit geschlossen.

Das Leben entwickelte sich nicht immer so, wie man es sich vorstellte, sondern verlief, wie es eben verlief. Und sie hatte doch auf jeden Fall den besten Mann der Welt getroffen. Wärme und Liebe durchströmten ihre Brust, als sie sah, wie Mikael zwanzig Meter vor ihr mit langen, ruhigen Schritten dahinglitt. Er bewegte sich sicher und entspannt auf dem Eis. Er liebte das Leben hier in Dalarna. Ihr hatte zu Anfang die Stockholmer Innenstadt gefehlt, aber durch weitläufige Wälder voller Pilze, erfrischendes Baden im See und Schlittschuhlaufen hatte sie sich schließlich auch in die Gegend verliebt.

Sie rief ihm zu: »Sollen wir bald mal eine Kaffeepause machen?«

Er streckte den Arm hoch, und sie sah einen erhobenen Daumen.

Elisabeth fuhr wieder schneller. Lange Schritte. Rechts, links, rechts, links. Sie waren allein auf dem Eis, und die Schlittschuhe glitten durch den Neuschnee. Sie beschleunigte und hielt auf Mikael zu, der abrupt stehen blieb, als plötzlich etwas auf ihn zulief. Sie spähte mit zusammengekniffenen Augen. Was war das? Etwas Dunkles, Zotteliges. Vielleicht ein Fuchs oder ein Wolf? Ihr Puls raste. Sie beeilte sich, um zu Mikael aufzuschließen, der jetzt eine Hand zum Tier ausstreckte, das etwas entfernt von ihm zögerte und abwartete.

»Was ist das?«, rief Elisabeth. Sie war fast da und bremste ab.

»Ich glaube, ein junger Hund«, sagte er leise, um das Tier nicht zu erschrecken.

Sie blieb neben ihm stehen und flüsterte: »Sieht aus wie ein kleiner Schäferhund.«

Er nickte.

»Na komm her, Kleiner, was machst du so ganz allein hier draußen auf dem Eis?«, sagte sie sanft.

Der Hund wartete zuerst kurz, dann machte er ein paar Schritte nach vorn und näherte sich ihr. Seine Pfoten versanken im Schnee, ihr fiel auf, dass er vor Kälte zitterte. »Braver, kleiner Kerl.«

Elisabeth bemerkte plötzlich etwas Rotes rund um sein Maul.

»Blutet er?«, fragte sie leise.

Als sie sich nach unten beugten, kam er vorsichtig näher, dann zuckte er wieder einen Schritt zurück. »Es sieht jedenfalls wie Blut aus«, antwortete Mikael.

Der Hund machte im Schnee ein paar zögerliche Schritte auf sie zu.

Mikael streckte seine Hand noch einmal aus, und der Hund schnüffelte daran.

Elisabeth holte tief Luft, als sie wieder ausatmete, bildete ihr Atem eine kleine, zarte Wolke vor ihr. »Uff, was für ein Glück. Ich dachte schon, es wäre ein Wolfsjunges.«

»Ja, er sieht einem Wolf auch sehr ähnlich. Aber was macht er hier draußen, er wirkt zahm?«

Mikael sah sich um. Die Fußspur des Hundes kam von der anderen Seeseite.

»Er ist seinem Besitzer wohl weggelaufen.«

»Was sollen wir tun?«

Plötzlich drehte sich der Hund um, als hätte er sich erschreckt, und rannte schnell in dieselbe Richtung, aus der er gekommen war.

»Wir müssen versuchen, ihn zu fangen. Hier draußen überlebt er alleine nicht.« Mikael stieß sich ab und fuhr ihm hinterher.

Elisabeth folgte ihm. Sie rasten übers Eis. Der Hund lief tapsig vor ihnen in Richtung Seeufer und Wald an der Nordseite des Ljustern. Dann blieb das Tier abrupt stehen und setzte sich. Sie wurden langsamer und kamen vorsichtig näher, um ihn nicht zu verjagen. Der Hund hatte sich neben einen kleinen Schneehaufen gesetzt und heulte plötzlich laut auf, so dass ein Vogelschwarm aus der benachbarten Fichte flüchtete.

»Oha«, flüsterte Mikael erstaunt. »Was ist los?«

Elisabeth fuhr sanft neben den Hund. Sie vermied ruckartige Bewegungen mit den Schlittschuhen und glitt stattdessen ganz still und leise. Jetzt sah sie deutlich, dass der Schnee neben dem Hund rot war, als hätte jemand Erdbeersaft verschüttet. Irgendetwas sagte ihr jedoch, dass es kein Saft war, sondern Blut, dasselbe Blut, das der Hund an der Schnauze hatte. Sie zuckte zurück und hielt eine Hand vor den Mund.

Der Hund legte sich erschöpft hin und steckte die Nase in den Schnee.

»Ist das ein totes Tier, Mikael, oder was ist das?«

Sie griff nach ihrem Mann.

Als sie nah genug waren, erkannten sie, dass der leblose Körper auf dem Eis einer jungen Frau gehörte. Sie war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Nur ihr Gesicht und ein blutiger, nackter Arm waren frei davon, weil der Hund daran geleckt hatte. Elisabeth wurde übel, sie wandte sich ab.

»Sie ist allerhöchstens achtzehn«, sagte Mikael leise und senkte den Blick.

Sie schauten auf den Hund. War das ihr Hund? Mikael nahm sein Handy, um 112 zu wählen. Elisabeth hielt sich an seinem Arm fest, um nicht umzukippen. Das Mädchen hätte ihre Tochter sein können.

Kapitel 2

 

Anna Varga stand vom Schreibtisch auf und überflog schnell die Akte des nächsten Patienten. Sie lächelte und war zufrieden. Bei der morgendlichen Übergabe war es um einen weiteren geglückten Fall gegangen, und alle Kollegen hatten sie dafür gelobt, wie sie dem Patienten geholfen hatte.

 Sie blickte aus dem Fenster über den See. Die Sonne schien, und nach der stürmischen Nacht war es nun windstill. Kurz wünschte sie sich trotzdem, frei zu haben. An einem solchen Tag wäre ein Ausflug ins Skigebiet Romme Alpin oder nach Bjursås perfekt gewesen. Auf dem Weg zwischen dem See und dem Krankenhaus stapften drei Personen durch den Schnee, so dick eingemummelt, dass man kaum ihre Gesichter sah. Doch nach ihren Jahren bei der Rechtspsychiatrie konnte sie an der Art, wie sie sich bewegten, langsam, träge, aber kontrolliert, trotzdem erkennen, wer da ging. In der Mitte ein Strafgefangener und zu beiden Seiten ein Pfleger.

Als in der offenen Psychiatrie, die im Gebäude gegenüber der Rechtspsychiatrie lag, eine Stelle freigeworden war, hatte sie ihre Chance gesehen. Die Gebäude waren durch unterirdische Gänge verbunden. So war sie immer noch Teil der Klinik, aber nicht mehr für all die belastenden Prozesse auf der Station verantwortlich. Ließ sie dadurch ihren alten Arbeitsplatz und ihre Kollegen in der Rechtspsychiatrie im Stich? Oder hatte sie verstanden, dass sie eine Pause brauchte, nach allem, was sie in der Rechtspsychiatrie mitgemacht hatte. Zuerst das Furchtbare, was in Zimmer 55 geschehen war, und dann der verurteilte Pädophile, der während des Freigangs verschwunden war. Die Vermutung, dass die Arbeit in der offenen Psychiatrie nicht so belastend war wie auf der Geschlossenen, hatte sie sofort angezogen, weswegen sie sich beworben hatte. Und sie hatte die Stelle bekommen. Erst hinterher hatte sie erfahren, dass sie die einzige Bewerberin gewesen war.

Miro Cilic, Psychiater und Oberarzt, der in den letzten Jahren ihr Chef gewesen war, hatte die Bewerbungsorganisation an eine Personalberatung ausgelagert, mit der sie auch das Vorstellungsgespräch geführt hatte. Auch wenn sie jetzt einen neuen direkten Chef hatte, war er immer noch derjenige, der als Klinikleiter für beide Abteilungen verantwortlich war.

Sie riss sich von der Aussicht los und verließ das Sprechzimmer, um die nächste Patientin aus dem Wartezimmer zu holen. Jeanette Sköld war in den Siebzigern geboren und hatte sich wegen »negativer Gedanken« an den psychiatrischen Notdienst gewandt, der sie für eine weitere Behandlung und Beurteilung an die offene Psychiatrie überwiesen hatte. Patienten, die an negativen Gedanken litten, galten oft als nicht so krank, als dass sie in eine Fachabteilung wie die Psychiatrie gehörten, dachte Anna und vermutete, dass es hier allerdings noch etwas gab, das den Fall komplizierter machte. Irgendetwas Ernsteres, weil die Patientin nicht ins Ärztezentrum geschickt worden war, wie es bei mäßig Deprimierten und Angstpatienten eigentlich üblich war.

Auf dem Weg zum Wartezimmer kam sie an den Zimmern ihrer Kollegen vorbei. Gewisse Dinge vermisste sie hier im Vergleich zur Rechtsmedizin doch. Das Personal war hier nicht so eng verbunden, aber die offene Psychiatrie war ein viel freierer Arbeitsplatz, an dem Menschen ohne Sicherheitskontrollen kamen und gingen, allerdings hatten sie auch Alarmknöpfe und mussten die Türen mit Chipkarten öffnen und abschließen. Es gab auch keine Schichten, sie arbeiteten nur tagsüber. Seit Anna hier angefangen hatte, hatte es erst ein einziges Mal einen Alarm gegeben. In der Rechtspsychiatrie gab es täglich welche, und man musste immer für das Schlimmste bereit sein.

 »Jeanette?« Anna sah sich im nicht sonderlich vollen Wartezimmer um. Ein paar der Wartenden waren ungefähr im richtigen Alter. Eine Frau mit einem älteren Mann neben sich hob die Hand und stand auf.

»Hallo, willkommen! Ich bin Anna.«

»Hallo.« Die Frau zögerte etwas und drehte sich zum Mann um.

»Ist es in Ordnung, wenn er mitkommt?«

Anna sah sie fragend an. Sie waren immer sehr zurückhaltend, wenn es um die Teilnahme von Angehörigen am Gespräch ging. Es gab Männer, die jeden Schritt ihrer Frauen kontrollierten, manche hatten sie so von sich abhängig gemacht, dass sie unfähig waren, etwas selbstbestimmt zu tun, sie konnten diese Unterdrückung nicht mal in Worte fassen. Andere Frauen litten offen, und wenn Anna sie nach ihrer Ehe oder Beziehung fragte, war die Verzweiflung in ihrem Blick nicht zu übersehen, obwohl sie oft knapp mit »ist wohl okay« antworteten.

In diesem Fall konnte sie nur schwer einschätzen, was los war. Sie ließ den Mann mit hineinkommen und wollte sich während des Gesprächs einen Eindruck verschaffen, ob es korrekt und angemessen war oder sie ihn hinausschicken sollte.

»Bitte schön.« Sie deutete in den Flur in Richtung des Sprechzimmers.

Anna zeigte, wo sie ihre Jacken im Sprechzimmer aufhängen konnten, dann nahmen sie in den Sesseln Platz. Anna selbst setzte sich an den Schreibtisch, öffnete die Krankenakte und nahm ihren Notizblock.

Unter ihrem Schreibtisch und an der Wand befanden sich Alarmknöpfe, sollte etwas passieren. Das vermittelte Sicherheit, aber seit sie in der offenen Abteilung angefangen hatte, war es noch nie zu einer Situation gekommen, in der sie Hilfe gebraucht hätte. In der offenen Abteilung wurden psychisch Kranke behandelt, die im Ort wohnten. Sie waren nicht verurteilt worden und galten als gesund genug, um alleine klarzukommen, aber die meisten nahmen viele Medikamente und mussten jede Woche in der Sprechstunde erscheinen. Sie waren bipolar, schizophren, hatten Zwangsstörungen oder neuropsychiatrische Einschränkungen, oft in Kombination mit anderen Diagnosen wie Angst- oder Zwangsstörungen oder Depressionen.

Manchmal handelte es sich auch um emotional instabile Persönlichkeiten oder Patienten, die starke Angststörungen mit diversen Psychosen oder Depressionen hinter sich hatten. Trotz allem war das nichts im Vergleich zu dem, womit sie früher gearbeitet hatte.

»In Ihrer Krankenakte steht, dass Sie wegen negativen Gedanken die Akutpsychiatrie aufgesucht haben. Deswegen wurden Sie heute hierhergebeten, für ein Erstgespräch zur Begutachtung.«

Jeanette nickte und sah auf ihre Hände, die auf ihren Knien lagen. Sie zupfte an ihrem Pullover, der sich zwischen Brust und Bauch zusammengerollt hatte, dann strich sie mit den flachen Händen über ihre Hose. Der ältere Mann, der sich als Lasse vorgestellt hat, saß schweigend und aufrecht neben ihr.

»Ja, es ist so, dass ich mir Dinge einbilde«, sagte sie, ohne von den Händen aufzusehen.

»Okay, erzählen Sie mehr«, sagte Anna langsam.

»Wie zum Beispiel, dass Lasse hier mich als Kind missbraucht hat.«

Anna wurde aufmerksam, davon stand nichts in der Krankenakte.

»Damit ich das einordnen kann, in welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zueinander?«, fragte sie Lasse.

»Ich bin ihr Stiefvater«, sagte er und streckte sich.

Anna machte sich Notizen und spürte, wie im Zimmer eine merkwürdige Stimmung entstand.

»Aha, dann erläutern Sie das doch mal.«

Jeanette schaute zu Lasse, der sie ansah. Anna dachte unwillkürlich, dass das hier das seltsamste Patientengespräch war, das sie je gehabt hatte. Eine erwachsene Frau und ein älterer Mann, ein Opfer und ein Täter, die ruhig und beherrscht über einen eventuellen Übergriff und ihre Beziehung sprechen.

»Lasse war schon mit meiner Mama zusammen, als ich klein war, und ich glaube, dass er Dinge mit mir gemacht hat. Er sagt, dass er das nicht getan hat, aber ich sehe immer wieder Bilder und erinnere mich.«

»Ich schwöre, ich habe nichts getan.« Lasse schüttelte verzweifelt den Kopf. »Hätte ich das, dann würde ich ja sicher nicht mit dem kleinen Mädchen hier sitzen.«

Anna fand es unangenehm, dass er diese mittelalte Frau »kleines Mädchen« nannte.

»Gab es eine Anzeige und polizeiliche Ermittlungen?«

Jeanette schüttelte den Kopf. »Ich habe vor ein paar Jahren Anzeige erstattet, aber die wurde fallen gelassen. Es ist so lange her, und es gibt keine Beweise, und du«, sie schaute wieder Lasse an, »sagst ja, dass es nie geschehen ist. Und jetzt weiß ich nicht, was ich glauben soll.«

»Ja, das kann schwierig sein.« Ehrlich gesagt wusste Anna nicht genau, was sie tun und wie sie mit der Situation umgehen sollte.

»Haben Sie früher schon Hilfe gesucht?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Und was sagt Ihre Mutter dazu?«

»Sie will nicht darüber sprechen, sie sagt, ich bilde mir was ein.«

»Bilden Sie sich denn öfter etwas ein?«

»Ja, irgendwie schon. Manchmal höre ich Dinge, die nicht da sind. Dass jemand etwas sagt, das niemand sonst hört, oder dass sich etwas in Zimmer bewegt, das niemand sonst sieht.«

Anna notierte: »Akustische und visuelle Halluzinationen? Zwangsgedanken?«

»Sie haben gesagt, dass Sie Probleme mit negativen Gedanken haben, können Sie mehr darüber erzählen?«

 Jeanette rutschte auf dem Stuhl, und Anna fiel auf, dass ihre Schuhe nicht zugebunden und ihre Haare nicht gekämmt waren. Das Funktionsniveau war also ziemlich niedrig.

»Also, wenn ich an etwas denke, dann kann ich es nicht loslassen, das dominiert dann alles.«

»Wie Zwangsgedanken?«

»Ja, das sind wohl Zwangsgedanken, obwohl ich nicht richtig weiß, was das ist.«

»Das sind Gedanken, die man oft nur dann loswird, wenn man eine bestimmte Handlung oder ein Ritual durchführt. So kann man sie einfach beschreiben.«

Jeanette nickte. Lasse gähnte laut. Minuten vergingen, und Anna dachte, dass sie zu keinem Fazit gelangt war.

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Antidepressiva, aber ich habe das Gefühl, dass sie nicht mehr funktionieren.«

Anna machte sich weiter Notizen. Vielleicht war eine stärkere Medikation angesagt oder andere Antidepressiva, die vermehrt Zwängen entgegenwirkten. Vorteilhaft wäre es auch, wenn Jeanette einen Arzt sah, bevor sie mit einer Therapie begann. Ob sie nun an Zwangsgedanken litt oder sogar an akustischen Halluzinationen, es war auf jeden Fall wichtig, dass man das in den Griff bekam, bevor sie therapeutisch mit ihr arbeiten konnte. Und was sollte sie mit Lasse machen? »Wieso sind Sie heute eigentlich mitgekommen?«, fragte sie.

»Jeanette wollte das. Sie will immer, dass ich bei ihr bin, ich bin ihre größte Stütze und immer für sie da.«

Anna fand die Situation immer schwieriger einzuschätzen. War das hier vernünftig oder pathologisch? Es war auf jeden Fall ungewöhnlich, dass ein Stiefvater eine erwachsene Frau so oft begleitet, deutete auf eine Dysfunktion. Jeanette war unselbständig, und es schien ein Abhängigkeitsverhältnis zu bestehen.

»Ich denke Folgendes, Jeanette. Sie sollten zu einem Psychiater, der Ihre Medikation bewerten kann. Und wenn Sie beide Ihre Beziehung klären wollen, empfehle ich, dass Sie zu unserer Sozialarbeiterin gehen, die auch Familientherapeutin ist. Sie hat oft mit sexuellem Missbrauch und Familienbeziehungen zu tun.«

»Ja, ich finde, das klingt gut, ich tue, was nötig ist, damit es ihr gut geht«, sagte Lasse.

»Ich finde auch, dass das gut klingt«, antwortete Jeanette und schaute zu Boden.

Anna dachte, dass sie als Psychologin nicht viel beitragen konnte, solange ihre Kollegen die Patientin nicht gesehen hatten. Eigentlich hoffte sie, dass sie nichts weiter mit ihr zu tun hätte, der Fall fühlte sich grenzenlos und unangenehm an.

»Gut, dann machen wir es so, ich kümmere mich darum, dass Sie bald einen Termin bei meinen Kollegen bekommen, danach schauen wir dann, ob Sie zu weiteren Gesprächen zu mir kommen.«

Anna stand auf und hielt ihnen die Hand hin. Jeanettes Hand war verschwitzt und kalt. Lasse hatte einen festen Händedruck.

Nachdem das merkwürdige Paar das Zimmer verlassen hatte, ließ Anna sich auf den Stuhl fallen und seufzte. Man war nie gut genug vorbereitet. Es kam immer wieder vor, dass Patienten sie überraschten, was aber auch das Schöne am Beruf war.

Sie blickte wieder aus dem Fenster und sah einen Polizeiwagen, der ohne Sirene, aber mit Blaulicht die Straße zum See hinunterfuhr.

Kapitel 3

 

Lina wachte mit einem Ruck auf, von ihrem eigenen Schrei. Sie hatte wieder Alpträume und war dankbar, dass sie noch allein im Zimmer war. Ihre Kontaktperson hatte gesagt, dass sie wegen des Platzmangels die Gefängniszelle bald mit einer Frau würde teilen müssen. Im Traum sah sie Ronny, wie er nach Luft schnappte. Es war immer und immer wieder dieselbe Szene. Sie hatte falsch gehandelt, hätte um Hilfe rufen müssen, hätte versuchen müssen, etwas zu tun, anstatt ihn ersticken zu lassen. Als seine Ärztin hätte sie natürlich ganz anders handeln müssen. Aber sie war wie versteinert gewesen.

Sie war an dem Tag so wütend gewesen, auf Miro, auf Ronny, auf alle Männer, die sie verlassen hatten. Auf ihren toten Bruder, der von Ronny zum Heroin gebracht worden war. Damals hatte sie gedacht, dass alles Ronnys Schuld war und er es verdient hatte zu sterben. Außerdem sollte niemand mitbekommen, dass Ronny und sie sich von früher kannten. Denn dann hätte vielleicht das ganze Krankenhaus von ihrer Herkunft erfahren. Durch seinen Tod wäre ihr Geheimnis für immer begraben.

Hatte sie ihn sterben lassen? Sie wusste es nicht mehr. Sie hatte sich selbst schuldig bekannt und war wegen Mordes verurteilt worden. Aber jetzt hatte sie ihr Geständnis zurückgezogen und war ins Frauengefängnis Ystad verlegt worden, wo sie inzwischen seit fast zehn Monaten einsaß.

Zu Anfang wollte sie mit niemandem reden. Am allerwenigsten mit den anderen Frauen. Aber nach einer Weile waren die Schuldgefühle und die Isolation so belastend geworden, dass sie darum gebeten hatte, einen Psychologen zu sprechen. Es kam ein jüngerer Mann, sie vermutete ursprünglich aus dem Iran. Er hatte sich als guter Zuhörer herausgestellt, der ihr geschickt dabei half, das Dunkle und Schwere, das sie tief in sich verborgen hatte, hervorzuholen.

Während dieser Monate hatte sie auch ihre kleine Tochter Stella zur Welt gebracht. Miros Tochter. Die Geburt war das Beste und das Schlimmste, das sie je erlebt hatte. Schmerzen, Glück und Liebe alles auf einmal. Sie durfte Stella bei sich behalten und hatte ein etwas abgelegenes Zimmer in einer Abteilung mit fünf anderen Frauen bekommen. Miro ahnte nichts davon, nur Anna wusste Bescheid. Lina hatte »Vater unbekannt« angegeben. Sie wollte nicht, dass Miro ihr Leben übernahm.

Stella war jetzt so alt, dass das Jugendamt beschlossen hatte, sie in einer Pflegefamilie unterzubringen. Innerhalb der Gefängnismauern würde sie sich nicht entwickeln können. Aber in den ersten Monaten hatte Stella nur ihre Mutter gebraucht, und Lina war als funktionsfähig eingeschätzt worden. Es waren wunderbare Monate gewesen, Lina hatte kaum mehr daran gedacht, dass sie eingesperrt war. Sich in dem Kokon mit ihrem Baby einzuhüllen, war wundervoll gewesen. In n manchen Augenblicken hatte es ihr fast gefallen, der Außenwelt aus dem Weg zu gehen.

Aber jetzt war Stella nicht mehr bei ihr, auch wenn sie sie regelmäßig treffen durfte. Der Kokon war zerrissen, und es tat so furchtbar weh. Nachts hatte sie Alpträume, und tagsüber vermisste sie ihre Tochter so sehr, dass es sich wie ein Stich ins Herz anfühlte. Ihre Laune hatte sich verschlechtert, sie stritt sich immer häufiger mit den anderen Insassen und sprach fast gar nicht mehr mit ihrer Kontaktperson in der Anstalt, die eigentlich die Einzige war, an die sie sich wenden konnte. Sobald sie die Augen aufschlug und bis sie sie nachts wieder schloss, sah sie Stella vor sich. Die Momente, in denen sie sie treffen durfte, waren die schönsten in ihrem einunddreißigjährigen Leben. Sie waren wie Glitzer, Gold und ein Sonnenaufgang gleichzeitig, und Lina spürte in sich eine Liebe wie noch nie zuvor. Gleichzeitig machte sie sich Sorgen um die Zukunft. Ihr schlimmster Alptraum war, dass das Jugendamt entschied, Stella müsse für immer bei der Pflegefamilie bleiben – auch nach Linas Entlassung.

Kapitel 4

 

Die Waffe war schmal, er drehte sie in der Hand. Sie lag schwer und kalt und doch auch weich und glatt auf seiner Haut. Als er das letzte Mal auf etwas Lebendiges geschossen hatte, war das ein Mensch gewesen. Es war Notwehr gewesen, deswegen wurde er nicht bestraft. Manchmal, wenn er am wenigsten darauf vorbereitet war, kehrte die Erinnerung daran zurück. Bilder von Anna, als sie von Jesper überfallen wurde, und wie er selbst seine Waffe anhob, zielte und abdrückte. Die Kugel hatte Jesper direkt im Kopf getroffen. Hinterher hatte er keine Reue empfunden.

Miro zielte mit seinem Jagdgewehr, einer Remington 700, und drückte ab. Durch den Schalldämpfer war der Knall nicht so laut. Hinter der Zielscheibe stob Schnee auf. Die letzte Schussreihe schien gut zu treffen. Er stand auf, klopfte den Schnee von den Kleidern und ging zu den anderen in die Jagdhütte.

Miro war während des Krieges im früheren Jugoslawien aufgewachsen und kannte sich mit Waffen aus. Trotzdem war es eine neue Erfahrung, jagen zu gehen. Zu seiner Mitgliedschaft im Jagdverein war er ziemlich unverhofft gekommen, als im Herbst plötzlich einer der Männer an einem Herzinfarkt gestorben war.

Als Miro, der die Hälfte der Mitglieder bereits von früher kannte, sich um die Aufnahme bewarb, wurde er herzlich willkommen geheißen. Aber er wusste, dass er nie ganz einer von ihnen werden würde. Solche Freundschaften entstanden nicht von jetzt auf gleich. Außerdem hatte er so seinen Verdacht, warum man ihn aufgenommen hatte … Denn es war wie gesagt nicht einfach, in Dalarna einem Jagdverein beizutreten, ganz besonders dann, wenn man zugezogen war oder gar aus dem Ausland kam. Er ahnte, dass sie wohl hofften, von seiner Stelle als Oberarzt und Klinikchef profitieren zu können.

Vielleicht hofften sie, dass er ihnen mit Rezepten aushelfen könnte, wenn das nötig wäre. Miro war sich bewusst, dass er Macht über Menschen hatte und durch seine Arbeit und sein Netzwerk auch über viele Arbeitsstellen.

Dann war da Karin, die einzige Frau im Jagdverein. Sie hatte schulterlanges Haar, war nicht sehr groß, aber stark und ausdauernd. Für Karin war die Jagd notwendig, um das Gleichgewicht in der Natur zu bewahren. Oft suchte sie nach verletzten und kranken Tieren und beendete ihr Dasein. Sie konnte einen zu den Themen Jagd und den Umgang mit Raubtieren und invasiven Arten in Grund und Boden argumentieren. Sie hatten sich kennengelernt, als Karin eine Weile als Physiotherapeutin im Krankenhaus gearbeitet hatte. Und zwar etwas näher, als ihre Kollegen ahnten, und Miro lächelte bei der Erinnerung daran, als er Karin neben den anderen am Kaffeetisch in der Hütte sitzen sah.

»Und, habt ihr von der Wolfsjagd gehört, was sagt ihr?«, fragte ein Mann, der geschossen hatte. Er stopfte sich Kautabak unter die Lippe und räusperte sich laut.

»Ja, auch dieses Jahr verboten«, murmelte der Mann gegenüber und goss Kaffee aus einer großen Thermoskanne in eine Tasse, auf der in großen Buchstaben »Max« stand.

Miro trank seinen Kaffee aus. Ehrlich gesagt jagte er nicht aus Naturschutzgründen, sondern aus Spaß. Ihm gefielen die Kontrolle, die Macht und das Gefühl beim Schießen, wie das Gewehr zuckte. Aber er war kein Trophäenjäger und hielt sich strikt an die Regeln.

»Ich wisst, was ich denke«, sagte Karin. »Es ist eine gute Entscheidung. Das Rudel muss wachsen.«

Ein paar der Männer am Tisch sahen sie zweifelnd an, sagten aber nichts, andere nickten.

»Soso, das denkst du also, es sind doch mehr Tiere, als es sein sollten«, murmelte Max. Karin tat so, als hörte sie ihn nicht, aber schnaubte, um klarzumachen, dass sie anderer Meinung war.

»Noch einen Kaffee?«, fragte Fredrik und wandte sich an Miro.

»Nein, danke.«

Fredrik kümmerte sich um die Hütte, achtete darauf, dass alles in Ordnung war, und berief, wenn nötig, Verbandstreffen ein. Die regelmäßigen Treffen in der Jagdhütte des Jagdvereins waren eine schöne Abwechslung von Miros Arbeit in der Klinik, manchmal, wenn er eine Pause brauchte, fuhr er allein auf den Schießstand neben der Hütte. Aber jetzt rief die Pflicht, er trug jeden Tag des Jahres die Verantwortung für die psychiatrischen Kliniken. Er schaute auf sein Handy, die Zeit war gerast.

»Ich muss los.« Miro stand auf, zog den Reißverschluss der Gewehrtasche zu, ging zum Waffenschrank, schloss sein Gewehr ein und kontrollierte das Schloss noch einmal.

Die anderen schauten auf und nickten ihm zu.

»Mach’s gut und bis bald«, sagte Karin und blinzelte kurz mit einem Auge, als niemand anderes es sah.

»Bis bald.«

Auf dem Weg hinaus fiel Miros Blick auf zwei gerahmte Fotos an der Wand, die ihm bisher noch nicht aufgefallen waren. Es waren mindestens zwanzig Leute im Jagdverein, aber es war klar, wer zum inneren Kern gehörte. Auf dem einen Foto waren Ingemar, Fredrik und Max zu sehen. Ingemar und Max hatten je einen Fuß auf einen frisch geschossenen Bären gestellt, dem die Zunge aus dem Maul hing. Auf dem anderen Bild waren dieselben zu sehen, aber dieses Mal in Uniform, glattrasiert und mit kurzen Haaren, außerdem viel dünner als heute. Er wusste, dass sie zusammen bei den Gebirgsjägern gewesen waren, das Foto musste bei der Entlassung aus dem Wehrdienst gemacht worden sein. Miro zog die Augenbrauen hoch und ging zu seinem Mitsubishi Outlander. Er hatte sein E-Auto, das er ein gutes Jahr hatte, verkauft, weil es in der Kälte zu umständlich war, außerdem konnte man nicht weit damit fahren. Seit er auf die Jagd ging, überlegte er, sich was Richtiges mit Vierradantrieb zu kaufen, aber vorerst begnügte er sich mit diesem. Er stieg ins Auto, knallte die Tür zu und fuhr schnell durch den frisch gefallenen Schnee.

Im selben Augenblick klingelte sein Handy in der Tasche. Er nahm es heraus, als er gerade auf die Landstraße in Richtung Säter bog.

»Miro.« Als er antwortete, hörte man es über die Autolautsprecher.

»Hallo, hier ist die Polizei.«

Kapitel 5

 

Malin hatte einen wunderbaren Morgen mit ihren Söhnen verbracht. Dann hatte sie sie vor der Schule mit Küssen und Kuscheln verabschiedet und sich in diesem Moment glücklich und dankbar gefühlt. Doch kaum waren die Jungs außer Sichtweite, musste sie die Tränen unterdrücken. Es war der letzte Morgen, den sie diese Woche bei ihr waren. Es war traurig und schwer, sie bei ihrem Vater zu lassen, auch wenn sie wusste, dass es ihnen dort gut ging. Sie würde sich nie daran gewöhnen. Die Scheidung war inzwischen sieben Jahre her und war einvernehmlich, ohne Streit gewesen. Sie hatten sich geeinigt, wie sie ihr Leben organisierten, damit alles für sie und die Kinder passte. Ihre Arbeit bei der Polizei, manchmal in Schichten, verlangte etwas mehr Flexibilität, aber das hatten sie gut gelöst. Der Vater arbeitete als Lehrer, was bedeutete, dass er öfter zur Verfügung stand und zu Elterngesprächen und Aktivitäten mit den Jungs gehen konnte. Sie liebte ihren Job als Einsatzleiterin, aber der bedeutete auch, dass sie ab und zu bei ihrer Zeit mit den Jungs Kompromisse eingehen musste, was ihr manchmal das Herz zerriss. Besonders während der Schulferien, wenn der Vater der Kinder immer frei hatte und was mit den Jungs unternehmen konnte, während sie für einen oder zwei freie Tage gezwungen war, mit den Kollegen und dem Dienstplan zu jonglieren. Und mit dem Geld. Das belastete sie auch ständig. Dass sie als Alleinerziehende ihren Söhnen nicht all das kaufen konnte, was deren Freunde bekamen, oder mit ihnen nicht solche Reisen machen konnte, wie sie Kinder mit zwei Eltern machten.

Anna, die nach allem, was sie in Säter durchgemacht hatten, inzwischen eine gute Freundin war, hatte ihr geraten, die Situation zu akzeptieren. Sie solle sich damit abfinden. Aber das wollte Malin nicht. Also hatte Anna sie dazu gebracht, sich stattdessen damit abzufinden, dass sie ihr Leben als Alleinerziehende nicht akzeptieren konnte. Kein Psychologe oder Therapeut auf der ganzen Welt könnte sie dazu bringen, diese Situation gut zu finden, ja im Gegenteil, sie fand es gut, dass sie sie nicht gut fand.

Nachdem sie zugesehen hatte, wie die Jungs in die Schule gelaufen waren, blieb sie noch einen Moment allein im Auto sitzen und trocknete ihre Tränen, bevor sie aufs Revier fuhr. Genau in dem Moment, in dem sie den Zündschlüssel umdrehte, kam der Alarm aus Säter, und tief drinnen war sie froh darüber. Laut der Informationen des Polizeifunks hatte ein Mann angerufen und gesagt, dass ein Paar beim Schlittschuhlaufen auf dem Eis etwas gefunden hatte, das wie eine Leiche aussah. Sie gab Gas und fuhr die knapp zwanzig Minuten nach Säter.

 

Malin war gerade erst angekommen, hatte geparkt und ging jetzt mit schnellen Schritten das letzte Stück vom Strand hinaus aufs Eis. Ein Paar ungefähr in ihrem Alter stand da und sprach mit einem ihrer Kollegen. Etwas entfernt sperrten andere Kollegen gerade den Fundort ab.

»Wonach sieht es aus?«, fragte sie Lotta.

»Ich hole noch mehr Absperrband. Es passt zu dem, was das Paar am Telefon gemeldet hat. Es scheint eine junge Frau zu sein. Sie hat irgendwelche Verletzungen. Der Schnee ist vom Blut rot gefärbt.«

»Und was ist das für ein Hund?« Malin zeigte auf den Hund, den ein Kollegen auf dem Schoß hatte und streichelte.

»Wir glauben, dass er der jungen Frau gehörte, er saß neben ihr. Wir müssen uns um ihn kümmern.«

»Er sieht fast wie ein kleiner Wolf aus.«

Lotta nickte. »Ja, wirklich, aber ich vermute, dass es irgendeine Schäferhundmischung ist.«

Malin ging zur Absperrung. »Ist die Spurensicherung unterwegs?«

»Ja, das hoffen wir. Leider hatten sie mit all den Schüssen und Explosionen und all dem Mist in letzter Zeit zu viel zu tun, hoffen wir mal, dass sie schnell herkommen können.«

Malin überstieg die Absperrung und ging zur Leiche, beugte sich hinunter und betrachtete sie.

Sie war schön. Ganz eindeutig. Sie war lebendig schön gewesen, aber auch als Tote. Ihr glattes Gesicht mit dem schulterlangen roten Haar, das weit ausgebreitet war, bildete einen scharfen Kontrast zum weißen Schnee. Sie sah aus wie ein Aquarellbild, bei dem die Wimpern und Augenbrauen mit einem dünnen Pinsel und dunkelbrauner Farbe nachgezogen waren, während der Mund perlmuttrosa schimmerte. Die Haut war leicht lila. Könnte es sein, dass der Hund sie im Gesicht geleckt und dabei ihre Haare verfilzt hatte?

Sie hatte kaum etwas an, obwohl es seit Tagen konstant minus zehn Grad waren. Malin ging um sie herum. Das Einzige, was sie trug, war ein Nachthemd oder Sommerkleid. Es war am Hals aufgerissen, ein kleiner altrosa Knopf hatte sich gelöst. War sie erfroren und hatte versucht, sich das Kleid auszuziehen? Malin hatte gehört, dass manche Menschen beim Erfrieren so reagierten. Oder hatte jemand anderes ihr Kleid zerrissen? Malin runzelte die Stirn. Das Mädchen sah merkwürdig friedlich aus. Sie beugte sie weiter nach unten und sah, dass sie Schnittwunden an den Händen und Füßen hatte. Waren Zweige die Ursache, oder war sie angegriffen worden? Oder hatte sie sich selbst geschnitten? Das Mädchen konnte nicht älter als achtzehn, neunzehn Jahre sein. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie daran dachte, dass sie zu ihren Eltern fahren und die Familie informieren müsste. Das war immer furchtbar, aber sie wusste auch, dass es etwas war, das sie gut konnte.

»Habt ihr sie identifiziert?«, fragte sie Lotta, die mit mehr Absperrband zurückkam.

»Ja, wir glauben schon.«

»Hatte sie ein Handy oder einen Ausweis dabei?«

»Nein, aber …« Lotta zeigte auf den Hund.

»Gechipt?«

»Ja, und …«, Lotta sah auf ihr Handy, um nichts Falsches zu sagen, »… eine Sofia Frost ist als Hundebesitzerin eingetragen. Aber sie ist über fünfzig. Die Tochter der Familie ist jedoch gerade erst achtzehn geworden. Wir haben nach Bildern gesucht, und die sehen ihr sehr ähnlich.« Lotta hielt ihr Handy hin, auf dem ihre Facebook-Seite zu sehen war. Ja, dachte Malin, die sieht der jungen Frau im Schnee sehr ähnlich. Lotta blätterte weiter, zeigte das Passbild. Die roten Haare mit den dunklen Wimpern waren nicht zu verwechseln.

»Name?«

 »Felicia Cecilia Frost. Felicia ist der Rufname.«

»Habt ihr mit dem Paar gesprochen, das sie gefunden hat?«

»Ja, wir haben ihre Personalien aufgenommen. Es sind der Mann und die Frau dort hinten.« Lotta zeigte auf das Paar, das gerade mit einem Polizisten sprach. Der Mann hatte einen Arm um die Schultern der Frau gelegt. Malin war kurz neidisch. Wie schön, in einer belastenden Situation jemanden an seiner Seite zu haben. Auch wenn sie es nicht offen zugeben wollte, so sehnte sie sich manchmal nach jemandem. Aber bisher hatte sie auf den Online-Datingseiten, die sie mal ausprobiert hatte, noch niemanden gefunden.

»Wenn nötig, melde ich mich später bei ihnen. Habt ihr schon Kontakt zur Familie aufgenommen?«

»Nein, wir haben auf dich gewartet.«

Malin nickte und machte sich Notizen auf dem Handy, aber ihre Finger wurden in der Kälte schnell steif. Sie ging zurück zum Auto, ließ den Motor an und die Wärme über ihre Hände strömen. Als sie ihre Finger wieder bewegen konnte, schlug sie die Adresse der Familie nach. Frost, Sofia und Fredrik wohnten im Elfsdalsvägen in Säter. Sie überflog die Statistik zu dem Viertel:

»Das Durchschnittsalter beträgt 46 Jahre. Übliche Interessen sind Jagd, Motorräder und Autos. Das Durchschnittseinkommen beträgt 22 754 Kronen pro Kopf und das Durchschnittsdarlehen 1 634 615 Kronen. Beliebte Autos: Volvo, Hyundai und Renault.«

Sie öffnete das Fenster und rief Lotta. »Ich fahre jetzt zur Familie. Seid ihr mit dem Hund fertig, kann ich ihn mitnehmen?«

»Ja, wir haben Haarproben genommen und eine DNA-Probe in der Nase, er ist also fertig. Ich hole ihn. Soll ich mitkommen?«

Malin überlegte, ob sie Lotta hier am Tatort entbehren könnten. Es gab mehrere Polizeistreifen hier, und sie hätte Lotta gern dabei. Es schneite wieder, sie hoffte, dass sie die Spurensuche am Fundort beendet hätten, bevor der Schnee Spuren bedecken oder verwirbeln würde.

Sie nickte Lotta zu. »Komm mit, zusammen mit dem Hund.«

Malin schnallte sich an und wartete auf Lotta, die den Hund auf den Schoß nahm. Die Scheibenwischer schalteten sich automatisch ein und schoben den Schnee, der immer stärker fiel, beiseite.

»Was denkst du? Soll ich ihn auf die Rückbank setzen?« »Nein, behalte ihn hier vorn auf deinem Schoß. Es ist ja nicht weit. Der arme Kerl.«

Lotta setzte sich mit dem Hund auf den Beifahrersitz, der winselte, als Malin den Rückwärtsgang einlegte und wendete, um nach Säter zu fahren.

Kapitel 6

 

Miro war an Anrufe der Polizei gewöhnt. Meist waren es Fragen zu Insassen, die transportiert werden sollten, Hafturlaub hatten oder aber geflohen waren. Trotzdem beschleunigte sich sein Puls jedes Mal, wenn er antwortete. Als letzten Sommer ein verurteilter Pädophiler beim Freigang geflohen war, war die Hölle losgebrochen.