Sturmküste - Santa Montefiore - E-Book

Sturmküste E-Book

Santa Montefiore

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Beschreibung

Ellen Trawton hat ihr Leben satt: die Hektik Londons, den Smalltalk, ihre Mutter, die Ellens Leben schon bis ins Detail geplant zu haben scheint. Zuflucht findet sie in Irland bei ihrer Tante Peg, zu der die Mutter den Kontakt schon vor langer Zeit abgebrochen hat. Die wilde Schönheit Connemaras, vor allem die Insel mit der Ruine des alten Leuchtturms, zieht Ellen magisch an. Allen Warnungen zum Trotz verliebt sie sich in Conor, der in dem Ruf steht, Caitlin, seine junge schöne Frau, in den Tod getrieben zu haben. Und Caitlin hält Conor fest in ihrem Bann, ihr Einfluss scheint über den Tod hinaus zu wirken. Um ihre Liebe zu retten, muss Ellen herausfinden, was damals geschah. In der Nacht, als der Leuchtturm abbrannte und Caitlin ums Leben kam. «Was sie schreibt, geht zu Herzen.» (Jojo Moyes) «Santa Montefiore ist die neue Rosamunde Pilcher.» (Daily Mail) «Eine phantastische Lektüre, die einen davon überzeugt, dass Liebe tatsächlich alle Schwierigkeiten überwinden kann.» (News of the World) «Santa Montefiore ist eine unserer Lieblingsautorinnen. Eine, die genau weiß, wie man Geschichten über die Liebe schreibt.» (The Times)

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Seitenzahl: 646

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Santa Montefiore

Sturmküste

Roman

Aus dem Englischen von Anja Schünemann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. KapitelEpilogDanksagung
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Für Miguel Pando und Nathalie Montalembert

Nicht verloren, nur aus den Augen,

aber für immer in meinem Herzen

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Prolog

Dieser Herbst fühlt sich eher wie Sommer an. Die Sonne strahlt hell und warm vom blauen Himmel. Am Strand tummeln sich Sandregenpfeifer und kleine Seeschwalben, Bienen suchen in den lila Blüten des Heidekrauts nach Nektar, und Schmetterlinge, untypisch für diese Jahreszeit, flattern auf der Suche nach Nahrung um den Ginster. Der erste Frost lässt auf sich warten. Nur die Schatten sind länger geworden, und der Abend bricht früher an, feucht, kalt und dunkel.

Ich stehe auf der Klippe und lasse den Blick über das Meer schweifen, bis zum Rand der Welt, wo Wasser und Himmel ineinander übergehen. Die sanfte Brise ist wie der Atem Gottes, der mich zur Heimkehr ruft. Links und rechts von mir erstreckt sich die Küste Connemaras. Ich sehe einsame Strände, samtige Wiesen mit vereinzelten Schafen und zerklüftete Felsen, wo das Land schroff zum Meer abfällt. Ich blicke hinaus zur Insel Carnbrey, dem kleinen Eiland aus Fels und Erde, das etwa eine halbe Meile vor der Küste liegt wie ein verlassenes Piratenschiff aus längst vergangener Zeit. Dort steht der alte Leuchtturm, dessen Inneres der Brand zerstört hat; nur eine geborstene Hülle ist geblieben, wo er früher stolz und stark aufragte und den Seeleuten den Weg zurück zum Festland wies. Heute wagen sich nur noch Möwen dorthin, um Krabben und Garnelen aus den Tümpeln zu picken, die die Flut zurückgelassen hat. Die Vögel hocken auf dem morschen Gerippe, das gespenstisch im Wind knarrt und ächzt. Mir erscheint der Leuchtturm in seiner Verlassenheit romantisch, ich kann den Blick nicht von ihm lösen, während ich wehmütig daran zurückdenke, wie ich zum ersten Mal hinausgerudert bin, um ihn zu erkunden.

Es war kurz nach unserer Heirat. Der Leuchtturm war damals schon verlassen, doch ich fand dort, was ich erhofft hatte: Er besaß eine ganz eigene Wärme, wie ein Haus, in dem noch das Gelächter von Kindern widerhallt, nachdem sie längst fort sind. Ich verlor mich so in meiner Phantasie, dass ich nicht bemerkte, wie der Wind auffrischte und die See rau und gefährlich wurde. Als der Himmel sich verdüsterte und ich endlich beschloss, zurück zum Strand zu rudern, musste ich feststellen, dass ich auf der Insel festsaß wie ein schiffbrüchiger Matrose. Aber schiffbrüchige Matrosen haben keinen heldenhaften Mann, der ihnen in einem glänzenden Schnellboot zu Hilfe eilt. Ich sehe noch Conors wütendes Gesicht vor mir, als er mich erreichte, sehe die Angst in seinen Augen. Wie sehr er sich um mich sorgte! «Ich habe dir doch gesagt, du darfst nie allein hierher rudern», rief er außer sich, und seine Stimme klang brüchig. Ich presste meine Lippen auf seine, kostete den süßen Geschmack seiner Liebe. Der Leuchtturm, auch wenn er mir schließlich zum Verhängnis wurde, hat für mich nie seine Anziehung verloren. Er sprach den einsamen, romantischen Menschen an, der ich im Innersten war.

Jetzt ruft er mich über die Wellen hinweg mit einem Leuchten, das nur ich sehen kann, und fast bin ich überzeugt, dort die Gestalt eines weiß gekleideten Kindes auszumachen.

Ich wende mich zu den Menschen um, die jetzt zu der Kapelle aus grauem Stein hinter mir strömen. Ein kurzer Fußweg führt vom Parkplatz den Hang hinauf, und ich beobachte neugierig die Trauernden in ihrer schwarzen Kleidung, die den Weg hinaufziehen wie eine düstere Prozession von Teichhühnern. Unser Zuhause liegt bei dem kleinen Ort Ballymaldoon, wo es eine viel größere Kirche gibt. Doch diese kleine Kapelle hat etwas Besonderes, wie sie da inmitten alter Grabsteine mit verwitterten Inschriften steht. Es heißt, ein junger Seemann habe sie im vierzehnten Jahrhundert für seine verstorbene Frau gebaut, damit sie über ihn wachen konnte, wenn er zur See fuhr. Ich stelle mir gern vor, dass die sterblichen Überreste der Seemannsfrau unter dem Grabstein am äußersten Rand ruhen, dem, der dem Meer am nächsten ist. Er muss sie wirklich sehr geliebt haben, dass er zu ihrem Andenken sogar eine Kirche errichtete. Ob Conor für mich auch eine Kirche bauen wird?

Die Kapelle füllt sich mit Menschen, doch ich halte mich abseits. Ich sehe meine Mutter, verhärmt und matt wie eine knochige schwarze Henne, auf dem Kopf einen großen Hut mit Straußenfedern – sie hatte schon immer einen Hang zum Pompösen. Neben ihr geht mein Vater, groß und würdevoll, in einem schwarzen Anzug, der dem Anlass angemessen ist. Er ist erst fünfundsechzig, doch sein Haar ist weiß geworden und seine Haltung ein wenig gebeugt, sodass er älter wirkt. Die beiden sind aus Galway heraufgekommen. Das letzte Mal haben sie diese Reise unternommen, als Conor und ich heirateten; damals waren sie froh, mich loszuwerden.

Keine meiner sechs Schwestern ist hier. Das überrascht mich nicht: Ich war schon immer das schwarze Schaf, und jetzt ist es zu spät für eine Versöhnung.

Meine Eltern verschwinden in der Kapelle, um ihre Plätze unter der Gemeinde der Einheimischen einzunehmen. Ich frage mich, ob es sie beschämt, die Liebe dieser Menschen zu sehen und zu fühlen – denn hier werde ich geliebt. Selbst der eine Mann, von dem ich sicher war, dass er nicht kommen würde, hat die Kirche betreten. Die Musik, die aus dem Portal weht, zieht und zerrt an mir und will mich hineinlocken. Es ist eine alte irische Ballade, die mir vertraut ist, Conors Lieblingslied: When Irish Eyes are Smiling. Mit einem traurigen Lächeln erinnere ich mich, wie wir es auf den Hubschrauberflügen von Dublin nach Connemara gemeinsam gesungen haben, aus voller Kehle, um den Lärm der Rotoren zu übertönen, und wie unsere beiden kleinen Kinder unter ihren großen Ohrschützern versuchten mitzusingen, obwohl sie die Worte noch nicht richtig herausbrachten.

Und da kommt auch schon die hochgewachsene Gestalt meines Mannes den Weg herauf. Der dreijährige Finbar und die fünfjährige Ida klammern sich fest an seine Hände und mühen sich stolpernd, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Seine dunklen Augen sind starr auf die Kapelle gerichtet, sein schmales, attraktives Gesicht ist zu einer Grimasse erstarrt, als müsse er sich gegen die Beschuldigungen wappnen, die in den Kirchenbänken hinter vorgehaltener Hand gemurmelt werden. Die Kinder wirken verstört. Sie begreifen nicht – wie sollten sie auch?

Dann bemerkt Finbar plötzlich ein Stück voraus auf dem Weg eine Möwe mit schwarzem Rücken. Der kleine Junge lässt die Hand seines Vaters los, rennt mit den Armen wedelnd auf die Möwe zu und stößt einen Zischlaut aus, um sie zu verscheuchen. Doch der Vogel hüpft nur gelassen über das Gras davon. Ida sagt etwas zu ihrem Vater, aber Conor hört es nicht. Er hält den Blick nach vorn auf die Kapelle gerichtet. Einen Moment lang glaube ich, dass er mich sieht. Mein Herz macht einen kleinen Sprung. Mit jeder Faser meines Seins will ich ihm entgegenlaufen. Ich sehne mich nach seiner Berührung, wie das Leben sich nach der Liebe sehnt. Doch sein Gesicht bleibt unbewegt, und ich ziehe mich in den Schatten zurück. Er sieht nichts als steinerne Mauern und seine eigene Verzweiflung.

Das Verlangen, meine Kinder an die Brust zu drücken, wird übermächtig, und in diesem Moment begreife ich, was die Hölle ist: nicht ein Reich der Flammen und der Qual im Innersten der Erde, sondern ein Reich der Flammen und der Qual im Innersten der eigenen Seele. Ich bin nicht mehr in der Lage, meinen Kleinen einen Kuss auf die Stirn zu drücken und ihnen tröstende Worte ins Ohr zu flüstern. Sicher würde es ihre kleinen Herzen leichter machen, wenn sie wüssten, dass ich in ihrer Nähe bin. Doch ich kann nur hilflos zusehen, wie sie an mir vorbei in die Kapelle gehen, gefolgt von den sechs düsteren Gestalten, die den Sarg tragen. Den Sarg, dessen Eichenbretter die größte aller Lügen bergen.

Ich verweile noch ein wenig draußen. Aus der Kapelle ertönt Gesang. Der Duft von Lilien dringt in die Seeluft heraus. Ich höre die schrille Stimme von Conors exzentrischer Mutter Daphne, die alle anderen übertönt, doch ich empfinde nicht wie sonst spöttische Belustigung – nur Wut, die aus meinem Innersten hochkocht. Wut darüber, dass sie hier ist, um die Scherben aufzusammeln und das gebrochene Herz ihres Sohnes zu pflegen – sie, nicht ich. Ich denke an Finbar und Ida und an den Sarg, der vor ihnen steht, und ich frage mich, was sie wohl empfinden, nun, da sie zum ersten Mal in ihrem jungen Leben mit dem Tod konfrontiert sind.

Irgendwie muss ich einen Weg finden, ihnen alles zu erklären. Es muss eine Möglichkeit geben, ihnen die Wahrheit mitzuteilen.

Ich raffe meinen Mut zusammen wie ein Krieger seine Waffen. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass es so schwer sein würde. Leise betrete ich die Kapelle. Der Gesang ist verstummt, Pater Michael tritt auf die Kanzel und beginnt mit düsterer, monotoner Stimme zu sprechen. Mir scheint, seine Trauer ist aufrichtig. Die Gemeinde bildet eine kompakte Masse in dem Raum und lauscht schweigend. Ich dagegen bin wie ein Rauchfähnchen, das zum offenen Fenster gesogen wird. Doch ich besinne mich auf meine Absicht und schreite lautlos über den Steinboden auf den Sarg zu. Er ist von Sonnenlicht umflutet, das durch die staubigen Fenster hereindringt und den Altarraum erleuchtet wie Rampenlicht eine Bühne. Nun ist endlich mein großer Moment gekommen. Alle Blicke sind auf mich gerichtet.

Ich wende mich zur Gemeinde um. Dann schreie ich, so laut ich kann. Meine Stimme gellt durch die Kapelle, wird von den alten Mauern zurückgeworfen, doch nur die Vögel draußen hören meinen Schrei und flattern erschrocken in den Himmel auf. Conors Blick ruht unbewegt auf dem Sarg, sein Gesicht von Gram verzerrt. Finbar und Ida sitzen zwischen ihrem Vater und dessen Mutter, reglos wie Wachsfiguren. Ich wende mich dem Sarg zu, in dem mein Tod liegt. Mein Tod, ganz recht, nicht mein Leben – denn mein Leben bin ich, und ich bin ewig.

Und doch kennt niemand die Wahrheit: dass ich vor ihnen stehe als eine Schauspielerin, die nach dem letzten Vorhang von der Bühne abgetreten ist. Mein Kostüm und meine Maske liegen in diesem Sarg, und alle meinen, das wäre ich, und mein Mann und meine Kinder trauern um mich, als wäre ich fortgegangen. Wie können sie glauben, ich würde sie verlassen? Niemals täte ich das, nicht für alle Reichtümer des Himmels.

Ich nähere mich meinen Kindern, strecke die Hand nach ihnen aus, doch ich bestehe aus einer feineren Schwingung, wie das Licht – sie fühlen nichts. Ich drücke mein Gesicht an die ihren, aber sie spüren nicht einmal, dass ich ihnen nahe bin, denn ich habe keinen Atem, der ihre Haut streifen könnte. Sie empfinden nichts als ihren Verlust, und ich kann sie nicht trösten, kann ihnen nicht die Tränen abwischen.

Das Seltsamste am Sterben ist, dass es gar nicht seltsam ist. Eben war ich noch lebendig, im nächsten Moment hatte ich meinen Körper verlassen. Es fühlte sich an wie das Natürlichste auf der Welt, außerhalb meiner selbst zu sein, als hätte ich das schon hundertmal erlebt und nur vergessen. Ich war bloß überrascht, dass es so früh geschah, wo ich doch noch so viel vor mir hatte. Es machte mir weder Angst, noch tat es weh. Jedenfalls zu Anfang nicht. Der Schmerz kam später. Es stimmt, was die Leute sagen – dass man auf das Licht zugeht und von geliebten Menschen in Empfang genommen wird, die einem entgegenkommen und einen weitergeleiten. Aber wovon niemand spricht: Man hat eine Wahl. Und ich entschied mich zu bleiben.

Pater Michael räuspert sich und lässt seine feuchten Augen über die kummervollen Gesichter seiner Gemeinde wandern. «Caitlin hat nun ihren Frieden, sie ist bei Gott», verkündet er, und wenn ich könnte, würde ich ihm die Bibel aus der Hand reißen und auf den Boden schleudern. «Sie hinterlässt ihren Mann Conor und ihre zwei kleinen Kinder Finbar und Ida, die sie so sehr geliebt hat.» Dabei richtet er den Blick auf meine Kinder, und sein Ton wird sehr bestimmt. «Auch wenn Caitlin jetzt vor ihren Schöpfer getreten ist, bleibt doch etwas von ihr in ihnen zurück: die Liebe, die sie ihr ganzes Leben im Herzen tragen werden.» Aber ich bin mehr als das, will ich schreien. Ich bin keine Erinnerung; ich bin wirklicher als ihr alle. Meine Liebe ist stärker als je zuvor, sie ist alles, was mir noch geblieben ist.

Als der Trauergottesdienst zu Ende ist, gehen sie hinaus auf den Friedhof, um mich zu begraben. Ich hätte gern einen Platz in der Nähe der Seemannsfrau, doch stattdessen werde ich neben der Steinmauer ein Stück hangabwärts zur Ruhe gebettet. Es ist absurd zuzusehen, wie der Sarg in die Erde gesenkt wird, während ich abseits im Gras sitze – ich könnte es beinahe komisch finden, wenn es nicht so traurig wäre. Conor lässt eine weiße Lilie in das Grab fallen, und meine Kinder werfen selbstgemalte Bilder hinein. Dann treten sie zurück in den Schatten ihres Vaters und drücken sich mit bleichen, verweinten Gesichtern an seine Beine. Ich bin erschöpft von meinen vergeblichen Versuchen, mich bemerkbar zu machen. Als eine Möwe in meine Richtung hüpft, verscheuche ich sie, einfach weil es guttut zu sehen, dass sie auf mich reagiert.

Wo ich bin, gibt es keine Zeit. Überhaupt wird mir jetzt klar, dass auch dort, wo ihr seid, Zeit im Grunde nicht existiert. Es gibt nur immer das Jetzt. Natürlich haben die Menschen auf der Erde eine psychologische Zeit, damit sie das Morgen planen und sich ans Gestern erinnern können, aber das ist nur ein Gedankenkonstrukt; die Wirklichkeit ist immer jetzt. Deshalb bedeuten Tage, Wochen, Jahre für mich nichts. Es gibt nur eine ewige Gegenwart, aus der heraus ich beobachte, wie alles, was ich liebe, zerfällt und vergeht.

 

Es ist, als sei mit meinem Tod sämtliches Leben aus Ballymaldoon Castle verschwunden. Als sei die Burg zugleich mit mir gestorben. Ich sehe zu, wie die Männer mit großen Transportern die Zufahrt heraufkommen, unter den Bur-Eichen hindurch, deren Kronen über dem Fahrweg ineinander verwachsen sind, sodass sie einen orangeroten Tunnel bilden. Dürre Blätter fallen von den Zweigen und flattern im Wind wie Motten. Zu beiden Seiten stehen niedrige, graue Steinmauern, die früher einmal Schafe zurückhielten, aber hier gibt es keine Schafe mehr, seit Conor vor vielen Jahren die Burg und das Anwesen gekauft hat. Jetzt ist das Grasland verwildert. Die Transporter halten vor der Burg, wo vor vierhundert Jahren Cromwells Heer stand, um sie für einen Offizier in Besitz zu nehmen, als Lohn für seine Treue. Jetzt ist das Heer kräftiger Männer gekommen, um die kostbaren Gemälde und Möbel abzuholen und einzulagern, denn Conor verschließt die Fenster mit Läden, verriegelt die Türen und zieht in ein kleineres Haus nahe am Fluss. Wie viele künstlerisch begabte Menschen war er schon immer ein Eigenbrötler, doch jetzt beobachte ich, wie er sich noch weiter in sich selbst zurückzieht. Er kann nicht ohne mich hier wohnen, denn ich habe unserem Zuhause Leben eingehaucht, und jetzt bin ich tot.

Ich habe mich damals auf den ersten Blick in die Burg verliebt, als ich sie hier am Fuß des Berges liegen sah wie einen Rauchquarz im Gestein.

Hilflos sehe ich zu, wie unter der Leitung unseres Verwalters Johnny Byrne und seines Sohnes Joe die Möbel und die Gegenstände, die ich so liebevoll ausgewählt habe, hinausgetragen und in die Lieferwagen geladen werden. Der Bibliothekstisch aus Kopfeiche; der teilvergoldete Spiegel; zwanzig Esszimmerstühle im George-IV-Stil, die ich bei Christie’s ersteigert habe. Die Marmorbüsten, die chinesischen Lampen, mein Schreibtisch aus Ahorn. Die Ebenholztruhen, die viktorianischen Sessel und Sofas, die Blumensäulen aus Deutschland; das Ruhebett im Regency-Stil, die indischen Teppiche: Alles bringen sie fort. Als Nächstes nehmen sie die Gemälde und Drucke ab. An den kahlen Wänden bleiben helle Rechtecke zurück. Ich schaudere über die Rohheit dieser Männer – es ist, als würden sie eine Dame ihrer Kleider berauben.

Ich fürchte, gleich werden sie auch noch den größten Schatz fortbringen: das Porträt von mir, das Conor kurz nach unserer Heirat bei dem berühmten irischen Maler Darragh Kelly in Auftrag gegeben hat. Es hat einen Ehrenplatz über dem Kamin in der Halle. Auf dem Bild trage ich mein liebstes Abendkleid, smaragdgrün wie meine Augen, und mein rotes Haar fällt mir in glänzenden Wellen über die Schultern. Wahrhaftig, ich war schön. Aber Schönheit zählt nicht mehr, wenn sie in einem Sarg zwei Meter unter der Erde verwest. Ich schaue das Bild lange an, starre in das Gesicht, das einmal meines war, aber nun für immer dahin ist. Ich möchte weinen um die Frau, die ich einst war, doch ich kann es nicht.

Die Männer nehmen das Gemälde nicht ab. Es bleibt als Einziges in der Burg zurück. Ein unwillkürlicher Stolz überkommt mich, als schließlich die Türen verriegelt werden und ich in Ruhe die irdische Schönheit betrachten kann, die ich einmal war.

Conor und die Kinder richten sich in Reedmace House ein, unten am Fluss, nahe der steinernen Brücke. Conors Mutter Daphne zieht bei ihnen ein, um sich um sie zu kümmern. Eigentlich sollte ich froh sein, dass die Kinder eine liebe, gütige Großmutter haben, doch stattdessen empfinde ich wider Willen Eifersucht und Groll. Sie umarmt und küsst die Kinder an meiner statt. Sie badet sie und putzt ihnen die Zähne, wie ich es tat. Sie liest ihnen Gutenachtgeschichten vor. Ich habe immer die verschiedenen Stimmen nachgeahmt und so die Geschichten zum Leben erweckt. Sie jedoch liest eintönig, nicht so einfühlsam wie ich, und ich sehe, dass die Kinder sich langweilen und wünschen, sie wäre ich. Ich weiß, dass sie sich das wünschen, denn sie weinen leise in ihren Betten und starren auf das Foto von mir, das Conor in ihrem Schlafzimmer an die Wand gehängt hat. Sie wissen nicht, dass ich die ganze Zeit an ihrer Seite bin, dass ich immer bei ihnen sein werde.

Die Zeit vergeht. Ich weiß nicht, wie viel Zeit. Die Jahreszeiten kommen und gehen. Die Kinder werden größer. Conor hält sich viel in Dublin auf, aber er arbeitet nicht an Filmen, weil er nicht mehr den Willen oder den Drang dazu hat. Die leere Burg wird kalt wie die Felsen an den Berghängen, von Wind und Regen umtost. Ich bleibe immer gleich, wie die Bäume, und habe niemanden zum Reden als die Vögel. Dann eines Nachts, mitten im Winter, geschieht es, dass Finbar mich sieht.

Er schläft, von Träumen geplagt. Ich sitze wie jede Nacht am Fußende seines Bettes, sehe zu, wie sein Körper sich im sanften Rhythmus des Atems hebt und senkt. Aber heute Nacht ist er unruhig. Ich weiß, dass er von mir träumt. «Es ist gut, mein Schatz», sage ich, wie ich es schon so oft gesagt habe, lautlos, aus meiner anderen Welt. «Ich bin hier. Ich bin immer bei dir.» Plötzlich setzt der kleine Junge sich auf und starrt mich voller Erstaunen an. Er schaut mich wirklich direkt an, nicht durch mich hindurch. Ich bin mir ganz sicher, denn sein Blick wandert über mein Gesicht, mein Haar, meinen Körper. Die Augen weit aufgerissen, nimmt er den Anblick in sich auf, und ich bin ebenso überrascht wie er.

«Mam?», flüstert er.

«Mein lieber Junge», antworte ich.

«Bist du das?»

«Ich bin es.»

«Aber du bist ja gar nicht tot.»

Ich lächle, wie jemand lächelt, der ein schönes Geheimnis hütet. «Nein, Finbar. Ich bin nicht tot. Es gibt keinen Tod. Das verspreche ich dir.» Glück durchströmt mein Herz, als sein Gesicht sich vor Freude rötet.

«Bleibst du immer bei mir?»

«Ich bleibe immer bei dir, Finbar. Das weißt du. Ich werde dich nie verlassen. Nie.»

Die Aufregung macht ihn wacher, und langsam verliert er mich. «Mam … Mam … Bist du noch da?»

«Ich bin noch da», erwidere ich, doch er sieht mich nicht mehr.

Er reibt sich die Augen. «Mam!» Sein Schrei weckt Daphne, die im Nachthemd herbeigeeilt kommt. Finbar starrt noch immer in meine Richtung, versucht, mich im Dunkeln auszumachen.

«Finbar!», rufe ich. «Finbar, ich bin noch hier!» Doch es hilft nichts. Er hat mich verloren.

«Es war nur ein Traum, Finbar», redet Daphne ihm beruhigend zu und drückt ihn sanft in das Kissen zurück.

«Es war kein Traum, Grandmam. Es war wirklich. Mam hat am Fußende von meinem Bett gesessen.»

«Schlaf jetzt weiter, Liebling.»

Seine Stimme wird schriller, und seine glänzenden Augen blinzeln verwirrt. «Sie war hier. Ganz bestimmt!»

Daphne streicht ihm seufzend über die Stirn. «Vielleicht war sie das. Schließlich ist sie jetzt ein Engel, nicht wahr? Ich glaube, sie ist immer in deiner Nähe und passt auf dich auf.» Ich weiß, dass sie das in Wirklichkeit nicht glaubt. Doch Finbar gibt sich damit zufrieden.

«Ich glaub auch», murmelt er, dann fallen ihm die Augen zu, und er sinkt wieder in Schlaf. Daphne wacht noch eine Weile bei ihm. Ich kann ihre Trauer fühlen, sie ist schwer wie dichter Nebel. Schließlich wendet sie sich ab und verlässt den Raum, und ich bin wieder allein. Aber in meinem Herzen ist jetzt der Funke der Hoffnung entzündet. Wenn Finbar mich einmal sehen konnte, wird es ihm vielleicht wieder gelingen.

[zur Inhaltsübersicht]

1

Ellen Trawton landete auf dem Flughafen Shannon mit einem einzigen Koffer. Bekleidet war sie mit einer Jacke aus Kunstpelz, einer engen Jeans und einem Paar schicker Lederstiefel, von denen sie schon bald feststellen würde, dass sie für die raue Landschaft und das unwirtliche Klima Connemaras völlig ungeeignet waren. Sie war nie zuvor in Irland gewesen und hatte, soweit sie sich erinnern konnte, die Schwester ihrer Mutter noch nie gesehen. Dennoch hatte sie sich bei ihr angekündigt unter dem Vorwand, dass sie Ruhe und Abgeschiedenheit brauche, um einen Roman zu schreiben. Als Londoner Großstadtpflanze graute Ellen ein wenig vor dem Landleben – sie stellte sich vor, dass hier alles schlammig war und furchtbar ruhig –, aber das Haus ihrer Tante war die einzige Zuflucht, die ihr einfiel, wo ihre Mutter nicht nach ihr suchen würde und wo sie unterschlüpfen konnte, ohne viel Geld ausgeben zu müssen. Nachdem sie ihren Job im Marketing einer Juwelierkette in Chelsea aufgegeben hatte, konnte sie sich finanziell keine großen Sprünge erlauben. Sie hoffte, dass Tante Peg reich wäre und in einem großen Haus in einer zivilisierten Gegend wohnte, möglichst nicht weit von einer belebten Kleinstadt mit Geschäften und Cafés. Irgendwo im Niemandsland, allein unter Schafen, würde sie es sicher nicht lange aushalten.

Sie trat in die Ankunftshalle hinaus, ließ den Blick über die gespannten Gesichter der Wartenden gleiten und versuchte, ihre Tante auszumachen. Ihre Mutter war groß und mit ihren achtundfünfzig Jahren immer noch eine Schönheit, mit langem, schwarzem Haar und hohen Wangenknochen. Ellen nahm an, dass Tante Peg ähnlich aussah. Ihr Blick blieb sofort an einer eleganten Dame in einem langen Kamelhaarmantel hängen, die eine glänzende Designerhandtasche in den sorgfältig manikürten Händen hielt. Ellen fiel ein Stein vom Herzen, denn eine Frau, die mitten in einem Moor wohnte, würde nicht solche schicken Pumps und makellosen Tweedhosen tragen. Ihren Koffer hinter sich herziehend, steuerte Ellen zielstrebig auf sie zu. «Tante Peg!», rief sie strahlend.

Die Frau wandte sich ihr zu und sah sie ausdruckslos an. «Wie bitte?»

«Tante Peg?» Doch Ellen war bereits klar, dass sie sich geirrt hatte. «Entschuldigung», murmelte sie. «Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.» Einen Moment lang fühlte sie sich ganz verlassen auf dem fremden Flughafen, und ihre Entschlossenheit schwand dahin. Fast wünschte sie sich zurück nach London, in das Haus ihrer Eltern am Eaton Court – dabei hatte sie solchen Aufwand betrieben, um von dort zu flüchten.

«Ellen!», rief eine Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum und blickte in ein eifriges, glänzendes Gesicht, das strahlend zu ihr aufsah. «Da schau an! Was für eine vornehme Dame du bist!» Ellen stellte überrascht fest, dass ihre Tante mit starkem irischem Akzent sprach – dabei redete ihre Mutter wie die Queen. «Ich habe dich gleich erkannt, als ich dich durch die Tür kommen sah. Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten!» Tante Peg war eine sehr runde Frau, mit kurzem, borstigem grauem Haar und großen blauen Augen, die schelmisch funkelten. Erleichtert, sie zu sehen, beugte Ellen sich hinunter, um sie auf die Wange zu küssen. Peg aber umarmte sie fest und drückte ihr Gesicht an das ihrer Nichte. Sie roch nach Maiglöckchen und nassem Hund. «Ich hoffe, du hattest einen guten Flug, Liebes», plapperte sie weiter und ließ Ellen endlich los. «Immerhin bist du pünktlich gelandet, da muss man ja heutzutage schon von Glück sagen. Komm, gehen wir zum Wagen. Nach Ballymaldoon sind es ein paar Stunden Fahrt, also falls du zur Toilette musst, solltest du lieber jetzt gehen. Das heißt, wir können natürlich auch unterwegs an einer Tankstelle halten. Hast du Hunger? Auf dem Flug hat es bestimmt nichts Richtiges zu essen gegeben. Ich nehme mir immer Sandwiches von zu Hause mit. Diese Bordverpflegung – den Käse kann ich nicht ausstehen. Schmeckt wie Gummi, findest du nicht auch?»

Ellen ließ zu, dass ihre Tante ihren Koffer zog. Während sie die Halle durchquerten, fiel ihr Blick auf die robusten Schnürstiefel, die dicke braune Hose und die Wollstrümpfe. Offenbar lebte Tante Peg doch in einem Moor, dachte Ellen niedergeschlagen. Und nach ihren rauen, schwieligen Händen zu urteilen, hackte sie wohl auch selbst ihr Feuerholz und beackerte ihren Garten.

«Du bist überhaupt nicht wie Mum», rutschte es ihr unwillkürlich heraus.

«Nun, zunächst mal bin ich viel älter, und wir waren auch schon immer sehr verschieden», erwiderte ihre Tante, die nicht im Mindesten gekränkt zu sein schien. Die beiden Frauen hatten seit vielen, vielen Jahren nicht miteinander gesprochen, aber Tante Peg schien deshalb keinen Groll zu hegen. Ellens Mutter hingegen war die Sorte Mensch, für die Grollen gewissermaßen zum Lebensstil gehörte.

Lady Anthony Trawton war eine Frau, der man besser nicht in die Quere kam. Es brauchte nicht viel, um ihr Missfallen zu erregen, aber das schlimmste aller Verbrechen war, ein «Mensch vom falschen Schlag» zu sein. Ellen war ein rebellischer Teenager gewesen, anders als ihre goldblonden Schwestern, die man wohlwollend als Muster an Tugend bezeichnen konnte und weniger wohlwollend als langweilig. Sie brauchten nicht geformt zu werden, denn sie waren wundersamerweise genau so geraten, wie ihre Mutter sie haben wollte: folgsam, hübsch und anmutig, mit dem schwachen Kinn ihres Vaters, seinem blonden Haar und den leicht vorstehenden Augen. Ellen dagegen hatte ein lebhaftes, kreatives Wesen, das nur noch verstärkt wurde durch die krampfhaften Versuche ihrer Mutter, sie in ihrer Eigenständigkeit einzuschränken. Als könnte sie dadurch, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nahm, irgendwie zu einem Menschen vom falschen Schlag werden. Mit ihrem rabenschwarzen Haar und ihrem widerspenstigen Geist war sie gewissermaßen das schwarze Schaf in ihrer Bilderbuchfamilie. Ihre Mutter hatte auf jede erdenkliche Weise versucht, eine anständige junge Dame von Stand aus ihr zu machen, und eine Zeitlang hatte Ellen sich sogar gefügt. Ihrer Mutter nachzugeben war einfacher, als ständig gegen sie anzukämpfen. Doch sie konnte nun einmal nicht dauerhaft gegen ihre Natur leben. Ellen vermochte im Rückblick nicht genau den Punkt zu benennen, an dem sie genug gehabt hatte, jedenfalls war ihre Flucht nach Irland das Resultat eines lebenslangen Kampfes um Freiheit.

Tante Peg war zu den Hochzeiten von Ellens beiden Schwestern nicht erschienen, dabei hatte Leonora einen Earl geheiratet und Lavinia einen Baronet – über etwas Geringeres hätte ihre Mutter selbstverständlich die Nase gerümpft –, und ihr Name wurde eigentlich nie erwähnt. Ellen hatte sich über die Jahre aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen zusammengereimt, dass es zwischen ihrer Mutter und Peg irgendein Zerwürfnis gegeben haben musste. Die Briefe und Karten, die jedes Jahr zu Weihnachten aus Ballymaldoon eintrafen, las ihre Mutter mit verächtlicher Miene und verbannte sie sofort in die unterste Schreibtischschublade. Ellen, von Neugier übermannt, hatte ein- oder zweimal darin gelesen und Andeutungen über ein Geheimnis in der Vergangenheit ihrer Mutter gefunden, war jedoch klug genug gewesen, nicht danach zu fragen. Aber die Karten gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf, und manchmal, wenn sie ihre Mutter dabei ertappte, wie sie trübsinnig ins Leere starrte, fragte sie sich, ob ihre Wehmut damit zusammenhing.

Als sie jetzt auf Pegs raue Hände hinunterblickte, musste sie an die zarten, weißen Finger und makellos manikürten Nägel ihrer Mutter denken. Offenbar führten die beiden Schwestern ein völlig unterschiedliches Leben. Aber warum?

«Das war ja vielleicht eine Überraschung, als du angerufen hast», sagte Peg. «Aber eine freudige Überraschung. Wirklich. Dass gerade du dich aus heiterem Himmel melden würdest! Damit hätte ich nie gerechnet.»

«Ich hatte gehofft, dass es dir nichts ausmacht. Ich musste einfach mal raus aus London. Da ist es so laut und hektisch, dass man nicht zum Nachdenken kommt.»

«Ja, das ist bestimmt nicht der richtige Ort für eine angehende Romanautorin. Ich kann es gar nicht erwarten, von deiner Schriftstellerei zu hören. Was für ein kluges Mädchen du doch bist.»

Ellen hatte schon immer eine besondere Liebe zur Sprache gehegt. Sie brauchte nur aus dem Fenster zu schauen, schon drängte es sie zu beschreiben, was sie sah. Sie hatte ihre Tagebücher mit Gedichten und Geschichten vollgeschrieben, aber erst kürzlich hatte sie beschlossen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben: Ihr war klar geworden, dass man das Glück nur finden konnte, indem man seinem Herzen folgte, und dass sie, wenn sie es jetzt nicht versuchte, nie einen Roman schreiben würde. Ihre Mutter machte sich lustig über ihre Ambitionen, ein «Schreiberling» zu werden, doch Ellens Drang, sich auszudrücken, war stärker als alle Versuche ihrer Mutter, ihre Kreativität zu dämpfen. Connemara würde der ideale Ort sein, um sich selbst zu verwirklichen.

«Ich bin ja nicht nur zum Schreiben hergekommen, Tante Peg. Ich möchte dich gern kennenlernen. Schließlich gehörst du zur Familie», fügte Ellen liebenswürdig hinzu. Aus dem Geplapper ihrer Tante schloss sie, dass diese nicht viel unter Menschen kam.

«Das ist lieb von dir, Ellen. Du hast deiner Mutter wohl nicht erzählt, wohin du verreist?»

«Nein.»

«Das dachte ich mir. Und was glaubt sie, wo du bist?»

Ellen sah im Geiste den Zettel vor sich, den sie auf dem Tisch im Flur hinterlassen hatte, unter dem ovalen Spiegel, vor dem ihre Mutter vormittags immer ihr Haar und ihr Make-up richtete, ehe sie zu ihren Ladies’ Lunches oder den Treffen von Wohltätigkeitsvereinen aufbrach. Inzwischen musste sie den Zettel gefunden haben. Sicher hatte sie sich darüber ungemein entrüstet. Ellen fragte sich, was ihre Mutter wohl mehr auf die Palme gebracht hatte: dass sie, Ellen, so ohne Vorwarnung verschwunden war oder dass sie angedeutet hatte, sie werde William Sackville vielleicht doch nicht wie geplant heiraten. Als ihre Mutter diesen Satz las, musste sie sich wahrscheinlich erst einmal setzen. William war zwar kein Baronet wie Lavinias Mann und auch kein Earl wie Leonoras, aber seine Familie verfügte über ausgezeichnete Beziehungen und besaß ein großes Anwesen in Schottland. Ellens Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, die Sackvilles seien – wenn auch sehr entfernt – mit der verstorbenen Königinmutter verwandt. «Ich habe ihr erzählt, ich würde zu einer Freundin aufs Land fahren», log sie.

«Ah, so ein durchtriebenes Teufelchen», kommentierte Peg. «Nun, lass mich mal überlegen, wo ich das Auto geparkt habe.»

 

Nachdem sie eine Weile die Reihen glänzender Fahrzeuge abgesucht hatte, steuerte Peg fröhlich auf den schmutzigsten Wagen im ganzen Parkhaus zu. Es war ein alter Volvo, ein robustes, kastenförmiges Gefährt. «Du musst die Unordnung entschuldigen – normalerweise fährt nur Mr. Badger mit mir.»

«Mr. Badger?»

«Mein Hütehund. Ich habe ihn zu Hause gelassen. Du wirst ihn später kennenlernen.»

«Ah, schön», erwiderte Ellen und gab sich Mühe, begeistert zu klingen. Ihre Mutter hielt einen winzigen Zwergspaniel namens Waffle, der eher einem Plüschtier glich als einem richtigen Hund, auch wenn sein neurotisches Gekläff nur allzu echt war und einem den letzten Nerv rauben konnte. Leonora und Lavinia hatten darauf bestanden, sich kleine Hündchen bei Harrods zu kaufen, um sie in der Handtasche mit sich herumzutragen – nicht weil sie Hunde besonders mochten, sondern als modische Accessoires, wie Terminkalender von Smythson und lederne Schlüsselanhänger von Asprey. Hätte es bei Harrods Babys gegeben, dann hätten sie diese wohl auch dort gekauft, dachte Ellen.

Peg stieg in den Wagen und fegte mit einer Handbewegung die Zeitungen vom Beifahrersitz. Ellen bemerkte die Hundehaare auf dem ledernen Bezug. «Wo wohnst du eigentlich?», fragte sie. Angesichts der Schlammspuren auf der Fußmatte schwanden ihre Hoffnungen auf eine zivilisierte Kleinstadt mit eleganten Läden und Restaurants.

«Nicht weit von Ballymaldoon, das ist ein hübscher Ort nahe der Küste. Da findest du sicher genug Ruhe und Frieden, um an deinem Buch zu schreiben.»

«Ist es sehr ländlich?»

«O ja, sehr. Ich habe auch viele Tiere. Ich hoffe, du magst Tiere, Ellen. Und du siehst ja meine Kleidung – bei uns an der Westküste kann es sehr kalt werden, und es regnet viel. Hast du noch andere Stiefel im Gepäck, Liebes?»

«Nein, nur diese.»

«Die sind ja wirklich sehr elegant, Ellen, aber sie werden nach einem Tag hinüber sein. Na, zum Glück habe ich ein Paar übrig, die kann ich dir leihen.»

Ellen beäugte unbehaglich Pegs zweckmäßige Lederstiefel. «Nicht nötig, danke. Ich gehe wahrscheinlich sowieso nicht viel nach draußen.»

Peg runzelte die Stirn, dann lachte sie herzlich. «Also, so was Komisches habe ich schon seit Tagen nicht mehr gehört.» Ellen fragte sich insgeheim, ob es nicht vielleicht noch andere Verwandte gab, mit denen ihre Mutter sich zerstritten hatte und die womöglich in Dublin lebten.

 

«Und, wie geht es Maddie?», erkundigte sich Peg, nachdem sie auf die Straße eingebogen war. Ihre Stimme verriet nichts, doch Ellen bemerkte, dass sie das Lenkrad fester umklammerte und den Blick starr geradeaus gerichtet hielt.

«Maddie?»

«Deiner lieben Mutter.»

Ellen hatte noch nie gehört, dass jemand ihre Mutter so nannte. «Weißt du, für ihre Freunde ist sie Madeline und für alle anderen Lady Trawton …»

«Das sieht ihr ähnlich. Sie wollte schon immer was Besseres sein. Ich nehme an, sie redet auch immer noch wie eine Gräfin?»

Ellen konnte ihre Neugier nicht verbergen. «Warum habt ihr zwei euch eigentlich zerstritten?»

Peg presste die Lippen zusammen. «Das solltest du deine Mutter fragen», antwortete sie knapp.

Ellen erkannte, dass sie das Thema behutsamer angehen musste. «Tut mir leid, es ist sicher schmerzhaft, darüber zu sprechen.»

«Gewesen ist gewesen.» Peg zuckte die Achseln. «Das ist alles Schnee von gestern.»

Ellen dachte an die Briefe und Karten, die ihre Mutter achtlos in die unterste Schreibtischschublade verbannt hatte, und in diesem Moment tat ihre Tante ihr leid. Sie wirkte einsam. «Es muss traurig für dich sein, keinen Kontakt zu deiner Familie zu haben.»

Peg stutzte. «Traurig für mich, keinen Kontakt zu meiner Familie zu haben? Lieber Himmel, Kind, was hat diese Frau dir erzählt? Sie müsste traurig sein, dass sie keinen Kontakt zu ihrer Familie hat – aber ich nehme an, das ist sie nicht. Wir haben seit über dreißig Jahren nichts von ihr gehört.»

Ellen stutzte. Sie hatte angenommen, Peg wäre alleinstehend. «Ach? Ich dachte …» Sie zögerte, aus Angst, in ein Fettnäpfchen zu treten. «Hast du Kinder, Tante Peg?»

Peg schwieg, und ihr Gesicht verdüsterte sich wie eine Landschaft, über der Wolken heraufzogen. «Ich habe drei Söhne, die sind jetzt alle in den Dreißigern und berufstätig. Es sind gute Jungs, ich bin sehr stolz auf sie», antwortete sie leise. «Und Maddie und ich haben noch vier Brüder. Das wusstest du wohl auch nicht, wie?»

Ellen staunte. «Tatsächlich? Noch vier? Wo leben sie?»

«Hier in Connemara. Wir sind eine große Familie mit einem engen Zusammenhalt. Du hast eine ganze Menge Vettern und Cousinen.»

«Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Mutter hat nie jemand anderen erwähnt als dich, und das auch nur, wenn sie dachte, dass ich es nicht mitbekomme! Und du hast jedes Jahr eine Weihnachtskarte geschickt.»

«Die wahrscheinlich im Papierkorb gelandet ist», ergänzte Peg bitter.

«In der untersten Schublade.»

«Tja, Maddie und ich standen uns früher sehr nahe. Als die einzigen Mädchen in einer Familie mit lauter Jungs haben wir zusammengehalten. Aber es war ihre Entscheidung, Irland zu verlassen und den Kontakt zur Familie abzubrechen, nicht andersrum, und damit hat sie unserer Mutter das Herz gebrochen. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn ich dir das erzähle. Die Jungs haben ihr nie verziehen.»

«Ich habe meine Großmutter nie kennengelernt.»

«Jetzt ist es leider zu spät.»

«Sie lebt nicht mehr?»

«Sie ist vor zehn Jahren gestorben.»

«Und mein Großvater?», fragte Ellen weiter. «Habe ich einen Großvater?»

«Er kam bei einem Autounfall ums Leben, als wir noch klein waren. Von da an hat Mam die Farm bewirtschaftet und uns allein großgezogen. Maddie mochte sich nie die Hände schmutzig machen, ich dagegen habe Tiere immer geliebt. Als Mam starb, hat Desmond, unser ältester Bruder, den Hof übernommen. Ich habe mir selbst eine kleine Farm aufgebaut. Das ist das Einzige, wovon ich etwas verstehe. Sag mal, macht es dir was aus, wenn ich rauche?» Plötzlich schien sie erschöpft, als hätte die Aufregung darüber, Ellen kennenzulernen, ihre ganze Energie aufgebraucht.

«Du rauchst?», fragte Ellen, und plötzlich war sie irgendwie optimistischer.

«Zu meiner Schande, ja. Ich habe versucht aufzuhören, aber ich bin wohl zu alt, um meine Gewohnheiten noch zu ändern.»

«Rauchen gilt bei uns zu Hause geradezu als etwas Unanständiges. Wenn ich rauche, dann nur heimlich am Fenster meines Schlafzimmers.»

«Heutzutage wird es doch überall als etwas Unanständiges hingestellt. Die Welt wird immer langweiliger durch all die Vorschriften. Die besten Partys finden auf dem Gehweg statt.»

«Wie recht du hast. Ich friere mir immer was ab, wenn ich mit meiner Zigarette draußen stehe, aber wenigstens bin ich dabei in bester Gesellschaft. Andererseits muss ich zugeben, dass es dumm wäre, nicht aufhören zu wollen. Ich brauche nur erst einen guten Grund, davon loszukommen.»

«Schau mal in meine Handtasche, da ist eine Schachtel Rothmans drin. Bedien dich und steck mir auch eine an, sei so lieb.» Eine Weile rauchten sie schweigend, dann sagte Peg unvermittelt: «Sag nicht, du wohnst noch zu Hause, in deinem Alter!»

«Ich bin dreiunddreißig.»

«Viel zu alt, um noch bei den Eltern zu wohnen.»

«Na ja, ich war ja zwischenzeitlich ausgezogen. Ich habe in Edinburgh studiert, und als ich nach London zurückkam, habe ich für eine Weile bei meiner Schwester Lavinia gewohnt, bis sie dann geheiratet hat. Als es bei mir finanziell eng wurde, habe ich mich von Mutter überreden lassen, wieder zu Hause einzuziehen. Ich wäre mir albern vorgekommen, das Angebot abzulehnen, schließlich konnte ich da umsonst wohnen, und das Haus ist ohnehin viel zu groß für die zwei. Im Übrigen versucht Mutter schon seit Jahren, mich unter die Haube zu bringen.» Ellen musste an William denken, und das versetzte ihr einen Stich. Sie hatte ihm eine SMS geschickt, hatte aber seitdem ihr iPhone nicht wieder eingeschaltet, um nachzusehen, ob er geantwortet hatte. «Es kommt mir ziemlich altmodisch vor, dass sie so versessen auf eine Heirat ist.»

«Tja, Prinz William ist ja nun vergeben, darüber ist Maddie sicher sehr enttäuscht. Aber Harry ist immerhin noch zu haben.»

Ellen lachte. «Da liegst du gar nicht so falsch, Tante Peg!» Sie erzählte ihr, was für gute Partien ihre Schwestern gemacht hatten. «In Mutters Augen ist man erst ein anständiger Mensch, wenn man vorteilhaft geheiratet hat. Lavinia und Leonora sind jetzt ungemein anständige Menschen.»

«Meine Güte, da war Maddie sicher ganz aus dem Häuschen vor Freude!»

«Tja, mit mir ist sie wohl weniger glücklich. Ich bin schließlich die Älteste, also hätte ich eigentlich zuerst heiraten müssen. Das Problem ist nur, ich glaube irgendwie nicht, dass ich die Sorte Mann heiraten will, die meine Mutter im Sinn hat.»

«Hör auf dein Herz, Liebes, dann wirst du dein Glück finden. Titel und Besitz zählen nichts im Vergleich zu wahrer Liebe. Im Gegenteil, ich denke, so etwas bringt nur Scherereien. Jede Menge Arbeit und Verantwortung. Ich ziehe jedenfalls ein einfaches Leben vor.»

«Gibt es denn auch einen Mr. Peg?», erkundigte Ellen sich, während sie einen tiefen Zug inhalierte und spürte, wie die Spannung in ihren Schultern nachließ.

«Es gab einen, aber wir haben uns vor langer Zeit getrennt, und kurz darauf ist er gestorben.»

«Tut mir leid.»

«Das braucht es nicht. Ich habe ja meinen jüngsten Sohn und meine Brüder, die kümmern sich um mich.»

Ellen bemerkte, dass sich die Atmosphäre im Auto verändert hatte. Plötzlich lag eine Schwere in der Luft, als sei der Dunst von draußen durchs offene Fenster hereingedrungen. Ellen empfand Mitleid mit ihrer Tante. «Erzähl mir von deinen Söhnen», forderte sie Peg betont munter auf, um das Thema zu wechseln.

Peg lächelte, und die Beklommenheit verflog. «Ja, das sind gute Jungs», begann sie. «Dermot, Declan und Ronan. Dermot und Declan sind verheiratet und haben Kinder, sie besuchen mich manchmal. Ronan lebt immer noch in Ballymaldoon und hat anscheinend nicht so bald vor, eine Familie zu gründen.»

Während sie weiter ins Herz von Connemara vordrangen, lauschte Ellen den Erzählungen ihrer Tante. Gleichzeitig nahm sie wahr, wie sich die Landschaft veränderte, und die Schönheit berührte sie in unerwarteter Weise. Sie fühlte sich zu diesem rauen, weiten Land hingezogen, betrachtete staunend die felsigen Berghänge und dunstigen Täler, in denen Flüsschen sich durchs Heidekraut wanden. Steinerne Ruinen standen wie Gerippe an den Hängen, dem Wind und dem Nebel ausgesetzt, der vom Meer heraufwallte. Die endlose Weite hatte etwas Schwermütiges an sich, früher einmal mussten Menschen an der unbezähmbaren Natur gescheitert und verzweifelt sein, sie hatten ihre Häuser verlassen, um sich in die Sicherheit kleiner und größerer Städte zu flüchten. Es gab keine Hochspannungsleitungen und nur wenige Telegraphenmasten, kaum etwas anderes als die lange, gerade Straße, die sich zwischen Moorland und hohem Gras hinzog, und die zerklüfteten Berge, die schroff in den Himmel aufragten, wo die Gipfel in den Wolken verschwanden. Ellen hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen, und so beobachtete sie fasziniert und zugleich beklommen, wie die zivilisierte, städtische Welt, die sie kannte, diesem trotzigen, stillen Land wich.

Schließlich in einem Tal näherten sie sich dem Ort Ballymaldoon. In der Ferne sah Ellen das Meer glitzern. Normalerweise hätte Tante Peg einen Bogen um den Ort gemacht, doch sie fand, ihre Nichte würde ihn sicher gern kennenlernen. «Nicht dass es allzu viel zu sehen gäbe», sagte sie, während sie an pastellfarbenen Häusern entlangfuhren, die ordentlich aufgereiht hinter Steinmauern und Sträuchern standen. Den Mittelpunkt des Ortes bildete eine große gotische Kirche. «Ich gehe nicht in die Kirche», sagte Peg. «Pater Michael hält mich für gottlos. Aber da täuscht er sich gewaltig; ich fühle ständig Gottes Gegenwart. Nur dieser Pfarrer geht mir entsetzlich auf die Nerven, ich konnte ihn noch nie leiden. So einfach ist das. Du brauchst also auch nicht hinzugehen, wenn du nicht willst. Mir ist es gleich.»

«Stell dir vor, Mutter geht in London jeden Morgen in die Messe», berichtete Ellen.

«Und wie ich mir das vorstellen kann. Aber ich glaube, das hat weniger mit Gott zu tun.» Beide lachten.

«Ah, ein Pub, welch erfreulicher Anblick», rief Ellen, als Peg vor dem Pot of Gold abbremste. «Ist er gut?»

«Voll von Leuten aus dem Ort und unseren Verwandten. Mir persönlich ist das zu viel Trubel, aber wenn du magst, können die Jungs dich mit hernehmen.»

«Deine Söhne?»

«Nein, ich meine meinen Bruder Johnny und seinen ältesten Sohn Joe. Johnny arbeitet als Verwalter oben auf der Burg, und Joe geht ihm zur Hand. Die beiden sind abends meist im Pub, soweit ich weiß. Geh nur mit ihnen. Joe wird dich mit allen bekannt machen, die du kennen musst. Wie gesagt, du hast eine Menge Vettern und Cousinen. Sie leben natürlich nicht alle hier in Ballymaldoon, aber doch recht viele. Der Pot of Gold wird dir sicher gefallen. Und ich könnte mir vorstellen, dass du da auch ein paar Figuren für deinen Roman findest.» Peg kicherte in sich hinein, als hätte sie bereits jemanden im Sinn.

Sie fuhren zum Hafen hinunter, wo Fischerboote am Pier lagen oder etwas weiter draußen an Bojen vertäut waren. Auf den Steinen waren Hummerkörbe aufgestapelt, und ein paar wettergegerbte Fischer mit dicken Pullovern und Mützen flickten rauchend und plaudernd ihre Netze. Auf dem Kopfsteinpflaster lag ein magerer Mischlingshund, der vor Kälte zitterte. Ellen stellte sich vor, dass die Männer sicher bald zu einem Guinness in den Pot of Gold aufbrechen würden, wo der Hund ein warmes Plätzchen am Kamin hätte. Ballymaldoon war ein hübscher kleiner Ort, doch bisher hatte sie keine verlockenden Geschäfte entdeckt. Umso besser, sagte sie sich, schließlich besaß sie nur ihre kümmerlichen Ersparnisse, und nach der knappen Notiz, die sie bei ihrem Verschwinden hinterlassen hatte, konnte sie ihre Eltern nicht gut um Geld bitten. In dieser Hinsicht hatte sie die Brücken hinter sich abgebrochen. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis sie reuig und fügsam aus dieser Einöde nach London zurückkehren würde.

Etwa eine Meile hinter dem Ort bog Tante Peg von der Küstenstraße auf einen Feldweg ab und fuhr bergauf zwischen grauen Steinmauern und saftigen grünen Schafweiden hindurch auf zwei bescheidene weiße Farmhäuser zu, die auf der Kuppe standen. «Klein, aber fein – hier wohne ich», verkündete sie fröhlich, als sie vor dem linken Cottage hielt. Ellen war enttäuscht. Sie hatte ein größeres Haus erwartet. Doch dieses Cottage wirkte altertümlich pittoresk, mit einem spitzen Strohdach, in das kleine Gauben eingebaut waren. Die Fensterrahmen waren im gleichen Rot gestrichen wie die Tür. Vor dem Haus standen keine Bäume, die es vor Wind und Wetter geschützt hätten, sondern da war nur eine niedrige Steinmauer, und Ellen stellte sich vor, dass es so gedrungen gebaut war, um den heftigen Winterstürmen zu trotzen.

Der Anblick des Hauses mochte ein wenig enttäuschend sein, aber als Ellen aus dem Wagen stieg und sich umdrehte, verschlug es ihr den Atem. Funkelnd unter dem Abenddunst erstreckte sich vor ihr das Meer, und genau in der Mitte ragte im Zwielicht die verkohlte Ruine eines alten Leuchtturms auf. Ellen stand eine Weile reglos da und nahm den Anblick in sich auf.

Das Geräusch trappelnder Pfoten riss sie aus ihrer Träumerei. Als sie sich umwandte, sah sie einen schwarz-weißen Border Collie, gefolgt von einem grunzenden, rötlich braunen Schwein.

«Ich hoffe, du magst Tiere», sagte Peg, während sie Ellens Koffer aus dem Wagen holte.

«Natürlich», behauptete Ellen, die in Wirklichkeit nicht recht wusste, ob sie das Schwein streicheln oder vor ihm davonlaufen sollte.

«Vor Bertie brauchst du keine Angst zu haben, er ist ein guter Junge und sogar stubenrein. Schau nur, er mag dich», fügte Peg hinzu, als Bertie sich grunzend mit seiner Schnauze zwischen Ellens Beine drängte. Ellen machte panisch einen Satz rückwärts. «Du musst ihn an den Ohren streicheln, Liebes, das hat er gern.» Doch Ellen überhörte den Rat ihrer Tante und flüchtete eilig ins Haus.

Drinnen war es warm und gemütlich und roch nach nassem Hund. Der Boden im Flur war grau gefliest, und an den cremeweiß gestrichenen Wänden hingen mehrere amateurhaft wirkende Aquarelle von Küstenlandschaften. In der Küche lag an der Kücheninsel ein staubiger brauner Sitzsack für Mr. Badger und am gelben Stanley-Ofen, der in den Kamin eingebaut war, neben einem ordentlichen Stapel kleiner Holzscheite eine Strohmatte. Ellen nahm an, dass das Berties Bett war, sofern Schweine ein Bett hatten. Auf den Ablagen standen Tassen und allerlei Utensilien sowie Dosen mit Teebeuteln, Kaffee und Stiften, und auf dem Rand des Ofens bemerkte Ellen einen altmodischen Teekessel. Peg warf einen Blick auf die Wanduhr und sagte fröhlich: «Für einen Drink ist es wohl noch zu früh. Möchtest du eine Tasse Tee, Liebes? Bestimmt hast du auch Hunger. Ich habe Schinken da und frisch gebackenes Sodabrot.» Sie öffnete den Kühlschrank. «Zum Abendessen gibt es Eintopf, aber vielleicht magst du jetzt schon mal einen kleinen Imbiss? Reisen macht hungrig. Oder würdest du lieber zuerst dein Zimmer sehen und dich etwas frisch machen?»

«Ja, sehr gern, danke.»

Peg wuchtete den Koffer die Treppe hinauf, obwohl Ellen protestierte, sie könne ihn selbst tragen. «Ich bin stark wie ein Ochse. Das hier ist nichts im Vergleich zu den Schafen, die ich schon geschleppt habe.»

Sie öffnete die Tür zu einem Zimmer mit Blumentapete an den Wänden und einer niedrigen Decke mit Holzbalken. Die Einrichtung bestand aus einem breiten Bett aus Kiefernholz, einem Kleiderschrank und einer Kommode. Peg ging über den Teppich zum Fenster und öffnete es, um eine Fliege hinauszulassen, die hektisch an der Scheibe summte. «Du hast Ausblick aufs Meer.»

«Mit dem Leuchtturm», ergänzte Ellen erfreut.

«Ja.» Peg wirkte plötzlich verschlossen.

«Eine Ruine. Ich liebe Ruinen.» Ellen trat neben ihre Tante ans Fenster.

«Diese hat eine tragische Geschichte. Vor fünf Jahren ist dort eine junge Mutter bei einem Brand ums Leben gekommen. Was sie allerdings so spät am Abend dort zu suchen hatte, wird man wohl nie erfahren.»

Ellen starrte in die Dunkelheit hinaus, konnte jedoch nichts erkennen. «Wie traurig.»

«Joe wird dir die Geschichte erzählen. Er redet ständig davon. Nach dem Tod der jungen Frau ist ihr Mann, Conor Macausland, aus der Burg in ein kleineres Haus auf dem Anwesen umgezogen. Aber Johnny und Joe arbeiten immer noch dort oben und halten die Gärten in Schuss. Die junge Frau war eine leidenschaftliche Gärtnerin.» Peg senkte die Stimme. «Es gibt Gerüchte, dass sie ermordet wurde.»

Ellen war entsetzt. «Von wem?»

«Von ihrem Mann.» Peg schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. «Für kurze Zeit war er der Hauptverdächtige. Die Polizisten sind hier herumgeschwärmt wie die Ameisen, aber sie haben keinerlei Beweise dafür gefunden, dass er es war. Manche sagen allerdings, es wurden auch keinerlei Beweise dafür gefunden, dass er es nicht war.»

«Wie furchtbar! Und wie denkst du über die Angelegenheit?»

Peg seufzte. «Ich denke, dass es ein tragischer Unfall war, aber es gibt Leute, die sich damit nicht abfinden wollen. Manche Menschen wittern eben überall Geheimnisse und Verrat.» Sie lächelte schief. «Weißt du, das Leben hier draußen ist manchmal recht eintönig, da neigen die Leute dazu, Vorkommnisse aufzubauschen. Ich persönlich mag es lieber friedlich.» Damit wandte sie sich ab und ging zur Tür. «Dein Bad ist über den Flur, die zweite Tür rechts. Aber pass auf, dass du nicht aus Versehen die erste Tür öffnest, da schläft Reilly.»

«Reilly?»

«Ein Eichhörnchen, das ich kurz vor Weihnachten gerettet habe. Ich hätte mir kein schöneres Geschenk wünschen können.» Peg lächelte liebevoll. «Seitdem hält er im Wäscheschrank seinen Winterschlaf. Am Boiler ist es schön warm, da hat er es behaglich, dachte ich mir. Wenn er aufwacht, in einem Monat oder zweien, werde ich versuchen, ihn zu zähmen. Also, wenn du frische Bettwäsche brauchst, sag mir Bescheid, ich weiß, in welchem Fach er liegt.»

«Klar», erwiderte Ellen mit einem Grinsen. «Gibt es sonst noch irgendwelche Tiere, über die ich Bescheid wissen müsste?»

«Hier im Haus nicht. Nur die Mäuse und Fledermäuse auf dem Dachboden, aber die werden dich nicht behelligen. Bertie kommt nicht die Treppe rauf. Falls du allerdings nachts in die Küche runtergehst, könnte es passieren, dass er dich für einen Eindringling hält und sich auf dich stürzt. Als er noch ein kleines Ferkel war, ist er mal so auf Oswald losgestürmt, dass er ihm das Bein gebrochen hat – stell dir nur vor, welchen Schaden er jetzt anrichten könnte!»

«Wer ist Oswald?»

«Ein guter Freund. Du wirst ihn mögen. Er wohnt zur Miete nebenan in meinem zweiten Cottage. Abends kommt er meist zum Kartenspielen rüber.»

«Hilft er dir auf der Farm?»

Peg stieß ein leises Schnauben aus, das wie Berties klang, und lachte. «Nein, wenn du Oswald kennen würdest, dann wäre dir klar, was das für eine absurde Vorstellung ist! Oswald ist ein englischer Gentleman im Ruhestand, der selbst beim Malen immer einen dreiteiligen Tweedanzug trägt, drunter tut er es nicht. Die Aquarelle unten sind von ihm. Er verdient damit genug, um die Miete zu zahlen, aber viel mehr auch nicht. Ich glaube, eigentlich malt er zu seinem Vergnügen. Jedenfalls ist er ein lieber Freund, du wirst ihn sicher auch mögen.» Sie sagte das mit einem solchen Funkeln in den Augen, dass Ellen sich fragte, ob ihre Tante sich wohl ein wenig in diesen englischen Gentleman verliebt hatte.

«Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen», sagte sie.

«Unten gibt es eine hübsche kleine Stube, da kannst du sitzen und schreiben. Ich mache ein Feuer im Kamin, damit du es behaglich hast, während ich draußen bin. Jetzt mach dich erst mal frisch, und wenn du fertig bist, komm nach unten. Ich setze inzwischen den Tee auf.»

 

Als Ellen allein war, zog sie ihr Handy aus der Handtasche und schaltete es ein. Im Display wurden zwei Sprachnachrichten und zwei SMS angezeigt. Die Anrufe waren beide von ihrer Mutter – Ellen löschte die Nachrichten, ohne sie abzuhören. Eine SMS war von William: Schatz, was ist los? Ich verstehe das nicht. Bitte ruf mich an, damit wir darüber sprechen können. Seine gefasste Reaktion überraschte sie gar nicht. William war die Sorte Upperclass-Engländer, die sich von fast nichts aus der Ruhe bringen ließ. Seine Erziehung hatte ihm ein starkes Anspruchsdenken vermittelt, und er lebte in der grundsätzlichen Erwartung, dass letztendlich alles gut ausgehen würde. Schließlich war es bisher immer so gewesen, also hatte er keinen Grund anzunehmen, dass es sich mit Ellens überraschendem Verschwinden anders verhielt. Wahrscheinlich verdrehte er nur die Augen und seufzte «Frauen!», genau wie sein Vater die Marotten seiner Mutter immer achselzuckend abgetan hatte. Die andere SMS war von Ellens bester Freundin Emily: OMG! Du hast es wirklich getan! Deine Mutter hat zweimal angerufen, aber ich trau mich nicht ranzugehen. Was soll ich ihr sagen? Bitte melde dich. Ellen schaltete das Handy wieder aus, ging zum Fenster und öffnete es, um die feuchte Abendluft zu atmen. Ein Schauder überlief sie – sie wusste selbst nicht, ob es die Kälte war oder die Aufregung, weil sie davongelaufen war. Egal. Sie fühlte sich endlich frei von Verpflichtungen. Die ersten dreiunddreißig Jahre ihres Lebens hatte sie sich bemüht, es ihren Eltern recht zu machen; jetzt endlich nahm sie sich die Freiheit, das zu tun, was sie selbst wollte.

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2

Als sie wieder hinunterging, saß Peg am Küchentisch und las Zeitung, vor sich einen Teller mit Brot und Käse. Ellen bemerkte einen bedrohlich aussehenden Vogel, der auf ihrer Stuhllehne saß. Sein Gefieder war größtenteils schwarz mit etwas Schiefergrau, seine Augen jedoch hell wie Aventurin. «Das ist wohl auch ein Freund von dir?», fragte sie und setzte sich auf den Stuhl, der am weitesten von dem Vogel entfernt war.

«Das ist meine kleine Dohle», erklärte Peg begeistert. «Ich habe ihn als Nestling aufgezogen, und seitdem lebt er bei mir. Sooft ich versuche, ihn wegzuscheuchen, kommt er wieder zurück – ich werde ihn einfach nicht los.» Ihr Lachen verriet Ellen, dass sie den Vogel eigentlich gar nicht loswerden wollte. «Möchtest du jetzt einen Tee?»

«Sehr gern, danke.» Die Dohle beobachtete sie argwöhnisch. «Wie heißt er?»

«Jack», antwortete Peg und lachte wieder. «Nicht sehr einfallsreich, aber ich finde, es passt zu ihm.» Als Jack seinen Namen hörte, flog er auf den Tisch, um die Brotkrümel aufzupicken, die Peg für ihn übrig gelassen hatte.

«Du hast wohl ziemlich viele Tiere.»

«Ich kann einfach nicht nein sagen, das ist mein Problem, und die Leute in der Gegend wissen das. Wenn jemand ein heimatloses oder verletztes Tier findet, landet es bei mir.» Peg reichte ihr eine Tasse Tee. «Milch ist in dem Kännchen. Oswald kommt um sechs auf ein Glas Wein vorbei. Für Tee hat er nicht viel übrig. Ich habe immer eine Flasche Bordeaux auf dem Kühlschrank stehen, eigens für ihn, aber du kannst gern auch davon trinken, wenn du magst. Morgen mache ich dich mit Charlie, dem Esel, Larry, dem Lama, meinen Hühnern und den Schafen bekannt. Ich habe nur ein Dutzend Schafe. Snowdrop ist mein Liebling; inzwischen ist sie schon ein großes Mädchen, aber ich habe sie von Hand aufgezogen, nachdem der Fuchs ihre Mutter geholt hat. Ihretwegen habe ich mir die Nächte um die Ohren geschlagen. Sie war schlimmer als meine Jungs als Babys!»

Ellen trank einen Schluck von ihrem Tee und fühlte sich augenblicklich gestärkt. «Mutter mag keine Tiere, bis auf den grässlichen Waffle.»

«Ich nehme an, Waffle ist ein Hund. Bei dem Namen kann ich nur hoffen, dass es ein Hund ist.»

«Ja, ein ganz kleiner.»

«Maddie hatte immer Angst, sich schmutzig zu machen, schon als kleines Mädchen. Ich denke, im Grunde verändern die Menschen sich nicht sehr. Sie war wie ein Schwan unter lauter Gänsen.»

«Du bist doch keine Gans, Tante Peg.» Ellen lachte.

«Verglichen mit deiner Mutter, schon. Sie war die Jüngste, aber sie hat die Schönheit ganz allein abbekommen. Nicht dass das wichtig wäre. Ich bin schon alt und weise und weiß, dass Schönheit nichts gilt, wenn ein Mensch nicht im Inneren schön ist.»

«Ich glaube, Mutter legt nicht viel Wert auf das Innere der Menschen.»

«Das war früher einmal anders. Wie auch immer, solange sie glücklich ist …» Peg zuckte die Achseln. «Möchtest du noch eine Zigarette rauchen, ehe Oswald kommt? Er mag es nicht, wenn geraucht wird, deshalb rauche ich immer eine Weile vorher, damit er es nicht mehr riecht.»

«Ja, gern, danke», antwortete Ellen. Es stimmte, dass Peg keine Schönheit war wie ihre Schwester, aber sie hatte ein offenes, gütiges Gesicht. «Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe, Tante Peg. Hätte ich nicht in Mutters Briefen gestöbert, dann hätte ich vielleicht nie erfahren, dass es dich überhaupt gibt.»

Peg reichte ihrer Nichte die Schachtel, und Ellen steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. «Es ist nie zu spät. Alle Flüsse fließen irgendwann ins Meer, auf dem einen oder anderen Weg. Sie hat versucht, uns zu verschweigen, aber schließlich hast du uns aus eigenem Antrieb gefunden.»

Sie zündeten ihre Zigaretten an und tranken in der gemütlichen Wärme der Küche ihren Tee. Dabei plauderte Peg über ihre Familie. In ihrem irischen Akzent schienen sich die Worte ineinanderzukringeln wie Schweineschwänzchen, und das sanfte Auf und Ab ihrer Satzmelodie lullte Ellen ein. Bertie grunzte im Schlaf auf seiner Matte, während Mr. Badger zusammengerollt auf seinem Sitzsack lag. Jack kehrte an seinen Platz auf der Rückenlehne von Pegs Stuhl zurück, doch er behielt Ellen skeptisch im Blick – offenbar wusste er noch immer nicht recht, was er von dieser Fremden halten sollte.

Ellen fühlte sich in Pegs Küche angenehm behaglich. Die Küche ihres Elternhauses in London war die Domäne von Mrs. Leonard. Die Familie speiste im Esszimmer, und Mrs. Leonard kochte und räumte den Tisch ab. Sie war mit der noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden Tradition aufgewachsen, nach der es in jedem herrschaftlichen Haus eine mit grünem Filz gedämmte Tür gab, die den Bereich der Herrschaften von dem der Dienstboten trennte. So war sie in ihrem eigenen Reich hinter dieser Tür gänzlich zufrieden. Außer Mrs. Leonard gab es noch Mrs. Roland, die Haushälterin, die im Souterrain wohnte, und Janey, eine lebhafte junge Frau, die frisch von der Uni kam und als Madeline Trawtons persönliche Assistentin angestellt war – wobei Ellen sich nicht vorstellen konnte, was sie den ganzen Tag zu tun hatte, schließlich ging ihre Mutter keinem Beruf nach. Ihr Vater hatte außerdem einen Chauffeur, dessen Hauptaufgabe es war, ihre Mutter zu Boutiquen in der Bond Street oder zu den Treffen ihrer Wohltätigkeitsvereine zu kutschieren. Im Rückblick schien ihre Kindheit von exklusiven Kindermädchen in grauen Uniformen geprägt. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte es im Haus immer scharenweise Personal gegeben.

Ellen dachte über ihr Elternhaus nach. Eigentlich war es gar kein richtiges Zuhause, sondern ein Vorzeigeobjekt, von dem berühmten französischen Designer Jacques Le Paon gestaltet und regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht – und die Küche war ein unpersönlicher, streng funktionaler Ort, den nur selten ein Familienmitglied betrat. Ganz anders Pegs Küche. Ellen lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ den Raum auf sich wirken. Pegs Küche bildete das Herzstück des Hauses, und Ellen sog die liebevolle Atmosphäre freudig in sich ein.

Nach einer Weile stand Peg auf und lüftete. Außerdem setzte sie einen Topf mit schwarzem Kaffee auf, um den Rauchgeruch zu überdecken. Sie warf einen Blick zur Wanduhr, deren großer Zeiger sich langsam der Zwölf näherte. Um fünf vor sechs nahm Peg zwei Weingläser aus dem Schrank und holte die halbvolle Flasche Bordeaux, die auf dem Kühlschrank stand. Sie entkorkte die Flasche und stellte sie zum Anwärmen auf den Stapel Feuerholz neben dem Ofen. Fünf Minuten später wurde die Haustür geöffnet, und herein kam ein gertenschlanker Mann von vielleicht fünfundsechzig in dreiteiligem Tweedanzug. Er trug eine Mütze und eine Brille.