Sturmmädchen - Lilly Bernstein - E-Book
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Sturmmädchen E-Book

Lilly Bernstein

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Beschreibung

Drei junge Frauen. Ein Schwur. Wie stark ist eine Freundschaft? Sie glaubten, die Welt stünde ihnen offen: Die drei Freundinnen Elli, Margot und Käthe werden mit Beginn der NS-Zeit mit der Schule fertig. Im malerischen Tal der Eifel, in dem sie zu Hause sind, muss die Jüdin Margot bald um ihr Leben und das ihrer Familie fürchten. Käthe wird zur überzeugten Nationalsozialistin. Die Halbwaise Elli muss sich entscheiden: Wählt sie die Liebe oder folgt sie ihrem Gewissen?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sturmmädchen

Lilly Bernstein ist das Pseudonym der Kölner Journalistin und Autorin Lioba Werrelmann, deren Debütroman Hinterhaus 2020 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Ihre Romane Trümmermädchen und Findelmädchen waren große Presse- und Publikumserfolge.

Die drei Freundinnen Elli, Margot und Käthe kennen sich seit ihren Kindertagen in der malerischen Eifel. Aber die Zeitläufte stellen ihre Freundschaft auf eine harte Probe. Als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, fühlt Käthe sich von der neuen Ideologie angezogen, während die Jüdin Margot bald um ihr Leben und das ihrer Familie fürchten muss. Die gehbehinderte Elli, für die Leute im Dorf nur das »Hinkemädchen«, wird hineingerissen in einen Strudel der Gefühle: Angst und Trauer um ihre Freundinnen, Sorge um ihre überarbeitete Mutter, die einzige Hebamme im Tal. Und sie fühlt eine Liebe in sich aufkeimen, die es gar nicht geben dürfte. Doch sie weiß, dass sie nur eine Wahl hat: Margot zu helfen, um jeden Preis. Auch wenn sie sich dabei selbst in Gefahr bringt und droht, alles zu verlieren, was sie liebt.

Lilly Bernstein

Sturmmädchen

Freundinnen in dunkler Zeit

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2024© für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Arcangel / Matilda DelvesAutorinnenfoto: © Susanne EschE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3070-9

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Teil II

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Epilog

Nachwort und Dank

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

Für L. und S.In Liebe, immer

Prolog

Sonntag, 14. Mai 1933

»Zrib, Zrib«, zwitscherte die Wasseramsel. »Zip, zip, zrib.« Elli lag ganz still und spitzte die Ohren. Sie liebte es, den Geräuschen der Natur zu lauschen. Und was gab es alles zu hören in diesem stillen, grünen Tal! Zu ihren Füßen plätscherte das Wasser des Perlenbachs so munter, als könne der Bach sich gar nicht genug darüber freuen, das Eis des langen Winters endlich los zu sein. Der Wind, den sie auf ihren Wangen spürte, so sanft, als wolle er sie streicheln, entlockte dem hohen Gras, in dem sie lagen, ein verheißungsvolles Flüstern. Und aus dem nahen Wald drangen einzelne Vogelstimmen bis zu ihnen herüber. Das waren ganz unverkennbar die Bettelrufe aus dem Nest eines Buntspechtes und das Pfeifen der Weidenmeise.

Elli hielt die Augen fest geschlossen. Sie genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, die tanzenden Lichtkringel hinter ihren Lidern. Wie hatte sie den Frühling herbeigesehnt! Und nun war er endlich da.

Von fern war jetzt noch ein Geräusch zu hören, eins, wie Elli es oft gehört hatte in den letzten Wochen, eine Art Grölen. Aber das konnte nicht sein, nicht in diesem stillen Tal. Oder etwa doch? Sie richtete sich auf, ließ den Blick schweifen.

Das Perlenbachtal lag so ruhig und friedlich da, wie Elli es seit ihrer frühesten Kindheit kannte. Sanft abfallende Hänge, oben, auf den Bergkuppen, dichter Wald und dort, wo das Tal am tiefsten war, der frisch gurgelnde Bach. An seinen Ufern blühten noch die letzten wilden Narzissen, die jedes Jahr zu Ostern den Frühling mit ihren gelben Köpfchen herbeilockten. Nun, im Mai, stand der Schlangenknöterich in voller Blüte und verwandelte das Tal in ein rosa wogendes Blütenmeer.

Elli spitzte die Ohren. Kein Grölen, nirgends. Sie atmete erleichtert auf und ließ sich seufzend zurücksinken.

Links von ihr lag ihre Freundin Käthe und schien, kaum dass sie ihren Lieblingsplatz erreicht hatten, in einen tiefen Schlaf gefallen, rechts von ihr summte Margot leise vor sich hin. Behutsam strich Elli mit der Spitze ihres Zeigefingers über die wollene Decke, die Margot für sie drei im Gras ausgebreitet hatte. Herrlich weich und warm fühlte sie sich an, viel zu gut, fand Elli, um sie auf eine Wiese zu legen.

»Ach was!«, hatte Margot gelacht. »Die schütteln wir später einfach aus, und fertig!«

So, wie Elli Käthe für ihre Verlässlichkeit liebte, so liebte sie Margot für ihre Unbekümmertheit. Kaum eine Minute verging, in der die Freundin nicht ein Lied auf den Lippen trug, so wie jetzt. Da machte es auch gar nichts, dass Margot niemals einen Ton traf.

Elli rekelte sich, blinzelte gegen das Sonnenlicht. Und hielt im nächsten Moment die Luft an.

Ein winzig kleiner Schmetterling flatterte direkt vor ihrer Nase. Er war gerade einmal so groß wie der Daumennagel eines erwachsenen Mannes. Doch seine Flügel leuchteten so farbenfroh, dass man meinen konnte, sie seien mit fein gemahlenem Pulver aus lauter Edelsteinen bestäubt.

»Ein blau schillernder Feuerfalter«, flüsterte sie, sorgsam darauf bedacht, bloß nicht Käthe zu wecken. Die Freundin war ständig müde, seit sie in der Fabrik in Monschau arbeitete. »Ein Männchen. Siehst du?« Vorsichtig stupste sie Margot in die Seite. »Seine Flügel sind oben tief violett und unten fast vollkommen orange mit kleinen schwarzen Punkten und weißen Halbmonden!«

»Hübsch, wirklich«, erklärte Käthe. Sie hatte wohl doch noch nicht tief geschlafen, jetzt streckte sie alle viere von sich und warf sich auf die Seite. Der Schmetterling trudelte durch die Luft und ließ sich auf einer der rosafarbenen Blüten nieder.

»Der blau schillernde Feuerfalter«, fuhr Elli noch leiser fort, »ist ein Relikt aus der Eiszeit. Das weiß ich von meiner Mutter. Kann man sich das vorstellen? Die Weibchen legen ihre Eier an den Blättern des Schlangenknöterichs ab. Wenn die Raupen geschlüpft sind, fressen sie sich satt, verpuppen sich, lassen sich einfach ins Gras fallen und verbringen dort den ganzen Winter. Es ist phänomenal: Kälte, Schnee und Eis machen ihnen nicht das Geringste aus! Sie warten einfach ab, bis es warm genug ist, um zu schlüpfen.«

»Wirklich phänomenal«, murmelte Margot, »sich verpuppen und abwarten, bis das Leben wieder leicht ist. Ich wünschte, ich könnte das auch.« Aus ihren Worten meinte Elli etwas herauszuhören, was sie nie zuvor an Margot wahrgenommen hatte, eine Art Schmerz, der gar nicht zu ihr passte, und einen Moment lang fragte sie sich, wie Margot das wohl meinte. Dann aber hörte sie sie sogleich wieder vor sich hin summen, sie musste sich getäuscht haben. Käthe begann leise zu schnarchen, der blau schillernde Feuerfalter schwebte davon. Elli schloss die Augen, und ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem ihre Freundschaft begann.

Vor genau acht Jahren, Käthe und Elli waren gerade eingeschult worden, hielt an einem frühen Samstagnachmittag ein Auto auf der einzigen Straße des Dorfes. Was nicht nur deshalb außergewöhnlich war, weil es damals genau ein Auto gab, das man ab und zu im Dorf sah, nämlich das des Arztes aus Mon­schau, sondern auch, weil dieses Auto sehr viel vornehmer wirkte als das von Doktor Jung, mit seinen schwarz glänzenden Kotflügeln und dem offenen Verdeck. Hinter dem Steuer saß ein vornehm gekleideter Herr, eine ebenso vornehme Dame daneben, und auf dem Rücksitz ein Mädchen mit blasser Haut und dunklen Zöpfen. Als es Elli und Margot erblickte, die gerade mit ihren wenn schon nicht neuen, so doch von ihren Müttern sorgfältig ausgebesserten Schulranzen auf den Rücken nach Hause kamen, kletterte es aus dem Auto, trat geradewegs auf sie zu und streckte ihnen seine kleine, nach teurer Seife duftende Hand entgegen.

»Ich bin Margot. Wir haben ab heute hier ein Ferienhaus. Wollen wir Freundinnen sein?«

Elli und Käthe blieb gar nichts anderes übrig, als die Hand dieses erstaunlichen Mädchens zu schütteln und verblüfft zu nicken.

Seither waren sie unzertrennlich.

Margot kam mit ihren Eltern jedes Wochenende ins Dorf, zumindest im Sommer, sowie immer in den Schulferien. Ihr Ferienhaus entpuppte sich als ein alter Heuschober ein ganzes Stück außerhalb, den der Bauer Janssen für ein Heidengeld, wie Ellis Mutter es ausdrückte, an die Schiffmanns verkauft hatte. Die freilich verpassten dem Schober einen neuen Anstrich, neue Böden und ein Badezimmer, sie stellten sogar ein Klavier hinein, auf dem Frau Schiffmann stundenlang spielte, während ihr Mann den Mädchen zu Ellis und Käthes großem Erstaunen eiskalte Limonade servierte.

Das Erstaunlichste jedoch war Margot selbst. Sie hatte ein so sonniges Gemüt, dass Elli und Käthe ihrer niemals überdrüssig wurden. Da war es auch egal, dass Margot mit den praktischen Dingen des Alltags heillos überfordert war, dass sie nicht einmal wusste, was ein Hoal war und erst recht nicht, wie man diesen eisernen Haken, der in jedem Haus über dem Herd hing, nach oben und unten verstellte, um Kessel und Töpfe daran zu befestigen. Für Käthe und Elli, die von Kindesbeinen an daran gewöhnt waren, an der Seite der Erwachsenen mitzuarbeiten, waren die Zeiten mit Margot, in denen sie sich dem süßen Nichtstun hingaben, ein kostbares Vergnügen.

So wie jetzt, dachte Elli und rekelte sich noch einmal genießerisch.

Keinen Ort weit und breit liebte sie so sehr wie das Perlenbachtal, und sie wusste, dass es Margot und Käthe ebenso erging. Wie ein silbernes Band wand sich der Bach durch dieses sanft geschwungene Tal, wo es ab dem zeitigen Frühjahr stets ein bisschen wärmer war als in den Nachbartälern. Dafür sorgten die Bauern. Sie stauten das Wasser des Perlenbachs alle paar Hundert Meter auf und leiteten es um in Gräben, die sie parallel zum Bach in die Hänge gruben, sie nannten sie Flüxgräben. Auf diese Weise düngten sie mit den Mineralien des Bachwassers die Wiesen, außerdem schmolz der Schnee schneller, und das Gras begann früher zu wachsen als überall sonst. Im Herbst fuhr man hier die reichste Heuernte ein.

Die Mädchen schafften es selten ins Perlenbachtal, es war einfach zu abgelegen. Doch heute, an diesem ersten warmen Tag des Jahres, wollten Margot und Käthe baden, und dafür gab es nun wirklich keinen geeigneteren Ort als das Perlenbachtal, eben weil es so abgelegen war. Für Elli war der Fußweg eine Tortur, doch das, beschloss sie, war es wert gewesen. Himmel, sie hatte einen blau schillernden Feuerfalter entdeckt!

»So, genug geträumt!« Käthe setzte sich auf. »Wer ist als Erste drin?« Sie begann, energisch ihre Schnürsenkel zu lösen, und sofort tat Margot es ihr nach. Im Nu landeten zwei Paar Schuhe im Gras – Käthes waren ihr reichlich zu groß und ursprünglich von ihrem Vater, Margots Stiefel aus ganz weichem Leder –, Käthe zog sich mit einem einzigen Ruck das schwere Baumwollkleid über den Kopf, Margot streifte blitzschnell Strümpfe, Hose und Bluse ab, und schon wateten beide schnurstracks in den kleinen Bach.

»Herrlich!«, kreischte Käthe.

»Es ist weniger kalt, als es aussieht!«, rief Margot. »Komm auch, Elli!«

»Gleich.«

Einen Moment lang war Elli, als hörte sie wieder dieses beunruhigende Geräusch, dieses Grölen. Unwillkürlich schob sie ihr rechtes Bein unter den weiten Rock, lauschte. Nein, ein Glück, da war nichts. Nur das Plappern der Freundinnen, die im knietiefen Wasser auf und ab hüpften.

Was für ein seltsames Paar die beiden doch abgaben! Käthe in ihrem über und über geflickten Leibchen und den knielangen, ausgebeulten Unterhosen. Noch nie hatte Elli Käthe in Anziehsachen gesehen, die ihr passten, stets trug sie die ihrer älteren Geschwister auf. Margot hingegen war immer so fein gekleidet, dass Elli und Käthe jedes Mal, wenn sie einander wiedersahen, die Luft anhielten. Noch dazu trug sie jetzt Hosen und hatte ihr Haar so kurz geschnitten, als wäre sie ein echtes Mannequin! Nicht, dass Elli und Käthe jemals eins getroffen hätten, sie bestaunten sie in den Modezeitschriften von Margots Mutter. Und selbstverständlich war Margots Unterwäsche immer blütenweiß und von erlesener Qualität, an den Beinen der Unterhose sah Elli sogar ein wenig Spitze.

Elli beobachtete ihre Freundinnen, die mit großer Lust begannen, sich gegenseitig nass zu spritzen, und merkte, wie sich ein seliges Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Vielleicht, dachte sie, bade ich heute auch.

Sie stand auf, zog Rock und Bluse aus, legte beides fein säuberlich gefaltet auf die Decke und widmete sich dann den Schuhen. Ein letzter Blick, ob sie auch wirklich allein waren, dann erhob sie sich und kletterte vorsichtig über die großen Steine, die das Bachbett säumten.

»Warte, ich helfe dir!«

Schon hatte Margot die Hand nach ihr ausgestreckt, auf der anderen Seite fasste Käthe sie unter.

»Es ist ein bisschen glitschig, aber keine Angst, wir halten dich.«

Ein Schritt, noch einer. Eiskalt war es. Und absolut wundervoll.

»Na also«, raunte Margot und knuffte sie zärtlich in die Seite.

Elli wagte sich noch ein bisschen tiefer hinein. Wie das Wasser um ihre Beine sprudelte! Als heiße es sie willkommen. Unter dem linken Fuß spürte sie das steinige Flussbett, sie musste sich ein wenig verrenken, um rechts Tritt zu fassen. Schon reichte ihr das Wasser bis an die Knie. Hatte sie sich jemals so weit in den Bach gewagt? Nein, nie. Meist blieb sie am Rand sitzen.

Heute, dachte sie, ist es anders.

Und mit Margot, die ihre Hand hielt, und Käthe, die sie fest untergehakt hatte, wagte sie sich direkt noch ein bisschen weiter hinein.

Später hockten sie dicht am Ufer auf einem flachen Felsbrocken. Sie hatten sich wieder angezogen, nur Schuhe und Strümpfe lagen ein Stück hinter ihnen neben der Decke.

»Das wird ein Sommer!«, begann Käthe und hob, auf der Suche nach Krebsen, vorsichtig einen Stein an. »Eins sage ich euch: Die Tage, in denen ich meinen Fuß in die verdammte Fabrik in Monschau setze, die sind gezählt. Seht auch meine Hände an! Ganz gelb sind sie von der Salpetersäure, mit der wir die Lumpen aufweichen, bevor wir sie zerrupfen. Aber nicht mehr lange. Bald gehe ich in die Stadt und suche mir eine bessere Arbeit. Ich werde nämlich etwas aus mir machen, dass ihr es nur wisst!«

Elli sandte ihr einen verstohlenen Blick. Käthe hatte nicht nur gelbe Finger, seit sie in der Fabrik in Monschau war. Ihre Füße schienen in den wenigen Wochen, in denen die Freundin morgens den Berg hinab zur Arbeit lief und abends wieder hinauf, krumm geworden. Ganz abgesehen von den verhornten Stellen und denen, wo es geblutet hatte. Was wiederum kein Wunder war, wo ihr doch die alten, ausgetretenen Schuhe ihres Vaters kein bisschen passten.

Und doch. Wie gerne wäre Elli mit ihr zur Fabrik gelaufen! Zu Ostern waren sie beide aus der kleinen Dorfschule entlassen worden. Nie wieder mussten sie diesen dunklen, muffigen Ort aufsuchen, wo der Lehrer schon morgens nach Branntwein stank und sein Rohrstock schneller durch die Luft sauste, als ein Mädchen von fünfzehn Jahren gucken konnte. Elli war das einzige Mädchen gewesen, das solcherlei Züchtigungen über sich ergehen lassen musste, normalerweise prügelte der Lehrer nur die Jungen. Bei Elli jedoch machte er eine Ausnahme, und ein jeder wusste, warum.

Allein die Erinnerung sorgte dafür, dass es Elli kalt über den Rücken lief, unwillkürlich zog sie ihren Rock ein wenig tiefer.

»Du wirst auch etwas aus dir machen, Elli«, sagte Margot und strich ihr so zärtlich über das rechte Bein, als sei nichts dabei.

»Klar!« Käthe hatte tatsächlich einen Krebs entdeckt, doch er flutschte ihr aus den Fingern. »Du wirst Hebamme wie deine Mutter, du bist geboren dafür.«

»Aber ich werde niemals –«

»Die weiten Wege zu den Wöchnerinnen zurücklegen können?«, beendete Margot ihren Satz. »Das wirst du. Kommt Zeit, kommt Rat. Und wisst ihr, was ich machen werde? Ich werde –«

»Heiraten!«, riefen Käthe und Elli wie aus einem Munde. Margot hatte schon von ihrer Hochzeit geschwärmt, als sie alle drei noch kleine Mädchen waren.

»Selbstverständlich!«, lachte sie jetzt. »Ich will einen feschen Mann, einen, der was hermacht. Und Kinder, drei oder vier. Zusammen werden wir um die Welt reisen, ich werde Gedichte schreiben –«

»Und lange Hosen tragen!«, fiel Elli ihr ins Wort.

»Selbstverständlich! Das tue ich ja heute schon! Und wisst ihr, was? Ich werde auch kurze Hosen tragen! Und kurze Röcke!«

»Kurze Röcke!« Käthe kringelte sich vor Lachen, Elli und Margot fielen darin ein. Sie lachten so sehr, dass der Krebs, den Käthe gerade wieder erwischt hatte, ihr aus der Hand fiel, dass Margot vor lauter Lachen Schluckauf bekam und dass Elli merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Kurze Röcke! Das war wieder einmal typisch Margot.

Sie hörten die Jungen nicht, die in ihrem Rücken aus dem Schatten des Waldes traten und leise den Hang hinabschlichen. Sie hörten sie erst, als sie schon direkt hinter ihnen standen, nicht einmal einen Schritt entfernt. Und noch bevor sie sie hörten, spürte Elli den Luftzug in ihrem Nacken. Gut ein Dutzend Arme und Hände, die mit einem Ruck in die Höhe schnellten. Münder, die aufgerissen wurden. Ein Ruf, der die Stille des Tals zerschnitt.

»Heil Hitler!«

Elli glaubte, ihr Herz müsse stehen bleiben. Nicht nur, dass die Fremden, sie trugen ausnahmslos die Uniform der Hitler-Jugend, sie zu Tode erschreckt hatten. Nein, viel schlimmer war, dass sie sich vollkommen unbeobachtet gefühlt hatte. Dass ihre Beine, beide, nackt und bloß in der Sonne lagen. So, wie niemand sie je gesehen hatte, ausgenommen Käthe, Margot und ihre Mutter. Schon ahnte sie den Spott, der im nächsten Augenblick auf sie niederprasseln würde. Sie duckte sich, zog den Kopf ein in Erwartung von Schlimmerem als bösen Worten. Hätte sie doch bloß nach dem Baden gleich wieder Schuhe und Strümpfe angezogen! Jetzt blühte ihr Böses.

Da erklang neben ihr ein Quieken wie von einem Schwein, dem der Schlachter das Messer in die Kehle stößt.

»Ein Krebs!«, quiekte Käthe und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. »Er ist mir in den Ausschnitt gerutscht! Ih, wie eklig!« Sie hüpfte von einem Fuß auf den anderen, verrenkte sich in der unmöglichsten Weise. Die jungen Männer brachen in dröhnendes Lachen aus. Keiner achtete mehr auf die anderen Mädchen. Elli nutzte diesen Augenblick und ließ ihre Beine hastig unter ihrem weiten Rock verschwinden. Margot rückte ganz dicht an sie heran.

»Ach, ich glaube, er ist weg.« Käthe stellte sich wieder normal hin, hob den Arm.

»Heil Hitler!«

»Heil Hitler!«, riefen die Jungen noch einmal und machten, dass sie weiterkamen. Ihr Lachen und ihr Grölen waren noch lange zu hören.

»Oh, wie schrecklich!« Elli spürte, wie sie jetzt, wo die Gefahr vorüber war, zu zittern begann. »Ich habe sie vorhin schon gehört, ich dachte, ich hätte mich getäuscht. Dabei hätte ich darauf kommen können, dass an einem Tag wie diesem hier noch mehr Ausflügler unterwegs sind. Um ein Haar …«

»Pscht!« Margot strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht, wann hatten sich ihre Zöpfe gelöst? »Keine Sorge, Elli, sie haben nichts gesehen. Dank dir, Käthe. Ich glaube, du solltest Schauspielerin werden.« Sie rang sich ein Lächeln ab, doch Elli sah genau, wie blass Margot geworden war.

»Ach, das habe ich doch nur gemacht, weil Elli sich so schämt wegen ihrem Bein.« Käthe sah den Jungen nach, bis sie oben auf der Bergkuppe im Wald verschwunden waren. Auf ihr Gesicht hatte sich ein ganz eigentümlicher Schimmer gelegt. »Nächste Woche in Rurberg«, sagte sie vor sich hin, als spräche sie mehr zu sich selbst als zu den Freundinnen, »beim Deutschen Tag, bin ich dabei. Die SA fährt uns hin, also, alle aus Monschau und Umgebung.« Sie räusperte sich. »Also, ich meine, alle, die gerne hinwollen, zum Deutschen Tag. Es gibt Kirmesbuden und Tanz, und überall sollen Hakenkreuz-Flaggen wehen –«

Durch Margot ging ein Zucken. Käthe verstummte, hockte sich wieder ans Ufer des Bachs, drehte noch ein paar Steine um. Auf ihren Wangen zeichneten sich plötzlich rote Kreise ab, und ihre Suche nach Krebsen wirkte nur noch halbherzig.

Der Bach gurgelte so munter wie zuvor, und doch war es, als sei der Wind ein wenig leiser geworden und die Sonne weniger strahlend. Von fern ertönte jetzt wieder ein Grölen.

Zwischen den Freundinnen war es eigentümlich still geworden. Zeit verging. Und als Elli meinte, die Schwere, die sie mit einem Mal in ihrem Herzen fühlte, wolle gar nicht mehr weichen, reckte sie das Kinn und richtete sich auf.

»Danke«, flüsterte sie in die Stille hinein. »Danke, dass ihr immer an meiner Seite seid.«

»Ist doch klar!« Käthe räusperte sich, als habe sie etwas im Hals. Dann ergriff sie Ellis rechte Hand. »Eine für alle und alle für eine, nicht wahr?« Ein vorsichtiger Blick zu Margot.

»So ist es.« Margot zögerte keine Sekunde und legte ihre Hand auf die der beiden. »Eine für alle und alle für eine.«

Und so verharrten sie, die nackten Beine nebeneinander ausgestreckt. Links Käthes geschundene Füße, rechts Margots, die Haut fein wie Marzipan, in der Mitte Ellis. Der linke Fuß vollkommen normal, der rechte verkrüppelt und gerade einmal so groß wie der eines Kindes, das rechte Bein ein ganzes Stück kürzer. Bloß dass das hier, am Ufer des Perlenbachs, zwischen Margot und Käthe, überhaupt keine Rolle spielte.

Ein frischer Wind kam auf. Die Blüten des Schlangenknöterichs wiegten sich wie in einem Tanz. Die Sonne leuchtete, als sei schon beinahe Sommer. Käthe und Margot wackelten vergnügt mit den Zehen. Und Elli war, als laufe ihr Herz jetzt, in diesem Moment, über vor lauter Glück.

Was, dachte sie, kann schon Schlimmes passieren, solange wir einander haben?

Teil I

Oktober 1938 – Dezember 1938

1. Kapitel

Mittwoch, 26. Oktober 1938

Da war es wieder. Ein Klopfen, so leise, als schlage der dünne Ast eines Baumes gegen das Fenster. Und zugleich von einer solchen Beharrlichkeit, dass Elli sich den Schlaf aus den Augen rieb und horchte. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Draußen war jemand, und offensichtlich führte dieser Jemand eine Laterne mit sich. Ein Lichtstrahl fiel durch die Ritzen der geschlossenen Läden, tastete sich über den uralten Steinboden aus Grauwacke, geisterte vorbei an Tisch und Stühlen, flackerte über die blank gescheuerte Feuerstelle bis zu ihr in den Alkoven. Zu ihren Füßen öffnete sich ein Paar gelber Augen, die Pupillen zu schmalen Schlitzen verzogen. Die Katze hatte es auch bemerkt.

»Schon gut!« Mit der einen Hand strich Elli dem Tier über den Kopf, mit der anderen befühlte sie neben sich die mit Stroh gefüllte Matratze. Dabei hatte sie schon im Aufwachen gespürt, dass dort niemand lag. Die Mutter war immer noch nicht zurück.

Das Klopfen wurde drängender.

Elli war es gewohnt, dass mitten in der Nacht Menschen kamen und Einlass verlangten. Und doch. Wenn die Mutter nicht da war, so wie jetzt, spürte sie jedes Mal eine bange Furcht in sich aufsteigen. Erst recht, seit so viele Fremde ins Dorf gekommen waren. Man wusste nicht mehr, mit wem man es zu tun hatte.

Keine Sorge, redete sie sich selbst gut zu, während sie erst das eine und dann das andere Bein aus der Bettnische schob, es wird jemand sein, der Hilfe benötigt. Und dann wäre sie die Letzte, die nicht öffnen würde.

Sie entzündete die Petroleumlampe, griff nach ihrem Schultertuch, wickelte sich darin ein, zog die Schuhe über ihre nackten Füße und hinkte die wenigen Schritte bis zur Tür.

»Wer ist da?«

»Elli, ich bin’s. Mach auf!«

Beinahe hätte sie die Stimme nicht erkannt, so gehetzt klang sie. Doch nachdem sie den Hebel, der den oberen Teil der Tür verschloss, zurückgeschoben und einen vorsichtigen Blick hinausgeworfen hatte, entriegelte sie sogleich die ganze Tür.

»Schwester Gertrud!«

»Na endlich!«

Die Gestalt, die über die steinerne Schwelle hineinstürzte, sah aus, als habe sie eine weite, beschwerliche Reise hinter sich. Der Saum ihres langen dunklen Gewandes war voller Schmutz, der weiße Schleier zerknittert. Dabei lebte die junge Ordensfrau nur wenige Häuser entfernt. Elli rückte sofort einen Stuhl für sie zurecht, so aufgelöst hatte sie sie noch nie gesehen.

»Geht es Ihnen gut? Darf ich Ihnen etwas bringen –«

»Wo ist Alma?«, fiel die Schwester ihr ins Wort.

»Bei einer Geburt in Monschau, schon seit gestern Abend.«

»Oh nein, das hat mir gerade noch gefehlt!« Die Besucherin wischte sich über das vor Anstrengung gerötete Gesicht. »Ich war die ganze Nacht auf den Beinen. Du weißt nicht zufällig, wann deine Mutter zurückkommt, oder?«

»Nein.« Elli goß Wasser aus dem Krug, der immer auf der Kannenbank bereitstand, in einen irdenen Becher, reichte ihn ihr. »Das weiß man nie.«

»Nein, nein, natürlich nicht.« Schwester Gertrud stürzte das Wasser in einem Zug hinunter, sprang von ihrem Stuhl auf und begann, in dem kleinen Raum, der ihnen zum Schlafen und zum Leben diente, hin und her zu rennen. »Du musst wissen, unser Kloster wird in ein paar Tagen geräumt. Die Waisenkinder, um die wir uns kümmern, werden auf andere Häuser verteilt. Sie brauchen noch mehr Unterkünfte für die Arbeiter, die die Verteidigungslinie bauen. Die Herren von der Organisation Todt sind schon da, es muss jetzt alles ganz schnell gehen.«

»Von der Organisation Tod?«, flüsterte Elli und hielt sich die Hand vor den Mund. Was mochte das zu bedeuten haben? Letzte Woche erst war eins von den Waisenkindern, die die Nonnen bei sich aufgenommen hatten, ganz unerwartet gestorben. Sollte etwa …

»Nicht erschrecken«, unterbrach die Schwester sie. »Fritz Todt heißt der Trottel, der sich diesen Blödsinn mit der Verteidigungslinie ausgedacht hat. Bei uns sind alle wohlauf. Noch.« Um ihren Mund legte sich ein harter Zug.

Elli nickte schnell. Sie kam sich furchtbar dumm vor. Schwester Gertrud, die ja noch eine Novizin war, schien ihr in ihrem Alter, womöglich nicht einmal zwanzig, aber sie war so viel gescheiter! Sie kannte sich mit Politik aus, hatte zu allem eine Meinung und war immer auf Achse. Während Elli nichts weiter tat, als Haus und Hof in Ordnung zu halten, und ihre Mutter sich ganz allein abrackerte, Tag und Nacht zu den Schwangeren, den Wöchnerinnen, aber auch zu den Alten und den Kranken eilte, die alle ihre Hilfe brauchten und nur allzu oft kaum etwas dafür zahlen konnten.

»Pass gut auf!«, riss Schwester Gertrud sie aus ihren Gedanken. »Was ich dir jetzt gebe, wirst du niemand anderem als deiner Mutter aushändigen, und du wirst nie im Leben auch nur ein Wort darüber verlieren. Versprichst du mir das?«

»Ja, klar.« Elli nickte schnell. Der Mutter wurde so manches im Geheimen anvertraut, nicht selten schnappte Elli etwas davon auf, und immer bewahrte sie Stillschweigen. Das war doch selbstredend. Doch sie spürte den Blick der Schwester so prüfend auf sich ruhen, dass ihr war, als klettere eine Grille ihren Rücken hinauf.

»Ich verspreche es«, fügte sie deshalb hinzu.

»Gut.« Die Schwester nestelte aus ihrem Gewand ein Päckchen hervor. Es war in graues Tuch eingeschlagen, mit Kordel verschnürt und gerade einmal so groß wie ein Stück Brikett. Aber es war sehr viel leichter, das spürte Elli, als Schwester Gertrud es ihr reichte.

»Versteck es«, flüsterte die.

Elli sah sich prüfend um. Wohin damit? Vielleicht unter die Matratze? Sie machte einen Schritt auf den Alkoven zu, als die Schwester sie am Arm packte.

»Warte! Warte, bis ich weg bin. Ich will nicht wissen, wo es ist, für den Fall, dass sie mich ergreifen.«

»Ergreifen? Wie meinen Sie das?«

Doch Elli bekam keine Antwort mehr. Die Schwester war schon zur Tür hinaus, die Katze huschte ihr hinterher.

Unschlüssig stand Elli in der Mitte des Raumes. Viel schwerer fühlte sich das Päckchen mit einem Mal an. Was mochte darin sein, dass Schwester Gertrud so ein Aufheben darum machte? Sie war versucht, die Kordel zu lösen und einen Blick hineinzuwerfen, aber sie beherrschte sich. Das war eine Sache zwischen Schwester Gertrud und ihrer Mutter, das ging sie nichts an.

Und so schob sie das Päckchen unter die Matratze im Alkoven. Ein besonders gutes Versteck schien ihr das nicht, aber die Mutter würde ganz bestimmt ein besseres wissen. Wo sie bloß blieb?

Elli trat noch einmal an die Tür, öffnete den oberen Teil einen Spaltbreit.

Der Hof lag in tiefer Dunkelheit, es musste lange nach Mitternacht sein. Nicht einmal der Mond war zu sehen, kein Stern, der Himmel schwarz. Im Haupthaus gegenüber, wo der reiche Bauer Janssen mit Frau, ältestem Sohn und dem Gesinde lebte, war es mucksmäuschenstill, ebenso im großen Stall. Kein Pferd, das leise schnaubte, keine Kuh, die ihre Stirn am Gatter rieb, kein Schwein, das grunzte. Der Hund wiederum, uralt und vollkommen taub, regte sich eh so gut wie nie, egal, ob er wach war oder schlief. Der Bauer hatte ihn bereits vor langer Zeit von der Kette gelassen, doch meist döste er in dem Verschlag, der ihm als Unterschlupf diente, vor sich hin. Lina, die Magd, kippte ihm ab und an ein paar Essensreste vor die Schnauze, und nur um sein Geschäft zu verrichten, schleppte er sich hinter den Misthaufen.

Das einzige Geräusch weit und breit war der Wind. Er strich durch die dichte Buchenhecke, die den Hof auf drei Seiten umgab – auf der vierten reichte er bis an die Rur – und entlockte ihr ein leises Wispern. Die Hecke maß gut fünf Meter in der Höhe und einen Meter in der Breite, sie schützte die gesamte Hofschaft und ihre Bewohner vor Sturm, Regen und Schnee. Zur Straße war ein Durchgang hineingeschnitten, so hoch und weit, dass ein vollbeladener Heuwagen hindurchpasste. Elli kannte das Wispern der Hecke, sie war damit aufgewachsen. Solange sie denken konnte, lebte sie mit der Mutter in dem winzigen Häuschen, das einst als Backes gedient hatte, bevor der Bauer Janssen neben dem Wohnhaus ein größeres, moderneres Backhaus errichten ließ.

Sie zog das Schultertuch enger, lehnte sich ein wenig in die empfindlich kühle Nacht hinaus, lauschte. Nein, die Mutter ließ noch auf sich warten.

Eben wollte sie die obere Klappe der Klöntür schließen, als sie es hörte. Ein Geräusch, das das Wispern der Hecke übertönte. Das nicht zur Stille des Hofes passte, zur nächtlichen Stunde. Schritte. Auf der anderen Seite der Hecke lief jemand.

Einen Moment lang hoffte sie, die Mutter käme endlich heim. Aber der Schritt der Mutter war leicht, selbst wenn sie vollkommen erschöpft war. Dieser Schritt indessen war schwer, es war der Schritt eines großen, müden Mannes.

Ein werdender Vater, dessen Frau in den Wehen lag? Wohl kaum. Die Männer, die die Mutter ans Bett einer Gebärenden holten, liefen schneller.

Oder war es vielleicht einer der Westwallarbeiter? Ein gutes Dutzend schlief im Nachbarort im eigens dafür leer geräumten Dorfsaal. Aber was sollten sie hier zu suchen haben, noch dazu mitten in der Nacht?

Und was hatte Schwester Gertrud gemeint, als sie sagte, man würde sie womöglich ergreifen? War jemand hinter ihr her? Oder hinter dem mysteriösen Päckchen?

Elli merkte, wie die bange Angst, mit der sie erwacht war, wieder aufflackerte. Sie löschte das Licht und machte sich daran, die Tür fest von innen zu verrammeln.

Da erklang ein Keuchen, so gespenstisch, dass es unmöglich von einem Menschen stammen konnte. Im gleichen Moment gaben die Wolken den Mond frei, und in seinem silbrigen Schein erblickte Elli ein Wesen, das sich mitten über den Hof Richtung Eingang schleppte. Es war der Hund. Das Atmen fiel ihm sichtlich schwer, die Beine hatte er so sehr eingeknickt, dass er beinahe mit den Knien über den Boden schrammte. Doch seine graue Schnauze hielt er so hoch, wie es eben ging, als erschnuppere er einen köstlichen Duft. Und sein Schwanz, nahezu kahl, ragte senkrecht in die Höhe und wedelte wie irre.

Die Schritte jenseits der Hecke waren verstummt. In der Hofdurchfahrt stand ein Mann, groß gewachsen, die Haare soldatisch kurz geschnitten. Er trug die Uniform eines Militärs, über der Schulter einen Rucksack.

»Räuber!«, rief der Mann. Da rannte der Hund, so gut es seine krummen Beine zuließen, die letzten Meter. Der Mann aber fiel auf die Knie, streichelte das zottelige Tier und rief immer wieder seinen Namen.

»Räuber, alter Kumpel, dass es dich noch gibt!«

Im großen Wohnhaus ging ein Licht an. In der offenen Tür sah Elli den Bauern Janssen stehen, eine derbe Jacke über den Schlafanzug geworfen.

»Vater.« Der Mann erhob sich, ging schnellen Schrittes über den Hof und reichte dem Bauern die Hand, den keuchenden Hund im Schlepptau. »Es tut gut, endlich nach Hause zu kommen.«

»Mmh«, grummelte Janssen, »untersteh dich, Hans, und bring den Köter mit rein.«

Mit einem Blick auf den Hund verzog Janssen das Gesicht zu einer angeekelten Grimasse, doch obwohl der ganze weite Hof zwischen ihnen lag, konnte Elli genau erkennen, wie die Augen des Bauern, den sie nur grob und unwirsch kannte, vor Freude funkelten.

Elli blieb der Mund offen stehen. Wann, um Himmels willen, war aus Hans Janssen ein erwachsener Mann geworden?

Erst spät schlief sie ein.

Als der Morgen dämmerte, stand sie auf, gab das restliche Wasser aus dem Krug in eine große Emailleschüssel, wusch sich und steckte sich vor dem kleinen Spiegel, der mit dem schlichten Holzkreuz und dem Abreißkalender den einzigen Wandschmuck darstellte, die Haare hoch. Sie brauchte nicht weniger als vierzehn Nadeln, um das dichte hellblonde Haar zu bändigen. Dann stocherte sie das Feuer an und fütterte als Erstes die Tiere, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter ihr Eigen nannte. Die Hühner saßen noch auf ihrer Stange im Dach des kleinen Stalles direkt neben dem alten Backes und blinkerten mit den Augen. Zu ihren Füßen döste die Sau. Elli streute ein paar Körner und Kartoffelschalen vom Vortag aus, kehrte den Mist vor die Tür und holte frisches Wasser vom Brunnen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, was wohl im großen Haus vor sich gehen mochte. Doch dort schien alles wie an jedem anderen Tag. Lina, die Magd, schüttelte die Federbetten aus, Alfred, der Knecht, schirrte das Pferd an, und im großen Stall muhten die Kühe, während sie das erste Mal gemolken wurden. Elli sah den Bauern und seine Frau ihrem Tagwerk nachgehen, auch den ältesten Sohn Erwin, der noch auf dem Hof lebte und ihn eines Tages übernehmen sollte. Nur von Hans war nichts zu entdecken. Hatte sie die nächtliche Szene womöglich nur geträumt?

Sie brannte darauf, mit der Mutter zu sprechen, doch die kam erst gegen Mittag nach Hause, sichtlich erschöpft, das Haar, hellblond wie Ellis, halb gelöst.

Da hatte Elli zum Glück schon eine Handvoll Kartoffeln aus der Erdmiete ausgegraben und sie über dem offenen Feuer gekocht. Jetzt nahm sie geschwind den Topf vom Hoal, dem Haken über der Feuerstelle, dessen Längsseite aussah wie ein Sägeblatt: Hängte man den Kessel tief in einen der unteren Zacken, hing er direkt über dem Feuer, hängte man ihn weiter oben auf, blieb die Mahlzeit warm, ohne zu verbrennen. Die Kartoffeln dampften noch, als Elli sie aus dem Kessel in eine flache Schüssel kippte, sie auf dem einfachen Holztisch platzierte und das Töpfchen mit dem Gänsefett dazustellte.

»Danke dir, mein Kind.«

Alma gab einen kleinen Löffel Fett über die Kartoffeln, sie sprachen ein kurzes Gebet und fingen sogleich an zu essen – eine jede mit ihrer Gabel direkt aus der Schüssel, wie es überall in den Küchen der einfachen Leute Brauch war.

Wie müde die Mutter aussah! Elli musterte sie verstohlen, ihr schmales Gesicht, das Schlüsselbein, das sich spitz unter ihrem Kleid abzeichnete, die rissigen Hände. Hunderte Kinder hatten diese Hände auf die Welt geholt. Sie hatten werdende Mütter und Wöchnerinnen behütet und gepflegt, in den elendsten Katen ebenso wie in den herrschaftlichen Häusern der Monschauer Tuchhändler. So manches Mal aber hatten sie auch die Lider einer Frau schließen müssen, die unter der Geburt gestorben war. Elli wusste immer gleich, wenn sie Alma erblickte, wie es diesmal gegangen war. Und auch wenn die durchwachte Nacht an diesem Mittag tiefe Schatten in Almas Antlitz gezeichnet hatte, so entdeckte Elli doch in ihren Augen den vertrauten Glanz.

»Wie war es?«, fragte sie leise, nachdem sie ihr einfaches Mahl beendet hatten.

»Ein strammer Junge von gut acht Pfund. Eine schwere Geburt, aber er ist kerngesund. Und auch die Kindbetterin wird sich, so Gott will, erholen. Ich schaue später noch einmal nach ihr. Aber was höre ich: Hans ist zurück?«

»Du weißt es schon?«, staunte Elli.

»Ich traf Lina, sie war auf dem Weg nach Monschau. Der alte Janssen hat sie wohl angewiesen, den Schneider zu holen, damit er Hans einen neuen Anzug anpasst.«

»Wo er sonst so knauserig ist.« Elli konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Aber Hans war immer der Liebling des Alten.«

»Und Lina sagt, er sei ordentlich gewachsen, ein sehr ansehnlicher junger Mann sei er geworden! Habt ihr euch schon gesehen?«

»Ja, nein, das heißt, nicht wirklich.« Elli senkte den Kopf und begann, den Tisch abzuräumen. Sie fühlte eine heiße Röte ihren Hals hinaufkriechen, während ihre Gedanken zurückwanderten in die vergangene Nacht. Es war ja beinahe stockdunkel gewesen. Aber wahrscheinlich stimmte, was die Magd der Mutter berichtet hatte. Aus Hans war ein ansehnlicher junger Mann geworden.

Plötzlich hatte sie gar keine Lust mehr, über ihn zu reden.

»Er war immer so reizend zur dir, als ihr noch Kinder wart«, fuhr die Mutter fort. »Er war ja ein bisschen älter und fast wie ein großer Bruder für dich. Er hat dir das Angeln beigebracht, und im Winter hat er dich mit dem Schlitten zur Schule gezogen. Und weißt du noch? Als dich einmal ein paar der Dorfkinder verfolgt und böse Sachen gerufen haben, da hat er sich so groß gemacht, wie es ging, und sie mit einem dicken Knüppel in die Flucht geschlagen.«

Elli nickte. Sie erinnerte sich genau. Aber sie erinnerte sich auch daran, dass Hans lange Zeit zu klein für sein Alter gewesen war, dass er stark gestottert hatte und dass sein Gesicht voller roter, eitrig entzündeter Pickel gewesen war, selbst dann noch, als die anderen Jungen anfingen, sich dünne Schnauzbärte stehen zu lassen. Auch Hans war damals nicht gefeit gewesen vor Hohn und Spott. Sogar seine älteren Geschwister beteiligten sich daran, sobald der alte Bauer einmal nicht hinsah.

Hans war eines der Kinder gewesen, die nicht dazugehörten.

So wie sie.

»Und stell dir vor«, sagte die Mutter jetzt, »Lina hat mir erzählt, er stottert auch gar nicht mehr.« Sie erhob sich, trat zu ihr an den Spülstein. »Ach, Elli, ihr beide habt euch immer so gut verstanden! Sag mir nicht, du brennst nicht darauf, ihn zu begrüßen!«

Elli biss sich auf die Unterlippe. Bis gerade eben hatte sie tatsächlich darauf gebrannt, Hans wiederzusehen.

Jetzt nicht mehr.

Ein sehr ansehnlicher junger Mann, der in den drei Jahren, die er fort war, einen ganzen Kopf gewachsen war, der kein bisschen mehr stotterte und der ganz bestimmt auch nicht mehr von Pickeln entstellt war. So einer würde mit einer wie ihr ganz bestimmt nichts mehr zu tun haben wollen.

Unwillkürlich verschränkte sie das rechte Bein hinter dem linken.

Die Mutter betrachtete sie prüfend. Elli spürte, sie las ihre Gedanken, wie so oft.

»Was damals nicht wichtig war«, sagte Alma leise, »wird auch heute nicht wichtig sein. Ich kenne doch unseren Hans!«

Doch Elli schüttelte nur den Kopf. Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

»Wie du meinst.« Die Mutter berührte sie leicht am Arm. »Da ist noch etwas. Als ich mit Lina zusammenstand, kam der Postomnibus vorbei. Der Fahrer gab mir den hier für dich mit.«

Alma griff nach ihrer Hebammentasche, die aus echtem Leder war und ihr kostbarster Besitz. Zwischen dem Hörrohr, Mulltüchern und Tiegeln mit Salben steckte ein Briefumschlag. Er war aus ganz feinem Papier, und Elli erkannte die Schrift darauf sofort, es war die von Margot. Seit Monaten hatten die Schiffmanns sich nicht mehr in der Eifel blicken lassen. Stattdessen kamen ab und an Briefe. Anfangs war es je einer für Elli und für Käthe, doch seit Käthe diese Briefe nicht mehr beantwortete, kamen nur noch welche für Elli. Die Zeiten seien schwierig, vermerkte Margot jedes Mal recht knapp, der Vater könne das Geschäft nicht allein lassen, um dann sehr ausführlich von einem jungen Mann namens Rudolph zu berichten. Elli wusste mittlerweile, dass dieser Rudolph einst als Lehrling im Herrenausstattungsladen von Margots Vater angefangen und sich zu dessen rechter Hand hochgearbeitet hatte, dass er sehr fleißig war und vorzügliche Manieren besaß, dass sein Haar samten schimmerte und dass er Margot schon zweimal ausgeführt hatte.

Tatsächlich überflog Elli diese Zeilen zumeist, mit solcherlei Liebesdingen wollte sie nichts zu tun haben. Worauf sie stattdessen achtete, war der Ton, in dem Margot ihre Briefe verfasste. Denn zwischen all der Schwärmerei blitzte in letzter Zeit eine leise Wehmut auf. Als trauere die Freundin einer Sache hinterher, von der Elli nichts wusste. Außerdem achtete Elli darauf, wie Margot ihre Briefe beendete. Ob sie herzliche Grüße an Käthe ausrichtete, womit sie allerdings schon vor einer ganzen Weile aufgehört hatte.

Was wiederum daran liegen konnte, dass Käthe auch diese Grüße nie erwidert hatte.

Elli wischte sich die Hände an der Kittelschürze ab, griff zum Küchenmesser, schlitzte den Brief der Länge nach auf und begann zu lesen.

Liebste Elli, schrieb Margot. Was ich sehnlichst erhofft habe, ist Wirklichkeit geworden. Rudolph hat um meine Hand angehalten! Mama und Paps sind ganz aus dem Häuschen, und sie haben beschlossen, dass wir die Verlobung überspringen und direkt heiraten, wegen der schweren Zeit. Und so habe ich das große Vergnügen, Dich zu meiner kleinen Hochzeitsfeier einzuladen, am kommenden Samstag, den 29. Oktober, ab zwei Uhr am Nachmittag bei uns im Ferienhaus. Wir sind dann schon getraut, im ganz engen Kreis. Aber danach fahren wir extra zu Euch hinaus, weil wir dort, wie Mama sagt, so glücklich waren wie nirgendwo sonst. Und es ist ganz bestimmt das letzte Mal vor dem Winter, dass wir dort sein werden. Kommst Du? Bitte, Elli, komm! 1000 glückliche Küsse, Deine Margot

Elli las den Brief gleich noch einmal, dann reichte sie ihn weiter an die Mutter. Margot würde heiraten, wie sie es sich immer erträumt hatte. Und doch.

»Eine kleine Feier?«, fragte die Mutter und gab ihr den Brief zurück. »Im Ferienhaus? Hat Margot nicht immer von einem rauschenden Fest geträumt?«

Elli nickte. Etwas stimmte nicht.

»Und Käthe?«, fragte die Mutter weiter. »Ist sie etwa nicht eingeladen?«

Elli wog den Kopf. »Das kommt mir alles nicht richtig vor«, flüsterte sie.

Die Mutter schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber dann doch, richtete ihre Frisur und griff nach ihrem Umhang.

»Ich muss nach meiner Wöchnerin sehen, bis später.«

Schon war sie zur Tür hinaus.

Elli blieb mitten in dem niedrigen Raum stehen, tief in Gedanken versunken.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Das Päckchen, das Schwester Gertrud vorbeigebracht hatte, und das sie mehr schlecht als recht unter der Matratze versteckt hatte, war ihr vollkommen entfallen.

2. Kapitel

Samstag, 29. Oktober 1938

Oje, oje, wenn das nur nicht schiefging!

Elli stand über den Tisch gebeugt, in der einen Hand das schwere Bügeleisen, mit der anderen zupfte sie an dem Kleid, das sie auf einem dicken Baumwolltuch ausgebreitet hatte. Das Bügeleisen war glühend heiß, dafür sorgten die winzigen Kohlestückchen, die sie aus der Glut des Herdfeuers geholt und in seinen Bauch gefüllt hatte. Auf diese Weise bügelte sie immer, egal, ob es nun ihr Kleid war oder das der Mutter oder ihre Kittelschürzen, allesamt aus dicht gewebtem Leinen. Dieses Kleid jedoch war aus blau schimmernder Krawattenseide, und es war auch nicht ihres. Was, wenn das Bügeleisen den feinen Stoff versengte? Elli merkte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Vorsichtig breitete sie ein weiteres dickes Tuch – es war eine Baumwollwindel, wie die Mutter sie immer griffbereit hatte – über den Saum des Kleides, setzte das Bügeleisen ganz kurz darauf. Es zischte, aber es funktionierte: Das Kleid wurde herrlich glatt, ohne anzusengen.

Elli biss sich auf die Unterlippe, verschob die Windel ein Stückchen, plättete das nächste Stückchen Saum. Ja, so könnte es klappen.

Wenig später stand sie mitten im Raum, drehte sich, betastete vorsichtig den Stoff. Nie zuvor hatte sie solch ein elegantes Kleid getragen. Es besaß einen kleinen runden Kragen, war hinten am Rücken geknöpft und etwas mehr als knielang. Allerdings war es ihr ein ganzes Stück zu weit, es schlackerte an den Hüften. Aber wie hübsch der Rock um ihre Beine schwang! Da machte es fast gar nichts, dass sie keine passenden Schuhe dazu hatte, nur die, die sie immer trug, aus derbem Leder, knöchelhoch und mit einem erhöhten Absatz rechts.

Die Wöchnerin, die die Mutter gerade entbunden hatte, eine reiche Monschauer Tuchmachertochter, hatte das Kleid für diesen einen Tag verliehen, und Elli hegte den leisen Verdacht, dass sie damit den Lohn der Mutter drücken wollte. Das ist mal wieder typisch, dachte Elli und merkte, wie dieser Gedanke ihr die Freude an dem hübschen Kleid ein wenig vergällte. Die Armen geben ihr letztes Hemd, und die Reichen zieren sich, unsereins auch nur anständig zu entlohnen.

Aber in ihrer Alltagskleidung auf Margots Hochzeit zu erscheinen, nein, das wäre nicht gegangen. Jetzt musste sie nur höllisch aufpassen, dass nichts an dieses Kleid kam.

Wenn Elli an den bevorstehenden Nachmittag dachte, fühlte sie ein Ziehen in ihrer Brust. Wie sehr sie sich darauf freute, Margot wiederzusehen! Zugleich waren ihr die Umstände dieser Hochzeit nicht ganz geheuer. Und dann war da noch die Sache mit Käthe.

Von der nahen Kirchturmuhr schlug es eins. Gestern hatte sie vergeblich bei Käthe vorbeigeschaut, mit ein bisschen Glück war sie nun zu Hause. Elli legte sich das warme Schultertuch um, nahm das sorgfältig eingewickelte Geschenk an sich, öffnete den oberen Teil der Tür und lugte hinaus.

Auf der Bank vor dem Backes lag die Katze und döste in der Mittagssonne, ansonsten schien der Hof öd und leer. Nur der Hund kauerte vor seinem Verschlag, die krummen Beine unter sich geklappt, die blinden Augen geschlossen. Samstags um diese Zeit war der Bauer längst in der Schenke. Doch drüben, im Haupthaus, erhob man sich wahrscheinlich gerade vom gemeinsamen Mittagsmahl. Noch aber war niemand zu sehen.

Elli hatte in den vergangenen beiden Tagen immer wieder Ausschau nach Hans gehalten, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte. Einmal hatte sie ihn tatsächlich über den Hof hasten sehen, den Kopf gesenkt, anscheinend tief in Gedanken versunken. Dem Backes hatte er keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt.

Dann halt nicht, hatte Elli gedacht und den oberen Teil der Klöntür sachte von innen geschlossen.

Jetzt drückte sie das Geschenk für Margot ein bisschen fester an ihr Herz und machte, dass sie loskam.

Ein empfindlich kalter Wind fuhr ihr an die Beine, als sie den Hof überquert hatte und aus dem Schutz der Buchenhecke trat. Für einen Tag Ende Oktober war das Kleid nicht gemacht. Aber egal, es würde schon gehen.

Der Hohlweg aus dem Dorf hinaus führte geradewegs zum Ferienhaus der Schiffmanns, Elli aber lief mitten ins Dorf hinein. Ein paar Hühner stolzierten gackernd neben ihr her, die Luft war erfüllt vom Duft der Holzfeuer in den niedrigen Katen aus einfachem Fachwerk. Sie schmiegten sich links und rechts des Weges in die Hänge der hinter ihnen aufragenden Berge, zu ihren Füßen, parallel zur einzigen Straße, plätscherte die Rur. Bald schon würde die Zeit anbrechen, in der kein Sonnenstrahl das Dorf in der Senke mehr erreichte. Doch was den Bewohnern im Winter zwei dunkle Monate bescherte, schenkte ihnen zugleich ein weitaus milderes Klima als den Dörfern auf den Bergrücken, über die tagein, tagaus ein strenger Wind strich. Auf diese Weise war es im Sommer deutlich milder als anderswo in der Eifel, und in den Obst- und Gemüsegärten, von denen selbst das armseligste Häuschen einen besaß, wuchsen Äpfel, Birnen, Wirsing, Grünkohl, Bohnen und sogar Tomaten.

Vor dem Wohnhaus der Familie Werner saß deren einzige Tochter Therese, wie immer eine kalte Pfeife zwischen den Lippen. Elli trat zu ihr und legte ihr die Decke, die zu Boden gefallen war, um die Beine. Die junge Frau galt als wunderlich und merkte nicht, wenn sie sich verkühlte.

Therese zog schmatzend an ihrer Pfeife, dann bückte sie sich blitzschnell, griff nach etwas, das zu ihren Füßen lag, und drückte es Elli in die Hand. Es war eine Kastanie, schon ganz verschrumpelt und ein wenig schwarz.

»Danke, meine Liebe!« Elli steckte die Kastanie in die kleine Tasche des geliehenen Kleides, zog die Decke noch einmal fest, lief weiter.

In der Schmiede wurde gearbeitet, der Lehrling hielt einen Ochsen am kurzen Strick, während Johann, der Schmied, ihm ein neues Kuheisen anpasste. Beide trugen lange lederne Schürzen, ihr schwerer Atem stand wie eine Wolke in der eiskalten Luft. Zum Duft der Holzfeuer gesellte sich der Geruch von verbranntem Horn. Vor dem Kloster direkt neben der Kirche parkte ein dunkler Wagen mit Aachener Kennzeichen, und in der Wirtschaft gleich gegenüber waren die Fenster schon jetzt beschlagen vom Dunst der Gäste. Elli hörte Gläserklirren und dröhnendes Männerlachen und mühte sich, so schnell es ging, voranzukommen. An diesem Ort war ihr schon manch unflätiger Spruch hinterhergerufen worden.

Trotz allem, sie liebte das kleine Dorf, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Vor allem die mächtige Linde, die ihr Blätterdach weit über den Kirchplatz und die angrenzenden Häuser spannte. Man sagte ihr nach, sie beschütze den Ort seit beinahe zweihundert Jahren.

Erst ganz am Ende des Dorfes blieb Elli stehen. Die Buchenhecke, die dieses kleine Gehöft umgrenzte, war lange nicht geschnitten worden, sie wucherte wild bis an die Straße. Der Hof selbst war von Unrat übersät, das Häuschen dahinter duckte sich unter seinem schadhaften Dach. Das Greinen eines Kindes war zu hören, das Klappern von Töpfen, das Summen einer Frau, die sich mühte, das Kind zu beruhigen.

Elli klopfte nicht an, das tat sie hier selten, sie ging schnurstracks in das Häuschen hinein und nahm Käthe das Kind ab, das sie in ihrem rechten Arm hielt, während sie mit links einen Kessel auf dem heißen Herd balancierte.

»Dich schickt der Himmel!«, rief Käthe. »Ich hab’s gleich, die Milch muss nur noch ein bisschen abkühlen –«

»Schon gut, ich halte ihn solange.« Elli ließ sich auf einem Stuhl nieder, legte das Kind in ihren Schoß und steckte ihm den kleinen Finger in den Mund. Augenblicklich hörte es auf zu schreien und begann, daran zu nuckeln. Wie niedlich der Kleine aussah! Die Ähnlichkeit mit Käthes Schwester war unübersehbar, und wenn man genau hinschaute, erkannte man auf seiner linken Wange das Grübchen, das auch der Kindsvater hatte. Nur dass der steif und fest behauptete, mit dem Bankert nichts zu tun zu haben.

»Hast du etwas von Erna gehört?«, fragte Elli.

»Nein, nichts.« Käthe nahm ihr gegenüber Platz und begann, den Kleinen zu füttern. »Ich hoffe, sie hat in Aachen einen Dienstherrn gefunden, der es gut mit ihr meint. Und dass sie eines Tages nach Hause kommt. Was sollen wir dem Stöpsel bloß sagen, wenn er älter wird und nach seiner Mutter fragt?«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, versuchte Elli die Freundin zu beruhigen. Sie kannte einige Schicksale wie das des Säuglings in ihren Armen. Von den Vätern nicht anerkannt, von den Müttern verlassen. Die meisten landeten in kirchlichen Heimen. Kaum eins hatte eine so tüchtige Tante, wie Käthe es war. Die, das wusste Elli genau, mit ihrem kargen Fabriklohn den Vater und die Geschwister mehr schlecht als recht über Wasser hielt.

»Mensch, Elli!«, unterbrach Käthe ihre Gedanken. »Was ist das für ein hübsches Kleid, dass du da anhast! Sag nicht, du triffst dich mit einem Verehrer!«

»Nein, nein«, wehrte Elli ab und merkte, wie sie rot wurde. Kein einziger Junge hatte sie jemals angeguckt. »Ich bin eingeladen, auf eine Hochzeit –«

»Eine Hochzeit! Warum weiß ich nichts davon?« Käthe sprang auf und begann, sich in den Hüften zu wiegen. »Da wird bestimmt getanzt! Da komme ich mit!«

»Genau deshalb bin ich hier.« Elli rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Um dich mitzunehmen. Es ist Margot, die heiratet. Sie freut sich bestimmt, dich zu sehen!«

Käthe hörte auf, sich zu wiegen. Setzte sich wieder hin, fütterte weiter das Kind.

»Margot«, sagte sie. »Nein, da komme ich nicht mit.«

»Aber, Käthe!«, flehte Elli. »Es ist ihre Hochzeit! Du weißt, wie lange sie davon geträumt hat! Und nun gibt es nicht einmal eine große Feier, sie halten es hier im Ferienhaus ab, im ganz kleinen Kreis –«

»Moment!« Käthe sah auf. »Sie sind hier? Und diese Feier findet heute statt?«

»Jetzt gleich«, flüsterte Elli. Käthe hatte einen ganz komischen Gesichtsausdruck bekommen. »Wie gesagt, ich wollte dich abholen.«

»Du gehst nicht hin, auf gar keinen Fall!«

»Was redest du da? Selbstverständlich gehe ich hin! Und auch du könntest über deinen Schatten springen und –«

»Elli!« Käthe hatte ihren Arm ergriffen. »Geh nicht hin! Versprich mir das!«

»Du hast sie doch nicht mehr alle!« Jetzt war es Elli, die aufsprang, das Kind an sich gedrückt. »Wir drei sind beste Freundinnen, seit Kindertagen! Und auch wenn deine, deine«, sie suchte nach Worten, »deine politische Meinung nun mal so ist, wie sie ist, dann muss das an einem Tag wie heute einfach mal hintenanstehen!«

»Darum geht es doch gar nicht!«, brüllte Käthe. Sie schien Elli plötzlich furchtbar wütend zu sein. »Ich verbiete dir, da hinzugehen, hörst du? Ich verbiete es dir!«

»Du hast sie wirklich nicht mehr alle.« Elli reichte der Freundin den Säugling. Satt und zufrieden sah er aus, ganz so, als kümmere ihn das Geschrei kein bisschen. »Ich gehe jetzt los. Und wenn du dich beruhigt hast, kommst du nach. So kann das ja nicht weitergehen.«

Sie bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen, doch sie zitterte von Kopf bis Fuß.

Sie zitterte immer noch, als sie wieder am Gasthaus vorbeikam. Noch lauter ging es da mittlerweile zu, und durch die beschlagenen Fenster meinte sie, Käthes Vater und ihre beiden älteren Brüder zu erkennen. Elli hatte sich schon oft gefragt, ob Käthes unversöhnliche Haltung mit dem Geist zusammenhing, der seit einiger Zeit in ihrer Familie herrschte. Aber das war doch kein Grund, sie so anzuschreien!

Sie schüttelte sich, ging weiter. Heute durfte all das keine Rolle spielen. Himmel, es war Margots Hochzeitstag!

Aber dass Käthe nachkommen würde, daran glaubte sie keine Minute.