Sturms Jagd - Michael Quandt - E-Book

Sturms Jagd E-Book

Michael Quandt

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Beschreibung

Der erste Fall für die Kölner Kommissarin Mara Sturm!

Mara Sturm ist Kriminalkommissarin aus Überzeugung, aber sie steckt in der Krise: Ihr Vorgesetzter teilt der rebellischen Ermittlerin einen überkorrekten Partner zu, privat liegt sie im Streit mit ihrem Bruder, einer bekannten Halbwelt-Größe. Da verschwindet in Köln eine junge Frau. Eine erste Spur führt Mara zu einem groß angelegten Coup der Russenmafia. Vom Chef im Stich gelassen und mit einem Partner, dem sie nicht traut, ermittelt Mara Sturm allein – und gerät als Geisel in die Fänge ihrer Gegner. Sturms Jagd ist der härteste Einsatz ihres Lebens …

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Seitenzahl: 562

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Ähnliche


Michael Quandt

Sturms Jagd

Roman

Originalausgabe

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

1. Auflage

Copyright © 2011 by Blanvalet Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Umschlaggestaltung: © Artwork HildenDesign, München

Redaktion: Peter Thannisch

Lektorat: Holger Kappel

Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-05562-2

www.blanvalet.de

Buch

Die Kölner Oberkommissarin Mara Sturm will nur einer Freundin einen Gefallen tun, als sie das Verschwinden einer jungen Frau etwas genauer untersucht. Mara findet heraus, dass es sich tatsächlich um eine Entführung handelt. Doch die Spur führt zu einem noch weit größeren Verbrechen. Dabei weiß Mara noch nicht, dass ihr die Täter weit näher sind, als sie jemals geahnt hätte.

Autor

Michael Quandt ist im Hauptberuf Kriminalbeamter. Dadurch kennt er den Polizeialltag in all seinen Facetten, und das wiederum merkt man beim Lesen seiner Geschichten. Michael Quandt wohnt in der Nähe von Köln.

Kapitel 1

Zeit bis zum Beginn der Operation Schneesturm:81:10:34

Das Viertel war genauso schmutzig wie verrufen, und es war ihr bereits auf den ersten Blick anzusehen, dass sie nicht hierhergehörte. Trotzdem schien sie sich auszukennen, in der Gegend gleich hinter dem Güterbahnhof, denn jedes Mal, wenn sie an eine Kreuzung kam, wusste sie ohne zu überlegen, wohin sie ihre Schritte lenken musste.

Die Luft war schwül und stickig. Unwillkürlich wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn. Was für ein Sommer! Selbst noch zu so später Stunde, kurz vor halb elf Uhr abends, wollte das Quecksilber einfach nicht unter 25 Grad fallen. Nicht die leiseste Brise bewegte den verbrauchten, abgasgeschwängerten Atem der Stadt. Trotz der Hitze trug sie schwere Motorradstiefel, deren Schäfte eine Handbreit unter dem Knie endeten und die ebenso wenig zur Witterung passten wie ihre schwarze Lederjacke, auch wenn deren Reißverschluss geöffnet war. Unter der Jacke kam ein schlichtes weißes T-Shirt zum Vorschein.

Die Sohlen ihres schweren Schuhwerks stampften über den Bordstein, chromsilberne Schnallen blitzten im Neonlicht. Sie hatte glattes Haar, das ihr fast bis zur Hüfte reichte. Das sah aufregend aus, wenn sie es offen trug, doch an diesem Tag hatte sie es zu einem Zopf geflochten.

Jemand pfiff ihr hinterher, ein Betrunkener rief ihr einen anzüglichen Kommentar zu. Die halb nackten Prostituierten, die überall vor den Nachtklubs paradierten und auf Freier warteten, fauchten sie an, sie solle gefälligst Leine ziehen. Ein ausgespuckter Kaugummi landete vor ihren Stiefelspitzen, schrilles Gelächter erklang. Sie ignorierte die Herausforderung. Kläffende Tölen bissen bekanntlich nicht.

Endlich erreichte sie ihr Ziel, einen Nachtklub, der nicht weniger schäbig wirkte als alle anderen in dieser Gegend, dabei jedoch vorgab, etwas Besonderes zu sein. Äußeres Zeichen dieses vermeintlich elitären Status war eine bombastische Leuchtreklame, die vom Pflaster bis hinauf zum dritten Stock reichte. Man musste schon ein ziemliches Stück zurückgehen, um sie mit einem Blick erfassen zu können. Erst dann sah man, dass sie die Form einer Frau hatte – dargestellt im Micky-Maus-Stil –, die breitbeinig über dem Eingang stand. Ihre Beine steckten in knallroten Overknee-Stiefeln, dazu trug sie Hotpants und ein knappes Oberteil. Ihr Gesicht war das einer Katze, passend zum Namen des Etablissements: Pussycat-Bar.

Die Eingangstür zur Pussycat-Bar befand sich genau zwischen den Beinen der riesenhaften Leuchtmieze, drei Stufen über dem Niveau der Straße. Zwei Türsteher, beide über ein Meter neunzig groß, ließen nicht jeden hinein, wobei ihre Wahl allerdings nicht besonders streng ausfiel. Bei ihnen befand sich ein dritter Mann, vermutlich ein gelangweilter Stammgast, der ununterbrochen redete. Auch in Sonnenstudios, Videotheken und an Tankstellen, die belegte Brötchen und Kaffee verkauften, fand man regelmäßig solche Streuner, die einfach nur herumlungerten und aus unerfindlichen Gründen nichts Besseres zu tun hatten, als das jeweilige Personal zu nerven.

Kaum hatte sie den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, als über ihr die Konturen der Türsteher auftauchten, die sich gegen das Neonrot der Leuchtreklame abzeichneten. Die Kerle trugen schwarze Sakkos mit hochgeschobenen Ärmeln, darunter T-Shirts. Einer war mit einem halben Dutzend Goldketten behängt, auffallendstes Merkmal seines Kollegen war ein kantiger Schädel mit blank polierter Glatze. Wären die Typen nicht so breit gewesen, hätte man unweigerlich über sie lachen müssen, denn sie sahen aus wie Karikaturen, die jedes gängige Klischee bedienten, das es von Türstehern gab.

»Kein Zutritt!«, schnarrte der Glatzkopf. Er stellte sich ihr in den Weg. Im Hintergrund kicherte der Streuner.

Sie warf den Kopf in den Nacken, um eine vorwitzige Haarsträhne in die Schranken zu weisen, die sich aus dem Zopf befreit hatte und ihr ins Gesicht gefallen war. Die künstliche Beleuchtung machte es schwierig, die Farbe ihres Schopfes zu erkennen. Vielleicht lag sie irgendwo zwischen dunkelbraun und kastanienrot.

»Ich möchte mit Jo sprechen«, sagte sie.

Die Türsteher setzten ein außerordentlich törichtes Grinsen auf. Ihr Anblick schien sie endlos zu amüsieren.

»Ich möchte mit Jo sprechen«, äffte der Glatzkopf.

»Ist dir nicht zu warm in der Lederkutte und den Stiefeln?«, erkundigte sich der Typ mit den Goldketten. »Bist wohl so ’ne Art Biker-Braut, was?« Er stellte sich auf die Zehenspitzen und beschattete die Augen mit der flachen Hand, so als spähe er angestrengt in die Ferne. »Na, wo ist er denn, dein Feuerstuhl? Ist das Küken vom Bock gefallen?« Er starrte sie mit unverhohlenem Spott an.

Von Küken konnte derweil keine Rede sein, denn dieses Alter lag längst hinter ihr, das sah man deutlich. Sie war eine ausnehmend attraktive Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Der einzige Fehler in ihrem Gesicht, zumindest auf den zweiten Blick, war die Nase, die etwas zu klein wirkte. Doch war es vielleicht gerade dieser Makel, der ihre Erscheinung so anziehend und natürlich machte.

Im Übrigen war sie tatsächlich mit dem Motorrad gekommen, was ihre ungewöhnliche Kluft erklärte. Doch anders als der Türsteher geäußert hatte, war sie nicht vom Bock gefallen, sondern hatte die Maschine bewusst ein paar Straßen weiter abgestellt, gleich gegenüber dem dortigen Taxistand. Das war eine wohl überlegte Vorsichtsmaßnahme, denn dadurch entzog sie das Motorrad den Blicken des hiesigen Publikums, dem es höchstwahrscheinlich ein Vergnügen gewesen wäre, die Reifen des sichtbar teuren Gefährts zu zerstechen, sobald es unbeaufsichtigt war. Oder das Polster des Sitzes aufzuschlitzen. Oder in ihren Helm zu urinieren, der mit einer Kette an den Radspeichen befestigt war. All das hatte sie schon erlebt, und das feindselige Verhalten der Prostituierten war eine erneute Mahnung gewesen, stets vorsichtig zu sein.

Bei dem Motorrad handelte es sich im Übrigen um eine Suzuki MAB-Hayabusa Turbo. Was sich tatsächlich hinter dieser zunächst unspektakulären Typenbezeichnung verbarg, konnte man vielleicht erahnen, wenn man die wörtliche Übersetzung des japanischen Wortes Hayabusa kannte, denn dann wusste man, dass ein Wanderfalke als Namensgeber für das Motorrad Pate gestanden hatte. Dieser galt als schnellstes Tier der Welt, und die MAB-Hayabusa Turbo war der Wanderfalke unter den Motorrädern. Punktum.

Sie war ohne ihren Willen zu diesem ungewöhnlichen Gefährt gekommen, denn es war ein Geschenk ihres Bruders. Irgendwann hatte sie beiläufig geäußert, mit ihrer BMW nicht gut zurechtzukommen, da sie viel zu schwer sei und bereits das Aufbocken eine Menge Kraft erfordere. Also hatte ihr Bruder die Misere beendet und ihr ein handlicheres Motorrad geschenkt. Und was für eins! Erst wollte sie »die Höllenmaschine«, so ihr O-Ton, gar nicht annehmen, doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Gewöhnt? Sie liebte ihren heißen Ofen!

»Richtet Jo bitte aus, dass Mara mit ihm sprechen möchte«, sagte sie beherrscht. Das Gespött der Türsteher prallte von ihr ab.

Aus Grinsen wurde Gelächter. »Jo will aber nicht mit dir sprechen, Täubchen!«, prustete der Glatzkopf. In Gedanken hatte sie ihn längst Meister Proper getauft. »Er ist ein viel beschäftigter Mann. Du verschwindest jetzt besser.«

Sie rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen zog sie eine Braue hoch, was spöttisch wirkte. Ihre Augenbrauen waren hauchdünn, dafür jedoch eindrucksvoll geschwungen. Wer sie näher kannte, wusste, dass dieses Hochziehen der Braue entweder ein Ausdruck von Belustigung war oder ein Warnsignal.

»Buh!«, machte Meister Proper und stampfte mit dem linken Fuß auf, dass es krachte. Dabei spannten sich seine gewaltigen Muskeln, so als wolle er sich augenblicklich auf sie stürzen, wie ein Bulle, der mit gesenkten Hörnern auf einen Torero losgeht. Das wirkte, denn sie wich hastig zurück, wobei sie fast gestolpert wäre.

Nun gab es kein Halten mehr, das Amüsement der breitschultrigen Männer mit dem nicht ganz so breitschultrigen IQ machte sich lautstark Luft.

»Du heißt Mara?«, fragte der Kollege des Glatzenmannes, nachdem er sich halbwegs beruhigt hatte. »Schöner Name.«

Sie nickte ernst. »Ja, ich bin Mara. Und wer seid ihr? Ich kenne euch nicht, demnach müsst ihr neu sein.« Während sie die Braue noch höher zog, hielt sie dem Goldkettenträger die Linke zum Gruß hin. Die Geste kam so überraschend, dass er ohne zu zögern nach der dargebotenen Hand griff.

»Ich bin Olli«, murmelte er, sichtlich aus dem Konzept gebracht.

Was dann passierte, war schier unglaublich.

Die Frau, Mara, drehte dem Riesen, Olli, den Rücken zu. Das tat sie in einer atemberaubend schnellen, seidenweichen Bewegung. Gleichzeitig schlang sie den rechten Arm um seine breite Hüfte, während ihre Linke an seinem Ärmel zerrte, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Da er eine Treppenstufe höher stand als sie, hing er einen Wimpernschlag später wie ein nasser Sack über ihr, doch nur für einen Sekundenbruchteil. Dann flog er.

Ein versierter Judoka hätte in dem Manöver einen O-Goshi erkannt, einen sogenannten Hüftwurf, der die ideale Technik darstellt, wenn ein kleiner Mensch gegen einen weitaus größeren antreten muss. Körperkraft spielt dabei nicht die geringste Rolle, dafür kommen andere Gesetze der Physik zum Tragen. Dass Mara mit ihren 1 Meter 71 wesentlich kleiner war als der Schrank, gereichte ihr in diesem Moment sogar zum Vorteil, da es ihr deshalb umso leichter fiel, den eigenen Körperschwerpunkt unter den des Gegners zu bugsieren. Nachdem sie den Riesen ausgehebelt hatte, brauchte sie nichts weiter zu tun, als ihn fallen zu lassen. Seine zwei Zentner, im Zusammenspiel mit der Erdanziehungskraft, sorgten für den unvermeidlichen Niedergang. Was wie das Werk einer wahrhaftigen Kung-Fu-Queen anmutete, war in Wirklichkeit kinderleicht und hätte sogar von einer Zwölfjährigen vollbracht werden können. Wichtig war, dass man wusste, wie es funktionierte, dass man Übung hatte und die Nerven behielt.

Olli schrie erbärmlich, als er auf die Betonplatten des Gehwegs klatschte. Unglücklicherweise landete er auf seinem rechten Arm, genau genommen auf dem Ellbogen, was ihm große Schmerzen bereitete.

Doch auch Mara ging zu Boden, da sie das Gleichgewicht verlor. Sie hatte den Wurf schlecht ausgeführt – unsaubere Technik, hätte ein Kampfgericht geurteilt –, was zweifellos an ihren weichen Knien lag, als ihr für die Dauer eines Wimpernschlages bewusst wurde, dass sie sich soeben mit zwei Kleiderschränken angelegt hatte, die in der Lage waren, sie in der Luft zu zerreißen, wenn sie erst wieder ihre Sinne beisammen hatten. Maras Nervosität war verständlich, aber fatal.

Gerade als sie aufstehen wollte, fühlte sie sich von hinten gepackt und mit unwiderstehlicher Wucht in die Höhe gerissen. Das musste der zweite Türsteher sein, Meister Proper. Zwei affenartig behaarte Arme umklammerten ihren Leib, und sie hatte das Gefühl, in einen Schraubstock geraten zu sein, der ihr die Luft aus den Lungen presste und die Brust zerquetschte. Sie japste und versuchte, mit der Hacke gegen das Schienbein des Riesen zu treten, doch das führte augenblicklich zu noch stärkerem Druck, weshalb sie den Widerstand aufgab.

Der Glatzkopf forderte Olli auf, sich nicht so läppisch anzustellen und endlich aufzustehen, verdammt noch mal, und die Schlampe zu durchsuchen. Die Antwort, die aus dem Rinnstein ertönte, war ein Stöhnen, gefolgt von einer obszönen Schimpfkanonade.

Inzwischen war eine Handvoll Neugieriger auf das Spektakel aufmerksam geworden und glotzte von der anderen Straßenseite herüber. Niemand machte Anstalten, sich einzumischen und die amüsante Vorführung zu stören. Weit entfernt, aus Richtung Güterbahnhof, war das Rattern einer Rangierlok zu hören.

Endlich rappelte sich Olli auf. Umständlich klopfte er sich den Staub vom Jackett, dann massierte er seinen rechten Ellbogen. »Wenn da was kaputt gegangen ist, mach ich dich fertig, du Miststück! Ich bin Boxer und brauche beide …«

»Ja, toll!«, fuhr ihn der Glatzkopf an. »Spar dir die Ansprache und durchsuch sie! Dass sie gefährlich ist, wissen wir jetzt. Vielleicht ist sie eine von Smertins Schlampen.«

Seine Stimme drang in Maras Unterbewusstsein, doch sie war kaum in der Lage, die Bedeutung der Worte zu verstehen. Ihr wurde schwarz vor Augen, der Druck, der auf ihr lastete, wurde fast unerträglich. Sie wollte den Gorilla bitten, loszulassen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte sie sogar gefleht. Fieberhaft überlegte sie, welchen Ausweg es gab, aber da war keiner. Das Einzige, was sie tun konnte, war abwarten und hoffen, nicht zu Mus zermatscht zu werden. Sie spürte eine Hand, die unter ihrer Lederjacke auf Wanderschaft ging. Die Visitation fand ein jähes Ende, als die suchenden Finger etwas zu fassen bekamen.

Gleich darauf wurde Ollis Hand wieder sichtbar – und hielt eine Pistole in die Höhe.

»Was ist das?«, entfuhr es ihm, obwohl jeder, er eingeschlossen, deutlich sehen konnte, was das war.

»Such weiter!«, wies der Glatzkopf seinen Kompagnon an. Dann zischte er Mara ins Ohr: »Was macht eine wie du mit ’ner Wumme?«

Die Pistole wurde vorsichtig zu Boden gelegt, bevor Olli die Durchsuchung fortsetzte. Diesmal förderte er ein kleines Etui zutage sowie eine ovale Plakette aus Messing, die an einer Kette hing. Die Türsteher kannten Plaketten dieser Art, sie hatten sie oft genug gesehen.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Der Glatzkopf ließ Mara los und stieß sie von sich, als hätte er sich die Finger an ihr verbrannt. Sie machte zwei ungelenke Schritte, bevor sie keuchend in die Knie ging.

Olli klappte das Etui auf. Darin befand sich ein Stück Plastik im Kreditkartenformat. »Tamara Sturm«, las er laut, gefolgt von den Worten: »Polizei-Dienstausweis.« Die Plakette war eine Kripomarke.

»Tamara Sturm?«, rief Meister Proper. »Du bist bei den Bullen?«

Von der anderen Straßenseite drang feindseliges Gemurmel herüber. Eine Prostituierte lachte gehässig. Den Türstehern war anzusehen, dass sie nicht recht wussten, wie sie sich nun verhalten sollten, doch Gott sei Dank nahm ihnen jemand die Entscheidung ab, bevor ihre Gehirne überhitzten und ernsthaften Schaden erlitten.

Die Tür der Bar wurde geöffnet, Fetzen eines harten Techno-Beats drangen auf die Straße.

»Was ist denn hier los?«, wollte jemand wissen. Er war fast noch breiter als die Türsteher und trug ebenfalls ein Sakko, allerdings eins aus rotem Samt, eine wahre Ausgeburt des Geschmacklosen. Das herrische Auftreten des Mannes ließ erkennen, dass er etwas zu sagen hatte.

»Wir haben hier eine …«, setzte der Glatzkopf zu einer Erklärung an, kam jedoch nicht dazu, den Satz zu beenden.

»Mara?«, unterbrach der Kerl im roten Sakko. »Bist du das?«

Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn sie stand in gebückter Haltung da, den Blick gesenkt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und immer noch nach Luft ringend. Ihr Zopf hatte sich geöffnet, und ihr Gesicht wurde von der nach unten hängenden Haarpracht verdeckt, deren Spitzen den Gehsteig berührten.

»Ich bin’s!«, keuchte es unter dem Haarvorhang. Sie wollte ihre Pistole aufheben, doch Olli schickte sich an, die Waffe wegzukicken.

»Lass das!«, hielt ihn der Mann im roten Sakko zurück. Sein Tonfall war schärfer als eine Rasierklinge. »Wohl übergeschnappt, wie?«

Olli hielt mitten in der Bewegung inne. »Ich dachte …«

»Heiliger Pankratius, als ob du jemals gedacht hättest! Wenn der Boss erfährt, dass ihr Hand an sie gelegt habt, macht er euch zur Minna, dass euch Hören und Sehen vergeht! Idioten!«

Die beiden Türsteher sahen plötzlich aus wie dumme Schuljungen, trotz ihrer gewaltigen Staturen. Ihre Überheblichkeit war verflogen.

Mara sammelte ihre Sachen auf, schob die Pistole ins Schulterholster, verstaute die Kripomarke und den Dienstausweis in der Jacke. Dann nahm sie ein elastisches Band aus der Gesäßtasche ihrer Bluejeans und ordnete ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. Dabei musterte sie die beiden Gorillas mit hochgezogenen Brauen.

»Du willst Jo sprechen, nehme ich an«, mutmaßte der Mann im roten Sakko.

Sie nickte. »Deshalb bin ich hier, und das habe ich King und Kong auch gesagt. Sie meinten, Jo hätte keine Zeit für mich.«

Der Rotkittel stieß einen ungehaltenen Grunzlaut aus. »Komm!«, sagte er schließlich.

Als sie die Pussycat-Bar betrat, kniff sie geblendet die Augen zusammen, da alles erfüllt war von grellen Blitzen und Stroboskop-Effekten. Der Bass der wummernden Musik fuhr ihr in den Magen. Irgendwo in diesem Ozean aus Licht und Lärm befand sich eine Bühne, auf der ein Go-Go-Girl tanzte. Es stank intensiv nach Schnaps, verschüttetem Bier und menschlichen Ausdünstungen.

Den Lärm hinter sich lassend, durchquerten sie den Raum und schlüpften durch eine Tür mit der Aufschrift: Zutritt verboten! Dahinter öffnete sich ein langer Gang, der in eine Treppe mündete, die wiederum in einen Keller hinabführte. Angenehm kühl war es dort unten, kühl und düster, denn die einzige Beleuchtung bestand in einer nackten Glühbirne, die in ihrer Fassung an einem Kabel von der Decke baumelte. Eine weitere Tür kam in Sicht, wieder mit einem Hinweisschild, das den Eintritt untersagte. Die Tür war verschlossen und wirkte ungemein solide, fast wie gepanzert. Dennoch drangen die Laute des Spektakels hindurch, das dahinter vor sich ging und von einer ganzen Horde schreiender Menschen zu stammen schien.

Der Mann holte einen Schlüssel aus der Tasche seines Sakkos und schob ihn ins Schloss.

Kriminaloberkommissarin Tamara Sturm hielt den Atem an. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde sie dem gefürchteten Johannes Strasser gegenüberstehen, dem Mann, der in Unterweltkreisen schlicht Jo genannt wurde. Sie biss sich auf die Unterlippe.

Jo würde nicht erfreut sein, sie zu sehen.

Kapitel 2

»Wie war noch gleich der Name dieser Beamtin?«

»Sie heißt Sturm. Tamara Sturm.«

Der Fragesteller sog hörbar die Luft ein. Es handelte sich um den designierten Polizeipräsidenten (PP), Herr Dr. Waldemar Bohne, während sein Gesprächspartner ein hoher Verwaltungsbeamter war, ein ekelhafter Fettwanst namens Oswald Boll, der sich ständig mit einem Taschentuch die Stirn betupfte. Boll schwitzte wie ein Schwein, und auch optisch hatte er verdächtig viel Ähnlichkeit mit dem Spanferkel, dessen Kopf zwischen allerlei dekorativem Grünzeug auf einem Silbertablett lag und soeben von einem Kellner hinausgetragen wurde.

Ort des Geschehens war der sogenannte Kaminraum des Cölner Hofbräu Früh, besser bekannt als Brauhaus Früh am Dom, und anwesend waren neben PP Bohne und Oswald Boll auch die höchsten Chargen des Polizeipräsidiums, alles in allem etwa dreißig Leute. Das Treffen war auf Einladung Herrn Dr. Bohnes zustande gekommen, da er es für eine gute Idee hielt, seine engsten Mitarbeiter schon eine Woche vor seinem offiziellen Amtsantritt kennenzulernen, im Rahmen eines zwanglosen Abendessens. Oder »bei einer informellen Schnupperrunde«, wie er sich ausgedrückt hatte. Nach dem üppigen Mahl mit Cremesüppchen von frischem Gartenlauch und Spanferkelbraten mit getrüffeltem Rosenkohl und Kartoffelklößen war die Gesellschaft in zahlreiche Grüppchen zerfallen, die nun überall herumsaßen und bei Espresso oder Cognac miteinander plauderten. Die Stimmung war reichlich gehoben und kollegial.

Polizeirat Hartmut Wagemann, der zufällig in der Nähe des PP saß, war schockiert. Der Neue nutzte die lockere Atmosphäre, um seine künftigen Mitarbeiter schamlos auszuhorchen und Dinge in Erfahrung zu bringen, die schlicht und ergreifend nicht für die Ohren eines Chefs bestimmt waren. Wagemann wollte nicht so weit gehen, dem Polizeipräsidenten zu unterstellen, dass er den gemeinsamen Abend eigens zu diesem Zweck organisiert hatte – inszeniert wäre in diesem Fall der treffendere Ausdruck gewesen –, doch nun, da sich die Gelegenheit bot, hörte Herr Dr. Bohne interessiert zu, wo es etwas zu hören gab. Das gute Essen und vor allem das viele Kölsch, das reichlich geflossen war, hatten einige Zungen bemerkenswert mitteilungsfreudig gemacht. Einer der Redseligsten war Fettsack Boll.

»Tamara Sturm«, hörte Wagemann den Polizeipräsidenten wiederholen, als hätte allein der bloße Name eine tiefere Bedeutung. »Eine üble Affäre, Böll, eine wirklich üble Affäre. Ich danke Ihnen, dass Sie mich davon in Kenntnis gesetzt haben, schließlich interessiere ich mich auch für die Geschehnisse, die vor meiner Zeit in dieser Behörde passierten.« Er lachte. »Wer will schon eines Tages eine Leiche im Keller finden, die sein Vorgänger dort zurückgelassen hat? Sie verstehen, was ich meine, Böll?«

»Boll, Herr Polizeipräsident, ich heiße Boll, nicht Böll.«

»Wie auch immer, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.«

Boll deutete im Sitzen eine Verbeugung an, wobei ihm sein Schmerbauch im Weg war, der kaum hinter den Tisch passte. Wagemann konnte nicht umhin, wieder an das Spanferkel zu denken. Hätte man Boll einen Apfel ins Maul gestopft … Er zwang sich, den Gedanken zu verdrängen.

Die »üble Affäre«, über die man sich vorhin ausgelassen hatte und die rein zufällig aufs Tapet gekommen war, betraf Kriminaloberkommissarin Sturm. Die Ärmste tat Wagemann leid, denn sie hatte deswegen bereits eine Menge durchgestanden. Im gesamten Polizeipräsidium gab es kaum jemanden, der nicht von der Sache gehört hätte, und sogar in anderen Präsidien wurde hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen.

Wagemann kannte Tamara Sturm nicht persönlich, denn immerhin zählte das Präsidium fast 5000 Mitarbeiter, doch er hatte ihr Foto in der Zeitung gesehen. Außerdem wusste er nur zu gut, welchem Ereignis sie ihre traurige Berühmtheit verdankte. Dieses Ereignis, die »üble Affäre«, lag inzwischen fünf Monate zurück.

Wenn sich Wagemann richtig entsann, war der Auslöser eine Razzia im Rotlichtbezirk gewesen, doch irgendwie geriet der anfängliche Routineeinsatz außer Kontrolle. In der Folge kam es zu einem Schusswechsel, mit dem Ergebnis, dass ein toter Zuhälter im Rinnstein lag. Den letalen Schuss gab Kriminaloberkommissarin Sturm ab, die den Mann in die Brust traf, genau genommen ins Herz.

Wie in solchen Fällen üblich, wurde sie angeklagt und musste sich vor einem Schwurgericht verantworten, das in einem bemerkenswert zügigen Verfahren ihre Unschuld feststellte. Der Urteilsspruch kam deshalb so rasch zustande, weil der Fall so eindeutig war, wie die drei Richter und ihre beiden Schöffen erklärten: Es war ein klassischer Fall von Notwehr.

Doch dann trat die Presse auf den Plan. Irgendwie deckte ein Journalist auf, dass eine Akte fehlte, die Bestandteil des Verfahrens war oder, präziser ausgedrückt, Bestandteil des Verfahrens hätte sein sollen. Das löste einen krachenden Skandal aus, der in der Öffentlichkeit hitzig diskutiert wurde. Die Boulevardblätter warfen die Frage auf, ob mit dem Verschwinden der Akte etwas vertuscht werden sollte, und das Schlagwort Beweismittelunterdrückung stand plötzlich im Raum. Die Justiz versuchte sich schadlos zu halten und wälzte alle Fragen auf die Polizei ab, und diese wiederum, vertreten durch Herrn Dr. Bohnes Vorgänger, wurde nervös. Binnen kürzester Zeit entwickelte sich eine unbeschreibliche Schlammschlacht, die darauf abzielte, jemanden zum Sündenbock zu stempeln.

Wie so oft fand man ihn irgendwo in den Niederungen des Systems: Tamara Sturm. Noch heute sah Wagemann die Schlagzeilen vor sich: Toter bei Razzia!Pistolen-Lady freigesprochen! War es wirklich Notwehr? Wenn Wagemann daran dachte, kam ihm nachträglich fast die Galle hoch.

Schlussendlich stellte sich heraus, dass die verhängnisvolle Akte in Wirklichkeit nie verschwunden war, sondern dass man sie aufgrund eines Versehens, nämlich eines simplen Zahlendrehers, unter einem falschen Geschäftszeichen abgelegt hatte, was erklärte, warum sie zunächst nicht gefunden werden konnte. Ironischerweise hatte sie nichts enthalten, was auch nur ansatzweise dazu geeignet gewesen wäre, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Ergo war der ganze Zirkus umsonst gewesen und Tamara Sturm völlig zu Unrecht ins Kreuzfeuer geraten. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen, doch leider trug sie seitdem ein Brandzeichen.

Wagemann wurde in die Wirklichkeit zurückgeholt, als er den PP fragen hörte: »Sagen Sie mal, Böll, was macht sie denn in unserer Behörde, diese Kommissarin?«

»Frau Sturm? Sie arbeitet im Kommissariat 21.«

Dr. Bohne lachte entwaffnend. »Bitte helfen Sie mir auf die Sprünge. Bis ich mit dem Aufbau der Behörde vertraut bin, wird wohl noch eine Weile vergehen. Das 21ste ist wofür zuständig?«

»Verzeihung. Organisierte Kriminalität.«

»Aha, die ganz schweren Jungs also. Eine verantwortungsvolle Aufgabe für eine junge Frau, möchte ich meinen.«

»Junge Frau? So jung ist sie nun auch wieder nicht, sie wird im Dezember achtunddreißig. Ich weiß das deshalb so genau, weil ich den Festakt organisiere, bei dem die Jubilare geehrt werden. Frau Sturm ist auch darunter, sie feiert am 1. September Dienstjubiläum, sie ist dann seit zwanzig Jahren Polizistin.«

»Das wundert mich«, sinnierte der PP laut. »Schon zwanzig Jahre dabei und erst Oberkommissarin … Woran liegt das? Macht sie keinen ordentlichen Dienst?«

Boll lachte bissig. »Ordentlichen Dienst?«, brummte er. »Das möchte ich bezweifeln.«

Er fügte noch etwas hinzu, das Wageman nicht verstehen konnte, da es in der bierseligen Gesangseinlage unterging, die just in diesem Moment vom Nachbartisch herübergeschmettert kam.

Der PP wurde augenblicklich hellhörig. Seine manikürte Rechte, die ein silbernes Feuerzeug hielt, um damit eine Zigarre anzuzünden, erstarrte mitten in der Bewegung. »Frau Sturm macht also keinen ordentlichen Dienst? Wieso? Erklären Sie mir, woran es bei ihr hapert.«

Boll fühlte sich augenfällig unwohl in seiner Haut. Er schaute gehetzt in die Runde, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand zuhörte. Wagemann drehte rasch den Kopf und tat so, als beobachte er amüsiert die Sänger am Nachbartisch.

»Wissen Sie«, druckste Boll herum, »sie ist nicht gerade das, was man unter einer mustergültigen Beamtin versteht.«

»Interessant. Inwiefern?«

Der Fettwanst räusperte sich. Er war Oberamtsrat und Leiter der Personalverwaltung. Über seinen Schreibtisch gingen die Personalakten sämtlicher Mitglieder der Behörde, und über diese hatte er selbstverständlich striktes Stillschweigen zu wahren. Es stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, dass er sich fragte, ob diese Verschwiegenheitspflicht auch gegenüber dem Polizeipräsidenten galt, denn der war selbstverständlich legitimiert, die Akten jederzeit einzusehen – vorausgesetzt, er hielt sich an den Dienstweg und forderte sie offiziell an.

Schließlich gab sich Boll einen Ruck. »Sie scheint schriftliche Verweise und Missbilligungen … äh, zu sammeln«, erklärte er.

Der sogenannte Verweis und die Missbilligung waren Instrumente des Disziplinarrechts. Vereinfacht ausgedrückt dienten sie dazu, Verfehlungen seitens der Beamten zu ahnden, etwa so, wie die gelbe Karte beim Fußball. In der Regel wurden sie vom Dienstvorgesetzten ausgesprochen, und sie wirkten sich gemeinhin äußerst ungünstig aus, wenn der jeweilige Beamte zur Beförderung anstand, ganz gleich, wie überzeugend seine übrigen Leistungen auch sein mochten.

»Sie sammelt Missbilligungen?«

»Ganz recht. Sie wurde in den letzten Jahren fast ein Dutzend Mal schriftlich gerügt.«

Dr. Bohne reichte seinem Gegenüber eine Zigarre. Boll nahm sie entgegen. Da sie sich im Kaminzimmer des Brauhauses befanden, in einem abgetrennten Bereich für geschlossene Gesellschaften, galt das offizielle Rauchverbot für Kneipen und Gaststätten hier nicht. Noch nicht.

»Was war der Grund für diese Rügen?«, fragte der PP. Er hielt dem Fettwanst sein Feuerzeug hin.

»Ah … vielen Dank, Herr Polizeipräsident … An sich nichts Weltbewegendes, hier macht’s halt die Summe … Ausgezeichnete Zigarre … Also etliches läuft darauf hinaus, dass man sich über ihr Verhalten beschwerte, meistens die Rechtsanwälte irgendwelcher Leute, mit denen sie dienstlich zu tun hatte, sei es bei Festnahmen, bei Hausdurchsuchungen, bei Sicherstellungen. Frau Sturm scheint es bei solchen Gelegenheiten mit den Formvorschriften nicht allzu genau zu nehmen. Ich weiß nicht, was für einen Kreuzzug sie führt, aber es macht ihr offenbar Spaß, Behörden zu foppen. Außerdem hat sie ein recht loses Mundwerk, sie legt sich gern mit Vorgesetzten an, wie mir scheint. Also diese Zigarre ist wirklich delikat. Und sie benutzt im Dienst ständig ihr privates Kfz, stellen Sie sich vor, irgendein aufgemotztes Motorrad. Tsss … Die Frau scheint sich für fünfundzwanzig zu halten. Ich selbst habe ihr vor ein paar Monaten schriftlich erklärt, dass ihr Verhalten schon aus Gründen des Versicherungsschutzes nicht hinnehmbar …«

»Haben Sie Frau Sturm jemals persönlich kennengelernt?«, fiel ihm der PP ins Wort.

Am Nachbartisch wurde gerade das Stimmungslied Viva Colonia intoniert, gefolgt von Superjeilezick. Es war erstaunlich, mit welchem Eifer sich gestandene Polizeiräte dem Absingen von Trinkliedern widmeten, wenn die Stimmung gut war und die Gelegenheit günstig. In Anbetracht des immensen Geräuschpegels fiel es Wagemann schwer, Bolls Worte zu belauschen. Doch obwohl der Fettwanst kaum noch zu verstehen war, konnte man ihm deutlich ansehen, dass ihn die letzte Frage des Polizeipräsidenten aus dem Konzept gebracht hatte: Oswald Boll wurde puterrot. Wagemann hatte dafür keine Erklärung.

»Äh …«, stammelte Boll, »nein, persönlich habe ich sie nie zu Gesicht bekommen.«

Das war glatt gelogen, denn vor ein paar Wochen war sie ihm im Präsidium über den Weg gelaufen. Natürlich kannte sie ihn nicht, aber er hatte sie sehr wohl erkannt, denn zu ihrer Personalakte gehörte selbstverständlich auch ein Porträtfoto. Voller Unbehagen erinnerte sich Boll daran, wie beeindruckt er kurzzeitig von ihr gewesen war: Sie hatte unnahbar auf ihn gewirkt in ihrer ledernen Motorradkluft, mit ihrem wogenden, fast hüftlangen Haar und ihrer lässigen Art. Nein, hatte er sich eingestehen müssen, so trat keine Frau auf, die spürte, dass ihre besten Jahre vorbei waren und die sich deshalb wie eine Teenagerin benahm.

Doch dann hatte er sich darauf besonnen, sich nicht von ihrem Äußeren blenden zu lassen. Sie sah nicht nur unverschämt gut aus, sie war auch unverschämt. Und überhaupt, gut aussehende Frauen waren Oswald Boll schon von Kindesbeinen an suspekt gewesen. Alles in allem sah er keinen Grund, warum er dem Polizeipräsidenten von der flüchtigen Begegnung erzählen sollte.

Herr Dr. Bohne zog an seiner Zigarre. Dabei machte er ein Gesicht, als hätte man ihn gezwungen, an einem im Rinnstein gefundenen Zigarettenstummel zu lutschen. »Das ist eine ernste Angelegenheit, mein lieber Böll, eine äußerst ernste Angelegenheit.«

»Boll, der Name ist Boll, Herr Polizei…«

»Stellen Sie sich bitte ein beschauliches Provinzkrankenhaus vor, Böll, irgendwo auf dem Land.«

Wagemann glaubte zunächst, sich verhört zu haben, und an Bolls Mienenspiel erkannte er, dass der Fettsack dem Gedankensprung des PP ebenfalls nicht folgen konnte.

»Hä?«, stieß Boll hervor. »Ich verstehe nicht … Was für ein Krankenhaus?«

Bohne starrte in den Rauch seiner Zigarre. Bedächtig fuhr er fort. »Nehmen Sie weiter an, in diesem Provinzkrankenhaus würde eines Tages eine verdorbene Blutkonserve verabreicht, was den Tod eines Patienten zur Folge hätte. Wie, denken Sie, würde die Presse darauf reagieren? Mit Zurückhaltung? Mit Feingefühl? Mit journalistischer Abgeklärtheit? Wohl kaum!« Er hob merklich die Stimme. »Sie würde schreien, Skandal würde sie brüllen, und zwar so laut, dass man es im ganzen Land hören könnte, davon dürfen Sie ausgehen, mein lieber Böll, davon dürfen Sie ausgehen. Und weiter? Was würde dann passieren?«

»Ich weiß immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen …«

»Der Gesundheitsminister müsste seinen Hut nehmen, Böll, der Gesundheitsminister. Dabei hat er die Blutkonserve nicht verabreicht, oder? Ach was rede ich, er hat sie nicht nur nicht verabreicht, er hatte überhaupt keinen Einfluss auf das Provinzkrankenhaus und auf den dämlichen Ochsen, der geschlampt hat, so sieht es aus. Sollte sich am Ende herausstellen, dass mit der leidigen Blutkonserve alles in Ordnung war und der Patient an einem Herzanfall gestorben ist … Nun, dem Gesundheitsminister würde das nichts mehr nützen, denn ihn hätte man als Ersten abgeschossen.«

Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »In einer Polizeibehörde sind die Mechanismen die gleichen, und zwar haargenau. Patzen die Untergebenen oder geraten in Verruf, so färbt letzten Endes alles auf den Polizeipräsidenten ab.« Er sah Boll streng an. »Und auf seine Führungsriege, mein lieber Böll. In unserer Position darf man sich keinen Fehler erlauben, nicht den allerkleinsten, sonst ist man weg vom Fenster. Ich bin deshalb bemüht, so schnell wie möglich sämtliche schadhaften Zahnräder im großen Getriebe meiner Belegschaft auszutauschen. Können Sie mir folgen?«

»Ich glaube schon.«

Es war Boll anzusehen, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, worauf der PP hinauswollte. Wagemann hingegen konnte es sich lebhaft vorstellen. Mit den Fingern zeichnete er ein imaginäres Galgenmännchen vor sich auf die Tischdecke.

Bohne sprach plötzlich Klartext: »Wenn Frau Sturm in Zukunft wieder einmal auffallen sollte – und Ihren Ausführungen zufolge ist sie dafür geradezu prädestiniert –, dann wird sich jeder sofort an diese alte Geschichte erinnern, an diese Affäre mit der verschwundenen Akte, von der Sie mir vorhin erzählt haben. Ob die Frau Oberkommissarin tatsächlich etwas falsch gemacht hat oder nicht, interessiert hinterher niemanden mehr, was übrig bleibt, ist ein schwarzer Fleck.«

Er drückte die halb gerauchte Zigarre im Aschenbecher aus. »Wie ich schon sagte, patzen die Untergebenen, muss der Polizeipräsident den Kopf dafür hinhalten. Doch nicht mit mir. Schadhafte Zahnräder werden deshalb ausgetauscht, und zwar rigoros. Ich erwarte Ihre Vorschläge so bald wie möglich.«

Endlich fiel bei Boll der berühmte Groschen. »Was ich vorhin zu erwähnen vergaß«, stammelte er, sichtlich aus der Fassung gebracht, »einer der vielen Verweise, die Frau Sturm kassiert hat, bezog sich auf eine gänzlich andere Angelegenheit.« Er räusperte sich.

»Und die wäre?«

»Ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen kann …«

»Mein lieber Böll, mit mir können Sie über alles sprechen. Außerdem finde ich es früher oder später ohnehin heraus.« Er setzte sein strahlendstes Gewinnerlächeln auf. »Also?«

»Sie unterhält Kontakte zum hiesigen Milieu. Zur Unterwelt.«

Wagemann malte die Initialen T. S. unter das Galgenmännchen.

Kapitel 3

Mara hatte gewusst, was sie hinter der Tür erwartete, genauso wie sie gewusst hatte, dass es ihr nicht gefallen würde.

Angewidert beobachtete sie, wie das Gesicht des Mannes gegen den Maschendraht gedrückt wurde. Seine Nase blutete, seine Lippen waren aufgeplatzt, sein linkes Auge fast komplett zugeschwollen. Ein Anflug von Verzweiflung huschte über seine deformierten Züge, während ein anderer Kerl, der ihm das Knie ins Kreuz stemmte und ihn damit ans Gatter nagelte, von hinten auf ihn eindrosch.

»Los, Serkan, quetsch seine dämliche Fresse durch den Maschendraht!« Die Menge johlte, Mara kniff unwillig die Augen zusammen. Der Mann im roten Samtsakko lächelte, als er ihr Kopfschütteln sah.

»Serkan! Serkan! Serkan!«, skandierte der Pöbel.

Sie schaute sich um.

Der Raum jenseits der schweren Eisentür war kein klassisches Hinterzimmer, in dem ein Tisch stand und ein paar halbseidene Gestalten mit dicken Zigarren in den Mundwinkeln illegal Poker spielten. Er war auch kein Kabuff, in dem ein Roulette aufgebaut war, das mittels eines versteckten Fußhebels manipuliert werden konnte und in dem ein halbes Dutzend Typen mit Hundertern um sich warfen. Eigentlich war dieser Raum noch nicht einmal ein Raum, denn dafür war er viel zu groß, die Bezeichnung Halle war da schon treffender. Eine Halle mit niedriger Decke und nackten Wänden, an denen unverkleidete Rohrleitungen entlangliefen.

In der Nähe der Eisentür, die den einzigen Zugang darstellte, rotierte ein gigantischer Ventilator hinter einem Schutzgitter. Die Halle war ein ehemaliger Luftschutzbunker, und Johannes »Jo« Strasser hatte ihn der Stadt abgekauft, samt der darüber befindlichen Liegenschaften.

Mara schätzte die Besucherzahl am heutigen Abend auf einhundert, womit der Bunker etwa zu einem Viertel gefüllt war. Frauen befanden sich kaum im Publikum, höchstens zehn oder zwölf, und dabei handelte es sich ausschließlich um junge Hühner, die sich bei eifersüchtigen alten Hähnen untergehakt hatten. Mara hingegen hatte niemanden zum Unterhaken, weshalb sie auffiel wie der sprichwörtliche bunte Hund. Folglich sah sie sich einer Mischung aus herablassenden und misstrauischen Blicken ausgesetzt. Zudem war sie der einzige Gast, der nicht eingeladen war oder sich eingekauft hatte. Letzteres war für niemanden ein Problem, denn alle stanken vor Geld, und ihr gemeinsames Interesse galt einer Kampfsportart, die sich Cage Fighting nannte. Für Maras Geschmack war das Cage Fighting kein Sport, sondern organisiertes Gemetzel.

In der Mitte des Bunkers befand sich ein Boxring, der von Maschendraht umgeben wurde. Angeblich diente diese Umzäunung dem Zweck, die Kämpfer zu schützen, damit sie nicht im Eifer des Gefechts aus dem Ring stürzten und sich verletzten, doch wenn Mara sah, was Serkan just in diesen Sekunden mit seinem Widersacher anstellte, wäre es diesem vermutlich nur recht gewesen, in hohem Bogen aus dem Ring zu fliegen.

Beim Cage Fighting waren lediglich vier Dinge verboten: Augenstechen, Beißen, Angriffe auf die Genitalien des Gegners … Das vierte Verbot lautete schlicht: Es darf niemand getötet werden. Ein Kampf war zu Ende, wenn einer der Kontrahenten bewusstlos war oder aufgab.

Unter frenetischem Beifall der Menge rammte Serkan seinem Opfer den Ellenbogen in die Rippen. Mara hatte den Eindruck, das Brechen von Knochen zu hören, doch das war Einbildung, denn das Geschrei des Publikums übertönte alle anderen Geräusche.

»Jo ist dort drüben!«, rief ihr der Kerl im roten Sakko zu.

Er deutete auf einen Mann im gestreiften Hemd, der unmittelbar am Maschendraht stand und mit einer Gruppe Gleichgesinnter über das Massaker auf der anderen Seite fachsimpelte. Sein Anblick ließ Maras Herz schneller schlagen. Sie starrte ihn an.

Johannes »Jo« Strasser besaß einige Bars und Bordelle, doch seit Neuestem machte er ein Vermögen als Promotor von Cage Fights. Seine Haupteinnahmequelle waren dabei nicht die Eintrittsgelder, sondern die filmische Vermarktung der Wettbewerbe, denn alles, was innerhalb der Maschendraht-Arena passierte, wurde aufgezeichnet und in Form von DVDs nach Japan und in die USA verkauft, wo sich die Gladiatoren des Käfigs einer riesigen Fangemeinde erfreuten.

Angeblich war Jo Strasser ein gefährlicher Mann, der seinen Wohlstand mit harten Bandagen erkämpft hatte. Mit verdammt harten Bandagen, die nicht immer koscher waren. Für diese Behauptung sprach die Tatsache, dass er einige Leute zu seinen Freunden zählte, gegen die Polizei und Staatsanwaltschaft schon seit Jahren ermittelten.

Auch Strasser selbst war in der Vergangenheit verschiedentlich ins Visier der Fahnder geraten, doch illegale Betätigungen hatte man ihm nie nachweisen können. Seine Kontakte zur Unterwelt galten jedoch als lebhaft, wie Mara in einem Observationsbericht gelesen hatte. Und genau wegen dieser Kontakte war sie hier.

»Ich sehe ihn«, sagte sie und nickte dem Mann im roten Sakko zu. »Danke.«

Wie es der Zufall wollte, drehte Strasser im gleichen Moment den Kopf und entdeckte sie. Als sich ihre Blicke trafen, zuckte er für einen winzigen, kaum merklichen Moment zusammen. Sofort scheuchte er die Typen in seiner Nähe weg.

Sie ging auf Strasser zu, er kam ihr auf halbem Weg entgegen.

Er war ein Endvierziger mittlerer Größe, schlank, ungemein drahtig und ausnehmend hässlich. Seine Gesichtshaut sah aus wie ein Streuselbrötchen, seine Nase war breit und platt und unförmig, eine Erinnerung an seine Jugend, in der er Boxer gewesen war; ein guter Boxer mit berechtigten Chancen auf eine professionelle Karriere, doch ein komplizierter Mittelhandbruch hatte seine Laufbahn vorzeitig beendet.

Strassers Haare zeigten noch keine Spur von Grau, sondern hatten die gleiche rötlich braune Färbung wie Maras, doch damit endete jegliche Ähnlichkeit. Seine Frisur war ein nach hinten gekämmtes Unding aus Pomade und viel zu langen Zotteln, das ungepflegt und schmierig aussah.

»Was willst du denn hier?«, fragte er in einem Tonfall, den man ohne weiteres als Beleidigung auffassen konnte. Eine Begrüßung schien er für überflüssig zu halten.

»Freut mich ebenfalls, dich zu sehen«, gab sie schnippisch zurück.

Strasser musterte sie schweigend und mit mürrischer Miene. Schließlich machte er eine vage Kopfbewegung in Richtung Ring. »Das ist Serkan«, erklärte er, »mein neuer Top-Kämpfer. Im Dezember wird er in Amiland antreten. Die Yankees zahlen astronomische Börsen für …«

Sie unterbrach ihn. »Ich bin weder interessiert an deinem Serkan noch an deinen Käfig-Metzger-Shows. Also verschone mich damit, okay?«

Aus der Nähe konnte sie erkennen, dass Serkan behaart war wie ein Affe. Gerade hatte er auf seinem Gegner Platz genommen und setzte zum Schlussakkord an. Sie schüttelte erneut den Kopf.

»Serkan! Serkan! Serkan!« Die Zuschauer waren völlig außer Rand und Band.

Strassers Miene wurde noch eine Spur finsterer. »Zicke, wie? Ich erinnere mich nicht, dich eingeladen zu haben. Du kannst gern wieder gehen.«

Sie hielt seinem Blick stand. In einem Tonfall, der genauso abweisend war wie seiner, sagte sie: »Ich bin nicht hergekommen, weil ich Sehnsucht nach dir habe, das kannst du mir glauben.«

»Folglich bist du dienstlich hier?«

»Ist dir das lieber als ein Privatbesuch?«

Er wollte etwas erwidern, schluckte es jedoch hinunter. »Also? Was willst du?«

»Was wohl? Informationen natürlich.«

Strasser lachte freudlos. »Das ist wieder mal typisch. Erst lässt du dich monatelang nicht blicken, und wenn du in deinem Verein nicht weiterkommst, fällt dir plötzlich ein, dass ich noch lebe. Verdammt einseitige Geschäftsbeziehung, wenn du mich fragst. Aber so läuft das nicht, zur Abwechslung musst du jetzt auch mal was für mich tun.«

»Da irrst du dich gewaltig! Ich muss gar nichts für dich tun, und eine Geschäftsbeziehung haben wir erst recht nicht! Vielleicht hast du es ja vergessen, aber ich bin Polizistin, ich habe einen Eid geleistet.«

»Kommt jetzt wieder die Bulle-aus-Überzeugung-Leier?«

Sie ignorierte die Provokation. »Wenn ich mich recht entsinne, habe ich geschworen, die Gesetze zu befolgen und meine Pflichten gewissenhaft zu erfüllen. Ja, ich glaube, das war in etwa der Wortlaut des Eides. Und jetzt, mein lieber Jo, für dich der Schocker zum Mitschreiben: Ich stehe zu diesem Eid, ich bin davon überzeugt, und ich werde mich daran halten. Das schließt aus, dass ich mich auf krumme Dinger einlasse. Auch nicht dir zuliebe.«

»Krumme Dinger?«, erwiderte er spöttisch. »Das einzige krumme Ding, mit dem ich derzeit zu tun habe, hängt zwischen meinen Oberschenkeln und baumelt …«

»Manchmal widerst du mich an, Johannes Strasser!«

Sie sah ihm tief in die Augen, und dieser Blick signalisierte unendliche Enttäuschung. Er wurde unsicher, vielleicht weil er in ihrem Gesicht das Spiegelbild längst vergangener Zeiten sah und sich an eine gemeinsame, unzertrennliche Kindheit erinnerte. Damals war er ihr Beschützer gewesen, sie hatte zu ihm aufgeschaut, war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, und eines Tages, als Zwölfjährige, hatte sie ihm unter Tränen gestanden, dass sie ihn liebte und später heiraten wollte.

Das war lange her. Mit achtzehn war sie zur Polizei gegangen, und er hatte sich für seinen Weg entschieden, wodurch eine Kluft zwischen ihnen entstanden war. Die alte Vertrautheit war nie wieder vollständig zurückgekehrt, allerdings war das Band zwischen ihnen auch nicht ganz zerrissen, selbst wenn es ein paar Mal kurz davor gestanden hatte. Um die Peinlichkeit des Augenblicks zu überspielen, griff er in die Brusttasche seines Hemdes und förderte eine Schachtel Zigaretten zutage. »Auch eine?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hab es mir abgewöhnt.« Seit heute Morgen, fügte sie in Gedanken hinzu. Toller Erfolg, das sind schon fast fünfzehn Stunden.

»Wie geht es dir?«, wollte er unvermittelt wissen. »Kriegst du dein Leben allmählich wieder auf die Reihe?«

Die Feindseligkeit war verflogen. An seiner Stimmlage erkannte sie, dass seine Frage keinesfalls nur eine hohle Floskel war, auch wenn er sie nicht eben taktvoll formuliert hatte. Aber blumige Worte waren noch nie sein Ding gewesen.

»Was meinst du, meine Scheidung oder den Schlamassel mit dem Zuhälter, den ich auf dem Gewissen habe?«

»Beides.«

»Über Ersteres bin ich weg, Letzteres ist dafür verantwortlich, dass ich in den vergangenen Monaten keinen Tag länger als drei Stunden am Stück geschlafen habe.« Sie senkte den Blick und betrachtete ihre Stiefelspitzen. »Es wird langsam besser«, sagte sie ohne Überzeugungskraft.

Nachdem sie einen Menschen getötet hatte, Notwehr hin, Ganove her, war sie in schwere Depressionen verfallen. Dieses Phänomen wurde in Polizeikreisen Post-Shooting-Trauma genannt, die Symptome waren von Fall zu Fall verschieden. Bei Mara hatte das fatale Ereignis zu Schuldgefühlen und Albträumen geführt. Sie mühte sich ein Lächeln ab, denn diesmal war sie peinlich berührt und wechselte das Thema. »Ich habe einen Mann kennengelernt. Er ist schwer hinter mir her. Schickt mir Rosen nach Hause.«

»Wie heißt er? Wie alt ist er? Taugt er was?«

Schweigend nahm sie ein kleines Foto aus ihrem Portemonnaie und reichte es ihm. Es zeigte einen gut aussehenden Mann Mitte vierzig, der schüchtern in die Kamera lächelte. Auf der Rückseite des Fotos hatte jemand – wahrscheinlich der Mann von der Vorderseite – eine Telefonnummer notiert, wahrscheinlich seine eigene.

»Er heißt Tom«, murmelte sie nachdenklich.

»Was ist denn das für ein bescheuerter Name?« Strasser riss ihr das Foto aus der Hand und betrachtete es abschätzig. »Tom der Kater. Von Tom und Jerry oder was?«

Sie winkte verärgert ab. »Vergiss es, ich hätte dir nicht von ihm erzählen sollen. Besser, wenn du ab jetzt das Reden übernimmst. Wie gesagt, ich bin nicht zum Vergnügen hier, sondern dienstlich. Sag mir, was ich für dich tun kann, dann erzähl ich dir, welche Informationen ich brauche.«

Er verschwendete keine Zeit. Beiläufig und deshalb unbemerkt steckte er Toms Foto in die Gesäßtasche. Gleichzeitig begann er zu sprechen. »Im Friesenviertel hat letzten Monat eine neue Bar aufgemacht, heißt Palm Beach, glaube ich. Der Schuppen scheint gut zu laufen, jedenfalls bleibt mir seitdem die Kundschaft weg. Ich habe gewaltige Umsatzeinbußen. Wie ich aus sicherer Quelle weiß, sind die meisten Frauen im Palm Beach Illegale. Also, wenn da in nächster Zeit die Jungs von der Trachtengruppe …«

»Jo, ich habe es dir schon hundert Mal erklärt, ich bin nur Oberkommissarin, keine Dienststellenleiterin. Im Gegensatz zu dir bin ich in meinem Verein ein kleines Licht. Ich bin nicht befugt, Razzien zu veranlassen.« Sie legte eine kurze Denkpause ein. »Wie sicher ist das mit den Illegalen?«

»Hundertpro.«

Sie seufzte. »Ich werde mich bemühen«, versprach sie.

Er lachte. »Wenn ihr genau heute in einer Woche zuschlagt, werdet ihr ganz nebenbei vier oder fünf gestohlene 911er Porsche finden, im Hinterhof des Palm Beach. Wie ich hörte, will man die Karren am frühen Donnerstagabend klauen und noch in der Nacht in Richtung Ukraine verfrachten. Professioneller Auftragsjob. Am besten schlagt ihr zwischen Mitternacht und zwei zu, nicht früher, nicht später.«

Strassers Tipps waren immer zuverlässig, er kannte Gott und die Welt, wusste über alles Bescheid und war der perfekte Organisator. Trotzdem hatte Mara ein schlechtes Gewissen, mit ihm zusammenzuarbeiten, denn natürlich ging es ihm einzig und allein darum, sich die Konkurrenz vom Hals zu schaffen. Sie ließ sich ungern für die Zwecke eines Erzgauners vor den Karren spannen, auch wenn dessen Hinweise in der Vergangenheit schon zu zahlreichen Erfolgen geführt hatten.

»Und was kann ich für dich tun?«, wollte er im Plauderton wissen.

»Da ist eine große Sache im Gang«, erklärte sie, während sie dabei zusah, wie die Überreste von Serkans Widersacher aus dem Käfig getragen wurden. Das Gesicht des Mannes sah erbarmungswürdig aus. Sofort waren ein Arzt und zwei Sanitäter zur Stelle, die sich um ihn bemühten. Serkan ließ sich derweil feiern.

»Eine große Sache«, wiederholte sie, »ein dickes Ding, ein Jahrhundert-Coup, nenn es, wie du willst. Von Entführung ist die Rede und von irgendwelchen Russen, die im großen Stil Waffen ankaufen. Der Coup soll in ein paar Tagen über die Bühne gehen. Weißt du etwas darüber?«

Strasser grinste. »Huuu«, machte er und schlug sich in gespieltem Entsetzen die Hände vor das Gesicht. »Ein großer Coup und böse Russen, die mit Waffen hantieren.« Sein Tonfall wurde geheimnisvoll. »Vielleicht basteln sie sogar in einem dunklen Versteck heimlich an der Atombombe?« Er brach in schallendes Gelächter aus. Dann prustete er: »Schaut da einer zu viel fern? Krimis? Thriller? Spionagefilme Marke Hollywood? Komm schon, Frau Kommissarin, wo lebst du, in Fantasien? Ich dachte, dies sei ein zivilisiertes Land, so weit wie die Amis sind wir noch lange nicht. Bei uns gibt es keine großen Coups.« Die letzten beiden Worte betonte er besonders, was seinen Hohn unterstrich. Wieder lachte er lauthals.

Mara war stinksauer. Sie mochte es nicht, wenn man sich über sie lustig machte, und sie hasste es wie die Pest, von Jo Strasser aufgezogen zu werden. Hatte er gerade von einem zivilisierten Land gesprochen? Feine Zivilisation, in der Halbaffen zur Belustigung anderer Halbaffen in einem Käfig aufeinander einprügelten. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich zu beherrschen. Dennoch wurde ihre Stimme seidenweich.

»Okay, die Razzia steigt, das garantiere ich dir, ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Allerdings gibt es eine klitzekleine Planänderung bezüglich des Ortes. Ich glaube, im Palm Beach geht alles mit rechten Dingen zu, aber bei der Pussycat-Bar habe ich ernste Zweifel. Wie ich hörte, befindet sich genau unter dem Laden ein alter Bunker, in dem merkwürdige Kämpfe stattfinden … Weißt du eigentlich, wie schlecht es fürs Geschäft ist, wenn jeden Tag ein halbes Dutzend Polizeiwagen vor der Tür stehen und sämtliche Gäste gefilzt werden? Wow, ich seh schon die Effektshow vor mir, Blaulicht bei Nacht, toller Anblick. Ich hoffe, du magst es ebenfalls, denn du wirst es in nächster Zeit oft genug zu sehen bekommen, vielleicht zwei-oder dreimal pro Woche, vielleicht öfter. Bin mächtig gespannt, wann deine Stammkundschaft wegbleibt. Ach ja, und dann ist da noch der Bericht ans Ordnungsamt. Ich glaube, hier unten werden die Brandschutzbestimmungen aufs Gröbste vernachlässigt. Nur eine einzige Fluchttür und die auch noch verschlossen … Blöde Sache, diese Bürokraten werden dir die Bude zumachen!«

Den letzten Satz brüllte sie so laut, dass sich die Umstehenden die Hälse nach ihr verrenkten. Doch dann fing sie sich wieder, setzte ein Sonntagslächeln auf und kehrte zu normaler Lautstärke zurück. »Ich glaube, jetzt nehme ich doch eine Zigarette. Vielen Dank.«

Es war Strasser anzusehen, dass er sie am liebsten vor die Tür gesetzt hätte. Allerdings kannte er sie lange genug, um zu wissen, wann sie bluffte und wann sie etwas ernst meinte. Diesmal war es ernst, unverkennbar, ihre hochgezogene Braue sprach Bände. Wahrscheinlich würde sie gleich morgen früh ihrem Vorgesetzten in den Ohren liegen und ihn so lange vollquatschen, bis er von selbst daran glaubte, Razziawochen in der Pussycat-Bar veranstalten zu müssen. Tamara konnte verteufelt überzeugend sein, sie verstand es, sich durchsetzen. Der Gedanke, dass sie sich ihre Beharrlichkeit von ihm abgeschaut hatte, milderte seinen Zorn. Er war ihr Lehrer im Streiten gewesen. Verdammt, sie hatten eine gute Zeit miteinander gehabt.

Wortlos reichte er ihr eine Zigarette und gab ihr Feuer.

»Ich habe auch von diesem Coup gehört«, räumte er ein, nachdem sie eine Weile schweigend geraucht hatten. »Woher weißt du davon? Habt ihr einen verdeckten Ermittler in der Szene eingeschleust? Hat der Typ noch nichts Spruchreifes rausgefunden – oder wie das bei euch heißt: ermittelt?«

Ihre Miene blieb ausdruckslos. »Ich brauche Infos, Jo, Einzelheiten.«

Er lachte, doch diesmal eher ratlos als spöttisch. »Einzelheiten. Ist ja reizend, wie stellst du dir das vor? Ich habe genauso wenig Ahnung wie ihr, ich weiß nur, dass etwas im Busch ist, aber nicht was. Meinst du, die Russen kommen zu mir und weihen mich in ihre Pläne ein?«

»Aha, also stimmt es, was man sich erzählt. Die Russen drehen das Ding. Hast du einen Namen für mich?«

»Nein. Das Einzige, was ich bestätigen kann, ist der Termin. Die Sache soll tatsächlich schon sehr bald steigen, wahrscheinlich noch in dieser Woche.«

Mara ärgerte sich, denn nun war sie genauso schlau wie vorher. »Kannst du wenigstens deine Fühler für mich ausstrecken? Schnell!«

»Du stellst dir das alles ziemlich einfach vor, wie? Ich kann dir …«

»Jo, bitte!«

»Du machst mich wahnsinnig, weißt du das? Also gut, ich werde mich umhören. Zufrieden?«

Sie warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Dann beugte sie sich vor und drückte ihm einen nassen, schmatzenden Kuss auf die Wange. »Du bist ein Goldkerlchen. Ich erwarte deinen Anruf, meine Nummer hast du ja.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und schlenderte in Richtung Eisentür davon.

»Würdest du das mit der Razzia wirklich durchziehen?«, rief er ihr hinterher. »Und diesen Scheibenkleister mit dem Ordnungsamt? Würdest du mir wirklich wochenlang deine Kollegen auf den Hals hetzen und mir die Geschäfte ruinieren?«

Sie drehte sich noch einmal um. »Habe ich jemals leere Versprechungen gemacht?«

»Du bist ein verdammtes Miststück!«, grollte er.

Sie nickte und ging. Und du bist ein blöder Affe, dachte sie. Allerdings einer, den ich immer noch liebe.

Kapitel 4

Zeit bis zum Beginn der Operation Schneesturm:65:28:01

Laura Rosenzweig hatte Angst, denn sie wurde von einem Irren verfolgt. Dass sie den Wahnsinnigen gut kannte, machte ihre Furcht nicht erträglicher, im Gegenteil.

Gehetzt schaute sie immer wieder in den Rückspiegel. Ihre Finger schienen am Lenkrad zu kleben. Die Affenhitze, die seit fast zwei Wochen herrschte, trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Vorhin war sie an einer Apotheke vorbeigekommen, wo sich neben dem Plakat, auf dem für Aspirin geworben wurde, ein übergroßes Thermometer befand. Dieses hatte 33 Grad angezeigt.

Doch nicht allein die Temperatur ließ Laura schwitzen. Abermals warf sie einen Blick in den Spiegel. Der Lieferwagen war verschwunden. War er an einer roten Ampel aufgehalten worden? Oder hatte er sich absichtlich zurückfallen lassen, um sie in Sicherheit zu wiegen? Nervös leckte sie sich über die Lippen und schmeckte Salz. Nein, im Rückspiegel zeigte sich nichts Ungewöhnliches.

Laura lachte hysterisch.

»Du Blödmann!«, sagte sie laut. »Du Hornochse! Du wirst mich nicht unterkriegen!«

Sie schaltete das Radio ein, doch abgesehen von einem Rauschen kam nichts aus den Lautsprechern. Natürlich nicht, ohne Antenne war kein vernünftiger Empfang möglich.

Der Blödmann und Hornochse, der sie nicht unterkriegen würde, war ihr ehemaliger Lebensgefährte Rollo – eigentlich Roland –, dem sie vor knapp sechs Wochen offenbart hatte, dass sie sich eine gemeinsame Zukunft mit ihm nicht länger vorstellen konnte. Daraufhin war er vollkommen ausgerastet. Zuerst hatte er getobt, dann war er auf den Knien vor ihr herumgerutscht und hatte sie mit weinerlicher Stimme angefleht, die Sache noch einmal zu überdenken. Nette Umschreibung für eine siebenjährige Beziehung: die Sache. Das hatte Laura in ihrem Beschluss bestärkt.

»Du hast einen anderen, gib’s zu!«, hatte Rollo gebrüllt. »Du hast mit ihm rumgemacht, du Nutte, während du angeblich in der Uni warst!«

»Nein, ich habe mit niemandem rumgemacht.« Das entsprach der Wahrheit.

Schließlich hatte er das Mobiliar im gemeinsamen Wohnzimmer zertrümmert und Laura mindestens ein halbes Dutzend Mal geohrfeigt und ihre Bilder aus dem Fenster geworfen. Sie hatte fürchterliche Angst gehabt, weniger um sich selbst als um ihre beiden Kinder, den sechsjährigen Vincent und seine kleine Schwester Mona, die im September zwei wurde. Die beiden stammten von Rollo, doch wenn er getrunken hatte, wurde er unberechenbar, und dann waren nicht einmal die Kleinen vor ihm sicher.

Bevor die Angelegenheit völlig außer Kontrolle geriet, hatte Laura die Polizei gerufen. Die Beamten hatten Rollo mitgenommen, und er hatte sich wie ein Geistesgestörter aufgeführt. Da er Stuckateur war und deshalb ständig schwere Eimer mit Gips, Kalk und Zement herumschleppte, verfügte er über immense Körperkräfte. Am Ende waren drei Streifenwagenbesatzungen nötig gewesen, um ihn abzuführen. Als Lebewohl hatte er durch das Treppenhaus gebrüllt: »Ich mach dir das Leben zur Hölle, du Schlampe!«

Er hatte sein Versprechen gehalten.

Erneut suchte Laura im Rückspiegel nach möglichen Verfolgern, doch da war nichts Auffälliges. Wo war der verdächtige Lieferwagen geblieben? Sie seufzte.

Zwei Tage nach dem lautstarken Ende hatte der Terror begonnen, und zwar in Form von Telefonanrufen zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten. Meistens war nur in den Hörer gestöhnt worden, manchmal hatte jemand mit verstellter Stimme vor sich hin geflucht und einmal sogar geheult. Dieser Jemand war natürlich Rollo gewesen. Als Laura ihre Nummer geändert hatte, war er zu Hausbesuchen übergegangen; mal hatte er mit einem Strauß roter Rosen vor der Tür gestanden, dann wieder mit einem Bukett wüster Beschimpfungen. Die Polizei war zum Dauergast geworden, denn fast täglich musste der übergeschnappte Ex aus dem Haus gezerrt werden.

Laura hatte sogleich das Türschloss auswechseln lassen, doch damit konnte sie ihn lediglich aus ihrer Wohnung bannen, sein Zutritt zum Treppenhaus blieb von dieser Vorsichtsmaßnahme unberührt, da er einen Hausschlüssel besaß. Das Schloss der Haustür wiederum konnte nicht beliebig ersetzt werden, denn das hätte bedeutet, alle anderen Mieter, insgesamt dreiundzwanzig Parteien, auszusperren.

Als ihm endlich aufgegangen war, dass sie ihn nicht mehr in die Wohnung lassen würde, hatte er angefangen, sie auf der Straße abzupassen, beispielsweise wenn sie zur Uni ging oder zum Einkaufen.

»Da sind uns die Hände gebunden«, hatte der Polizeibeamte achselzuckend gesagt, nachdem sie ihr Problem auf der Wache vorgetragen hatte. »Wir können niemandem verbieten, sich frei zu bewegen. Und solange er Ihnen nichts antut …«

»Solange er mir nichts antut? Was soll denn das heißen? In letzter Zeit ist er ständig betrunken, und wenn er trinkt, gerät er außer Kontrolle. Der Mann ist gefährlich.«

Der Beamte hatte gelacht. »Na, so gefährlich kann er nun auch wieder nicht sein. Immerhin haben Sie mit ihm unter einem Dach gelebt seit – wie lange sagten Sie? – sieben Jahren?«

»Schon, aber früher hat er nicht getrunken. Wenigstens nicht so viel wie jetzt. Das hat er sich erst angewöhnt, seit er vor einem halben Jahr arbeitslos wurde. Danach hat er nicht mehr mit dem Trinken aufgehört.«

»Hat er Sie geschlagen?«, wollte der Beamte wissen. Seine Ungeduld war deutlich spürbar. »Hat er Sie tätlich angegriffen?«

Laura schüttelte den Kopf. »Nicht, seit ich ihn rausgeworfen habe. Das liegt allerdings allein daran, dass er dazu keine Gelegenheit hatte. Ich begebe mich nämlich nur noch an belebte Orte.« Sie sog hörbar die Luft ein. »Er ruft mich auf der Arbeit an, und in der Uni geht er dem Sekretariat auf die Nerven und behauptet, mich dringend sprechen zu müssen. Das macht er mehrmals am Tag. Können Sie sich vorstellen, wie peinlich mir das mittlerweile ist? Und wenn ich aus der Vorlesung komme, steht er bereits da und läuft mir hinterher. Ich kann nirgendwo hingehen, ohne seinen Schatten im Genick zu spüren. Er folgt mir auf Schritt und Tritt.«

»Das ist nicht verboten«, sagte der Beamte.

Laura wurde wütend. »Ach ja? Und was ist mit den anderen Gemeinheiten? Er hat meinen Briefkasten aufgebrochen und klaut meine Post. Ist das etwa auch nicht verboten? Gestern Morgen hat unter meiner Fußmatte ein Haufen Hundekot gelegen. Nettes Gefühl, auf so was draufzutreten. Glauben Sie, da war ein verstörter Vierbeiner am Werk, der sich geschämt hat, sein Geschäft offen herumliegen zu lassen? Und dann die Zettel, die mir jede Nacht unter der Tür durchgeschoben werden. Von wem mögen die wohl stammen?«

Der Beamte furchte die Stirn. »Zettel? Was für Zettel?«

Laura wühlte in ihrer Handtasche und förderte einen Packen eselsohriger Blätter zutage, die sie auf den Schreibtisch knallte. Wie man unschwer erkennen konnte, handelte es sich um Briefe. Der Schreiber hatte eine krakelige Kinderschrift. »Da!«, fauchte sie.

Es vergingen fast fünf Minuten, in denen der Polizist las. Außer einem gelegentlichen Brummen gab er keinen Laut von sich. »Ich weiß nicht, was Sie wollen«, ließ er sich schließlich vernehmen. »Das sind verzweifelte Liebesbriefe. Nicht die leiseste Andeutung einer Drohung. Es ist nicht verboten …«

Sie fiel ihm ins Wort. Die Ignoranz ihres Gegenübers machte sie zornig. »Ich – will – diese – dämlichen – Briefe – nicht!«, sagte sie, jedes einzelne Wort wie eine Beschwörungsformel betonend. »Haben Sie eine Ahnung, was es für ein Gefühl ist, wenn man nachts im Bett liegt und weiß, dass jemand im Treppenhaus herumschleicht? Ich wette, er schiebt nicht nur seine Zettel unter der Tür durch, sondern verbringt die halbe Nacht mit Lauschen.«

Der Polizist wollte etwas einwerfen, doch sie kam ihm zuvor. »Er hat sich an meinem Auto vergriffen, hat die Antenne abgebrochen und eine Gravur auf der Motorhaube hinterlassen. Wollen Sie wissen, was dort steht? Ich sage es Ihnen: Hure. Wie sieht es damit aus, ist das ebenfalls nicht verboten?«

Ihr Wagen war ein fünfzehn Jahre alter, klappriger Corsa, der fast auseinanderfiel. Er stellte keinen wirklichen Wert mehr dar, doch Lauras finanzielle Mittel reichten nicht für ein neues Gefährt. Sie war deshalb darauf bedacht, es so gut wie möglich in Schuss zu halten, und das schloss eine abgebrochene Antenne genauso aus wie mutwillige Lackkratzer.

Der Ordnungshüter runzelte die Stirn. »Haben Sie ihn dabei beobachtet, wie er sich an Ihrem Auto zu schaffen gemacht hat? Können Sie Zeugen benennen?«

Sie schüttelte den Kopf und fragte sich ernsthaft, ob sie sich im Gebäude geirrt hatte und in einer Anwaltskanzlei gelandet war statt auf einer Polizeiwache. Wieso gab sich dieser Haarspalterso viel Mühe, Rollos Verhalten zu entschuldigen? Dann kam ihr ein gänzlich anderer Gedanke. »Wenn er erst anfängt, mir die Reifen plattzustechen …«

»Hausfriedensbruch«, sagte der Beamte unbeeindruckt. »Hausfriedensbruch ist das Einzige, weshalb Sie ihn anzeigen können. Sein widerrechtliches Eindringen ins Treppenhaus stellt eine Straftat gemäß Paragraf 123 StGB dar. Doch glauben Sie mir, wegen Hausfriedensbruch wird ihn kein Gericht der Welt jemals einsperren, selbst wenn er die nächsten hundert Jahre nicht aufhört, Sie zu besuchen.«

»Er macht mich wahnsinnig«, flüsterte Laura. Im nächsten Moment fing sie an zu schreien. »Sie machen mich wahnsinnig! Was ist, wenn er mir etwas antut? Wenn er mich erschlägt? Oder sich an meinen Kindern vergreift? Ich habe es Ihnen doch bereits erklärt: Wenn er getrunken hat, ist er unberechenbar. Fragen Sie hinterher auch noch nach Zeugen und beten mir den Paragrafen für Hausfriedensbruch vor?«

Der Beamte starrte sie an, als hätte er es mit einer komplett Schwachsinnigen zu tun. Dann wiegelte er ab. »Na, hören Sie mal, wir reden hier über einen ausgeflippten Eifersüchtigen, über einen jungen Mann, der nicht damit klarkommt, dass Sie mit ihm Schluss gemacht haben. Das stempelt ihn nicht gleich zum Meuchelmörder, oder?« Er verzog das Gesicht, was entfernt wie ein Lächeln aussah. »Glauben Sie mir, der wird sich wieder beruhigen. Mit solchen Fällen haben wir tagtäglich zu tun. Ist nichts Besonderes.«

»Nichts Besonderes? Vielen Dank!«

Sie hatte fluchtartig die Wache verlassen. Der Polizist hatte ihr die Empfehlung hinterhergerufen, sich nach einer Garage umzusehen. »Wegen der Reifen …«

Idiot!

Die Kleinen, Vincent und Mona, hatte Laura bis auf Weiteres zu ihren Eltern aufs Land gebracht, wo sie sicher waren. Nicht auszudenken, was geschehen mochte, wenn Rollo irgendwie an die Kleinen herankam, beispielsweise indem er sie im Uni-Kindergarten abholte. Wenn er den Zwergen etwas antat, das schwor sie sich, würde sie ihn ohne mit der Wimper zu zucken umbringen.