Süßer die Böller nie klingen ... - Renate Bergmann - E-Book

Süßer die Böller nie klingen ... E-Book

Renate Bergmann

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Beschreibung

Alle Jahre wieder versuchen wir auf Biegen und Brechen, noch schnell die besten Erlebnisse und die größten Emotionen unterzubringen: Weihnachten soll der Höhepunkt familiärer Liebe und Besinnlichkeit werden, Silvester hingegen die fetteste Party des Jahres mit den coolsten Freunden und natürlich einem traumhaften Kuss unterm Mistelzweig. Und in den Tagen «zwischen den Jahren» wollen wir endlich mal zur Ruhe kommen, gute Gespräche führen, oder all das erledigen, was wir in den letzten zwölf Monaten erfolgreich aufgeschoben haben. Doch alle Jahre wieder kommt es dann garantiert ganz anders als geplant – gerade weil man eben diese Familie und diese Freunde hat, und weil nach dem Druck der verordneten Besinnlichkeit meist die Panik einsetzt, wo und mit wem und mit welchem Raclette man mit oder ohne Böller vollkommen entspannt ins neue Jahr rutscht! Diese Anthologie versammelt humorvolle Geschichten namhafter Autoren rund um die erwartungsbeladenen Feiertage – mit Beiträgen von Renate Bergmann, Harald Braun, Dietrich Faber, Christian Gasser, Tobi Katze, Tania Kibermanis, Käthe Lachmann, Judith Luig, Sandra Lüpkes, Mia Morgowski, Tex Rubinowitz, Sören Sieg, Jessica Wagener, Edgar Wilkening und Jenni Zylka.

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Seitenzahl: 281

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Renate Bergmann, Tex Rubinowitz, Tobi Katze u.a.

Süßer die Böller nie klingen …

Geschichten über die irre besinnliche Zeit zwischen Weihnachten und Silvester

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Alle Jahre wieder versuchen wir auf Biegen und Brechen, noch schnell die besten Erlebnisse und die größten Emotionen unterzubringen: Weihnachten soll der Höhepunkt familiärer Liebe und Besinnlichkeit werden, Silvester hingegen die fetteste Party des Jahres mit den coolsten Freunden und natürlich einem traumhaften Kuss unterm Mistelzweig. Und in den Tagen «zwischen den Jahren» wollen wir endlich mal zur Ruhe kommen, gute Gespräche führen, oder all das erledigen, was wir in den letzten zwölf Monaten erfolgreich aufgeschoben haben.

Doch alle Jahre wieder kommt es dann garantiert ganz anders als geplant – gerade weil man eben diese Familie und diese Freunde hat, und weil nach dem Druck der verordneten Besinnlichkeit meist die Panik einsetzt, wo und mit wem und mit welchem Raclette man mit oder ohne Böller vollkommen entspannt ins neue Jahr rutscht!

Über Renate Bergmann, Tex Rubinowitz, Tobi Katze u.a.

Renate Bergmann, geb. Strelemann, wohnhaft in Berlin. Trümmerfrau, Reichsbahnerin, Haushaltsprofi und vierfach verwitwet: Dahinter steckt Torsten Rohde, Jahrgang 1974, der in Brandenburg/Havel BWL studierte und als Controller gearbeitet hat. Sein Account @RenateBergmann entwickelte sich zum Internet-Phänomen. Seine bisherigen drei Bücher waren große Erfolge und standen mehrere Monate auf der Bestsellerliste.

 

Harald Braun, geboren 1960, lebt und arbeitet in Horst (Holstein) als Autor von Sachbüchern und schreibt Texte für Magazine und Wochenzeitungen.

 

Dietrich Faber wurde 1969 geboren. Bekannt wurde er als ein Teil des mehrfach preisgekrönten Kabarett-Duos FaberhaftGuth. Bereits sein erster Roman «Toter geht´s nicht» schaffte es auf Anhieb mehrere Wochen auf die Bestsellerliste. Seine Lesungen und Buchshows zu seinen Romanen um den wenig charismatischen Kommissar Bröhmann wurden zu Bühnenereignissen. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Mittelhessenmetropole Gießen.

 

Christian Gasser wurde 1963 in Bern geboren und lebt heute in Luzern und auf Lamposaari als freier Schriftsteller, Journalist und Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Er ist Mitherausgeber des Comic-Magazins STRAPAZIN und mehrfach preisgekrönter Hörspiel- und Feature-Autor.

 

Tobi Katze, geboren 1981, schreibt Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Drehbücher. 2009 schloss er sein Studium der Literatur- und Kulturwissenschaften ab. Seit mehr als zehn Jahren tritt er auf Poetry Slams und Lesebühnen auf. 2007 gewann er den LesArt-Preis der jungen Literatur und 2014 den Bielefelder Kabarettpreis für sein erstes Bühnenprogramm «rocknrollmitbuchstaben». Im Januar 2014 startete er auf stern.de sein Blog «Das Gegenteil von traurig» über Leben und Arbeit mit Depressionen.

 

Tania Kibermanis, geboren 1972, lebt mit ihrem Sohn, einer Bulldogge und einer Dauerkarte für den besten Fußballverein der Welt auf St. Pauli. Nach ihrem Studium der Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte arbeitet sie seit 2004 als freie Autorin. Ihre Porträts, Erzählungen und Kolumnen sind in zahlreichen Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien erschienen, darunter «ZEIT», «taz», «Junge Welt» und «Brigitte Woman».

 

Käthe Lachmann ist Komikerin und Buchautorin aus Hamburg. Mit ihren selbstgeschriebenen Comedyprogrammen war sie zwanzig Jahre lang bundesweit unterwegs. Parallel ist sie als Buchautorin tätig, sie hat bisher drei Romane veröffentlicht («Draußen nur Männchen», «Ich bin nur noch hier, weil du auf mir liegst» und «Wenn zwei sich streiten, freut sich Brigitte»), außerdem verschiedene Kurzgeschichten und Geschenkbücher. Weihnachten fände sie mit einer Katze noch schöner, Silvester täte ihr die aber leid.

 

Judith Luig, Jahrgang 1974, begann ihre journalistische Karriere als Reporterin für Schützenkönigskrönungen, Karnevalsprinzessinnen und goldene Hochzeiten. Sie schrieb für die «taz» über Frauen, Männer und Paralleluniversen und unterrichtete Literaturwissenschaften an der Freien Universität und an der Humboldt-Universität Berlin. Für die «Welt am Sonntag» stieg sie auf in die Liga der Thronfolgerhochzeiten, Heavy Metal Festivals und Protestkulturen. Aktuell ist sie Reporterin der «Berliner Morgenpost».

 

Sandra Lüpkes kennt sich an der Nordsee und auf den Inseln bestens aus: Die Autorin ist auf Juist aufgewachsen und war viele Jahre selbst Gastgeberin für Nordseeurlauber. Sie hat zwei Töchter und wohnt seit einigen Jahren mit dem Schriftsteller und Drehbuchautor Jürgen Kehrer in Münster. Zahlreiche Romane, Sachbücher, Drehbücher und Erzählungen hat Sandra Lüpkes bereits veröffentlicht.

 

Mia Morgowski ist gebürtige Hamburgerin. Viele Jahre hat sie als Grafik-Designerin in verschiedenen Werbeagenturen gearbeitet, bevor 2008 ihr Debütroman erschien: «Kein Sex ist auch keine Lösung» war ein Bestseller und wurde erfolgreich fürs Kino verfilmt. Es folgten zahlreiche weitere Romane, die sich alle ihrem größten Hobby widmen: dem modernen Mann und seinen Macken. Denn Mia kennt sich aus mit Männern. Einen hat sie sogar geheiratet.

 

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 als Witzezeichner, Maler, Musiker und Schriftsteller in Wien. 2014 erhielt er den Bachmann-Preis.

 

Sören Sieg wurde geboren, wuchs auf, studierte, arbeitet und wohnt. Nähere Angaben müssen aus Rücksicht auf seine Familie leider unterbleiben. Seit 2012 schreibt er für die Rowohlt-Weihnachtsanthologie. Im August 2016 erschien sein elftes Buch «Die dünnen Jahre sind vorbei» bei Ullstein. (www.soerensieg.de)

 

Jessica Wagener, geboren 1977, arbeitete als freie Journalistin in Hamburg, u.a. für stern.de. 2014 erschien ihr erstes Buch «Narbenherz», 2016 folgte «Wir geben Opa nicht ins Heim!». Seit 2015 lebt sie in Berlin, wo sie als Redakteurin bei ze.tt tätig ist. Sie bloggt auf www.jessyfromtheblog.de und twittert als @pseudonymphe und @die_enkelin.

 

Edgar Wilkening, Jahrgang 1959, schrieb schon komisch, als Comedy noch Kabarett hieß. Lebt in Hamburg auf St. Pauli. Bekam mit 24 seinen ersten Literaturpreis für komische Texte und blieb daraufhin dem satirischen Schreiben treu.

 

Harald BraunJunge, Junge!

Der Mann, der nur mal kurz Zigaretten holt und nicht wiederkommt. Jedes Jahr, wenn Kollege Ruhland mir «Frohe Weihnachten» oder «Ski heil» wünscht und ich auf dem Gang vor unseren Büros auf den Aufzug warte, wäre ich das gern: ein Untertaucher. Ein Mann ohne Ziel und Verpflichtungen, nur auf der Welt, um sich ein paar Tage treiben zu lassen. Ich weiß, dieses Gefühl wird sich erst wieder am ersten Montag des neuen Jahres ausschleichen, so wie ein aufdringliches Deo, das man sich in der Umkleidekabine eines Fitnessclubs eingefangen hat. Bis dahin wünsche ich mir insgeheim, meine Eltern wären schon lange tot oder ich würde irgendwo abgeschieden ohne Freunde und nennenswerte Vergangenheit auf einem indonesischen Archipel leben, hätte jedenfalls, und darum geht es, gute Gründe, die kommenden beiden Wochen einfach nur so vor mich hin zu existieren. Ohne Aufgaben, familiäre Verpflichtungen und die üblichen Rituale, ohne die man in dieser Zeit so schwer auskommt. Es gibt ja diesen Mythos, dass man besonders in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr so gut zur Ruhe kommen und mal so richtig durchatmen kann – jedenfalls feine Tage erlebt, in denen man Kraft schöpft für die Anforderungen des neuen Jahres, das zwischen Vier-Schanzen-Tournee und Dinner for One schon draußen vor der Türe scharrt. Ich weiß nicht, wer diesen Komfort-Quatsch in die Welt gesetzt hat. Ich kenne niemanden, der zwischen den Jahren zur Ruhe kommt oder gar entschleunigt, um dieses Quarkwort aus der Wellness-Welt auch mal zu benutzen. Für mich beginnt in dem Moment, in dem ich an einem 22. Dezember des Jahres aus dem Büro auf die Straße trete, die hektischste Zeit des Jahres, fremdbestimmt und hastig. Wir reden da über gedrängte Termine, lange Autofahrten und große Erwartungen. Über eine intensive Phase im Leben, in der zwischen Tannenbaum und Bleigießen keine innere Ruhe auf mich wartet, sondern ein veritabler Tinnitus.

Das beginnt schon einmal damit, dass ich ein Heimkehrer bin. Heimkehrer sind Leute, die nach dem Abitur aus ihrer Heimatstadt weggegangen sind, um ein Studium in einer fremden Stadt zu beginnen, und dort aus Gründen geblieben sind, die einem selbst nicht mehr einleuchten. Sie haben einen Job, vielleicht sogar einen Partner, aber in der Regel keine Kinder, führen also ein beinahe vollständiges Leben in der Fremde. Das bewahrt sie aber nicht davor, schon im Oktober oder spätestens im November jeden Jahres die Anrufe der zurückgebliebenen Sippschaft und der alten Schulfreunde entgegenzunehmen. In meinem Fall ist der genaue Wortlaut variabel, unter dem Strich läuft es aber immer auf den als Frage getarnten Befehl hinaus: «Du kommst doch Weihnachten nach Hause, oder?!»

Mach ich das? Mir würden da schon ein paar reizvolle Alternativen einfallen. Sich mit allen Woody-Allen-Filmen der 80er Jahre im Wohnzimmer verschanzen und sieben Tage nur von Chips und Brause leben, zum Beispiel. Endlich die Knausgard-Bücher lesen, die schon seit Monaten auf meinem Nachttisch verstauben, vielleicht sogar mal die überfällige Steuererklärung machen. Okay, streichen Sie den letzten Satz. Aber es ist die Wahrheit: Ganz freiwillig kehre ich sicher nicht jedes Jahr nach Hause zurück. Was aber hat man denn für realistische Optionen, wenn man nicht von all seinen Freunden verstoßen und der Familie enterbt werden will: richtig. Nach Hause fahren. Auf vereisten Straßen durch die halbe Republik und diverse Staus, weil man es auch in diesem Jahr wieder versäumt hat, rechtzeitig ein Bahnticket zu besorgen. Beladen mit in letzter Sekunde erworbenen Geschenken und dem Gefühl, mehr Menschen in drei Tagen treffen zu müssen als im gesamten Rest des Jahres. Was aber, da macht man sich besser keine Illusionen, sowieso nicht klappen wird.

Jedes Mal, wenn ich Ende Dezember seufzend nach Eschweiler zurückkehre, einer, nun: eher betulichen Kleinstadt bei Aachen, in der ich über 20 Jahre gelebt habe und die ich auch heute noch als meine echte Heimat bezeichnen würde, nehme ich mir fest vor: diesmal nicht. Diesmal wirst du ganz lässig vor dich hin atmen, ein paar alte Freunde treffen und eine überwiegend schöne Zeit haben. Heiligabend wirst du im Kreise der Familie im Dämmer fortwährender Nahrungsaufnahme auf die Bewusstseinsstufe eines Gemüses abdriften und direkt nach dem 2. Weihnachtstag mit ein paar Leuten in den Skiurlaub starten – und auch den wirst du diesmal ausnahmsweise einmal genießen. Das wär’s. Kann ja so schwer nicht sein. Relax. Ich habe eine gewisse Routine darin, mich selbst zu belügen … Doch insgeheim spüre ich schon ein paar Kilometer vor der Stadtgrenze, dass es so einfach nicht werden wird. So einfach wird es nie.

Über den gemeinsamen Kirchgang und das Essen am Heiligabend mit meiner Familie mache ich mir zu diesem Zeitpunkt noch die wenigsten Gedanken. Die Rituale innerfamiliärer Zuneigung und sozialer Kontrolle sind längst so weit institutionalisiert, dass hier im Prinzip keine unangenehmen Überraschungen zu befürchten sind. (Behalten Sie das mal ein paar Seiten im Hinterkopf. Es stimmt nicht …) Schwieriger, das denke ich jedenfalls in diesem Moment, wird es mit den alten Freunden. Mit den Menschen also, die mich mit 13 Jahren als spillerigen Pubertisten kannten, der Profifußballer werden wollte. Mit Leuten, die mich mit 18 Jahren ertrugen, als ich in meiner Freizeit ein überzeugter Salonmarxist war, und mit 23, als ich mich bei Suhrkamp um ein Praktikum bewarb, nur weil ich dachte, das neue Handke-Buch verstanden zu haben.

Es ist so: An jedem Heiligabend treffe ich mich mit ein paar alten Freunden in meiner Heimat, und zwar immer in derselben Kneipe: einem Laden namens Gürzenich. Früher war der Wirt dort Fluppes, ein adipöser Hobbit mit der Ausstrahlung einer Futterrübe, dessen Geschäftssinn nur noch von seinem Durst übertroffen wurde. Inzwischen wird das Gürzenich zwar von jungen Frauen betrieben, aber geändert hat sich hier wenig, seitdem ich vor Jahrzehnten hier drin Karneval und später mein Abi gefeiert habe. Der Mief von abgestandenem Bier wabert durch die verwinkelte Bierburg, schlichtes Kölsch ist der Verkaufsschlager des Hauses, und wer Hunger hat, wird raus in die Schnellengasse gescheucht, in irgendeinen Imbiss, der bei uns immer schon Frittebud hieß. Mehr Rendezvous mit der Vergangenheit geht nicht, wir reden hier über eine Inventur der eigenen Persönlichkeit. Hier begegnet man sich selbst wieder in einem Stadium, das man längst vergessen zu haben hoffte, gespiegelt in den Augen von ehemals engen, nahen Freunden, denen man auch Lichtjahre später nichts vormachen kann und die einem 20 Jahre oder länger dabei zugesehen haben, ein Mensch mit sichtbaren Konturen zu werden.

So ein Abgleich der frühen Ideale ist aber nur ein Problem auf der Weihnachtsreise in die Vergangenheit. Das nostalgische Treffen mit all denen, die nach dem Abi in die Welt ausschwärmten, um Entwicklungshelfer, Stewardess oder Arzt ohne Grenzen zu werden, birgt zwar die Gefahr, zum unwürdigen «Mein Haus, mein Auto, mein Swimmingpool» zu verkommen. Doch das ist – etwas Wohlwollen vorausgesetzt – ein lösbares Problem. Inzwischen haben wir ja alle eine gewisse Routine darin, den offiziellen Grenzverlauf der eigenen Existenz in barmherzigen, warmen Farben auszumalen. Das ist erlaubt, das tut niemandem weh. Viel unangenehmer aber ist die Erkenntnis, dass man am Abend vor Weihnachten in einer Spelunke mit alten Freunden hockt, denen man früher vertrauensvoll die Rohentwürfe der eigenen Persönlichkeit zugemutet hat und die heute nicht mal mehr begreifen, was im eigenen MP3-Player los ist. Es sind Leute, denen man bedenkenlos für drei Wochen die eigenen Kinder anvertrauen würde, mit denen aber jede Diskussion über Pegida, Helene Hegemann oder den Niedergang von Pep Guardiola sinnlos wäre. Es handelt sich um liebe Leute, die man aus ganzem Herzen mag, deren Leben man aber schon lange nicht mehr versteht.

Es sind Szenen aus dem absurden Kommunaltheater, über die ich gerne lachen würde.

«1500 Euro für drei Zimmer?», fragt Felix mit gespielter Entrüstung in der Stimme, «bei dir brennt ja wohl keine Kerze mehr am Baum! Soll ich dir mal verraten, was mein Haus gekostet hat, alles in allem?» Soll er natürlich nicht, aber Felix hat «gebaut», ganz in der Nähe seiner Eltern, und das ist eine spannende Begebenheit, die FK, Sabine und ich uns in allen Einzelheiten anhören müssen. Wir sind schließlich alte Freunde und haben zusammen Abitur gemacht. FK lebt derweil in München, und 1000 Euro sind für drei Zimmer Altbau im Glockenbachviertel ein amtlicher Tarif. Doch damit kommt er bei Felix nicht durch. Felix kennt die Preise. Er hat BWL studiert, früh geheiratet und würde vermutlich abstreiten, dass wir alle zusammen vor 15 Jahren mal ein leerstehendes Verwaltungsgebäude besetzen und zur Kulturfabrik ausrufen wollten.

«Bist du eigentlich noch politisch aktiv?», fragt Sabine. Ich zucke zusammen. Wir hatten damals ein wenig Ärger miteinander, weil sie sich bei der Volkszählung ein paar Mark dazuverdienen wollte und ich sie als Büttel einer faschistischen Überwachungsgesellschaft beschimpft habe. Inzwischen ist Sabine Lehrerin an unserem alten Gymnasium. Deutsch und Geschichte. Sogar ein paar alte Lehrer gehören zu ihrem Kollegium. FK verdreht die Augen. FK und Sabine sind früher mal ein paar Jahre «zusammen gewesen». Wie wir alle an diesem Tisch, anders zwar, aber irgendwie auch. Allein die Erinnerung daran hat heute etwas von einem Arte-Themenabend. Irgendwie surreal, schwarz-weiß und grobkörnig.

«Verkaufst du immer noch Hundefutter?» FK, der seinen ambitionierten Eltern den Namen Friedrich-Karl verdankt, stöhnt auf: «Felix. Ich verkaufe kein Hundefutter. Ich verwalte den Etat des größten Tierfutterherstellers in Deutschland. Geht das in deinen Erbsenzählerschädel hinein?» Felix grinst seinen alten Freund FK milde an, der früher mal die Theater-AG an der Schule leitete und nach München ging, um Regisseur zu werden.

«Ja, klar, du machst Reklame für Frolic. Ist das nicht dasselbe?» FK arbeitet als Creative Director in einer Werbeagentur. Da werden Mitarbeiter, die das Wort «Reklame» auch nur aussprechen, geteert und gefedert. FK will schon antworten, doch dann hält er inne und lacht.

«Und bei dir? Kommt Mutti noch jeden Tag und holt die dreckige Wäsche ab?»

Vermutlich ist das so. Felix gibt die Wäsche bei seiner Mutter ab, Sabine ist mit unserem alten Mathelehrer per du, mein nachhaltigstes politisches Statement der letzten 10 Jahre war die Teilnahme einer Greenpeace-Pressereise auf die Galapagosinseln, und FK, der promovierte Kommunikationswissenschaftler, wirbt für Tiernahrung. Einen Moment herrscht Stille am Tisch. Wir lachen uns wortlos an, ein unerwarteter Augenblick der Harmonie. Vielleicht ist im Hintergrund sogar Barbra Streisand zu hören, «The way we were». Oder wahrscheinlicher bei 80er-Jahre-Gymnasiasten «Verdamp lang her» von BAP. Es ist der Moment, an dem alle am Tisch aufgegeben haben, im Karst unserer Geschichte nach einem verbindenden, nachhaltigen Element zu suchen, das sich benennen ließe. Es ist auch der Moment, wo wir Frieden schließen mit dem Versuch, unser eigenes Leben darzustellen wie den Jackpot in der Lotterie. Und, nicht zu vergessen: Es ist der Moment, an dem wir intuitiv erfassen, dass keiner von uns mit dem andern tauschen wollte. Allein das zu verstehen und die ganze Situation nicht für einen Beweis von Unreife oder intellektueller Minderbegabung zu halten, kostet jeden von uns ein paar Stunden aufgeregte Diskussionen, an jedem 23. Dezember. Danach ziehen wir weiter durch die wenigen anderen Kneipen in unserer Heimatstadt, dort wo man uns Heimkehrer mit Nachsicht behandelt. Wie Kriegsveteranen fühlen wir uns, die an den Ort ihrer frühen Schlachten zurückkehren und nach den alten Wimpeln in den Vitrinen suchen. Vermutlich lacht man uns insgeheim sogar aus, doch damit können wir nun, weit nach Mitternacht und beseelt von einem unvergleichbaren Gemisch aus Wermut und Wehmut, für ein paar Stunden gut leben. Das wahre Abenteuer unserer Rückkehr steht uns ja erst noch bevor: Wir sind nicht nur nach Hause, zurück in unsere alte Heimat gekommen – wir haben auch automatisch unsere alten Plätze wieder eingenommen. Das zeigt sich vor allem in den nächsten Stunden, wenn wir zu unserer Familie ins Elternhaus zurückkehren.

Eine meiner Lieblingsphantasien geht so. Stellen Sie sich die Villa des Bundespräsidenten vor, das Haus von Joachim Gauck. Wir sehen den Mann mit seiner Lebensgefährtin und zwei weiteren noch älteren Menschen am Tisch sitzen und Suppe in tiefen Tellern löffeln.

«Nicht so viel, Joachim», sagt die ältere Dame vorwurfsvoll, «und tu dem Papa mal zuerst auf, der wartet ja schon seit Stunden auf dich!»

«Mutter, tut mir leid», sagt dann unser Bundespräsident, «es ging wirklich nicht eher, ich musste mich doch im Bundestag noch mit dem Kanzler treffen und eine erbauliche Ansprache ans deutsche Volk halten, das wisst ihr doch!»

«Ach, Papperlapapp, du hättest dich wirklich etwas beeilen können, du weißt doch, dass dein Vater seine Mahlzeiten immer um Punkt 12 Uhr einnimmt. Und wie siehst du schon wieder aus? Kannst du kein vernünftiges Hemd tragen, wenn du einmal im Jahr bei uns hier zu Besuch bist?» Unser Bundespräsident seufzt dann gequält und verdreht die Augen. Hier endet meine Lieblingsphantasie regelmäßig. Zum einen weil ich über den gereizten Ausdruck im Gesicht unseres Präsidenten immer so kichern muss, zum andern aber weil meine Mutter schließlich ebenfalls die Antwort auf eine Frage erwartet, die sie mir gestellt hat.

«Hast du denn nichts anderes anzuziehen?» Es fehlt eigentlich nur noch, dass sie ergänzt:

«Was sollen denn die Nachbarn sagen, wenn du in diesem Aufzug Weihnachten feierst?»

Ja, was werden sie wohl sagen, wenn sie mich in einer ganz normalen Jeanshose (ohne Knielöcher!) und einem T-Shirt ertappen, auf dem ein alter VW Bulli abgebildet ist, in Gelb und Grün? Ist er farbenblind, ein Retrofreund, ist ihm nicht kalt, vermutlich. Skandalös. Ich verzichte darauf, meiner Mutter zu antworten. Stattdessen denke ich wieder an Joachim und muss lächeln … Jaja, ich gebe zu – zuweilen beame ich mich in Paralleluniversen, in denen meine Probleme von Dieter Bohlen, Franz Beckenbauer oder dem aktuellen Bundespräsidenten erledigt werden, jedenfalls von Leuten, die es nicht besser verdienen. Leider bringt das nur kurzzeitig etwas Erholung, denn wenn ich die Augen aufschlage, sind meine Eltern immer noch da. Und ich sitze auf ihrem Sofa, bei meinem jährlichen Besuch zu Weihnachten.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe meine Eltern. Ich habe mich 23 Jahre von und bei ihnen durchfüttern lassen und mich gemeinsam mit ihnen durch eine endlose Pubertät gekämpft, bevor ich das Hotel Mama verließ. Ich bin ihnen dankbar und werde sie bis ans Ende meiner Tage lieben. Zumindest 51 Wochen im Jahr. In der anderen, der fehlenden letzten Woche des Jahres, bin ich tatsächlich vor Ort – und das auch noch mit 50 in meiner vor gefühlten Jahrzehnten eingeführten Rolle als unverschämter Rüpel, der sein Zimmer nicht ordentlich aufgeräumt hat.

Geht das nur mir so? Bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der sofort wieder zu einem bockigen Vierzehnjährigen retardiert, wenn seine Eltern bloß in der Nähe sind? Oder ist das nur mein Problem, und ich bin auf eine drollige Art zurückgeblieben? Jedes Mal nehme ich mir wirklich vor, ganz ruhig zu bleiben und superfreundlich, mitteilsam und milde interessiert. Ich freue mich schon auf eine Darbietung als perfekter Sohn, um den man sich sozial, aber auch finanziell keine Sorgen mehr zu machen braucht, der aber auch kein schnöseliger Besserverdiener geworden ist – ich stelle mir da gern die goldene Mitte aus gut versorgt, aber auf dem Boden geblieben vor. Das Nächste, was ich wahrnehme, ist allerdings mein genervter Aufschrei nach etwa fünf Minuten in der Gegenwart meiner Eltern.

«Mensch, Mama, jetzt lass doch endlich den dusseligen Feudel liegen und setz dich für einen Moment ruhig hin. Wir haben doch schon ewig nicht mehr miteinander geredet!» Oder, alternativ: «Nein, bitte räume den Tisch noch nicht ab, ich esse noch!» Hin und wieder blaffe ich auch meinen Vater an: «Niemanden im Büro kümmert es, dass ich mir einen Bart stehen lasse, mach dir da mal keine Sorgen …!»

Das kommt aber nur selten vor, weil ich ihn beim Zeitunglesen nicht stören möchte …

Natürlich meinen Vater und Mutter es nur gut. Weiß ich ja. Aber das heißt nichts. Mich regt es trotzdem auf, wenn sie unverdrossen auf meine vermeintlich mangelhafte Ausstattung an Lebenstüchtigkeit hinweisen: «Was heißt das, du hast keine feste Partnerin? Mal die und mal jene?» Das Kopfschütteln wird von einem geseufzten ‹Junge, Junge› begleitet. Und wird in der Regel mit dem Satz «Wir wünschen uns aber schon irgendwann mal Enkel, das weißt du doch hoffentlich?!» abgeschlossen.

Sie sehen es selbst: Weihnachten mit meiner Familie ist kompliziert. So ein bisschen wie Untersuchungshaft, und ich habe noch nicht mal das Recht, einen Anwalt einzuschalten. Wie soll man unter diesen Vorausetzungen entschleunigen? Unmöglich. Stattdessen spüre ich, wie mir schon nach ein paar Stunden in meinem alten Kinderzimmer das Adrenalin aus den Ohren schwappt. Gesund ist das nicht. Und dann dieser Irrglaube, dass die eigene Brut ständig Hunger leidet! Meine Familie ruft in der Weihnachtszeit etwa sechs verbindliche Essenszeiten am Tag auf, die sich an den Abläufen eines gemeinen Klinikalltags orientieren und gefühlt nahtlos ineinander übergehen. Wehe, ich ziehe da nicht mit.

«Du bist wohl aus der Stadt was Besseres gewöhnt», spricht meine Mutter gewollt nachsichtig oder auch: «Na ja, du kommst ja auch in ein Alter, wo man ein bisschen aufpassen muss!» Es ist der Tonfall, der mich in Sekundenschnelle hochgehen lässt wie ein Polenböller. Es ist der gleiche Tonfall, in dem ich vor 25 Jahren aufgefordert wurde, nicht nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen, die Musik leiser zu drehen und mir endlich mal wieder die Haare schneiden zu lassen. Finden Sie es unter diesen Umständen nicht auch entschuldbar, dass ich schon nach wenigen Stunden daheim zu einem Pitbull werde, der gerade seinen Charaktertest in den Sand setzt?

Okay, ich weiß, es sind nur ein paar Tage, und ein so reifer Erwachsener wie ich sollte in der Lage sein, für diesen kurzen Zeitraum auf die Zähne zu beißen. Es klappt trotzdem nicht. Meine Eltern kennen die Codes, die mich innerhalb von Sekunden zum Kochen bringen. Und sie setzen sie auch ein: Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass der Erziehungsauftrag von Eltern niemals endet. Das macht es nicht einfacher. Die vermeintlich harmlosesten Bemerkungen können nackte Raserei hervorrufen:

«Du siehst ja schlecht aus, Junge, ist wohl spät geworden gestern Nacht mit deinen Freunden?» Aaaaargh!

Ist die Besuchszeit in der alten Heimat dann endlich abgelaufen, bleiben auf beiden Seiten Irritationen zurück.

«Junge, Junge, wirst du denn nie erwachsen?», fragen sich meine Eltern nonverbal, aber spürbar und schütteln noch in der Türe ihre Häupter, im befriedigenden Bewusstsein immerhin, dass sie dem Jungen in den zurückliegenden 72 Stunden wenigstens was Vernünftiges auf den Teller geladen haben. «Nur weg hier …», antworte ich derweil ebenso nonverbal und einigermaßen verdrossen vor dem Haus, während ich mich umdrehe und noch mal lächelnd Richtung Fenster grüße, an dem meine Eltern stehen und synchron winkend warten, bis ich außer Sicht bin, für die nächsten 51 Wochen.

Ein Besuch in der alten Heimat zwischen den Jahren ist anstrengend. Danach bin ich jedes Mal so erschöpft, dass ich denke: Jetzt bin ich wirklich urlaubsreif. Dann fällt mir ein, dass ich doch tatsächlich jetzt Urlaub habe, zumindest auf dem Papier. Einen kurzen Moment lang währt die Freude darüber, dass ich meine Retro-Rolle als tendenziell problematischer Sohn im Haus meiner Eltern nun wieder in einem Winkel meines Bewusstseins verstauen kann, wo sie in aller Stille verblassen kann wie eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, die man einmal im Jahr anschaut. Doch dann wird mir klar, dass auch die freien Tage, die sich jetzt anschließen, nicht frei von Fallstricken sind.

Ich reise in den Schnee, wie man so sagt, erneut Hunderte Kilometer mit dem Auto durchs ganze Land. Das Ziel ist eine Hütte in der Schweiz, in Bayern oder Österreich, das wird jedes Jahr aufs Neue entschieden. Ich treffe mich dort mit ehemaligen Studienfreunden, die in ganz Europa versprengt sind und die ich in der Regel nur einmal im Jahr sehe, in der Woche zwischen dem 2. Weihnachtstag und Neujahr. Unsere gemeinsame Reise würde zu keinem anderen Zeitpunkt klappen. Wir haben zu komplizierte Jobs, leben zu weit auseinander, bedienen unterschiedlichste Verpflichtungen. Nur zwischen den Jahren ist es überhaupt möglich, dieses Projekt unter einen Hut zu bringen. Darüber, dass der ganze Aufwand sich lohnt, besteht allerdings Einvernehmen. Es klingt ja auch toll, theoretisch. Eine Woche sorgloser Spaß auf Skiern, dazu Komfortprogramm in einer romantischen Hütte mit Freunden – verspricht das nicht großen Sport, reine Idylle und unvergessliche Momente? Nun, vielleicht denken Sie noch mal drüber nach …

 

«Was soll DAS denn sein?», fragte Pelle fassungslos, was einigermaßen überraschend ist, denn als Pathologe dürfte er schon viele schreckliche Dinge gesehen haben. Der Anblick von Spaghetti mit Salamistreifen, Maispampe und dickflüssiger Sahnesoße gehörte bis zu diesem Abend nicht dazu. Auch der Rest der großen Runde, die sich zum Abendessen am großen Tisch vor dem Kamin versammelt hatte, wusste nicht so recht, was sie von den dargebotenen Köstlichkeiten halten sollte.

«Sieht aus wie das Zeug, mit dem ich meine Fahrradkette öle», fand Olli, und Karina ging noch einen Schritt weiter: «Das verstößt doch bestimmt gegen alle kulinarischen Konventionen, die von der EU erlassen worden sind?» Carsten zuckte nur mit den Schultern.

«Ich habe euch gleich gesagt, dass ich kein zweiter Jamie Oliver bin!»

«Nee, du bist nicht mal Tim Mälzer seine Mutter!», ätzte Pelle zurück.

Carsten zuckte mit den Schultern.

«Der Einkauf hat versagt!»

Er blickte auf Bine und Britta, die aussahen, als würden sie sich am liebsten unter den Tisch verkrümeln.

«Hackfleisch hatten die halt im Laden nicht mehr, und da mussten wir halt ein wenig improvisieren.»

«Ihr habt Salami mitgebracht!», sagte Pelle fassungslos, «Salami! Zu Nudeln. Geht’s noch?»

Gegessen wurde an diesem Abend in unserer Skihütte dann wirklich nicht so viel. Stattdessen trank unsere hungrige Truppe etwas mehr. Im Alkohol sind ja auch Nährstoffe. Allerdings war auch unser Kompensations-Gelage nicht frei von Komplikationen, wie sich erweisen sollte: Aufgrund von Kommunikationsproblemen im Vorfeld der Reise waren zwar etwa 10 Flaschen Martini aus allen Teilen Europas in die Berge geschafft worden, aber nur ein Kasten Bier. Der logistische Gau, bereits am ersten Abend der gemeinsamen Hüttensause. Überraschend? Nicht für mich. Ich mache diese Reise ja schließlich schon seit Jahren mit. Nie klappt irgendetwas reibungslos. Nicht mal im Ansatz. Ich kann Ihnen sagen: Logistische Stolperfallen und soziale Tücken lauern bei solch einer Unternehmung wirklich überall.

Dabei freuen wir uns schon im Herbst wie Bolle, schicken Fotos herum und mailen uns muntere WhatsApp-Nachrichten zu. Vor dem geistigen Auge aller Beteiligten erscheinen freudvolle Bilder von sonnigen Skitagen und romantischen Hüttenabenden vor dem Kamin. Alles klingt noch zwei Wochen vor dem Event selbst nach einer ganz großartigen, unkomplizierten Zeit. Die kleingedruckten Spielregeln solch eines Projekts werden in dieser Phase des Unternehmens einfach ignoriert. Dass wir beispielsweise nicht Silvester feiern, um keine Dramen auszulösen, die stets zum Jahreswechsel drohen. Auch wird der Begriff «Selbstversorger-Hütte» mit Vokabeln wie «Küchendienst», «Einkaufsliste» oder «Putzplan» überhaupt nicht in Verbindung gebracht. Und das sind nur Marginalien im Vergleich zu den Problemen, die im Kontext unserer Lustreise für gewöhnlich auftauchen.

Allein die Zusammenstellung der idealen Reisegruppe ist eine Aufgabe, an der so mancher Friedensrichter scheitern würde. Hat man erst mal einen Organisator bestimmt, der in den Monaten vorher einen großen Teil seiner Tagesfreizeit opfert, um einen Schwung undankbarer Karpeiken unter einen Hut zu bringen, tauchen schon die ersten Fragen auf: Wer passt zu wem, wie stehts mit der Mann/Frau-Quote, und ist XY nicht ein zu großes Sicherheitsrisiko in Bezug auf Sozialfähigkeit, Körperhygiene und intellektuelle Minimalanforderung?

Je näher der Termin rückt, umso emsiger entwickelt sich der allgemeine E-Mail-Verkehr. (Wie konnte man solch eine Gruppenreise bloß früher organisieren, ohne verrückt zu werden?) Kurzfristige Absagen trudeln ein, Ersatzkandidaten werden gesucht, die Absager können dann plötzlich doch, sodass unsere Hütte plötzlich überbucht ist wie ein Ryan-Air-Flug nach Mallorca.

In der «WhatsApp»-Gruppe werden derweil entscheidende Fragen diskutiert:

«Kann ich den Hund mitbringen?»

«Ist Sauna nur nackt erlaubt?»

«Kann ich ein Einzelzimmer haben?»

Informationen zum Ort des Geschehens werden in die Runde geworfen («Das hat da zwischen Weihnachten und Neujahr noch NIE guten Schnee gehabt!»), und erste Duftmarken werden gesetzt: «Ich gehe mal davon aus, dass in der Hütte überall geraucht werden darf.»

Es ist ein Wunder, dass sich die Hälfte aller Leute nicht schon vor dem Antritt der Reise heillos verkracht hat. Eine Woche vor Ultimo stehen dann etwa 20 mehr oder minder freudig erregte Ski- und Snowboard-Freunde mental in den Startlöchern und müssen jetzt nur noch dieses Weihnachten überstehen, ohne sich der Völlerei auszuliefern. Natürlich haben es 16 von 20 Teilnehmern aus unterschiedlichen Gründen wieder nicht geschafft, ihren längst fälligen Obolus für Anreise und Hausmiete zu entrichten. Das macht vor allem mich nicht fröhlich, denn schon wie in den Jahren zuvor bin ich auch diesmal wieder zum Cheforganisator bestimmt worden und musste die gesamte Summe für die Miete der Hütte vorstrecken. Zudem verwandte ich erneut einen amtlichen Teil meiner Freizeit in den letzten Wochen allein darauf, eine adäquate Unterkunft zu suchen. Die Erfahrung zeigt, dass die ersten 15 Vorschläge ohnehin abgelehnt werden: zu klein, zu groß, zu teuer, zu runtergekommen, zu kleines Skigebiet, zu schweres Skigebiet, zu studentisch, zu nobel, keine Sauna, keine Terrasse, kein Kamin …

Erst die Rundmail mit der Andeutung, den Krempel einfach hinzuwerfen, sorgt dann doch noch für eine (knappe) Mehrheitsentscheidung. Meistens einigt man sich in solchen Fällen auf den allerersten Vorschlag.

Natürlich gibt es am Tag der Ankunft in der Hütte dann trotzdem die üblichen Irritationen. Vierbettzimmer? Gemeinschaftsduschen? Brennholz nur im Ort? Skipass nicht inklusive? Ach so …

Menschen, die in der Heimat auf 120 Quadratmeter saniertem Altbau residieren und über drei Bäder für zwei Personen verfügen, sehen sich plötzlich existenziellen Fragen ausgesetzt: Was sollen wir in dieser Jugendherberge? Mit wem, zum Teufel, bin ich auf dem Zimmer gelandet, habe ich überhaupt einen Schlafanzug dabei? Und wo sind hier die Steckdosen, damit ich Handy, iPod und Notebook aufladen kann? Es dauert in der Regel ein bis zwei Tage, bis sich auch saturierte Anwälte, IT-Nerds und wohlhabende Stadtplaner mit der Zeitreise in alte WG-Zeiten arrangiert haben und den Charme einer zugigen Vollholzbehausung aus dem 18. Jahrhundert für sich entdeckt haben, die weder über Zentralheizung noch über eine funktionierende Spülmaschine verfügt. In der Regel ist der Küchendienst für die kommende Woche dann schon eingeteilt, das morgendliche Brötchen-Kommando nominiert und alle Skipässe im Ort besorgt worden. Jetzt könnte der Spaß im Schnee eigentlich losgehen!

Leider drohen auch hier wieder Unwägbarkeiten. Das Wetter. Oder die Schneeverhältnisse. Ein oder zwei Tage schlechtes Wetter sind auf einer Skireise für niemanden ein Problem, denn schließlich wollte man ja ohnehin mal wieder ein gutes Buch lesen. Nach dem zweiten Tag aber, an dem 20 Menschen auf 80 Quadratmetern zusammengepfercht werden, stellen sich dann aber schon erste Anzeichen eines kollektiven Hüttenkollers ein. Lustige Gesellschaftsspiele, in denen Uni-Professoren beim TABU «Swingerclub» vortanzen oder Logopädinnen sich gelbe Post-its auf die Stirn kleben, auf denen steht, dass sie Zsa Zsa Gabor oder Beatrix von Storch seien, gehören da noch zu den harmloseren Vergnügungen. Ich wohnte auf Skihütten schon einem Luftgitarren-Contest bei und durfte erleben, wie verhinderte Snowboarder ihrem Bewegungsdrang Ausdruck verliehen, indem sie aus dem zweiten Stock hinunter in den Schnee sprangen, zu den Klängen von «Highway to hell».

Auch für die Sozialhygiene ist so ein Hüttenurlaub eine echte Herausforderung, selbst bei idealen Schneebedingungen. Es ist halt ein Unterschied, ob man die komödiantische Ader eines entfernten Bekannten und Exstudienkollegen früher einmal im Monat erlebte oder ob man dessen rheinischer Frohnatur eine sehr lange Woche schon beim Zähneputzen ausgeliefert ist. Auch die endlose Après-Ski-Polonaise zu den Klängen von «Viva Colonia» einmal durch die Hütte dürfte nicht nach jedermanns Geschmack sein – zumal dann, wenn gerade erst die letzten Kräfte bei der Hausmusik vor dem heimischen Tannenbaum mobilisiert worden waren. Selbst alte Freundschaften werden in solch einer emotionalen Gemengelage auf eine harte Probe gestellt. Dementsprechend tief sind die erleichterten Seufzer, wenn nach einer Woche der Berg zum letzten Mal gerufen hat und sich die Meute zur Abreise in alle Himmelsrichtungen versammelt. Ich wette, die meisten der Menschen, die sich dabei innigst in den Arm nehmen, denken: «Das tue ich mir nächstes Jahr aber echt nicht mehr an.»

Ich für meinen Teil bin mir da nicht so sicher. Auf der langen Fahrt nach Hause – ohne Musik, in vollkommener Stille – kehrt langsam wieder die Person in meinen Körper zurück, mit der ich den überwiegenden Teil des Jahres prima auskomme und die jetzt einige Tage hinter einem oberflächlichen Firnis aus Ritualen, reflexartigen Sozialgesten