Südwind - Anja Benedict - E-Book

Südwind E-Book

Anja Benedict

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Beschreibung

Der Hoffnung wird oft viel zu wenig Raum und Kraft in unserer Sprache eingeräumt, sie wird viel zu oft verschluckt von der Arroganz des Schicksals. Während Mary versucht, ihr erstes eigenes Kinderbuch zu illustrieren, poltert Tommes völlig unbeholfen und uncharmant in das Leben dieser jungen Frau. Sie begegnen sich zufällig auf Borkum und verbringen dort ihre Zeit, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Während Marys Blick zunächst auf sich selbst ruht, schweift Tommes ab und erkennt die Tiefe seines Seins in Mary. Südwind ist eine Liebeserklärung an Borkum und an das Leben selbst.

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Seitenzahl: 610

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Der Hoffnung wird oft viel zu wenig Raum und Kraft in unserer Sprache eingeräumt, sie wird viel zu oft verschluckt von der Arroganz des Schicksals.

Während Mary versucht, ihr erstes eigenes Kinderbuch zu illustrieren, poltert Tommes völlig unbeholfen und uncharmant in das Leben dieser jungen Frau. Sie begegnen sich zufällig auf Borkum und verbringen dort ihre Zeit, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Während Marys Blick zunächst auf sich selbst ruht, schweift Tommes ab und erkennt die Tiefe seines Seins in Mary.

Südwind ist eine Liebeserklärung an Borkum und an das Leben selbst.

Anja Benedict

Südwind

Roman

Impressum

Originalausgabe 2025

Text: © Copyright by Anja Benedict

Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Cortis

Verlag:

Anja Benedict

Urbanstr. 23

52445 Titz

[email protected]

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Für Johanna-Sofia, Merle und Louisa

Teil 1

28.09.2018

Mary Roth war angekommen. Endlich.

Vor genau sechs Stunden hatte sie ihrer Tochter und ihrem Freund auf Wiedersehen gesagt. Nun lagen 16 Tage vor Mary, um Ruhe und Kraft zu tanken. Tief sog sie die angenehm salzige Luft in ihre Lunge und spürte dem nervösen Kribbeln in ihrem Bauch nach. Über Emden hatte vor einer Stunde noch der Hochnebel gehangen, hier auf Borkum begrüßte sie aber die Sonne bei angenehmen 24 Grad.

Unbeholfen zog sie ihren schweren Koffer die Rampe des Katamarans hinunter.

Langsam bewegten sich auch alle anderen Passagiere Richtung Borkumer Kleinbahn, die bereits ihre Gäste erwartete. Mary hielt Ausschau nach Herrn Hansen, dem Vermieter ihrer Unterkunft. Sie hatten ausgemacht, dass er sie hier abholen würde.

Abseits entdeckte sie einen jungen Mann, der an einem Auto lehnte. Er trug eine kurze rote Hose, ein weißes T-Shirt und Sneakers und hielt einen Zettel vor sich. Als Mary ihren Namen darauf las, ging sie lächelnd auf ihn zu. Wegen der Telefonate mit ihm hatte sie ihn sich älter vorgestellt, vielleicht um die 60. Vor ihr stand jedoch ein gutaussehender, braungebrannter Mann mit halblangen, lockigen blonden Haaren, der etwa in ihrem Alter sein musste.

„Hi, ich bin Mary“, begrüßte sie ihn und deutete auf das Schild.

Er lächelte sie freundlich an und schüttelte ihre dargebotene Hand. „Hallo Mary, ich bin Peter. Mein Vater hat mich gebeten, dich abzuholen.“ Dann nahm er ihr das Gepäck ab und verstaute es im Kofferraum. „Hattest du eine gute Anreise?“, fragte er, als sie sich ins Auto gesetzt hatten und losfuhren. „Ja“, sagte sie grinsend. „Ich bin mit dem Auto bis nach Emden gefahren, habe es dort geparkt und war froh, dass ich in letzter Minute noch den Katamaran erreicht habe. Auf mich hätte er sicher nicht gewartet.“

Peter schmunzelte.

„Ich hoffe, dass Wetter bleibt so schön in den nächsten Tagen“, merkte sie zufrieden an, als sie ihren Kopf zum rechten Seitenfenster drehte und direkt der Sonne entgegen blinzelte. „Ich bin das erste Mal auf Borkum und sehr gespannt, was mich hier erwarten wird.“

Die übrige Fahrt zur Waterdelle verlief schweigsam, obwohl Mary bemerkte, dass Peter sie immer wieder aus dem Augenwinkel beobachtete. Was er wohl dachte? Wunderte er sich darüber, dass sie allein reiste? Wenn ja, dann war er entweder nicht neugierig oder einfach schüchtern, weil er nicht nachfragte. Darüber war Mary auch ganz froh. Sie wollte nicht über dieses Thema reden. Nicht schon wieder.

Etwa zehn Minuten später erreichten sie das Ferienhaus Waterdelle. Es lag östlich der Ortschaft Borkum, mitten in den Dünen.

Mary stieg aus dem Auto aus, atmete tief ein, schloss die Augen und lächelte. Es sollte eine gute Zeit hier auf Borkum werden.

Als sie die Augen wieder öffnete, hoppelte ein kleines Kaninchen über den Weg.

„Peter, hast du das Kaninchen auch gesehen?“, fragte sie verwundert.

Peter nahm ihren Koffer aus dem Auto und seufzte laut. „Die Kaninchen sind eine echte Plage, sie fressen nicht nur unsere Vorgärten kahl und untergraben die Dünen, sondern verursachen auch immense Schäden an den Deichen. Sie haben keine natürlichen Feinde hier auf Borkum und so werden es jedes Jahr mehr.“

Ohne dem Kaninchen Beachtung zu schenken, lief Peter bereits los zum Haus. Mary sah dem hoppelnden Tier allerdings noch zwei Sekunden nach, bevor sie ihm folgte.

Das Haus war kleiner, als es auf den Fotos im Internet den Anschein erweckt hatte, aber es wirkte sehr gemütlich. Eine schmale Treppe führte in das Obergeschoss, wo ihr Zimmer liegen musste.

Schnaufend zog Peter den breiten Koffer hinter sich die Treppe hoch. Sein Kopf war rot angelaufen. Oben angekommen, wischte er sich über die Stirn, atmete tief ein und wieder aus und kramte einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die erste Tür links auf. Dann übergab er Mary den Schlüssel, an dem ein Stück Holz mit der Nummer 1 darauf baumelte. „Willkommen“, sagte er lächelnd.

Sie betrat einen kleinen Raum, der jedoch sehr hübsch und maritim eingerichtet war. Außer dem Bett standen ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Schrank sowie ein Sessel darin.

„Das Badezimmer findest du schräg gegenüber, es ist ein Gemeinschaftsbad, die Küche und das Kaminzimmer befinden sich im Erdgeschoss“, erklärte Peter und stellte ihren Koffer vor den Schrank. „Noch bist du der einzige Gast meiner Eltern. Morgen erwarten sie einen weiteren Urlauber, der das Zimmer nebenan beziehen wird. Meine Eltern wohnen direkt nebenan. Scheu dich nicht zu fragen, wenn du etwas wissen möchtest. Hast du jetzt noch Fragen?“

Beinahe hoffnungsvoll wirkte das Lächeln auf seinen Lippen. Wollte er, dass sie weitere Fragen stellte? Aber warum? Sie blinzelte und überlegte, schüttelte dann aber den Kopf.

Peter nickte. „Okay, wir sehen uns sicher die Tage noch. Fühl dich wohl und genieß deinen Urlaub“, sagte er zum Abschied und verließ das Zimmer.

Mary ließ sich auf das Bett fallen, in dessen Matratze sie versank, und holte tief Luft. „Angekommen“, flüsterte sie und entspannte sich sofort. In diesem Haus würde sie die 16 Tage angenehm verbringen können. Sie schloss die Augen und schlummerte ein.

Blinzelnd öffnete sie die Augen. Die Sonne blendete sie und instinktiv fragte sie sich, wo sie war. Langsam drehte sie den Kopf und entdeckte den großen, unausgepackten Koffer. Es dauerte noch weitere drei Sekunden, bis sie es wieder wusste. Borkum. Ihre Auszeit.

Plötzlich hellwach geworden, setzte sie sich in ihrem Bett auf und überlegte, was sie als Erstes tun sollte. Zum Strand? In ein Café? Durch die Stadt bummeln? Sie hatte so viele Möglichkeiten!

Sie entschied sich für den Strandspaziergang, um runterzukommen. Also stand sie auf, schnappte sich den Rucksack, warf all die unnötigen Dinge darin auf das Bett und packte stattdessen ein Handtuch und etwas zu trinken ein, dann lief sie die Treppen nach unten.

Mary schloss die Haustür hinter sich und wandte sich in Richtung Dünen. Dabei fiel ihr Blick auf Peters Auto, das dort stand, wo er es vorhin geparkt hatte.

Sicher bleibt er zum Abendessen bei seinen Eltern – oder wohnt er wohlmöglich noch hier?Zumindest hat er recht mit den Kaninchen. Mary konnte sie nun überall in den Dünen entdecken.

Sie folgte einem kleinen Weg durch die Dünen, bis sie zum Sturmeck kam. Das Strandrestaurant war gut besucht. Kinder tobten im Sand, während die Eltern gemütlich Cocktails tranken und auf das Essen warteten.

Und dann sah sie diese endlose Weite, die kleinen und großen Sanddünen, manche begrünt, andere nicht sowie das Meer, das sich über den Horizont erstreckte.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Herz zog sich für einen Augenblick stechend zusammen, als sie nun endlich realisierte, dass sie auf ihrer wichtigsten Reise war.

Mary atmete stockend ein, blinzelte die Tränen aus den Augenwinkeln und zog ihre Flip-Flops aus. Mit dieser Weitläufigkeit hatte sie nicht gerechnet. Wie lange müsste sie wohl laufen, bis das Meer ihre Füße umspielte?

Zwei Jogger kamen ihr entgegen, die sie für einen kurzen Moment daran erinnerten, ihren Vorsätzen auch hier auf Borkum treu zu bleiben. Sie hatte sich vorgenommen, täglich etwas Sport zu machen. Seit Monaten war sie nicht mehr laufen gewesen. Daheim fehlte ihr oft die Zeit und noch viel häufiger die Kraft dazu. Für Borkum hatte sie sich aber extra die Laufschuhe eingepackt. Hier wollte sie keine Ausreden suchen. Hier, so hoffte sie, würde sie Zeit finden, für all die Dinge, die keinen Aufschub mehr duldeten. Hier wollte sie sich all die Zeit zum Nachdenken, Schreiben, Zeichnen, Lesen und Laufen nehmen.

Philipp, ihr Freund, hatte sich enttäuscht gezeigt, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie die Reise ohne ihre Tochter Emma und ihn antreten wollte. Zu gern hätten beide sie begleitet. Mary aber hatte darauf bestanden, diese Zeit nur für sich zu haben. Sie hatte ihm versichert, sich jeden Tag zu melden und gut auf sich aufzupassen. Am Ende hatte Philipp eingelenkt und war ihrem Wunsch nachgekommen.

Emma hatte heute Morgen beim Abschied geweint. Länger als drei Tage waren sie bisher noch nie voneinander getrennt gewesen und nun sollten es gleich 16 Tage werden. Während Mary die Tränen ihrer Tochter getrocknet hatte, hatte sie ihr versprochen, all die kleinen und großen Schätze, die sie am Strand finden würde, für sie einzusammeln. Jeden Tag wollte sie ihr eine Postkarte schreiben. Emma hatte versucht, zu lächeln, sich die Nase geputzt, Mary einen Abschiedskuss und eine letzte Umarmung gegeben. Dann hatte sie mit Philipp das Haus verlassen, um in den Kindergarten zu fahren.

Mary hatte den Kloß in ihrem Hals hinuntergeschluckt, ihre Tränen ebenfalls getrocknet, die ihr unwillkürlich über die Wangen gelaufen waren, und sich mit schmerzendem Herzen auf den Weg gemacht.

Ihr Herz pochte nun nicht mehr vor Schmerz, sondern vor Glück, als die flachen Wellen ihre Füße umspielten. Das Wasser war angenehm warm. Es wunderte sie nicht, immerhin war dieser Sommer einer der wärmsten seit Wetteraufzeichnungen.

Sie entschied sich, in Richtung Borkum Stadt am Strand entlangzuwandern, der immer tiefer stehenden Sonne entgegen.

Nur vereinzelte Touristen kreuzten dabei ihren Weg. Ein Kitesurfer kam im Flachwasser mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu und sprang kurz vor ihr gekonnt einige Meter aus dem Wasser. Weiter vorne, vor den Silhouetten von Borkum Stadt, sah sie Dutzende Kitesurfer ihre Bahnen ziehen. Wie schön wäre es, wenn auch sie diese Leichtigkeit des Fliegens fühlen könnte?

Sie nahm ihren Rucksack vom Rücken, setzte sich in den Sand und schaute den Surfern eine Weile zu.

Was Emma gerade wohl macht?, fragte sie sich. Neben sich fand sie eine wunderschöne Muschel, die sie in den Rucksack steckte. Ihr Blick glitt erneut zum Meer und da entschloss sie sich, in die Wellen zu steigen. Sie zog sich kurzerhand Rock und Shirt aus, legte beides behutsam auf den Rucksack und ging nur in Unterwäsche auf das Wasser zu.

Warum sich nicht noch einmal wie ein Kind fühlen? Zaghaft setzte sie einen Fuß vor den anderen. Zunächst stockte ihr Atem, dann aber machte sich schnell ein Kribbeln im Bauch und das Gefühl der Lebendigkeit in ihr breit.

Darum bist du doch hier, sagte sie sich, bevor sie ins Wasser glitt und die Kraft des Meeres spürte.Das Salz brannte auf ihrer Haut, wurde aber durch eine innere Wärme abgelöst.

Als sie sich mit ihrem kleinen Handtuch abtrocknete, nahm sie sich vor, jeden Tag ein bisschen Kind zu sein und das Leben mit allen Facetten auf sich wirken zu lassen. Ganz bewusst wollte sie das Leben spüren, beobachtet und unbeobachtet. Sie wollte an ihrem Kinderbuch weiterarbeiten, das sie ihrer Tochter widmen wollte. Sie wollte schreiben, für sich und ihre liebsten Menschen. Und sie wollte zeichnen. Mary zeichnete besser, als sie fotografieren konnte. Während sie die schönsten Augenblicke in ihrem Skizzenblock festhielt, nutzte Philipp dagegen jeden noch so unbeobachteten Moment und hielt diesen mit seiner Kamera fest.

Mary hatte Philipp vor 13 Jahren in dem Verlag kennengelernt, in dem sie neben ihrem Meteorologie-Studium Bücher illustrierte. Philipp arbeitete dort als Fotograf, er war in Afghanistan, Iran und im Irak. Die politischen Hotspots waren sein Zuhause.

Mary war schnell fasziniert von dem 18 Jahre älteren Mann, liebte seine Sicht auf die Dinge, seine Erfahrungen, seine Reife und seine Warmherzigkeit.

Zwei Jahre zuvor, hatte Philipp seine Frau bei einem Verkehrsunfall verloren. Er hatte es Mary damals nicht leichtgemacht und ihr klar zu verstehen gegeben, dass er nicht bereit sei für eine neue Liebe. Vor allem aber hatte der Altersunterschied ihm zu schaffen gemacht.

Anfangs hatte sie den ein oder anderen Abend kochend an seiner Seite verbracht. Mary liebte die fernöstliche Küche und Philipp liebte das gemeinsame Kochen bei einem guten Glas Wein.

Mary war es gelungen, ihn mit ihrer Aufgeschlossenheit, ihrer Wissbegierde und Herzenswärme zu verzaubern. Sie schenkte ihm Zeit und Aufmerksamkeit und wurde mit seinem Lächeln belohnt, das erstmals wieder Zuversicht in sich getragen hatte.

Aus den Kochabenden wurden gemeinsame Tage, aus gemeinsamen Tagen wurden gemeinsame Kurzurlaube und aus den Kurzurlauben wurde Liebe. Und aus dieser Liebe entstand viele Jahre später Emma.

Mary war an seiner Seite gereift, hatte ihr Studium beendet, aber hatte ihren Schwerpunkt auf das gesetzt, was sie liebte: ihre kleine Familie und das Zeichnen.

Hier auf Borkum wollte sie nun ihr erstes eigenes Kinderbuch fertigstellen. ‚Zoé und der Nordwind‘ schrieb sie eigens für Emma. Eigentlich war die Zoé aus ihrer Geschichte Emma. Erst war es ganz unbewusst geschehen, aber mit der Zeit hatte Mary es erkannt. Manchmal glaubte sie, es fehle ihr einfach an Fantasie, um etwas Neues zu erfinden.

Zoé war ein ähnlich tapferes Mädchen wie Emma. Sie hatte blaue Augen, eine Stupsnase und die Haare zu einem frechen Bob geschnitten. Zoés bester Freund war der Wind. Sie liebte seine Kraft und seine Stärke. Der Wind trocknete stets ihre Tränen. Er küsste ihre Wunden, stupste sie in die richtige Richtung und trug sie mit aller Liebe voran, wenn sie nicht mehr weiterwusste.

Das Buch wollte sie Emma zu ihrem nächsten Geburtstag schenken. Die Geschichte war inzwischen niedergeschrieben, die Ideen für all die Zeichnungen wollte sie nun hier auf Borkum finden.

Mary war beflügelt von der Idee gewesen, dieses Buch nicht nur selbst zu illustrieren, sondern auch zu schreiben. Bisher hatte sie nur wissenschaftliche Beiträge für Fachzeitschriften rund um das Wetter verfasst. Aber nun war die Zeit reif und sie wagte sich an ein Kinderbuch.

Während des Schreibens hatte sie immer wieder an sich selbst gezweifelt. Sie hatte nicht gewusst, ob sie talentiert genug war, kindgerecht zu schreiben. Sie wollte Emma berühren und ihr für alle Zeit etwas auf ihren Weg mitgeben können. Tag für Tag, Woche um Woche hatte sich ihr Vorhaben geformt und ihr kleines Projekt war gewachsen. Und nun war sie hier für den letzten Schritt.

Die Wassertropfen trockneten auf ihrer Haut. Ihre Lippen schmeckten salzig. Genau so muss es sein. Sie zog sich ihren Rock und ihr Shirt wieder an und schlenderte dem Sonnenuntergang entgegen.

Sie näherte sich den Kitesurfern, die sie schon von weitem gesehen hatte, wie auch der strahlend weißen Promenade von Borkum.

Vor ihr lag das Hohe Riff. Sie hatte in den Reiseführern darüber gelesen: Das Hohe Riff diente nicht nur unzähligen Seehunden als Ruhe-, sondern auch Seevögeln als Brutplatz. Gerade konnte sie allerdings keine Seehunde entdecken.

Die Sandzunge verlief viele hundert Meter weiter nach Westen. Mary schlug dagegen den Weg zur Promenade ein. Vielleicht würde sie von der Terrasse einen Blick auf die Seehunde erhaschen können.

Hier war es etwas belebter als draußen am Meer. Die Plätze in den Restaurants waren belegt, Stimmengewirr summte auf den Terrassen. Auf den Gehwegen tummelten sich Menschen. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr und sie wich einem Kind aus, das vor einem anderen davonlief. Möwen zogen laut krächzend nur wenige Meter über den Köpfen der Urlauber ihre Bahnen, während Mary nicht nur den Geruch des Meeres wahrnahm, sondern auch den des Sommers und der Sonnencreme. Ein absolutes Kontrastprogramm zu ihren Eindrücken, die sie eben noch fast allein an der Wasserkante hatte erleben dürfen.

Durch ein Fernrohr auf der Promenade konnte sie nun das Hohe Riff beobachten, sie sah Dutzende Seehunde, die sich dicht an dicht auf der vorgelagerten Sandbank sonnten. Nur ein etwas kleinerer zog seine Kreise spielerisch im Meer.

Nach diesem Anblick stellte sie sich kurzentschlossen an der Schlange einer Eisdiele an. Die Auswahl erschlug sie fast, sie könnte hier jeden Tag eine andere Eissorte probieren und wäre noch immer nicht durch damit. Sie entschied sich für je eine Kugel Sanddorn, Malaga und Meloneneis. Auf die Sahne verzichtete sie.

Unweit der Eisdiele bemerkte sie einen kleinen Kiosk. Sie kaufte 16 Briefmarken und die ersten fünf Postkarten für Emma. Die schönste schrieb sie ihr direkt.

„Liebste Emma,

Mama ist gut angekommen. Ich habe eben den ersten Schatz für dich gefunden. Ich habe ihn für dich eingepackt und trage ihn ganz nah bei mir. Ich vermisse dich schon jetzt! Gib Papa einen Kuss von mir.

In Liebe, Mami.“

Sie steckte die Karte in den nächsten Briefkasten, leckte an ihrem schmelzenden Eis und lief zurück zur Waterdelle. Ihr neues Zuhause auf Zeit.

29.09.2018

Die aufgehende Sonne kitzelte Mary an der Nase. Sie schlug die Augen auf, streckte und schaute neben sich. In dieser Nacht hatte sich ihre Tochter nicht in ihr Bett geschmuggelt. An diesem Morgen erwachte sie erholt und ausgeschlafen in dem Zimmer, das ihr Zuhause für die nächsten 15 Tage sein sollte. Statt ihrer Tochter lag der Skizzenblock neben ihr. Gestern Abend hatte sie all ihre Eindrücke des ersten Tages skizziert.

Sie nahm den Block in die Hände, blätterte durch die Zeichnungen und hielt inne. Sie blickte auf das Bild, das sie von Peter gezeichnet hatte: Lässig an den Wagen gelehnt, als er auf sie im Hafen gewartet hatte. Seine lockigen Haare schimmerten in der Sonne und seine blauen Augen strahlten Wärme aus. Seine Grübchen schenkten seinem verschmitzten Lächeln zusätzlichen Charme. Mary war zufrieden mit der Zeichnung. Vielleicht hätte sie ihn noch etwas verlegener darstellen können, aber ihre Zeichnung wurde seiner Attraktivität durchaus gerecht.

Mary stand auf und zog sich an. Heute wollte sie das blaue Kleid tragen, das schon viel zu lange ungetragen in ihrem Kleiderschrank gehangen hatte. Ihre Zähne putzte sie in dem Badezimmer, das sie sich ab heute mit einem Fremden teilen sollte. Sie war gespannt, wer da kommen würde.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie das Haus verließ. Mary roch das Meer, hörte die Möwen schreien und blickte auf ein Kaninchen, das genüsslich an den Gänseblümchen im Vorgarten knabberte.

Sie bog nach links ab und lief in Richtung Stadt. Ihr Ziel war die Touristeninformation. Dort buchte sie eine Wattwanderung, die kurz nach 15 Uhr hinter dem Reededamm starten sollte.

Mit dem Ticket in der Hand, schlenderte sie die Fußgängerzone entlang und hatte ein Lächeln im Gesicht. Die ersten Läden hatten bereits geöffnet.

Mary entschied sich für ein kleines Café, setzte sich nach draußen unter einen wärmenden Heizstrahler und bestellte ein reichhaltiges Frühstück. Sie genoss es, dem wachsenden Treiben der Urlauber zuzuschauen. Paare liefen Hand in Hand die Fußgängerzone hinunter, ein kleiner Junge verhandelte unaufhörlich mit seiner gestresst wirkenden Mutter um seine erste Kugel Eis des Tages, während schräg gegenüber ein hüpfendes Mädchen, an der Hand ihres Vaters, den Laden mit einem Lenkdrachen verließ.

Eine Schar Spatzen schnappte sich die letzten Brotkrümel von Marys Teller, als sie auf die Rechnung wartete.

Albertus Akkermann wartete bereits mit den anderen Wattwanderern, als Mary mit ihrem ausgeliehenen Fahrrad vorfuhr. Sie war aus der Puste, nicht zuletzt, weil sie auf den letzten acht Kilometern nicht nur gegen den Wind, sondern auch gegen ihren inneren Schweinehund ankämpfen musste. Aber Zuspätkommen war heute keine Option.

Sie stellte ihr Rad ab und lief der kleinen Gruppe entgegen. Etwa 15 Touristen standen um den älteren, rundlichen Mann in maritimer Kleidung herum. Mit der rechten Hand stützte er sich auf eine Mistgabel. Albertus Akkermann begrüßte Mary, stellte sich in der Runde mit vollem Stolz als der zuletzt geborene Borkumer auf Borkum vor, und bat dann alle Teilnehmenden, ihm zu folgen.

Bevor sie das Watt jedoch betraten, wandte er sich mit erhobenem Zeigefinger an sie. „Wir bleiben alle zusammen. Auch wenn das Watt harmlos wirkt, birgt es doch viele Gefahren. Anfang des Jahres löste einer meiner Wattwanderer ein Großeinsatz aus, als er sich von uns entfernte und sich nicht mehr selbst aus dem Schlick befreien konnte, in den er immer tiefer versank. Nur durch das schnelle Eingreifen der Küstenrettung war am Ende eine Bergung möglich. Und das ist keine Geschichte vom Klabautermann.“

Barfuß erkundeten sie die Salzwiesen und das Wattenmeer. Durch ihre Zehen quetschte sich der Schlick. Stellenweise stand Mary knöcheltief darin und benötigte mehr Kraft, als sie es für möglich gehalten hätte, um sich daraus zu befreien. Hin und wieder nahm sie den Geruch von faulen Eiern wahr, der laut Albertus durch den hohen Schwefelwasserstoffgehalt im schwarzen Schlick entstand.

Albertus grub einen Wattwurm aus und legte ihn in Marys Hände. „Das ist ein Wattwurm oder auch Prielwurm genannt. Dieser hier ist bereits ausgewachsen.“

Die anderen traten einen Schritt näher zu Mary heran und beobachteten die unaufhörlichen Bewegungen des Wurms. Sie hatte Mühe, ihn auf der Hand zu halten.

„Und sie ernähren sich vom Sand?“, wollte eines der Kinder wissen.

„Ja, er frisst ständig den Sand des Wattes und filtert dort die organischen Stoffe heraus, die er dann verwertet. Die Wattwürmer der Nordsee fressen einmal im Jahr den gesamten Sand des Wattes oberhalb von 20 Zentimeter Tiefe. Dazu trägt der Umstand bei, dass die Tiere in einer Dichte von durchschnittlich 40 Exemplaren pro Quadratmeter vorkommen.“

Der Junge machte dicke Backen. „Dann frisst jeder Wurm kiloweise Sand im Jahr?“

„Genau“, bestätigte Albertus Akkermann, nahm Mary den Wurm ab und legte ihn einem Mädchen auf die Hand. „Ein einzelner Wattwurm filtert etwa 25 Kilogramm Sand jährlich und trägt neben all den Muscheln eine wichtige Aufgabe zum Ökosystem Wattenmeer.“

Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Mary grub Muscheln aus, die sich anschließend wieder selbst eingruben. Sie lernte alles über die Wichtigkeit der Miesmuscheln in diesem kleinen Ökosystem und über die immer größer werdende Plage der pazifischen Austern im Wattenmeer.

Mary nahm sich vor, die nächsten Tage auf Austernjagd zu gehen. In ihrem letzten gemeinsamen Urlaub hatte Philipp ihr gezeigt, wie man Austern richtig öffnete. Er selbst mochte keine, ekelte sich sogar vor ihrer glibberigen Konsistenz. Aber Mary schmeckten sie. Für Borkum hatte sie sich sogar extra ein Austernmesser gekauft.

Der Gedanke an die Austern machte ihr nun Lust auf Wein, weshalb Mary noch in der Stadt anhielt. Sie stellte ihr Rad vor der Touristeninformation ab und lief bis zum Supermarkt. Dort kaufte Obst und Gemüse, Nudeln, Brot, Butter und Eier für die kommenden Tage.Über die Auswahl an Lebensmitteln hinweg vergaß sie beinahe den Wein. Flasche an Flasche reihte sich der Wein in einem Regal. Spontan griff sie zu einem Merlot. Vegan stand auf dem Etikett. Ist er das nicht immer?

Sie bezahlte im Anschluss, verstaute die Einkäufe in ihrem Rucksack und lief zurück zum Fahrrad.

Die Borkum Bahn war gerade angekommen. Mehr als hundert Menschen, vollbeladen mit Koffern und Taschen, drängten sich auf dem Bahnsteig. Keiner schien zu wissen, wohin er sollte, wodurch ein hektisches Durcheinander entstand. Mary kreuzte die Finger und war froh über ihr Organisationstalent. Ohne Familie Hansen hätte sie gestern sicher eine ähnliche Überforderung erlebt.

Sie suchte nach dem Schlüsselbund in ihrem Rucksack. Das Fahrradschloss hakte beim ersten Versuch, es zu öffnen. Sie wurde hastiger und rüttelte daran. Sie versuchte, den Schlüssel zu drehen. Es rührte sich nichts. Sie zog den Schlüssel heraus und steckte ihn erneut hinein. Nichts! Das Schloss ließ sich nicht aufsperren.

Verzweifelt blickte sich Mary um. Einer der Touristen kam auf sie zu. Er mochte in ihrem Alter sein, trug mitten im Spätsommer eine blaue Pudelmütze auf dem Kopf, unter der lange, lockige Haare hervorquollen, und einen großen Trekkingrucksack über den Schultern. Seine Hose saß zehn Zentimeter zu tief, den Gürtel schien er daheim vergessen zu haben. Marys Blick blieb an seinem rotkartierten Hemd hängen. So eins hatte einst ihr Großvater getragen. Sein Bart war kein Fünftagebart mehr, sondern schon eher ein Monatsprojekt. Er wirkte etwas zu hager, aber seine Gesichtszüge waren weich, obwohl seine Gesichtsform eher männlich kantig war.

Er war schon fast an ihr vorbeigelaufen, als sie ihn ansprach. „Hey, ich bekomme mein Schloss nicht auf. Kannst du mal schauen?“, fragte sie ihn unsicher und zögerlich.

Er schaute sie mit gerunzelter Stirn an. „Welcher ist es?“, wollte er wissen, als er Marys Schlüsselbund nahm.

Mit offenem Mund zeigte sie auf einen der beiden kleinen Schlüssel.

Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, nahm dann aber den anderen der beiden kleinen Schlüssel. Mary sah ihm über die Schulter zu. Das Schloss sprang ohne zu murren auf und ihr dafür die Röte ins Gesicht. Perplex versuchte sie etwas zu sagen, ohne überhaupt Worte zu finden.

Er grinste sie an, Grübchen bildeten sich an seinem Mund. „So wurde ich noch nie von einer Frau angesprochen. Ich bin Tommes, du hättest auch einfach nach meinem Namen fragen können.“

„Ähm …“, machte sie und versuchte, das hektische Pochen in ihrer Brust zu ignorieren. „Ja, danke jedenfalls.“ Hastig schob sie das Fahrrad aus dem Ständer. „Tschüss.“ Was ein merkwürdiger Typ!

Selbst als sie an der Waterdelle ankam, pochten ihren Wangen noch heiß. Sie sollte diesen Moment einfach aus ihren Erinnerungen streichen. Es wird immer bessere geben, glaubte sie. Und sie würde auch nie wieder versuchen, ihr Fahrradschloss mit dem Safe-Schlüssel zu öffnen. Wie peinlich!

Sie packte ihre Einkäufe in den kleinen Kühlschrank, der zweckmäßig eingerichteten Küche. Alles, was sie für die nächsten Tage zur Selbstversorgung brauchte, war vorhanden.Heute wollte sie gebratenes Gemüse zubereiten. Da Emma daheim das Gemüse strikt verweigerte, wollte sie hier zumindest das essen, was ihr Herz begehrte. Außerdem würde es schnell gehen.

Mary setzte die Pfanne auf den Herd, schnitt das frisch gekaufte Gemüse klein und dünstete es an. Ein Hauch von Knoblauch hing in der Luft. Während sie wartete, öffnete sie den Wein und schenkte sich ein Glas davon ein. Sie mochte den Geruch und noch viel lieber den Geschmack von gutem, trockenem Rotwein.

Mit dem Merlot hatte sie eine perfekte Wahl getroffen, der Wein schmeckte ihr. Sie nahm das Glas in die Hand und betrat das zweite Zimmer im Erdgeschoss, das Kaminzimmer, wie Peter es genannt hatte.

Der Geruch vom alten Dielenboden lag in der Luft. Die Bretter knarrten, als sie einen Fuß vor den anderen setzte. Neben der Sofaecke und einem Kamin stand ein altes Klavier an der Wand.

Sie stellte das Glas ab, öffnete den Deckel des Klaviers und drückte ein paar Tasten. Ein warmer Klang erfüllte den Raum. Sie klappte den Deckel wieder hinunter und ging zurück in die Küche, aus der es brutzelte.

Der Brokkoli, die Paprika und die Zucchini waren inzwischen bissfest. Sie schlug ein Ei drüber, rührte alles noch einmal kräftig um, würzte alles und füllte es auf einen Teller.

In diesem Moment ging die Haustür auf und Peter trat herein.

„Kommst du zum Essen?“, fragte sie ihn überrascht.

„Leider nein. Aber vielleicht kannst du ja deinem neuen Mitbewohner etwas anbieten.“ Peter nahm schon die ersten Stufen der Treppe, als besagter Mitbewohner durch die Eingangstür trat. Mary stockte. Es war Tommes. Ausgerechnet Tommes! Erneut stieg ihr die Hitze ins Gesicht.

Auch Tommes blinzelte sie überrascht an, grinste dann aber verschmitzt. „Hätte ich das gewusst, hättest du mich auf deinem Gepäckträger mitnehmen können. So musste ich den ganzen Weg laufen.“

Peter drehte sich auf halber Treppe um. „Kennt ihr euch, Mary?“

„Ja, äh, nein“, stotterte sie. „Wir trafen vorhin zufällig am Bahnhof aufeinander. Er half mir, als sich mein Fahrradschloss nicht öffnen ließ. Ich wusste nicht, dass er …“ Sie verstummte peinlich berührt.

Tommes lächelte sie offen an und sagte dann zu Peter: „Eigentlich versuchte sie nur, mit mir zu flirten.“

Mary kaute auf ihrer Unterlippe und blickte zu Boden. Als sie gerade etwas erwidern wollte, ergänzte Tommes: „Mary ist doch ein wunderschöner Name, den hättest du mir durchaus noch verraten können.“

Mary schwenkte nervös den Wein in ihrem Glas. „Danke. Auch für vorhin.“

Peter schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Komm, ich zeige dir mal dein Zimmer.“

Mary konnte nicht hören, was sie oben sprachen, aber sie konnte es sich gedanklich ausmalen. Verwirrt ließ sie sich auf einen der Stühle fallen und begann in ihrem Essen herumzustochern. Der Appetit war ihr vergangen.

Also zog sie ihren Skizzenblock neben den Teller und zeichnete erste Eindrücke vom Tag, während sie sich doch einen Bissen in den Mund schob.

„Hattest du einen schönen Tag?“, fragte Peter, der soeben die Küche betrat.

Mary umriss kurz ihre Erlebnisse, erzählte von der Wattwanderung und von der Begegnung mit Tommes. „Abgesehen von dem peinlichen Moment mit Tommes war der Tag perfekt. Übrigens, die Einladung zum Essen steht.“

„Ich komme gern ein anderes Mal auf deine Einladung zurück, das Essen riecht wirklich köstlich, aber für heute hast du ja nette Gesellschaft“, gab er Mary mit einem Augenzwinkern zu verstehen. „Ich muss dann auch. Dir noch einen schönen Abend.“ Damit verließ er das Haus.

Mary schmunzelte und widmete sich wieder ihrem Block. Sie zeichnete das Wattenmeer mit den dazugehörigen Salzwiesen, die Wattwürmer und Muscheln. Sie skizzierte gerade Albertus, als sie Tommes’ Stimme hinter sich vernahm.

„Guten Abend Mary“, begrüßte er sie mit der Wärme eines Kaminfeuers an kalten Winterabenden. „Magst du dich mit einem Glas Wein revanchieren?“

„Flirtest du gerade etwas plump mit mir?“ Sie beäugte ihn mit gehobener Augenbraue, als sie aufstand und ein Weinglas aus dem Küchenschrank nahm. „Entschuldige, aber ich habe vorhin wirklich nicht mit dir geflirtet“, verteidigte sie sich, als sie den Merlot eingoss.

Er nahm ihr das Glas ab. Als sich ihre Hände dabei für nur einen Bruchteil des Augenblicks berührten, blieb die Zeit einen kurzen Moment stehen. Mit geweiteten Augen und offenen Mund haspelte er: „Schade. Dann fangen wir wohl noch einmal von vorne an. Ich bin Tommes. Schön, dich kennenzulernen.“

Mary spürte erneut die aufsteigende Wärme in ihrem Gesicht. Verlegen schaute sie auf den Boden und dann wieder in seine tiefblauen Augen. Ein unterschwelliges Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. „Schön, dass ich dich kennenlernen darf, Tommes. Ich bin Mary, Marynette Roth.“

Tommes setzte sich zu ihr und erzählte von seiner Anreise. „Eigentlich wollte ich den Katamaran in Emden nehmen. Da die Bahn aber Verspätung hatte, blieb mir nur die Fähre, auf die ich dann noch zwei Stunden warten musste. Am Ende war es aber egal, die Sonne auf dem Oberdeck konnte mich entschädigen.“

„Hast du schon was gegessen, bist du hungrig?“

Tommes zeigte auf die Bananen im Obstkörbchen. „Darf ich? Ich lebe vegan, deshalb muss ich leider auf deine Gemüsepfanne verzichten. Es riecht jedoch köstlich.“

Er aß zwei Bananen, während Mary von ihrem ersten Tag erzählte.

„Wie lang bleibst du?“, fragte sie ihn schließlich, als sich nach ihrer Erzählung eine kurze Stille breitmachen wollte.

„Zwei Wochen, denke ich.“ Er stellte das Weinglas ab. „Ich habe gehört, dass Borkum seinen ganz eigenen Reiz haben soll. Perfekt für eine kleine Auszeit vom Alltag. Und was ist schon dagegen einzuwenden, das Leben mal wieder von einer anderen Seite zu spüren und das Schöne nicht nur mit offenen, sondern auch mit wachen Augen zu sehen?“

Mary dachte über seine Worte nach. Das Leben, was ist das schon? Ihre Gedanken kreisten täglich darum. „Ich bin Leben, was leben will, in all dem Leben, was leben darf“, murmelte sie in sich hinein.

„Was hast du gesagt?“

Mary atmete aus und schüttelte sanft den Kopf. „Tommes, das Leben ist doch eigentlich wie Zeichnen nur eben ohne Radiergummi!“

Er legte den Kopf schief und fokussierte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Ich versteh nicht recht?“

„Egal“, flüstere sie und und nippte am Wein.

Nach kurzem Schweigen ergriff Tommes das Wort. Mary lauschte seiner Stimme und versuchte sich dabei seine schönen Gesichtszüge einzuprägen. Sein eher schmaleres Gesicht trug die Farbe des Sommers und seine vollen Lippen einen leichten Glanz. Das helle Augenweiß ließ das tiefe Blau seiner Augen strahlen. Seine klar konturierten Augenbraunen unterstrichen die Attraktivität.

Nur am Rande nahm sie Tommes’ Stimme wahr, verstand jedoch kein Wort. Zu sehr war sie noch mit seinem Aussehen beschäftigt. Erst als er ihren Namen aussprach und mit der Hand vor ihrem Gesicht wedelte, konnte sie sich von seinen tiefblauen Augen lösen. „Oh, entschuldige, was fragtest du?“ Sie fuhr sich verlegen durch die Haare.

„Warum bist du allein auf Borkum, das bist du doch, oder nicht?“

„Ich brauche Ruhe und Zeit für mich. Ich möchte schreiben und ein bisschen zeichnen. Ich möchte das Meer riechen sowie die Kraft des Windes spüren. Ich möchte mich ein letztes Mal in den Spätsommer verlieben“, murmelte sie unsicher.

Er nickte kaum wahrnehmbar.

Mary nahm die Flasche Wein und schenkte Tommes und sich nach.

„Danke! Bist du verheiratet?“

Mary schüttelte den Kopf. „Nein, aber vergeben. Wir leben seit 13 Jahren in wilder Ehe, wobei wild auch nicht die richtige Umschreibung dafür ist.“ Sie lächelte kurz bei ihren Worten und erzählte dann von Emma. „Sie ist das Beste, was mir je passieren konnte. Sie ist so selbstbewusst, hübsch, ein bisschen verrückt, ganz oft frech, fordernd, aber auch unglaublich liebevoll.“

Tommes nahm einen Schluck vom Wein und schmunzelte. „Emma, so heißt die Puppe meiner Tochter Lina.“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er einen Gedanken loswerden. „Hannah und ich sind ziemlich stolze Eltern von Moritz, der bereits fünf ist und Lina. Sie ist drei. Ein schönes, aber auch sehr anstrengendes Alter.“ Tommes verstummte. Für einen Moment wirkte er traurig, wie er in sein Weinglas schaute und die Lippen zusammenkniff.

„Hast du all das gezeichnet?“, lenkte er ab, als sein Blick auf Marys Zeichnungen fiel. Erst jetzt schien er all die Feinheiten und ihre Liebe zum Detail zu erkennen. „Ist das ein Wattwurm auf der Hand?“

Mary nickte. Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Ich zeichne eben gern.“

„Darf ich mal sehen?“, fragte Tommes.

Unsicher schob Mary ihm den Block zu.

Seite für Seite schaute er sich ihre Skizzen an. Nach jeder Zeichnung hoben sich seine Augenbrauen ein Stückchen mehr. Er wirkte beeindruckt. Er blätterte weiter, bis er das Bild von Peter entdeckte. „Er gefällt dir, oder?“, bemerkte er schmunzelnd. „Hast du es ihm schon gezeigt?“

Sie kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. „Nein, warum fragst du mich so etwas?“

Tommes trank den letzten Schluck Wein und schaute Mary offen an. „Er mag dich jedenfalls. Ich habe es vorhin an seinem Blick gesehen. Und genau diesen Blick hast du hier auf deinem Bild festgehalten.“ Er erhob sich. „Danke für den Wein und die nette Gesellschaft. Ich muss jetzt aber wirklich ins Bett, der Tag war anstrengend. Gute Nacht, Mary Roth, wir sehen uns morgen.“

„Gute Nacht“, erwiderte sie. Grinsend schüttelte sie den Kopf. Sie nahm sich ihren Skizzenblock und die Kohlestifte, um weiterzuzeichnen.

30.09.2018

Die Sonne ging auf, als sie die Steigung der letzten Düne hinter sich ließ und den Flugplatz von Borkum vor sich sah. Aus der Puste verlangsamte sie das Tempo auf den letzten Metern und stoppte ihre Uhr. Beide Beine schüttelte sie immer wieder aus, während sie an den Zaun vor das Rollfeld trat. Ein Helikopter ließ in diesem Moment seine Triebwerke an. Auf der Wiese neben dem Rollweg standen acht Kleinflugzeuge. Alle gut gesichert mit Seilen.

Der Helikopter hob ab und schwebte von seiner Parkposition auf das Hauptvorfeld. Wenige Sekunden später gewann er von dort aus Höhe und flog über ihren Kopf nach Norden davon.

Die Sonne stand inzwischen über dem Horizont. Es würde ein ähnlich schöner Tag wie gestern werden. Mary schaute auf ihre Uhr und lief im gleichen Tempo zurück zur Waterdelle.

Schon von weitem sah sie Tommes draußen am Gartentisch. Er blickte der aufgehenden Sonne entgegen.

„Du warst schon laufen?“, begrüßte er sie.

Außer Atem und mit glühendem Gesicht lächelte Mary ihn an. „Ich war am Flugplatz und habe dort die Flieger gezählt.“

„Die Flieger gezählt? So in den Tag zu starten, scheint mir etwas sonderbar. Aber jeder wie er mag“, fügte er schelmisch grinsend hinzu. „Möchtest du einen Kaffee oder lieber Wasser?“

„Beides bitte“, antwortete Mary und sank erschöpft in eine der Liegen. Ob sie jeden Morgen so in den Tag starten wollte, wusste sie in diesem Moment noch nicht. Das Laufen tat ihr gut und die Strecke war schön. Sie spürte dennoch ihre Erschöpfung und erinnerte sich an die mahnenden Worte von Philipp. Keine Überanstrengung, sagte er ihr stets.

Tommes kam mit einer Tasse Kaffee und einem Glas Wasser in den Garten zurück. „Ich bin stolz auf dich, Mary Roth! So früh bin ich selten aktiv“, sagte er und reichte ihr die Getränke.

Mary stellte den Kaffee beiseite. „Das bin ich auch nur hier.“ Sie trank das Glas Wasser in einem Zug leer. „Was hast du heute vor?“

Tommes grinste, während er Mary beim schnellen Trinken zusah. „Ich habe nichts Besonderes vor. Ich werde in die Stadt gehen, den Strand erkunden und mir ein Fahrrad ausleihen. Vielleicht gehe ich auch in der Nordsee baden, möglicherweise auch laufen – ich weiß es einfach noch nicht.“

Mary schaute auf ihr leeres Wasserglas und sagte zu ihm: „Vielleicht können wir ja auch mal gemeinsam spazieren gehen.“

Tommes lächelte sie an. „Sehr gern.“

Mary ließ ihren Kaffee neben der Liege stehen und verschwand unter der Dusche. Er schien sie zu mögen, aber vielleicht mochte er auch nur ihre Verlegenheit in seiner Nähe und ihr Lächeln. Sie würde es herausfinden – schon ganz bald, bei einem Spaziergang.

Als Mary geduscht war und gefrühstückt hatte, nahm sie ihren Skizzenblock, Papier und Stifte und packte alles in den Rucksack. Zuletzt griff sie nach der Decke und klemmte sie sich unter den Arm. Es war inzwischen angenehm warm, der Himmel blau und die Sonne strahlend, als sie das Haus verließ. Sie lief Richtung Sturmeck und bog dort links ab.

Solch eine Dünenlandschaft hatte sie noch nie gesehen. Kleine einsame Wanderwege führten mitten durch diese mit Küstendünengebüschen bewachsenen und in ihren Dünentälern sogar bewaldeten Braundünenlandschaft. Zum Meer hin sah Mary eine Vielzahl von unterschiedlich großen Weißdünen. Durch ihren weißen Sand und der Bepflanzung, die hauptsächlich aus Gräsern bestand, boten diese Dünen ein wunderschönes Landschaftsbild.

Sie entschied sich für eine einsam stehende Düne mitten im Nichts. Mary breitete ihre Decke aus und schaute auf das Meer, das vor ihr lag. Sie schloss die Augen und saugte den Moment wie ein Schwamm auf. Das ferne Rauschen der Wellen, die Sprache des Windes und das Schreien der Möwen zauberten ihr ein Lächeln ins Gesicht. Die Sonne wärmte ihre Seele.

Mary öffnete die Augen und atmete tief ein. Aus ihrem Rucksack holte sie eine der Postkarten, die sie für Emma gekauft hatte. Eine mit Seehunden darauf.

Mary drehte die Karte um und schrieb:

„Liebe Emma,

heute bin ich auf der Suche nach Seehunden. Sie sollen hier ihr Zuhause haben, direkt auf einer Sandbank vor Borkum. Ich werde sie von dir ganz lieb grüßen. Ich vermisse dich!

Bis ganz bald, Mami.“

Das Herz lag schwer in Marys Brust und die gute Laune verpuffte, als sie die Karte in ihren Skizzenblock legte. Es zerriss sie fast, weil sie Emma so sehr vermisste. Aber es war ihre Zeit. Sie hatte sie sich erkämpft und sie wollte sie auch so gut es ging genießen.

Sie wischte ihren rechten Augenwinkel trocken, holte einmal mehr tief Luft und schlug ihren Skizzenblock erneut auf. Diesmal zeichnete sie für Emma und für ihr größtes und wichtigstes Projekt. Sie zeichnete für ‚Zoé und der Nordwind‘.

Als sie nach Hause kam, lag eine große weiße Muschel vor ihrer Zimmertür. Sie nahm sie in die Hände, drehte sie um. „Liebe Mary, ich freue mich auf unseren Spaziergang. Alles Liebe, Tommes“, stand auf der Unterseite.

Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Er hatte außerdem seine Telefonnummer auf der Muschel notiert. Einige Zahlen waren etwas verwischt und dadurch schwer zu entziffern.

Mary tippe die Nummer in ihr Handy ein und schrieb ihm eine Nachricht: „Schreibe ich meinem Tommes?“

Minuten vergingen, bis sie endlich eine Antwort erhielt: „Mary, dein Tommes antwortet dir.“

Mein Tommes?, dachte sie. Die Formulierung war ihr auf einmal unangenehm. Unbehagen stieg in ihr auf. Strotzte Mary sonst vor Selbstbewusstsein, fühlte sie sich seit der ersten Begegnung mit Tommes unsicher. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um ihn. Er war interessant und auf seine Weise auch attraktiv, aber es war kein Mann, der ihr auf den ersten Blick aufgefallen wäre. Und dennoch wirkte er auf sie, nicht zuletzt auch mit seiner Sprache. Seine Stimmfarbe war angenehm warm. Sie fühlte sich wohl bei ihm, obwohl sie ihn kaum kannte.

Mary legte die Muschel auf ihren Nachttisch. Dann ging sie ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Die Sonne hatte sie auf die Nase geküsst und dabei einen deutlichen Abdruck hinterlassen. Sie cremte ihr Gesicht ein, packte ihren Rucksack um und ging in die Küche. Sie griff nach den letzten beiden Bananen und überlegte, was sie mit dem Nachmittag anfangen sollte. Kauend nahm sie den Schlüssel und verließ das Haus.

Ihr Fahrradschloss ließ sich direkt öffnen. Sie dachte erneut an Tommes und schmunzelte. Was er wohl von mir denkt? Geflirtet hatte sie aber auf keinen Fall mit ihm, da war Mary sich ganz sicher. Das hatte sie schon seit Jahren nicht mehr getan.

Sie setzte sich auf das Rad und bog in Richtung Promenadenweg ab. Heute fuhr sie kein Rennen gegen sich selbst, sie hatte Zeit, um alles auf sich wirken zu lassen.

Warum war sie noch nie auf Borkum gewesen? Sie kannte all die Ostseeinseln, sie liebte Rügen, aber Friesland war ihr bisher fremd. Die letzten Jahre hatten sie die Sommerurlaube meist in Holland am Ijsselmeer verbracht. Das Wasser war flach und warm und Emma liebte es, dort zu sein. Sie fuhren stets in dasselbe Haus, in der Nähe von Lemmer. Das Ferienhaus lag direkt an einem künstlich angelegten Kanal. Philipp mietete sich immer ein kleines Boot dazu. Manchmal fuhr er schon vor Sonnenaufgang raus, um zu angeln. Mary lag da noch im Bett und kuschelte mit ihrer Tochter. Zum späten Frühstück war er meist wieder zurück, oft mit einem Fisch. So viel Fisch, wie sie in den vierzehn Tagen am Ijsselmeer dank Philipp aßen, aßen sie das ganze Jahr über nicht.

Sie stellte das Fahrrad in einen der unzähligen Fahrradständer auf der breiten Promenade ab, zog ihre Schuhe aus und lief die Treppen zum Strand hinab. Kinder tobten um die Standkörbe herum und eine Gruppe Jugendliche spielte Beachvolleyball. Im Wasser zogen die Kitesurfer ihre Bahnen wie an ihrem ersten Abend.

Ist das schön hier, dachte sie. Sie war froh, sich für Borkum entschieden zu haben. Diese unendliche Weite schenkte ihr innere Ruhe und ihren Gedanken, Hoffnungen und Ideen brachte sie den erwünschten Raum. Obwohl sie diese Insel mit so vielen Urlaubern teilen musste, fand sie genau hier diese ruhigen und abgeschiedenen Orte, die sie sich so gewünscht hatte.

Am Wasser bog sie nach links ab. Sie blickte zur gegenüberliegenden Sandzunge, dem Ausläufer des Hohen Riffs. Mary entdeckte einige Seehunde. Wie viele waren es wohl? 40 oder vielleicht sogar 60? Es war ihr unmöglich, sie alle zu zählen. Sie erkannte kleinere und größere Seehunde. Einige lagen faul in der Sonne, während andere im Wasser spielten. Der Bereich zwischen der Sandzunge und dem Strand war durch eine Bojen-Kette abgegrenzt. Ein Rettungsschwimmer lief am Strand auf und ab und behielt alle Urlauber im Blick.

Mary nahm ihr Handtuch aus dem Rucksack und ließ sich nieder. Sie beobachtete die Seehunde sowie die spielenden Kinder im Sand. Es gab kaum einen Unterschied zwischen Urlaubern und Seehunden. Sie zog ihren Rock und das T-Shirt aus, legte alles auf ihr Handtuch und ging ins Wasser. Was wäre, wenn einer der Seehunde neben ihr auftauchen würde?

Im ersten gemeinsamen Jahr mit Philipp verbrachten sie ihren Urlaub auf den Malediven. Während des Schnorchelns waren ihnen damals vier Delfine begegnet, die plötzlich aus der Tiefe des Meeres neben ihnen aufgetaucht waren. Sie waren einige Minuten geblieben, bevor sie wieder im tiefen Blau verschwunden waren.

Schmunzelnd ließ sie ihren Körper ins kühle Nass gleiten. Delfine erwartete sie hier nicht. Aber wer wusste schon, welche Meeresbewohner auftauchen würden? Hoffentlich biss ihr kein Wattwurm in den Zeh.

Nach dem Schwimmen im Meer kaufte sie sich zwei Kugeln Eis und steckte die Postkarte an Emma in den Briefkasten. Sie schlenderte mit ihrem Eisbecher durch die Fußgängerzone, bevor sie mit dem Rad zurück zur Waterdelle fuhr.

Tommes saß mit einem Buch auf einer der Gartenliegen, als sie um die letzte Ecke bog. Er blickte auf und lächelte sie an.

„Was liest du da?“, fragte sie, als sie das Rad abgeschlossen hatte.

Er klappte das Buch zu und zeigte ihr das Cover, das eine Frau mit Trekkingrucksack und ihrem Hund in den unendlichen Weiten eines Hochplateaus zeigte. „Die Reiseberichte einer beeindruckenden jungen Frau, die mit Anfang 30 allein von der Südspitze Norwegens bis ans Nordkap gewandert ist.“

„Also nichts Spannendes?“

„Ich glaube, das wird mit Sicherheit die spannendste Reise ihres Lebens gewesen sein.“

Ob Mary selbst den Mut gehabt hätte, allein quer durch Norwegen zu wandern? Immerhin war sie auch allein nach Borkum gereist, aber das hatte vermutlich andere Gründe.

„Wie war dein Tag?“, wollte Tommes wissen und riss sie dabei aus den Gedanken an Fjorde und Abenteuer.

„Ach, recht entspannt, würde ich sagen. Heute Morgen war ich an den Dünen und eben noch bei den Seehunden. Danke für die Muschel übrigens, eine sehr nette Idee mir so deine Nummer zukommen zu lassen. Wenn du magst, lass uns morgen gemeinsam etwas unternehmen.“

Tommes’ Lächeln wurde breiter. „Ich freue mich darauf. Weißt du schon, wohin du möchtest? Ich habe mir auch ein Fahrrad ausgeliehen, du musst mich also nicht auf deinem Gepäckträger mitnehmen.“

„Dann fahren wir zum Hafen, ich möchte nämlich Austern fangen gehen.“

„Austern? Dein Ernst?“

„Bekommst du etwa Angst? Lass dich einfach überraschen.“ Mary zwinkerte Tommes zu. „Hast du schon gegessen? Ich koche gleich ein paar Nudeln, ich koche auch gern für zwei. Vorher gehe ich allerdings noch schnell duschen.“

„Du gehst duschen und ich koche für uns die Nudeln, abgemacht? Wenn du dich beeilst, haben wir gleich noch etwas Sonne beim Essen.“

Mary mochte die Idee. Philipp kochte daheim nie. Wenn er für das Essen zuständig war, gab es meist Sushi, außer im Sommer, dann wurde gegrillt. Es war ein guter Kompromiss, den sie gefunden hatten. Und nun wollte Tommes für sie kochen. Einfach so.

„Danke“, flüsterte sie und versuchte, die Erinnerung an zu Hause beiseitezuschieben.

Als sie mit noch nassen Haaren die Treppe hinunterkam, empfing sie bereits ein herrlicher Geruch. Tommes stand am Herd und drückte Knoblauch in die Soße.

„Hmm, das riecht aber gut“, sagte sie, als sie sich über seine Schulter beugte. Sie holte die Teller aus dem Schrank, das Besteck aus der Schublade und deckte den Gartentisch.

Tommes folgte ihr. In einer Hand hielt er die Schüssel mit den Spagetti, in der anderen balancierte er die Pfanne mit der Soße.

„Vielen Dank fürs Kochen“, sagte Mary, als Tommes ihr den Teller füllte.

Er lächelte sie an. „Gern!“

Als Mary die ersten Nudeln gegessen hatte, fragte sie: „Tommes, wer bist du eigentlich? Ich kenne deinen Namen, ich weiß, dass du zwei Kinder und eine Frau hast und dass du dich hier erholen möchtest. Aber wer bist du wirklich?“

Tommes sah sie überrascht an. „Also Mary, mein Name ist Tommes Morell, ich bin 38 Jahre alt, wohne mit meiner Familie in Hamburg und bin gelernter Bootsbauer. Viel mehr spannende Sachen gibt es gar nicht über mich zu berichten. Ach, ich liebe Fußball, aber das wird dich sicher am wenigsten interessieren.“

„Wieso denkst du, dass es mich nicht interessieren könnte? Erzähl mir von deiner Arbeit! Ich habe noch nie einen Bootsbauer kennengelernt.“

Tommes berichtete, dass er nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung zum Tischler begonnen und ein Jahr später wieder abgebrochen habe. „Dann bekam ich endlich die erhoffte Zusage als Bootsbauer.“ Er brauchte zwei Versuche, bis er seine Spaghetti um die Gabel gewickelt hatte. Als er hinuntergeschluckt hatte, erzählte er weiter. „Ich komme aus einer Schreinerfamilie. Mein Vater übernahm in frühen Jahren die Werkstatt meines Großvaters, die auch ich später übernehmen sollte. Ich liebte es bereits in meiner Kindheit, die Abende in seiner Werkstatt zu verbringen. Holz hatte schon immer eine große Wirkung auf mich. Mein größter Traum war es aber nicht Tische und Stühle zu bauen oder zu restaurieren, sondern Boote. Ausbildungsplätze waren aber rar und die Bewerberlisten lang. Für die Ausbildung zum Bootsbauer bin ich für dreieinhalb Jahre nach Lübeck gegangen. Wusstest du, dass in Lübeck die Elite der deutschen Bootsbauer ausgebildet wird?“

Mary schüttelte den Kopf.

Tommes holte tief Luft. „Ich wollte schon immer wissen, wie man Segelboote baut. Ich habe gelernt, mit den verschiedensten Materialien zu arbeiten, auf Kundenwünsche einzugehen und diese bestmöglich umzusetzen. Mein handwerkliches Geschick, meine Ausdauer, meine Liebe zum Detail und mein mathematisches Verständnis halfen mir über körperlich sehr harte, aber auch sehr schöne und lehrreiche Ausbildungsjahre hinweg.“ Dennoch hatte er mit Mitte zwanzig das Gefühl gehabt, beruflich noch nicht angekommen zu sein. Die zwei Besten seines Jahrgangs hatten sich entschieden, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Tommes war das Risiko zu groß gewesen, die Idee hatte ihn aber dennoch sehr gereizt. Er nahm ein Jobangebot von ihnen an. „Die Jungs wollten jedoch keine Boote mehr bauen, sondern Kajaks. Sie gründeten das Label Cuito. Inzwischen ist ein sozialer Träger sowie die Stadt Hamburg mit ‚im Boot‘. Wir arbeiten mit verhaltensauffälligen Jugendlichen und mit behinderten jungen Menschen zusammen. Es klingt kompliziert, aber es funktioniert nun schon seit einigen Jahren hervorragend. Wir sind inzwischen selbst Ausbildungsstätte und ich bin der Ausbildungsleiter für den praktischen Teil geworden.“

„Dann bist so etwas wie ein Lehrer?“, wollte Mary wissen, nachdem sie seinen Erklärungen nur stumm gelauscht hatte.

Tommes kaute und schluckte seine Nudeln hinunter, dann wiegte er den Kopf hin und her. „Lehrer wäre der falsche Begriff“, meinte er. „Die jungen Menschen können sich bei uns vielseitig verwirklichen. Unser Schwerpunkt liegt natürlich im Bau von Kajaks, aber unsere Werkstatt ist groß und so können wir mit ihnen unterschiedliche Projekte rund um den Wassersport verwirklichen. Wir bauen kleine Ruderboote, Flöße oder auch Surfbretter. Aufgrund von Förderzuwendungen der Stadt Hamburg können wir den Menschen selbst in den Mittelpunkt rücken. Wir versuchen, neue Perspektiven aufzuzeigen sowie zwei Randgruppen von Menschen miteinander arbeiten und gemeinsam wachsen zu lassen.“ Er schob sich erneut eine Gabel mit Spaghetti in den Mund und trank danach einen Schluck Wasser. „Einmal im Monat biete ich den Jugendlichen an, zu einem großen Trödelmarkt am Stadtrand zu fahren. Hier kaufen wir ab und an alte Stühle, Tische und Kommoden und werten sie in der Werkstatt nach Feierabend wieder auf. Somit verliere auch ich nicht ganz den Bezug zu meinen Wurzeln. Ich mag meine Arbeit sehr. Meist sind die Tage lang, aber auch diese Menschen, die oftmals so viel Ablehnung erhalten haben, sind liebenswert und so besonders.“ Die Begeisterung darüber sprühte förmlich aus seinen Augen und steckte Mary an.

Sie legte das Besteck zur Seite, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und lehnte sich zurück. „Das klingt sehr beeindruckend. Wie alt sind die Menschen, die zu euch kommen?“

Tommes dachte kurz nach. „Die Menschen mit Behinderung sind zwischen 20 und 47 Jahre, die verhaltensauffälligen Jugendlichen zwischen 15 und 21 Jahre. Einige kommen nur für wenige Monate, andere bleiben für Jahre und machen eine richtige Ausbildung bei uns. Die Arbeit mit diesen Menschen hat mich sensibilisiert, besonders wenn man all die Menschen besser kennenlernt und ihre Geschichten erfährt. Ich hoffe, meine Kinder haben die Chance, ein unbeschwertes Leben zu führen.“

Mary runzelte die Stirn. „Warum sollte denn euren Kindern diese Chance verwehrt bleiben? Sie sind doch behütet bei euch, oder etwa nicht?“

„Ach Mary, wir wohnen in diesem bunten, viel zu chaotischen und verrückten Stadtteil von Hamburg. Meine Mutter würde sagen, ihre Enkelkinder wachsen im zwielichtigen Viertel der Stadt auf. Die Nächte sind laut und die Straßen am frühen Morgen vom Partyleben der letzten Nacht verdreckt. Meine Kinder sehen Armut und einen Stadtteil weiter diese unschuldige Schönheit dieser Stadt. Sie werden nicht als Dorfkinder groß. Sie werden Freunde haben, die sich nicht immer auf dem rechten Weg befinden. Und dann müssen ja wir auch als Eltern über all die Jahre die Kraft aufbringen können, den Kindern ein geborgenes und liebevolles Zuhause bieten zu können“, gab er etwas niedergeschlagen zu bedenken, während er nur noch in den Nudeln stocherte und kaum etwas aß.

„Und das werdet ihr mit Sicherheit tun, denke ich! Hast du Fotos von deinen Kindern dabei?“

Tommes erhob sich zögerlich, holte sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und zog zwei Polaroids heraus. „Das ist Moritz, wir haben das Bild kurz vor meiner Abreise aufgenommen. Und das hier ist Lina, mein Sonnenschein. Das Bild habe ich letztens auf dem Spielplatz gemacht. Ich mag beide Bilder sehr. Sie kommen ganz nach mir, oder?“

Mary lächelte, als sie bemerkte, welch väterlichen Stolz aus ihm heraussprach. Sie nahm beide Polaroids in die Hand, betrachtete sie und danach Tommes. „Hast du auch ein Bild von deiner Frau? Ich brauche es schon für ein abschließendes Urteil.“

Tommes schob die Augenbrauen zusammen. „Ich weiß nicht genau.“ Er kramte in seinem Portemonnaie, holte alle Bilder heraus und schaute sie durch. „Das ist sie“, sagte er schließlich. „Es ist aber schon etwas älter.“

Mary nahm es in die Hand und betrachtete es. Tommes’ Frau war jung und schlank. Sie schaute, als ob sie nicht fotografiert werden wollte. Sie war offenkundig attraktiv. „Ich glaube, Lina ist dir sehr ähnlich, bei Moritz bin ich mir nicht ganz sicher. Ich sehe euch beide in ihm.“

Tommes nahm Mary das Foto wieder ab und steckte es ganz unten in den Stapel. Er erhob sich. „Den Abwasch übernimmst du. Ich gehe nun noch eine Runde laufen. Ich will fit für morgen sein.“

Sie lächelte ihn an, obwohl sie seinen plötzlichen Unmut und die Eile in seinen Worten bemerkte. Hatte sie einen wunden Punkt getroffen?

„Danke für den schönen Abend! Ich freue mich auf morgen“, sagte sie und räumte den Gartentisch ab.

01.10.2018

„Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?“

Mary schaute von ihrem Skizzenblock auf und legte den Stift beiseite. „Guten Morgen! Ja, bestens“, erwiderte sie lächelnd. „Möchtest du einen Kaffee?“

Tommes nickte und warf einen Blick auf ihre Skizzen, als Mary ihm den Kaffee eingoss. „Deine Zeichnungen sind toll. Sind die alle von heute?“

Sie schüttelte verlegen den Kopf. „Ich illustriere ein Kinderbuch. Eigentlich muss ich sagen, ich illustriere mein Kinderbuch.“

„Du illustrierst Kinderbücher?“

Sie reichte Tommes den Kaffee. „Ja, ich verdiene damit mein Geld.“

„Ich lese meinen Kleinen jeden Abend vor dem Schlafengehen vor. Ich hatte noch nie einen eigenen Fernseher. Lina und Moritz wachsen ohne Internet auf. Ich weiß nicht einmal, wie ich einen Router in der Wohnung installieren sollte. All die ungefilterten Medien machen so viel mit unseren Kindern. Ich möchte, dass sie behütet aufwachsen und sie sich nicht in diesem Paralleluniversum der digitalen Welt verlieren. Ich liebe Bücher, ich habe Hunderte in meinem Regal daheim stehen, aber ich habe der Gestaltung noch nie eine besondere Bedeutung geschenkt. Auch nicht den Kinderbüchern.“

Mary blinzelte Tommes an und sagte ihm bestimmt: „Aber Tommes, Kinderbücher sucht man doch nie nach den Autoren, sondern stets nach den Illustratoren aus, weißt du das denn nicht?“

„Darf ich?“, fragte er und zeigte auf ihren Skizzenblock. Mit Marys Zustimmung blätterte er durch ihre Zeichnungen. „Zoé und der Nordwind“, las er staunend, als er die ersten Zeichnungen betrachtete. „Nein, das wusste ich nicht. Ich werde es wohl ab sofort in meine Kaufabwägungen miteinbeziehen müssen“, murmelte er, während er Seite für Seite umblätterte.Hier und da nickte er oder pfiff leise in den Bart. „Du beeindruckst mich!“

Mary biss sich auf die Unterlippe, Tommes’ Kompliment machte sie verlegen. Obwohl sie ihre Zeichnungen selbst sehr mochte, war es dennoch etwas Neues, direktes Lob dafür zu bekommen. Normalerweise sah sie nie, wenn jemand ihre Zeichnungen betrachtete. Nicht einmal Philipp war so beeindruckt. Er nickte zwar und lobte sie, aber dieses Funkeln, das sie in Tommes’ Augen sah, fehlte. „Es ist mein bisher bedeutsamstes Projekt.“

Tommes stellte seine halbleere Tasse in die Spüle. „Ich drücke dir die Daumen, dass es ein Erfolg wird. Die Zeichnungen sprechen schon jetzt für sich, ohne dass ich die Geschichte kenne.“ Er hielt kurz inne. „Ich habe noch ein paar Besorgungen in der Stadt zu machen. Zur Mittagszeit bin ich zurück. Wenn du magst, können wir dann zum Hafen aufbrechen.“

Eine Woge der Enttäuschung brach über sie herein und sie ließ die Schultern sinken. Mary hatte gehofft, dass der ganze Tag ihnen beiden gehören würde. „Dann sehen wir uns später“, murmelte sie trotzig.

Tommes grinste neckend und griff nach ihrer Hand. „Hey, ich beeile mich, versprochen.“

Die hinterlassene Wärme seiner flüchtigen Berührung ließ sie für einen kurzen Moment erstarren. Ganz unbewusst streifte sie mit der anderen Hand über den berührten Handrücken, so als wollte sie seine hinterlassene Wärme bei sich halten.

Ihr Rucksack war bereits gepackt. Sie hatte die kleine Kamera von Philipp dabei, die er ihr extra für die Zeit auf Borkum geliehen hatte. Bisher hatte sie noch kein einziges Foto gemacht, sondern hatte alle Eindrücke auf ihrem Skizzenblock festgehalten. Sie entschied sich, noch einmal in Richtung Meer zu laufen. Die Fuji hängte sie sich dabei um den Hals.

Das Sturmeck war noch geschlossen, lediglich eine Klapptafel stand davor. „Die Weisheit des Tages“, las sie leise. Sie trat näher heran, um die Schrift besser entziffern zu können. „Und manchmal ist das gefährlichste Tier der Welt der Schmetterling im Bauch.“ Sie schmunzelte. Schmetterlinge hatte sie schon so lange nicht mehr in ihrem Bauch gespürt. Sie spürte Glück, wenn sie Emma betrachtete, und Traurigkeit, wenn sie auf sich selbst schaute. Sie wollte so gern glücklich sein, sie wollte Pläne schmieden und Lebendigkeit fühlen – und fühlte dabei oftmals nur ihre eigene Angst, die eher wie ein Stein in ihrem Magen lag.

Mary wandte sich von der Tafel ab und lief dem Meer entgegen. Der Wind wehte heute ganz flach über den Boden, sodass es aussah, als würde der Sand über dem Boden schweben. Sie war beeindruckt von diesem Anblick. Sie knipste ein paar Fotos, spielte mit den Winkeln und Einstellungen, bis sie eins hatte, mit dem sie zufrieden war.

Die schönsten Muscheln und Steine sammelte sie wieder für Emma ein.

Bevor die Sonne ihren Hochstand erreichte, ging sie zurück zur Ferienwohnung. Sie war verabredet und sie freute sich auf die Zeit mit Tommes.Noch konnte sie nicht benennen, was dieser Mann in ihr auslöste. Was es war, das ihn so sympathisch machte. Ob das Funkeln in seinen Augen, seine freundliche Art, wie er von seinen Kindern erzählte. Und doch umgab ihm eine Grundmelancholie, die sie so gern ergründen wollte. Sie wollte wissen, was sich hinter seiner liebevollen Mauer verbarg. Vielleicht ja schon heute.

„Hast du dein Handy gar nicht dabei?“, war das Erste, was Tommes fragte, nachdem sie sich sahen.

Mary schüttelte den Kopf, ihr fiel sofort die Veränderung an Tommes auf. Der Bart war nun gepflegt und die Haare deutlich kürzer. Der unordentliche Dutt war einer modischen Kurzhaarfrisur gewichen.

„Bereit?“, fragte er dann.

„Was ist mit deinen Haaren passiert?“, wollte Mary wissen und lief eine Runde um ihn herum.

Er drehte sich mit ihr und lächelte sie an. „Es war ganz spontan, manchmal braucht es etwas Veränderung im Leben. Du magst es, habe ich recht?“, neckte er sie, als er sein Fahrradschloss öffnete.

Mary mochte seine Veränderung sehr, antwortete ihm aber nicht. Es fiel ihr nicht leicht, den Blick von ihm abzuwenden.

„Beeil dich, in einer Stunde haben wir Flachwasser, danach steigt das Wasser wieder an.“

Mary schulterte den Rucksack und stieg etwas holprig auf das Fahrrad auf. Tommes hatte schon etwa fünfzig Meter Vorsprung. Der Muskelkater ihres kurzen Joggingausflugs machte sich bemerkbar. Kurz vor dem Sturmeck hatte sie ihn schließlich eingeholt. „Hey, nicht so schnell, mir tut alles weh“, rief sie kurzatmig.

„Schwächelst du etwa?“

„Ich wollte kein Wettrennen mit dir machen!“ Keuchend schloss sie die letzten Meter zu ihm auf.

Sie fuhren über die Promenade, wo sie wegen der vielen Urlauber zwischenzeitlich von den Rädern absteigen mussten, und fuhren weiter zum Hafen. Der Fahrtwind pustete Mary die Haare ins Gesicht und legte Salz auf ihre Lippen. Irgendwo weit oben kreischte eine Möwe.

Als sie den sandigen Radweg hinter der Heimlichen Liebe erreichten, kamen ihnen kaum Touristen mehr entgegen. Dieser Strandabschnitt war fast schon einsam gegen den an der Promenade. Nur ein paar Menschen mit Hunden liefen am Strand entlang.