Sültzrather - Josef Oberhollenzer - E-Book

Sültzrather E-Book

Josef Oberhollenzer

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Beschreibung

Ein großartiger Roman über die Frage, woraus Erinnerung nach dem Verschwinden gemacht ist. Sültzrather handelt von einem Zimmermann aus Aibeln in Südtirol. Nach dem Sturz vom Baugerüst und der folgenden Querschnittslähmung beginnt der Protagonist Vitus Sültzrather zu schreiben. Es ist ein Schreiben gegen das Vergessen: Wie besessen, akribisch genau, vertraut er die Details, die nur er wissen kann, dem Papier an. Doch dann beginnt er das, was er aufgeschrieben hat, wieder zu vernichten, Seite für Seite abkratzend, abschabend, ein Vernichtungsfeldzug, der von seiner Umgebung, seiner Schwester, der Zugehfrau und deren Tochter nicht gestoppt werden kann. Mit hoher Kunstfertigkeit passt Oberhollenzer seinem Protagonisten eine Erinnerung auf den Leib.

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Seitenzahl: 179

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Inhalt

Spieleröffnung mit schuhen

(auch: Introductio calcei. Gerücht)

Selbstporträtporträts

Versuch einer antwort, mit der geschichte von T.

„Sie können das letzte werk Sültzrathers abholen.“

Versuch einer erinnerung, ohne die geschichte von Rut

„Oh, wie möchte ich ein Reiser sein!“

Einige fußnoten aus dem leben des dichters Vitus Sültzrather

„Und die arche ruhte sich endlich zwischen den wassern aus.“

Die geschichte von Bezalel, der im schatten Gottes ist.

Flur, friedhofsmauer; oder was uns nicht trennt.

(„Aber nun dauert’s nicht mehr lang, nein.“)

Sekretärstraum

Alptraumdohlen

Soldaten.Helden.Wald

Eine wiederrede zum hundertsten

Es sei also vollkommen unerheblich, was er sage

(oder: Europa, habe er gesagt)

Auf der suche nach einem tannenzapfen

Sültzrather hätte nie in pension gehen wollen

oder: Der anfang hört immer mit einem ende auf.

Unterdererde (oder: sperrgebiet)

Totenbildchen, die geschichten von Rut

Genovefa S. und die leerstellen des glücks

oder: Hinter der stadelwand das paradies

Und die andere arche (festungsbau)

oder: Das verschwundene taubenpaar

Vitus Sültzrather, 9. juni 1931 in Aibeln – 22. mai 2001 in Aibeln

18. mai 1959: in Garn sturz vom baugerüst; danach querschnittgelähmt

29. juni 1959: meterhohe schlamm- und steinlawine

tod des vaters im november 1973

tod der mutter im april 1977

Cato, sein hund; schwarzer neufundländer

Lora, seine katze; weiße deutsch langhaar

Genovefa, schwester; jüngste der geschwister vom Kalberhof; verheiratet mit Kassian Jobstraibizer

Roland, ihr einziges kind, stirbt nach der geburt

Veronika, schwester; verheiratet mit Sebastian Pfeissinger, staplerfahrer

Cäcilia, schwester; verheiratet mit Konrad Schrott, obstbauer

Ignaz, nach Kanada ausgewanderter onkel

ein verdingser onkel

Notburga T., Vitus Sültzrathers zugehfrau (vom Schilcherhof)

Rut Thinnebach, deren tochter

Filomena Z., latzfonser kusine der Notburga T.

Albin Hasler, Vitus Sültzrathers lehrer

Kreszenz Jaist, nachbarin Vitus Sültzrathers vom Blaaserhof

Annemarie Spisser, die junge Thalhoferin; mutter von zwillingen

die Thalhoferin, deren schwiegermutter

Dr. Hieronymus von Lutz, Vitus Sültzrathers totenbeschauer

Veronika F., die hinterherschauende verlassene

Pius T.

maler K.

Bezalel, zweitgeborener sohn Noahs

Safina, seine frau

Ephrem, beider sohn

R., altenheiminsasse

W., sein sohn

F., seine eine tochter

S., seine andere tochter

Innozenz Waldtpichler, schulsekretär von K.

der Lehrer

F.

JOSEF OBERHOLLENZER

SÜLTZRATHER

ROMAN

f. Nina, f. Moritz

„Es gibt keine Schrittzähler des Lebens,

nur Siebenmeilenstiefelschrittzähler;merkte ein Mensch alle Stunden,er brauchte ja ein Leben, um ein Leben zu erzählen.“Jean Paul, Vita-Buch

„Man kann ihn sich gut älter vorstellen, dicker,faltiger, vorsichtiger, herzlicher. Mit gepflegtemweißem Haar und gerötetem Gesicht.“Helmut Heißenbüttel, Projekt Nr. 1. D’Alemberts Ende

„Mehr ist da nicht. Daß euch kein Fensterkreuz je kennt,Nehmts hin. Es ist ein Vorgeschmack auf das Verschwinden.“Durs Grünbein, Vom Schnee oder Descartes in Deutschland

Spieleröffnung mit schuhen

(auch: Introductio calcei. Gerücht)

„Das eine spricht, ich zerwandrenach dir schon mein siebtes Paar Schuh –“(Peter Rühmkorf, Zersungene Lieder III)1

„Unbeschuht aber kommt durch die Luft, der am meisten dir gleichet,eiserne Schuhe geschnallt an die schmächtigen Hände,verschläft er die Schlacht und den Sommer. Die Kirsche blutet für ihn.“(Paul Celan, Ein Knirschen von eisernen Schuhn)2

Der aibelner3 dichter Vitus Sültzrather, mittlerweile bekannt wie ein bunter hund, nämlich, sagt F., wer kenne schon einen bunten hund, der habe nach seinem sturz vom baugerüst im mai neunundfünfzig und der folgenden querschnittlähmung bzw. der darauf folgenden lebenslänglichen verbannung in den rollstuhl –, wie Francesco Petrarca4 oder Thomas Bernhard5 habe Vitus Sültzrather danach ein wachsendes faible für schuhe entwickelt: derart, daß er, nachdem er anfangs nur unterschieden habe zwischen montagsschuhen, dienstagsschuhen, mittwochsschuhen, donnerstagsschuhen, freitagsschuhen, samstagsschuhen und sonntagsschuhen, die schuhe zuerst wechselnd also je nach wochentag, diese wochentagsschuhordnung aufgrund der jahreszeitlichen notwendigkeit schon bald erweitert habe hin auch zu einer unterteilung in sommerschuhe und winterschuhe, folglich trennend also zwischen: sommermontagsschuhen und wintermontagsschuhen, sommerdienstagsschuhen und winterdienstagsschuhen, sommermittwochsschuhen und wintermittwochsschuhen, sommerdonnerstagsschuhen und winterdonnerstagsschuhen, sommerfreitagsschuhen und winterfreitagsschuhen, sommersamstagsschuhen und wintersamstagsschuhen, sommersonntagsschuhen und wintersonntagsschuhen. Eine sucht aber, sagt F. – und daß das anfängliche faible, diese trotzige liebhaberei oder schwäche für schuhe, dieses in wahrheit vielleicht naive aufbegehren gegen seine gelähmtheit, von anfang an suchtcharakter gehabt habe und ein „suchtfötus“, so F., im grunde gewesen sei6, sei wahrscheinlich auch Vitus Sültzrather selbst von anfang an klar gewesen: Nämlich nicht ein einziges mal schreibe er nach seiner entlassung aus den diversen krankenhausstationen und schlußendlich aus der reha7, das wort schuh –: Eine sucht aber höre zu wachsen nicht mehr auf. Und also habe Vitus Sültzrather seine schuhordnung weiter unterteilt und nicht mehr nur zwischen sommerschuhen und winterschuhen unterschieden, sondern auch noch zwischen herbstschuhen und frühlingsschuhen. Diese nunmehrige vierteilung der sültzratherschen wochentagsschuhordnung und also dieser „längst kammerfüllenden schuhanhäufung“ müsse aber, so F. – sicherlich auch, weil die schuhfabrikanten seinerzeit ja nur zwischen einer sommer- und einer winterkollektion unterschieden hätten –, außerordentlich schwierig gewesen sein und zu fortwährenden streitereien mit seiner zugehfrau Notburga T. geführt haben, die ja, „selbstverständlich unter Sültzrathers aufsicht“, die aufgabe gehabt habe, die nach jahreszeitlicher maßgabe zu erfolgende „quadrudivision“ der sültzratherschen scarpothek8 in die tat umzusetzen bzw. in der, wie man in Aibeln sich zugeraunt habe, „aus allen nähten brechenden schuhkammer“ zu verwirklichen; denn immer wieder sei in ihren briefen an ihre latzfonser kusine Filomena Z. die rede davon, daß sie ihm „wieder einmal die Schuhe an den Kopf geworfen“9 habe. Am ende aber, so gehe das gerücht, sagt F., habe Vitus Sültzrather für jeden tag des jahres ein eigenes paar schuhe gehabt – oder vielmehr: für jeden tag zwei; nämlich ein schönwetterschuhpaar und ein schlechtwetterschuhpaar – „und alle wie neu“, habe der ende mai zweitausendeins seine todesursache beurkundende arzt Dr. Hieronymus von Lutz in den örtlichen gasthäusern „herumerzählt“: „Alle wie neu und nach dem kalender aufgereiht; und die schuhsohlen, mein gott, nicht im geringsten abgenützt!“ Wer mit denen wohl gehen werde, habe der Von Lutz immer wieder wie zu sich selbst gesagt, zwischen einem zug an einer seiner Nazionali (ungefiltert) und dem nächsten.

1Peter Rühmkorf, Zersungene Lieder III, in: Einmalig wie wir alle, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 127

2Paul Celan, Ein Knirschen von eisernen Schuhn, in: Mohn und Gedächtnis, München 1952, S. 20

3Aibeln: eine ortschaft im südtiroler Eisacktal, westlich von Klausen, auf 1.054 m ü. NHN gelegen (auf der hypotenuse des dreiecks Latzfons – Verdings – Garn); 238 einwohner bei der volkszählung im jahr 2001, dem todesjahr Vitus Sültzrathers. (Ob er noch mitgezählt wurde?)

4„[..] daß unsere Schuhe, an welchen man mit Sorgfalt die geringste Verunstaltung vermied, so enge waren, und uns so große Qualen machten [..] (Jacques-Francois-Paul-Aldonce de Sade, Nachrichten zu dem Leben des Franz Petrarca aus seinen Werken und den gleichzeitigen Schriftstellern. Ersten Bandes erste Abtheilung. Lemgo 1774, S. 234)

5„[..] daß Thomas eine unwahrscheinliche Vorliebe für Schuhe hat und seine zirka 30 Paar neue Schuhe ständig genauso putzt und pflegt wie jene, welche er benützt. [..] Ich möchte sogar fast behaupten, daß Thomas in bezug auf Schuhe einen Fimmel hat, wie man hier sagt [..]“ (Karl Ignaz Hennetmair, Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das notariell versiegelte Tagebuch 1972, Salzburg und Wien 2000, S. 44)

6Elmar Locher: Vitus Sültzrathers Auferstehung aus den Falten eines Traums, in: Text + Kritik 71 (Vitus Sültzrather), München 21984, S. 31: „[..] und dieses fortwährende Anrennen gegen den ungeheuren Schmerz, daß er nicht gehen, daß er nicht rennen kann; daß er sich, wie er in einem der ersten Notizbücher schreibt, ‚nicht aufrichten, nicht schreiten kann wie ein Mensch‘ [..]“

7„Reha, Reha! Was für ein Wort! Was soll da schon wiederhergestellt werden! Die Welt mit Wörtern wie mit Lügen gepflastert!“ (Vitus Sültzrather, Notizbuch Nº 1, Aibeln 1959, S. 19)

8Der französische naturforscher Bernard Germaine Lacépède spricht in seinem 1788 in Paris erschienenen buch Histoire naturelle des quadrupèdes ovipares et des serpens von der „Quadrudivision des Salamandres“ (S. 645f.). – „Dies“, so F., „nur am rand oder unterm strich.“

9Vitus Sültzrathers großneffe, Isidor Sültzrather, zitiere, so F., in seinem buch Mein wunderbarer Großonkel. Erinnerungen an den Dichter Vitus Sültzrather (Klausen 2012) mehrere briefe der zugehfrau Notburga T. an ihre kusine Filomena Z. (vor allem aus den achtzigerjahren), in denen sie sich etwa über die „nie aufhörende Umänderung der Schuhordnung“ ereifere; oder, einmal, daß sie es „nun endgültig satt“ habe, „diesem Nichtgeher sein Gehzeug in die Jahreszeiten aufzufächern“. Und ein andermal schreibe sie ungefähr so: „Liebe Filomena, hätte ich so viele Schuhe wie der! Dann bröselte ich ihm die seinen gerne auf.“ Aber, so F.: „Lesen Sie selber nach!“

Selbstporträtporträts

Versuch einer antwort, mit der geschichte von T.

„Rose is a rose is a rose is a rose.“(Gertrude Stein, Sacred Emily)10

„Das Anschauen ist ein Portraitieren schon.“(Vitus Sültzrather, Traumschleifer)11

Der fall ist, daß der maler versucht, das bild, das er sich schauend macht, ihm, dem abzubildenden und am ende endlich abgebildeten – dem zum bild des malers gewordenen also; des malers bild als bildnis seiner selbst – auf der leinwand auf den leib zu malen und nun im starren, im unbewegten, im toten als sein bild zu bannen im an diesen aufgespannten ort gebundnen augenblick; der sich aus ungezählten augenblicken des kunstgezähmten anschauns aber, der sich aus einer spanne zeit zusammensetzt und nun: da ist und ohne zeit – und „wie der tote Körper meiner Mutter, der nun da vor mir lag: ein mutterloses Stück“12. Jedoch beseelt sei dieses bild, beherzt und hirngefaltet?, wie dieses mutterstück nicht war, von anfang an; in dem war nicht ein augenblick der zeit, die dieser körper, einmal, in sich trug und der nichts andres mehr nun ist als –? „Als was?, als was?“13 Beseelt sei, sagt er, dieses konterfei, in dem, was der im spiegel sah, verschwunden ist. Ach was!, die seele einverleibt der maler sich, indem er dieses bild im bildnis breit fixiert, in dieser traumgebornen farblandschaft; indem er hier versucht, ein bild zu machen, das mit dem abgebildeten identisch sei, mit dem verschwindenden – und ihn ersetzt? Doch wenn der maler selbst nun sein gemalter ist und so sich doppelt sieht, im spiegel einmal und daneben in dem eignen bild? Wer ist der dritte, der da steht und schaut, sich selber anschaut und – wie jener sagte, der – sich das geschaute einverleibt? Das einverleibte nämlich, im leib verschwinde es, im leib verwandle sich’s; und als ein anderes werde es dann ausgeschieden („Dies fleisch, seht her, und dieses blut!“) und sei doch immer noch, im grund, was es davor gewesen sei, vielleicht ist es die summe des gewesenen; gepreßt, gestanzt, gemalt in jene form, die all das überflüssige, was einem alles einmal war, fast alles, ja, nun auslöscht, ins verschwinden bringt, indem es nichts als bildnis ist, nichts als beseeltes stück porträt, nichts als die wahrheit, freigelegt –: „Der Körper meiner Mutter aber“, schreibt er, „liegt noch da.“14/ Der fall ist, daß der mensch sich seinem hunde anverwandelt (oder der hund dem menschen, ja?) und mensch und hund bald sind wie eines jener seltnen paare, noch glücklich, immer noch, nach einem halbjahrhundert, in welchem sich, in allem, „eine Verwandtschaft eingestellt hat, wie sie zwischen Verwandten noch nie in der Welt gewesen ist“15; noch nie./ Der fall ist auch, daß einer einmal: kunstliebender inhaber eines kleinen computershops, alleinwohnend – „Winter war’s; dezember. Elf jahre ist’s her.“16 – sich seinem porträt anzuverwandeln versuchte17, da es von seinen freunden, ebenfalls kunstliebend allesamt, wie sie bei jeder halbwegs passenden gelegenheit – und halbwegs passende gelegenheiten gebe es in jedem leben mehr, als einem lieb sein könne18 – ins gespräch zu streuen nie müde wurden, nein, als ein geglücktes hervorgehoben worden war, wohingegen man ihn, T., niemals als geglückt bezeichnet hatte, in seinem ganzen, bald schon halbhundertjährigen leben noch nie. Nie, er könne sich nicht erinnern, habe man ihm zu sich selbst gratuliert, seinem porträt jetzt aber jubelte man zu; aber T. wollte, nichts anderes wollte er mehr, daß man ihm zujubelte und nicht seinem porträt; darum versuchte er zu werden wie es. Jedoch sah er im porträt das geglückte nicht, er sah nicht sich im porträt: Er sah sich nicht. Wenn er sein spiegelbild mit seinem abbild verglich, jenem an mehreren winterabenden, an denen durch dieses stundenlange dasitzen in der geforderten eingefrorenen körperhaltung seine schon weggeturnt geglaubten rückenschmerzen allmählich wiedergekehrt, in seinen körper zurück- und also, wie es seine naturgläubige heilpraktikerin ausdrückte, heimgekehrt waren und nun mit einer selbstverständlichkeit seinen rücken verheerten wie einmal der winter bei uns den schnee gebar, vom maler K. mit vielfach sich überlappenden farbschichten überzogenen, 46 × 53 cm großen leinwandstück, sah er in ihnen einen vollkommen anderen; nicht jenen sah er, den er im spiegel sah. Der maler K. aber war ein in der seinerzeitigen kunstlandschaft längst angekommener: Wer ihn und seine bilder nicht als groß empfand oder wenigstens groß darüber redete, verstand von allem malen, verstand von aller kunst nichts, schier gar nichts, nein. Der gehörte nicht dazu; er aber wollte dazugehören, um jeden preis. Im porträt des malers K. allerdings, so schien ihm, kam er nicht vor; da sei alles, was er je gewesen sei, verschwunden: Der maler K. habe ihn vollkommen ausgelöscht und nichts als eine hülle – oder eine oberfläche, vielleicht –, die der seinen vielleicht ähnlich sehe, ausgestellt: ein fälscher, oder genauer: ein kopist, der „eine einzige amorphe Schicht aus buntem Staub“19 herstellte und nicht eine „Landschaft aus geologischen Schichten unterschiedlicher Gestalt und Farbe“20 – eine landschaft also aus fleisch und blut und haut und haar. Ein gänzlich anderer schaute ihn da an; nicht der, den er im spiegel sah: tag für tag für tag. Und der spiegel porträtierte einen anderen; aber auch dieser andere, der immer selbstverständlich er gewesen war, wurde ihm nun, mehr und mehr, fremd. Ein anderer schaute aus dem spiegel in ihn hinein, versuchte nun in ihn einzudringen, versuchte ihn zu erkunden, versuchte wieder dazuzupassen, ineinander, überein, mit aller gewalt; aber er habe standgehalten, aber er habe sich gewehrt./ Der fall ist, daß T., um des glückes leibhaftig zu werden, das seinen freunden in seinem porträt gewärtig war, beschloß, zu seinem porträt zu werden – „und wenn es mich das Leben kostet!“21 Schon war ihm dieser gedanke in sein denken geraten; und noch wußte er nicht, wie groß in diesem gedanken die kommende wahrheit schon stand. Aber er wußte, daß solche gedanken, hatten sie sich in seinem denken erst einmal halbwegs eingenistet, sich in ihm so ausbreiteten wie etwa in seiner kindheit die tinte auf dem löschpapier und bald, riß man sie nicht sofort mit allen wurzeltentakeln aus, drängten sie unaufhaltsam zur verwirklichung. Wie sehr solche gedanken sein denken belagerten bis zur endgültigen eroberung und verdrängung alles anderen, da glich er seinem vater wie in allem sonst auch. All das wußte er – und er ahnte, daß nun, auch diesmal, nichts gutes voranwuchs in ihm: mit der gewohnten absoluten konsequenz, die in ihm wütete, seit er denken konnte; ja, davor hatte er angst: Robespierre war ihm ein ungeheuer und der große Alexander auch. (In den kindern müsse diese absolute verwirklichungssucht, an der die menschheit einmal zugrunde ginge, in den kindern müsse die noch sein. Denn wie die unbedingt gehen wollten, wie die unbedingt reden wollten, und wie die die mütter belagerten, wie die die väter eroberten, wie die die väter und mütter schließlich versklavten, ja! All die großen diktatoren hätten ihre kindheitssucht nie abgelegt, diesen entsetzlichen willen zur welt, und auch die künstler nicht, nein, all die Van Goghs und Schieles und Dürers und Munchs, all die Kleists und Joyces und Flauberts und Benns, all die Mozarts und Beethovens und Tom Waitses und Bachs –: Die selbstwerdungs- oder selbstgebärungssucht habe in denen nie aufgehört – und manchmal, in luziden momenten, oder in seinen träumen, ja, dort auch, da wisse er, er sei wie die: Wenn so ein gedanke in ihm wüchse, dann sei er wie die.) Aber wie sehr T. auch, als ihm die kommende wahrheit immer wieder ins bewußtsein stach, den porträtgedanken, als der ihn allmählich auszufüllen begann, zu verdrängen versuchte mit anderem – etwa damit, daß er exzessiv zu essen begann und sich nach jedem essen auf die waage stellte, damit er schauen, damit er messen konnte, bis aufs deka genau, wie gewichtig sein körper war, wie er sich vermehrt hatte, wie er wuchs –: Vorantrieb, unaufhaltsam, bald wie ein erdapfel und wie ein fluß, der einmal geborne gedanke hin zu seiner ankunft oder verwirklichung: „Ein Stein, der fällt, fällt bis zum Grund/ warum ihn niemand halten kunnt’.“22 Und so arbeitete T. an seinem gesicht – kleidung und haare waren ihm noch ein leichtes gewesen, das ließ sich ja verändern wie ein gemaltes, wie ein porträt – wie ein bildhauer an seinem material: Wie seine großmutter über die hühneraugen mit einem hühneraugenhobel gegangen war – „Schnitt für Schnitt, bis unter die Oberhaut hinab und weit ins Unterhautgewebe hinein“23 –, so ging jetzt er über sein gesicht; mit der selben akribie auf jeden fall: damit die ähnlichkeit wüchse wie sein körper, immer noch. K.s porträt hatte er neben den spiegel im badezimmer gehängt, wo er abend für abend (und immer wieder bis tief in die nacht hinein) studierte und verglich und dann schnitt und nähte und stach und verband: So änderte er sich und wurde immer mehr sein porträt. Bald schon war er experte in plastischer chirurgie, durch webweites studium und die lektüre von fachliteratur einerseits und durch das stete üben an sich selbst, andererseits; und bald verfügte er über das nötige instrumentarium im überfluß: über pinzetten und skalpelle und spritzen und scheren, über nadeln und fäden und fadenstopfer, über steril-container, absaugkanülen, sinusküretten, über mundsperrer und mundkeile und nasenzangen, über nasenspekula, klemmen und anästhetika. T. wurde immer mehr sein porträt, fast schon war er es, bis zum identischen war es nur noch ein schritt. „Es ist nur noch ein Schritt, bis ich endlich bin wie ich“24, steht als eintrag des 17. märz in seinem tagebuch; aber das war, wir wissen’s, der wendepunkt. Ab diesem mittwoch im märz strebte sein gesicht dem verschwinden zu; dem gesichtshauer T. schwand sein material allmählich dahin; auf dem weg hin zum porträt entfernte er sich von ihm, nur die verzweiflung nahm zu. Dann arbeitete T. am porträt, am ende löste er das gesicht in wasser auf, bis es nur noch eine fläche und eine farbe war; und dann endlich, ja, war das porträt ganz er: In einer einzigen nacht entfernte er sein gesicht. Als er sich am morgen im spiegel sah, eine fläche blut, eine farbe rot, da weinte er; dann stürzte T. sich, in seinem glück, vom badezimmerbalkon in die tiefe hinab. Sein tagebuch legt von seiner sisyphosarbeit zeugnis ab, schreibt laut Ohrberger die „Geschichte von der Verstümmelung eines Gesichts“, in wahrheit ist es aber die aufschreibung einer ungeheuren glückssehnsucht./ Der fall ist: Ob, wenn einer ein selbstporträt porträtiert, die wahrheit eher sich aus dem porträtierten schälte als im originären selbstporträt? Der fall ist, ob: Wenn einer alles, was jenem ersten eigenmaler ganz selbstverständlich wichtig war: die augen-, ohren-, nasenzüge, der mund, das kinn und alles, was er als gesicht zusammenschaut; wenn einer alles das, was einer braucht, um sich gesetzesmäßig auszuweisen: das, was in pässen unverschleiert ist; wenn einer alles, woraus wir den haß die liebe lesen, die hintertücke und die freundlichkeit; wenn einer all das wegließ, wenn einer nichts nahm als die form um das verschwundene gesicht, ob einer dann sich selbst doch eher ähnlich war? Ob einer dann erst, endlich, würde, was er in seinen märchen war, in jenen träumen, die der tag schnell aufhellt und verbleicht, damit den anderen nicht schaudert; damit vor allem er vor sich nicht im porträt erschreckt? Diese frage wurde dem maler K. immer wesentlicher. Oder, wenn einer ein porträt eines selbstporträts versucht –: Was passiert mit dem abgebildeten dann? Wie weit entfernt sich das abbild des abbilds vom urbild – oder wie weit vielleicht nähert es sich an? Diese fragen habe K. in all seine porträts gemalt, auch, selbstverständlich, in jenes von T./ Der fall ist: Du sollst dir kein bild machen, habe man früher gewußt.

10Gertrude Stein, Sacred Emily, in: Geography and Plays, Boston 1922, S. 187

11Vitus Sültzrather, Traumschleifer. Eine Trilogie. Band 1, Berlin 1967, S. 21

12Vitus Sültzrather, Traumschleifer. Eine Trilogie. Band 1, Berlin 1967, S. 83

13Vitus Sültzrather, Bildnis, in: Düstrer kein Morgen, der Tod. Gedichte, Innsbruck 1955, S. 16

14Vitus Sültzrather, Traumschleifer. Eine Trilogie. Band 3, Berlin 1967, S. 347

15Vitus Sültzrather, Knödelfleisch, Heidelberg 1971, S. 118

16Isidor Sültzrather, Mein wunderbarer Großonkel. Erinnerungen an den Dichter Vitus Sültzrather, Klausen 2012, S. 16

17Oscar Wilde’s Roman Das Bildnis des Dorian Gray habe T. nicht gekannt.

18Vgl. die nicht gehaltene geburtstagsrede Isidor Harrers in: Vitus Sültzrather, Wie ein Taubenschlag, Heidelberg 1973, S. 66 ff.

19Anita Albus, Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei, Frankfurt am Main 1997, S. 98

20Albus, Die Kunst der Künste, S. 98

21Erwin Ohrberger (Hrsg.), Das Tagebuch des Pius T. – Die Geschichte der Verstümmelung eines Gesichts, Klagenfurt 2007, S. 24

22Johann Aufhausen, Über all die Gesetze, derer in der Natur sind. Würkliche Erfahrnisse eines unersättigen Beobachters, von ihm selbst in Verse gebracht, Göttingen 1763, S. 149

23Josef Oberhollenzer, Großmuttermorgenland. Eine Erzählung aus den Bergen, Wien Bozen 2007, S. 57

24Ohrberger, Das Tagebuch des Pius T., S. 223

„Sie können das letzte werk Sültzrathers abholen.“