Sünde - Megan Campisi - E-Book

Sünde E-Book

Megan Campisi

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  • Herausgeber: Limes Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

»Die Sündenesserin ist unter uns, wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Wir übergeben ihr unsere Sünden, auf dass sie ihr ins Grab folgen.«

England, 16. Jahrhundert: Als Anna Owens beim Stehlen eines Brotlaibs erwischt und verhaftet wird, ahnt sie nicht, dass die Suche nach der nächsten Mahlzeit künftig ihre geringste Sorge sein wird. Die Waise wird dazu verurteilt eine Sündenesserin zu werden. Von der Gesellschaft geächtet und zum Schweigen verdammt, ist es fortan Annas Aufgabe, Sterbenden die letzte Beichte abzunehmen und deren Sünden so in sich aufzunehmen. Als ausgerechnet die Zofe der Königin schwer erkrankt, wird Anna an deren Sterbebett gerufen. Dabei kommt ihr ein Gerücht zu Ohren – ein Gerücht über ein ungeheuerliches Verbrechen, das bald weitere Tode fordert und auch für Anna zur Gefahr wird …

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Seitenzahl: 395

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Buch

England, 16. Jahrhundert: Als Anna Owens beim Stehlen eines Brotlaibs erwischt und verhaftet wird, ahnt sie nicht, dass die Suche nach der nächsten Mahlzeit künftig ihre geringste Sorge sein wird. Die Waise wird dazu verurteilt eine Sündenesserin zu werden. Von der Gesellschaft geächtet und zum Schweigen verdammt, ist es fortan Annas Aufgabe, Sterbenden die letzte Beichte abzunehmen und deren Sünden in Form von Speisen in sich aufzunehmen. Als ausgerechnet die Zofe der Königin schwer erkrankt, wird Anna an deren Sterbebett gerufen. Dabei kommt ihr ein Gerücht zu Ohren – ein Gerücht über ein ungeheuerliches Verbrechen, das bald weitere Tode fordert und auch für Anna zur Gefahr wird …

Autorin

Megan Campisi, 1976 geboren, ist Dramaturgin, Autorin und Lehrerin. Ihre Theaterstücke wurden bereits in China, Frankreich und den Vereinigten Staaten aufgeführt. Bevor sie allerdings zum Schreiben kam, war sie zeitweise als Försterin und auch als Souschefin in Paris tätig. Ihr Erstlingswerk Sünde wurde 2021 von der Historical Writers’ Association mit dem Debut Crown Award ausgezeichnet. Die Autorin stammt ursprünglich aus der San Francisco Bay Area, lebt mit ihrer Familie aber mittlerweile in Brooklyn, New York.

Weitere Informationen unter: www.megancampisi.com

Besuchen Sie uns auch auf http://www.instagram.com/blanvalet.verlag und http://www.facebook.com/blanvalet.

Megan Campisi

Sünde

Roman

Deutsch von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Sin Eater« bei Atria Books, an imprint of Simon & Schuster Inc, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Megan Campisi

International Rights Management: Susanna Lea Associates

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Covergestaltung und Vorsatz: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (HiSunnySky, saiyood) und Bridgeman Images

DK · Herstellung: DiMo

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28336-0V001

www.limes-verlag.de

Für meine Schwestern

Vorbemerkung der Autorin

Bis vor rund einhundert Jahren gab es in Teilen Großbritanniens sogenannte Sündenesser. Es sind kaum Quellen überliefert, denen wir entnehmen könnten, wie viele Sündenesser es gab und um wen genau es sich handelte – außer dass sie Geächtete waren. Wir wissen nur, dass sie am Sarg eines Verstorbenen ein Stück Brot zu sich nahmen und auf diese Weise im Volksglauben – der christliche Anklänge aufwies – den Verstorbenen von seinen Sünden lossprachen.

Mein Roman wurzelt in diesem Stückchen Tradition, ist aber der Fantasie entsprungen. Einige Figuren ähneln historischen Persönlichkeiten, dennoch ist dies nicht Geschichte, es ist Fiktion.

Auszug aus dem Handbuch großer wie kleiner Sünden und der ihnen entsprechenden Speisen

Außereheliche Empfängnis

Weinbeeren

Betrug

aufgeschlagenes Sillabub

Blendung

Schweinepastete

Blutopfer

Hypocras

Brandstiftung

Nierenpastete

Diebstahl

gebratene Taube

Ehebruch

getrocknete Weinbeeren

Eidbruch

Rührkuchen

Erbsünde

Brot

Feigheit

Rinderzunge

Giftmord

Taubenpastete

Heuchelei

Südweinsulz

Hexerei

Granatapfel

Hochverrat

Rindslende

Inzest

getrocknete Pflaume

Jähzorn

Knorpel

Ketzertum

Honigkuchen

Kirchenfrevel

Ingwerbrot

Knickerei

Knoblauch

Krittelei

Aalpastete

Landstreicherei

Getreidebrei

Lüge

Senfsaat

Müßiggang

eingelegte Gurke

Neid

Sahne

Notzucht an einem Kind

Lammkopf in Schafsmilch

Notzucht an einer Frau

Kapaunkopf

Ohrenbläserei

gekochter Knurrhahn

Rachsucht

Blutwurst

Schändung

Mürbgebäck

Spitzelei

Hahnenhirnpastete

Streitsucht

Kuttelpastete

Tötung aus Notwehr

Hasenherz

Tötung aus Raserei

Schweineherz

Treuebruch

Hammelfleisch

Trunksucht

Hypocras

Ungastlichkeit

Knoblauch

Verleumdung

Krähenfleisch mit Pflaume

Verschwörung

Weinbrandsulz

Wollust

Hagebutte

Stammbaum der königlichen Familie

König Harold II.

–––

verh. Constanza von Kastilien

– Tochter Maris

–––

verh. Alys Bollings

– Tochter Bethany

–––

verh. Jenette Cheney

–––

verh. Clelia of Berg

–––

verh. Helen Culpeper

–––

verh. Katryna Parr

(verh. Titus Seymaur

– Tochter Miranda)

Vormals

Haferbrei

Salz für Hochmut. Senfsaat für Lügerei. Gerste für häufiges Fluchen. Es gibt auch Weinbeeren, rot und prall liegen sie auf dem Kiefernholzsarg – eine ist aufgeplatzt, ein rubinroter Kern ragt wie ein Splitter aus dem saftigen Fruchtfleisch. Es gibt geschmortes Krähenfleisch mit Pflaumen und einen kleinen Brotlaib in Form einer Spindel. Warum das?, wundere ich mich. Und warum so klein? Da sind noch andere Speisen, allerdings nicht viele. Meine Mutter hat selten gesündigt. Sie war eine Füchsin, die mit wachsamem Auge und auf leisen Sohlen schon beim ersten Anzeichen für Unheil Reißaus nahm. Die nur dann kämpfte, wenn sie sich sicher war zu gewinnen. Lediglich für das Salz, die Senfsamen und die Gerstenkörner kenne ich die Sünden. Es sind die Sünden kleiner Kinder, deren Eltern sie dafür schelten. Sie singen in den Gassen Kehrreime darüber.

Jack Smith

saß am Tisch,

aß Pastete aus Rind.

Aß sie Biss für Biss

für seinen Beschiss.

»Bin nun ein gutes Kind.«

Die Sündenesserin kommt herein, wuchtet ihren Bauch in die Stube, wo der Sarg steht: aus ungehobelten Bohlen frisch von der Säge und Nägeln, die aufgesetzt, aber nicht eingeschlagen wurden. Sie riecht nach dem Wildlauch, der bereits sprießt, obwohl es bis Walpurgis noch ein Monat ist. Ich schäme mich für meine schmale Pritsche in der Ecke, unser Haus ist nicht fein genug, als dass ich eine eigene Kammer hätte. Die Sündenesserin schnauft nach einem Stuhl, und Bessie, unsere Nachbarin, bringt ihr einen Schemel, der unter den Röcken vollkommen verschwindet. Ich male mir aus, wie ihre dicken Hinterbacken ihn verschlingen. Ein Gluckser schlüpft mir über die Lippen, und ich schlage die Hände vor den Mund.

Bessie zieht mich ans Fenster. »Du darfst nicht hinsehen«, flüstert sie mir ins Ohr. Sie gibt mir einen Stüber, als ich Luft hole, um zu antworten, weil ich nun mal – wie meine Mutter – ein Schnattergänschen bin. »Die Sündenesserin ist unter uns«, weist Bessie mich zurecht. »Doch wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht …«

»Aber ich kann sie …«

»Wir sehen sie nicht«, unterbricht sie mich. »Wir hören sie nicht.«

Angeblich haben Sündenesserinnen eine gebrandmarkte Zunge, aber diese hier hat den Mund noch nicht aufgemacht.

»Die Sünden, die wir zu Lebzeiten begangen haben, gehen durch die Speisung auf sie über, gottlob«, raunt Bessie. »Deine Mutter fährt auf in den Himmel, Anna. Nicht eine einzige Sünde drückt sie nieder.«

Ich gehe zurück und setze mich auf meinen Platz neben Pa. Sein Gesicht sieht aus wie die Leintücher, die als knittriger Haufen neben der Tür landen, wenn sie gewaschen werden sollen.

»Ich wasche dir das Gesicht«, flüstere ich in seine Richtung, »und hänge es auf die Leine.«

Pa betrachtet mich, wie er mich immer betrachtet, wenn ich etwas sage, was nicht ganz richtig zu sein scheint. »Was machen wir nur mit dir?«

Weinbeeren, rot und prall. Ein Laib Brot in Form einer Spindel. Krähenfleisch. Nichts davon will mir aus dem Sinn gehen.

Jetzt

1 Gebratene Taube

Das Brot unter meinem Tuch ist immer noch warm. Ich renne, so schnell ich kann, den Straßengraben entlang.

Geweitete braune Nüstern schieben sich mir vors Gesicht und atmen heißen Pferdeatem.

»Aus dem Weg!«, brüllt der Mann auf dem Karren, der aus der Gasse vor mir kommt und sein Tier in den Trubel der Hauptstraße treibt. Die Stute reißt den Kopf hoch, die Trense kracht gegen ihr gelbes Gebiss. Ich springe zur Seite.

Hier kann mich jeder sehen, schimpfe ich mich, als ich aus dem Graben raus und über die Gasse stürme. Ich presse meinen Schatz in die Mulde zwischen meinen Brüsten und laufe an dem scheuenden Pferd und einem Heuwagen vorbei.

»Aye! Das ist sie!«, brüllt der Bäcker. Ich traue mich nicht, nach hinten zu sehen, renne umso schneller und biege in eine schmalere Gasse ab. An der nächsten Kreuzung schaue ich zu einer Seite, täusche ein Zögern an, laufe in die entgegengesetzte Richtung, komme an einem Stall und an einer Schmiede vorbei. Der Sohn des Bäckers kann schneller laufen und zögert nicht, als er mich eingeholt hat. Er packt mich im Nacken und stößt mich zu Boden. Mein Gesicht liegt im Schlamm. Durch die offene Tür vor mir kann ich die Stiefel des Schmieds sehen. Mein Atem kommt vom Rennen stoßweise. Ich schiebe den Brotlaib nach oben und reiße mit den Zähnen den Kanten ab. Kann genauso gut essen, denke ich mir. Wenn ich ins Gefängnis gehe, dann doch lieber mit Essen im Bauch.

*

Anna Owens. Der Schließer ruft mich aus der Zelle. Mich und all die anderen Mädchen, die in derselben Woche hier gelandet sind. Wir sind zwanzig: drei, die irgendwo abgehauen sind und hier in der Gegend weder Verwandtschaft noch einen Bettelbrief haben. Zwei Huren, die kein Stubengeld übrig hatten, um den Konstabler zu schmieren, damit er ein Auge zudrückt. Fünf Taschendiebinnen. Acht Betrügerinnen und Schlimmeres. Nur ein anderes braves Mädchen wie ich. Um ihren Hunger zu stillen, hat sie einen streunenden Hund getötet, nur wie sich herausstellte, war der einem Adelsmann entlaufen. Mehr Pech kann man kaum haben.

Wir gehen hintereinander raus in den nebligen Spätwintermorgen. Nach der Zelle, in der inmitten von so vielen Leibern ein wohliger Mief geherrscht hat, kriecht mir die Feuchtigkeit in die Knochen. Wir gehen auf der Gasse, Karren und Wagen müssen halten, und von den Böcken werden wüste Beschimpfungen gerufen. Das Gericht ist gleich nebenan, aber dies ist Teil der Bestrafung: auf dass jeder unsere Schande sehe. Sie rufen und nennen uns Frevelfrauen und Evas.

Ich wünschte, man könnte sein Inneres zeigen wie das Gesicht. Dann wüssten sie, dass ich keine Frevlerin bin. Wenn sie nur meine Haare sehen könnten und wie sie denen der Königin ähneln. Es sind die gleichen schwarzen Wellen. Dann wüssten die Leute, dass ich gut bin, wie sie. Ich bin keine Eva. Eva hatte sich mit einem Leben in himmlischen Gefilden an des Schöpfers Seite nicht zufriedengegeben. Sie sprang auf die Erde hinab, suchte Adam auf, den Hüter der Felder und Obstgärten, ließ sich von ihm zum Baum des Schöpfers bringen und stahl dessen Frucht. Nachdem sie bis auf einen letzten Bissen, den sie Adam anbot, alles verputzt hatte, verfluchte der Schöpfer sie und machte sie zur Herrscherin der Unterwelt. Sie ist reinste Bosheit. Sogar schlimmer als Judas, der den Sohn des Schöpfers verraten hat.

Der Schließer führt uns in ein feines Gebäude mit so hohem Dach, dass selbst der größte Mensch dort nicht hinreichen könnte. Wir füllen die ganze Bank – zwanzig zitternde Mädchen. Ein paar von uns sind wohl schon Frauen. Ich selbst bin es seit zwei Jahren, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich mich wie eine Frau fühle. Andererseits weiß ich nicht, wie sich eine Frau fühlen soll. Ich drehe den Ring an meinem Finger. Er ist schmal, eingedellt und nicht aus echtem Gold, auch wenn ich mir das gern vorstelle. Er ist das Einzige, was mir von meinem Pa geblieben ist. Ein Andenken an ihn.

»Was passiert denn jetzt?«, frage ich die Hundeesserin, die sich neben mich gesetzt hat.

»Jetzt entscheidet der Rechthaber«, sagt ein Mädchen ein gutes Stück weiter. Sie hat einen silbernen Becher gestohlen und strotzt vor Schmutz.

»Es heißt Richteherr«, fährt der Schließer sie an.

»Warum Richteherr?«, will ich wissen.

»Mein Schicksal ist besiegelt«, flüstert ein rattenhaftes Mädchen, das versucht hat, seinen noch ungeborenen Bastard zu verhökern.

»Mag sein, trotzdem muss das Urteil gesprochen werden«, raunt die Schmutzige dem Rattenmädchen zu.

Ich versuche es noch einmal. »Warum heißt er Richteherr? Richtet er uns hin?«

Mit einem merkwürdigen Laut bringt mich der Schließer zum Schweigen.

»Was für ein Blödsinn«, flüstert das Rattenmädchen und sieht sich Beifall heischend um. Als die anderen nicht darauf eingehen, schlage auch ich den Blick nieder.

»Und wann kommt der Richteherr?«, frage ich den Schließer, der sich im selben Moment von seinem Sitz erhebt.

Der Richteherr tritt durch einen Seiteneingang ein. Er geht auf ein Pult zu und erklimmt einen hohen Stuhl. Für einen kurzen Moment sieht er aus wie ein Kind, das auf den Stuhl seines Vaters klettert, und ich muss lachen. Schließer und Richteherr sehen scharf zu mir her, doch ich gucke unbeteiligt, und die anderen halten dicht, sogar die Ratte. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr nicht beigestanden habe.

»Chasy Stow«, hebt der Richteherr an. Der Schließer gibt dem Mädchen zu verstehen, dass es aufstehen soll. »Vagabundieren und Betteln ohne Erlaubnis.«

»Ich bin aus Chester Town …«, wispert Chasy.

»Wir sind hier aber nicht in Chester Town«, entgegnet der Richteherr, ohne auch nur hochzusehen.

»Da gab’s keine Arbeit, und ich musste von zu Hause weg«, versucht Chasy, sich zu rechtfertigen.

Sogar ich weiß, dass der Grund keine Rolle spielt. Menschen ohne festen Wohnsitz werden festgesetzt, es sei denn, sie haben einen speziellen Brief der Königin.

Der Richteherr hält den Blick auf sein Pergament gerichtet. »Kannst du zwei Fürsprecher benennen?«

Was für ein Unfug. »Hier ist doch außer uns und dem Schließer keiner«, sage ich zur Hundeesserin, »und wie wahrscheinlich ist es wohl, dass der ihr Bruder ist?« Der Richteherr haut mit einem Hammer auf den Tisch, und ich halte den Mund.

Er spricht Chasys Urteil, genau wie die Schmutzige es vorhergesagt hat. Sie wird ausgepeitscht, und anschließend brennt man ihr mit einem daumendicken heißen Eisen ein Loch durchs Ohr. »Und solltest du je wieder vor diesem Gericht erscheinen müssen«, fährt er fort, »wirst du aufgeknüpft, auf dass der Tod eintrete.«

Auch das ist Unfug. Denn wann wird wohl jemand aufgeknüpft, auf dass der Tod nicht eintrete? Aber das sage ich nicht laut, ich sage es nur zu mir selbst. Und dann tadele ich mich dafür. Verächtliche Gedanken: Die Sündenesserin wird an meinem Sarg Pastinaken essen.

Mädchen um Mädchen nimmt sich der Richteherr vor. Ein paar sollen gehenkt, einige ausgepeitscht werden. Das Rattenmädchen wird bei lebendigem Leib verbrannt. Der Richteherr sieht nicht eine von uns an, stellt keine Fragen – nur ob wir glaubwürdige Fürsprecher benennen können, dabei weiß er nur zu gut: Das können wir nicht. Jedes Mal, wenn er die Frage stellt, brennt es heiß züngelnd in meiner Brust, dort, wo die Rippen aufeinandertreffen. Beim sechsten oder siebten Mal steigt rasender Zorn in mir auf, auch wenn ich sonst nicht zu Galle neige. Ich will, dass er aufhört zu fragen. Oder uns zumindest ansieht.

Im selben Moment ruft er: »Anna Owens.«

»Ja«, sage ich laut und bin darüber ebenso überrascht wie der Schließer, der mich misstrauisch ansieht. Aber ich habe es geschafft. Ich habe den Richteherrn dazu gebracht, dass er aufblickt.

Er sieht mich lange an. Oder vielmehr stiert er mich an, und seine Augen werden zu dunklen Schlitzen. Die Stille reißt die anderen aus ihren Gedanken, worin auch immer die bestanden haben mögen. »Anna Owens«, wiederholt er, wendet und schmeckt diesmal jeden einzelnen Laut auf der Zunge. »Geborene Daffrey.«

»Ich bin eine Owens.« Meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt. Sofort taste ich nach Pas Ring. Ich weiß nicht, woher der Richteherr den Namen meiner Mutter kennt. Seine Augen sind kleine schwarze Mondsicheln, die stieren und starren. Vielleicht sieht er ja mein Inneres, so wie ich es mir zuvor gewünscht habe.

Dann ruft er unvermittelt: »Winnie Fletcher«, und der Bann bricht. Wir alle sehen den Richteherrn verblüfft an. »Winnie Fletcher!« Er schaut zum Schließer, der sich zu uns umdreht. Winnie Fletcher steht verunsichert auf. »Taschendiebstahl. Leumundszeugen, die für dich sprechen würden?«

Nach dem letzten Urteilsspruch geht der Richteherr auf den Seiteneingang zu. Der Schließer scheucht uns von der Bank.

»Aber ich habe noch keine Strafe bekommen«, sage ich zu ihm. Ich habe nur meinen Namen bekommen. Und den Blick.

Zur schmutzig nassen Mittagsstunde kehren wir ins Gefängnis zurück.

»Was wird aus mir?«, frage ich den Schließer erneut, als ich an ihm vorbei durch die Zellentür gehe.

Achselzuckend wendet er sich ab. Ich sehe die anderen an.

»Was wird aus mir?«

Sie weichen meinem Blick aus wie zuvor dem der Ratte.

*

Sein Urteil zu bekommen ist fast besser, als kein Urteil zu bekommen. Die Mädchen, die aufgeknüpft werden sollen, werden in drei Tagen hängen.

»Soll ich da auch gehenkt werden?«, frage ich den Schließer durch die Gitterstäbe. »Sollte ich mich darauf vorbereiten?«

Nicht dass es viel gäbe, was wir vorbereiten könnten. Winnie verspricht einer der Huren ihre Schuhe, wenn die ihre Sünden isst. Sofern man nicht reich ist, bekommt man im Gefängnis bloß die einfache Speisung, die sonst jene bekommen, die vor dem Tod nicht beichten konnten. Die Hure lehnt ab.

»Aber deine Seele ist doch schon verloren«, hält Winnie dagegen. »Es ist auch nicht viel, nur der Diebstahl und ein paar Flunkereien, ehrlich.«

Eine andere Hure schüttelt bereits den Kopf, noch ehe Winnie fragt. »Eine Sündenesserin sieht keiner mehr an. Keiner berührt sie mehr. Wie soll ich arbeiten, wenn ich nicht mehr angesehen oder berührt werde?«

Das Rattenmädchen hat mehr Glück. Sie verspricht der Hundeesserin eine Münze, wenn die ihrer Schwester ein Medaillon überbringt, und eine weitere Münze von der Schwester bei vollzogener Übergabe.

»Aber nicht vor dem Herbst«, wendet die Hundeesserin ein. Sie bleibt den ganzen Sommer im Gefängnis. So lange braucht die Familie, um ihre Strafe zu begleichen.

»Wird ja nicht schlecht«, sagt die Ratte und legt der Hundeesserin das Medaillon in die Hand. Ich schmunzele, doch sie sieht an mir vorbei.

*

Tags darauf denke ich viel an meinen Pa. Wie er mit der blauen Flickendecke zitternd und bibbernd im Bett lag, nachdem er sich bei einer Reparatur an der Stadtmühle in die Hand geschnitten hatte. Wie ich den Arzt rief, der Arzt ihn nur von Kopf bis Fuß ansah und sagte, ich hätte für nichts von all dem, was er tun müsste, genug Geld. Wie Pa mich bat, ihm zu erzählen, was ich durchs Fenster sah, und es ihm nicht das Geringste ausmachte, dass ich jede Kleinigkeit erwähnte, sogar Wolken, die beim Vorüberziehen ihre Form veränderten. Wie ich die Vorstellung nicht ertragen konnte, die Sündenesserin zu rufen, und es am Ende zu spät dafür war. Eines Morgens, während ich die Milch aufwärmte, machte Pa sich davon und ließ seine Hülle und mich allein zurück. Sein Schatten hing noch wochenlang im Haus. Ich konnte ihn in den Augenwinkeln sehen und war mir sicher, wenn ich mich umdrehte, wäre mein Pa da. Aber sobald ich dann hinsah, war da rein gar nichts.

Das Schlimmste daran war, dass ich nun keinen mehr hatte, dem ich von meinen Beobachtungen erzählen konnte, wenn ich etwa beim Händewaschen am Rand des Trogs eine Spinne gesehen hatte. Oder wie ich Wellen erzeugen konnte, indem ich die Kante eines trockenen Leintuchs auf und ab und auf und ab schlug.

Ich versuchte, unserer Nachbarin Bessie von meinen Beobachtungen zu erzählen. Anfangs bat sie mich bereitwillig herein, wenn ich auf einen Plausch hinging, sie lachte und nannte mich ein Schnattergänschen, wie früher meine Mutter. Doch mit der Zeit ertappte ich sie dabei, wie sie in sich zusammensackte, sobald sie mich kommen sah. Aus Tagen wurden Wochen, und irgendwann fing sie an, bei meinem Anblick laut zu seufzen, als hätte ich ein leises Seufzen nicht gehört.

Ich versuchte, mit der Katze zu sprechen, die gern im Gestrüpp meines unbestellten Gartens auf Jagd ging. Oder ich sprach mit dem Duftsäckchen, das meine Mutter auf den Sims gelegt hatte. Ich überschlug mich, um die Handvoll Leute zu begrüßen, die noch kamen, um Wäsche zu bringen. Um ihren »freundlichsten Dank« zu hören und »nichts zu danken« zu erwidern. Manchmal sprach ich auch mit der Wäsche, während ich sie wusch, als wäre sie der Mensch, dem sie gehörte. Doch ich vermisste das Zwiegespräch. Auch wenn mir bewusst war, dass ich bei ihr nicht willkommen war, wartete ich also am Fenster, und sobald Bessie in den Küchengarten kam, lief ich hin.

Dann eines Tages kniete sie dort neben sechs erdigen Möhren; ich weiß noch, dass eine davon klein und knorrig war wie ein gebrochener Finger. Ich war hingelaufen, um von einer Krähe zu berichten, die auf ein Stück altes Leder eingepickt hatte. Bessie stand auf, bevor ich das Leder auch nur erwähnt hatte.

»Nein, nein, nein. Nicht. Es ist zu viel«, jaulte sie. »Ich bin nicht deine Ma. Ich muss mich schon um Lee und Tom kümmern. Du nicht auch noch.«

»Du bist meine Nachbarin«, sagte ich.

»Ich habe meine nachbarlichen Pflichten mehr als erfüllt.« Ihre Worte prasselten auf mich ein. »Was du brauchst, sind Verwandte, und davon hast du unten am Fluss eine ganze Menge. Geh zu denen mit deinem Gequatsche und Geschnatter darüber, was der Hund heute früh erschnüffelt hat und welche Wolke wie ein Lamm aussieht.«

Verwandtschaft war das Letzte, was ich brauchte.

*

Zwei Tage später marschieren morgens die Mädchen aus dem Gefängnis, die gehenkt werden sollen. Der Schließer zuckt nicht mit der Wimper, als ich ihn frage: »Was wird nun aus mir?«

Nur wenige von uns sind noch übrig. Was wegen des Pisspotts auch besser so ist. Es gibt nur den einen, und wenn die Zelle voll ist, füllt er sich so schnell, dass wir in die Ecke pinkeln müssen. Wenn ich gewusst hätte, wie viel Pisse es im Gefängnis gibt, hätte ich Eimer mitgebracht, um sie aufzufangen. Es gibt Stellen, an denen sie alte Pisse kaufen. Meine Mutter und ich haben sie zum Bleichen der Wäsche benutzt, und Walker reinigen damit frische Wolle. Die Waidfärber benutzen sie auch, allerdings weiß ich nicht, wofür.

Andere Mädchen kommen. Wieder läuft der Pisspott über. Diesmal sind viele Diebinnen dabei, unter anderem vier Schwestern, die in der königlichen Küche gearbeitet und Essen von der Tafel Königin Bethanys verkauft haben.

Königin Bethany und ihr Hofstaat kommen, wenn das Jahr am üppigsten ist, im Frühling und Sommer, in prächtigen Barken aus der Hauptstadt den Fluss herauf, um hier zu wohnen. Wir schwärmen alle aus und sehen zu, wie sie und ihre Diener und die Hofdamen und Truhe um Truhe ihrer Habe ankommen. Ihre Ankunft bedeutet Arbeit und Verdienst. Nur schwillt die Stadt schlechterdings an, Menschen und Karren und Pferde verstopfen die Gassen, Ausrufer grölen, Altflicker und Kramer bauen ihre Stände auf, Landstreicher und Bettler schleichen herum, gerade wie es im Kehrreim heißt.

Horch nur, es bellen die Hunde,

die Bettler kommen gerannt,

die Sündenspeiser, die Säufer

und Spieler im Samtgewand.

Die vier Schwestern, die in der königlichen Küche gearbeitet haben, sind eine kleine Gesellschaft für sich. Sie reden und lachen und halten einander im Arm, wenn eine weint. Ich sitze daneben und tue, als gehörte ich dazu. So fühle ich mich, als hätte ich Freundinnen. Ihnen scheint es nichts auszumachen.

»Zu Zeiten unserer Mutter war es noch nicht gegen das Gesetz, übrig gebliebene Speisen zu verkaufen«, sagt die Älteste eines Morgens. »Das war sogar Teil ihrer Arbeit.«

»Alle bekommen die Verknappung zu spüren«, klagt eine jüngere Schwester. »Ihr wisst ja«, sagt sie zu uns, die wir es nicht wissen können, »dass die Königin ihre Hofdamen selbst für deren Unterhalt aufkommen lässt, für Essen, Kerzen, sogar Feuerholz, und das, obwohl sie doch ausschließlich zu ihrem Vergnügen da sind. Diese boshafte Person!«

»Pst, Lila!«, schilt die Älteste.

»Das ist etwas, was du besser nur im Kopf sagst«, empfehle ich ihr.

»Gemma hat gesehen, wie die Königin einer ihrer Damen ein Messer in die Hand gerammt hat, weil die ihren Günstling angelächelt hat. Die Klinge ist mittendurch gegangen und im Tisch stecken geblieben«, berichtet Lila.

»Trotzdem sagst du solche Dinge nicht, wenn du nicht willst, dass dir die Zunge rausgeschnitten wird und sie dich an der Schlossmauer aufknüpfen«, belehrt die Älteste sie.

»Eine Hochzeit würde das Problem lösen«, wirft eine andere ein. »Da gäbe es keine Günstlinge mehr.«

»Sofern das Ringen um ihre Hand nicht zum nächsten Krieg führt«, seufzt die Älteste.

»Oh, stellt euch nur vor, eine königliche Hochzeit«, sagt Lila, »so viel Geld und so viel zu essen!«

»Ich hoffe nur, sie heiratet keinen Fremden«, erwidert die Älteste. »Es gäbe genug Landsleute: im Süden und Westen und oben im Norden.«

»Oben im Norden wären es keine Fremden?«, wende ich ein. Jeder weiß, dass die Männer im Norden Röcke tragen, Sackspeisen essen und alles ficken, Mann, Frau, sogar die eigenen Schafe. Die Schwestern reden weiter, als hätte ich nichts gesagt.

»Erinnerst du dich noch an den jungen Freier mit den roten Strümpfen?«, fragt die Jüngste, und sie lachen los. Dann geht ein Seufzen um, und sie kuscheln sich aneinander wie Tauben im Schlag.

Unsere Nachbarin Bessie würde jetzt sagen, es sei nun mal eine der Aufgaben von Königinnen und Königen, Kriege zu führen.

»Aber sie hatten doch schon einen Krieg«, habe ich einmal eingeworfen, als ich noch ein kleines Mädchen war, »mein Großvater ist darin gestorben.«

»Aye, den hat der alte König geführt. Aber der ist nicht mehr da und hat eine mickrige Nachkommenschaft hinterlassen: nur zwei Töchter, Maris und Bethany, und ein Land, das sich über der Frage entzweit hat, welcher Glaube der bessere sei.«

»Gilt in solchen Fällen nicht das Recht des Älteren?«

»Sollen wir hinauf aufs Schloss und es ihnen erzählen? ›Entschuldigt, Dero Gnaden, über den alten Glauben und den neuen Glauben muss nicht weiter gestritten werden. Fragen wir einfach die königliche Säugamme, wer von beiden zuerst abgestillt wurde.‹« Bessie und Lee, ihre Tochter, kicherten los. Lee findet immer noch alles zum Lachen, was mit Brüsten zu tun hat, obwohl sie ein ganzes Jahr älter ist als ich.

Die Sache mit dem Glauben ist nicht ganz leicht zu verstehen, aber so viel weiß ich doch: Der alte König hatte den neuen Glauben gestiftet, und während er König war, musste sein Volk ebenfalls neuen Glaubens sein. Wenn man Eucharistiner war, also alten Glaubens, konnte man dafür umgebracht werden. Sämtliche Altare alten Glaubens wurden zerstört und die Gebetsketten auf dem Unratfeld verbrannt. Bis der König dann starb.

Als Nächstes wurde Maris, seine älteste Tochter, Königin und zwang alle, zum alten Glauben zurückzukehren, andernfalls wurde man verbrannt. Sie war als Maris die Blutige bekannt, auch wenn sie die Äscherne hätte heißen sollen, weil die Leute nicht bluten mussten, sondern brennen. Königin Maris ließ zweimal verkünden, dass sie ein Kind erwarte, doch zweimal kam keines. Als sie starb, wurde daher ihre Schwester Bethany Königin. Und die war welchen Glaubens? Neuen natürlich. Und auch das Volk musste zum neuen Glauben zurückkehren. Ein einziges Hin und Her. Zum Lachen war das aber nicht. Säuberer zogen von Haus zu Haus und verprügelten einen, wenn man den neuen Glauben nicht annahm. Trotzdem hieß sie, wie mir eines Tages auffiel, nie Bethany die Blutige; zumindest sprach es niemand laut aus. Und das Gerangel hat noch immer kein Ende. Allerdings geht es inzwischen darum, welcher Freier unsere Königin für sich gewinnt, König wird und ihr einen Erben beschert.

*

Weitere Tage verstreichen. Ich richte mir mein eigenes Eckchen im Stroh ein. Es ist nicht ganz leicht, bei so viel Atmen und Schnarchen zu schlafen, aber nicht allein zu sein ist ein Trost.

»Gefängnis ist nicht so schlimm, wie man denkt«, sage ich zu einem neuen Mädchen, das kaum größer ist als ein Kind. »Nur pass auf die Wanzen auf.«

Sie zieht ihr Hemd hoch und zeigt auf die Bisse. Sie weiß also Bescheid.

Zwei Tage lang regnet es. Wasser ergießt sich durchs Dach, bahnt sich einen Weg mitten durch den Schmutz und teilt uns in zwei Lager. Pa hätte das Dach binnen einem Tag reparieren können.

Die Dinge wollen funktionieren, hätte er gesagt. Hör hin, und sie sagen dir schon, was zu tun ist. Einmal hat er sich doch tatsächlich ein Schloss ans Ohr gehalten und mit ihm geredet. Da klemmt ein Stift, sagst du? Das schauen wir uns an.

Ich weiß noch, wie Pa die Halskette eines Wollhändlers nach Hause brachte. Es war Mittsommer, und ich war neun. Die Kette war gerissen, und während Pa sie reparierte, zeigte er mir den roten Stein in der Mitte. Er war wunderschön. Dann zeigte er mir die Rückseite. Der Stein bestand aus einem Wachs. Ich war enttäuscht.

»Macht doch nichts«, sagte Pa. »Schimmert doch ebenso schön wie ein echter.«

Wir Owens konnten immer schon Dinge reparieren. Owens. Ich nehme mir die Laute meines Namens einzeln vor. In meinen Ohren klingt jeder für sich nach Weite und Offenheit. Nach warmer Frühlingsbrise. Ich bin eine Owens.

Als ich zehn wurde, erklärte mir Pa, dass ich einen Beruf ergreifen müsse. »Ich wasche Wäsche«, beschloss ich, »wie Mutter früher.«

»Deine Mutter war Wäscherin, weil sie nichts anderes konnte«, wandte er ein.

Pa war wohl nicht bewusst, wie viel sie konnte. Sie konnte in den feinen Leintüchern, die von der Magd des Wollhändlers gebracht wurden, wie eine Katze schlafen. Sie konnte Madam Burleys Nachthemden anziehen und tun, als wäre sie eine Königin mit Abzeichen und Krone. Die Nachtkleider waren aus Seide, erzählte sie mir, von Würmern ausgekackt. Als ich das hörte, sammelte ich einen Beutel voller Regenwürmer und brachte sie ihr auf dem guten Geschirr. Ein gutes Geschenk, wie ich glaubte, doch dann warf sie damit nach mir, Teller, Würmer, alles, und schickte mich ohne Abendbrot ins Bett, sofern ich nicht die Würmer essen wollte.

Ich stelle mir vor, wie die Würmer in der Erde jetzt meine Mutter essen.

Schlecht über Tote denken: gebratene Taube.

Meine Mutter war eine Daffrey. Der Name klingt nach braunem, aufgeschnittenem Fallapfel. Wir haben alle das gleiche schwarze Haar, das sich anfühlt wie die Wolle eines Schafs, das nicht um des Vlieses, sondern um des Fleisches willen gezüchtet wird. Wir haben alle das gleiche schiefe Lächeln und ein einzelnes Wangengrübchen.

Als ich noch klein war, habe ich von den Daffreys nie viel mitbekommen. Pa sagte, sie seien anders als wir. Keine braven Leute, meinte er damit. Er sprach es nicht aus, aber mir war das schon klar.

Ein Jahr nachdem meine Mutter gestorben war, tauchte Großmutter Daffrey mit zwei breiten Kerlen bei uns auf: meinen Onkeln. Mit einem knotigen Finger, der einem Birkenzweig ähnelte, zeigte sie auf mich. »Von der wusste ich gar nichts. Die nehmen wir mit.«

Pa weigerte sich. »Nach dem Gesetz gehört sie mir.«

»Ist das so?«, entgegnete meine Großmutter.

Es war das einzige Mal, dass ich meinen Pa fluchen hörte.

Gerstenkörner auf dem Sarg

erlösen den Lästerer von Arg.

Pa hatte meinen Onkeln nichts entgegenzusetzen. Ein Schlag, und er ging zu Boden. So kam es, dass ich für ein ganzes Jahr bei den Daffreys lebte. Das schwärzeste Jahr von allen.

Das Haus der Daffreys stand am Fluss an einer Stelle, wo die Erde bei jedem Schritt einsank und schmatzte. In der ersten Woche band meine Großmutter mich am Küchentisch fest, damit ich nicht weglief. Sie war ein wenig sonderbar und hart wie eine alte Walnuss, in der die Frucht schon schwarz wurde.

»Dein Onkel bringt deinen Vater dazu, uns auszubezahlen, und dann leben wir hier in Saus und Braus«, sagte sie.

Pa hatte für Saus und Braus gar kein Geld, aber ich sagte lieber nichts.

Und dann kamen meine Vettern. Zwei Jungen in meinem Alter. Sie kamen mit einem Beutel, der gerade groß genug war, um Blindekuh zu spielen. Den zogen sie mir über den Kopf, und wie Peitschen landeten ihre Hände auf mir und zerrten mir die Kleider und sogar das Unterhemd vom Leib. Ich versuchte, den Beutel loszuwerden, doch einer von ihnen hielt ihn fest. Sobald ich nackt war, fassten sie mich überall an, sogar zwischen den Beinen. Ich riss mich los, fiel aber um und landete hart auf der Kaminplatte. Schritte näherten sich und die laute, raue Stimme meiner Großmutter. Sie zog mir den Beutel vom Kopf. An der Innenseite hinterließen Tränen und Rotz zwei Schneckenspuren. Großmutter kappte das Seil, versicherte mir aber, dass sie mich wieder anbinden und die Jungs ranlassen würde, wenn ich auch nur versuchte, die Küche zu verlassen.

Das Grübchen in meiner Wange habe ich immer gehasst: wegen der Daffreys und weil ich ihr Zeichen trug.

»Dabei hast du ihnen eins voraus«, sagte Pa, als er mich wiederhatte. »Weil nur du im Kinn noch ein weiteres Grübchen hast. Mit einem Grübchen in der Wange und einem im Kinn können keine zwei aus zwanzig aufwarten.«

Ich drehe den Ring an meinem Finger, wann immer ich meinen Pa vermisse, manchmal so sehr, dass der Ring mir ins Fleisch schneidet.

*

Im Gefängnis verstreicht eine Woche, und wieder geht eine Reihe Mädchen ins Gerichtsgebäude. Sie sehen hoffnungsfroh aus, nervös, verwirrt. Ich selbst fühle mich älter, weiser. Gerade als die Letzte durch die Zellentür geht, ruft der Schließer: »Anna Owens.«

Und schlagartig bin auch ich hoffnungsfroh, nervös, verwirrt.

»Gibt es Neuigkeiten?«, frage ich.

Der Schließer sieht zur Seite.

Heute stehen zwei Kirchenmänner neuen Glaubens in schwarzen Röcken neben dem Seiteneingang zum Gerichtssaal. Ich frage mich, ob sie hier sind, um für uns zu beten. Der Richteherr geht sämtliche Mädchen durch. Genau wie zuvor nennt er ihr Vergehen und fragt, ob es Fürsprecher gebe. Die Schwestern, die in der Küche gearbeitet haben, müssen eine Buße zahlen, dürfen aber noch am selben Tag nach Hause zurückkehren.

Der Richteherr wartet bis zum Schluss, bis alle Urteile gesprochen sind, ehe er meinen Namen aufruft. Diesmal hat er es eilig. Und er sieht mich nicht an. Er blickt nicht mal auf. Er sagt nur irgendwas von Absatz. Oder abgesetzt. Meine Strafe wird herabgesetzt? Ich schlussfolgere, dass ich nicht gehenkt werde oder Geld zahlen muss. Ich soll eine andere Strafe bekommen. Ein Raunen geht durch die Reihe der Mädchen. Blut pulsiert in meinen Ohren. Ein winziger grüner Keim der Hoffnung sprießt in meinem Herzen. Eine der Schwestern nickt mir aufmunternd zu, ich lächele zurück und überhöre im selben Moment fast, wie er sagt: »… um Sündenesserin zu werden.«

»Wie bitte?«, rufe ich belämmert. Als würden Richteherren auf die Rückfragen von Mädchen antworten.

Der Richteherr gibt den Kirchenmännern ein Zeichen. Der vordere hält etwas Blitzendes in der Hand, der andere eine kleine Schatulle und einen gegabelten Stock. Sie kommen auf mich zu, und plötzlich will ich nur weg und mich verstecken. Der erste Kirchenmann nimmt einen schweren Messingring hoch, von dessen Vorderseite ein großes, schiefes S hängt und hinten ein dickes Vorhängeschloss. Er hält den Halsring über mich und spricht die überlieferten Worte.

Die Sündenesserin ist unter uns,

wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht.

Wir übergeben ihr unsere Sünden,

auf dass sie ihr ins Grab folgen.

Wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht.

Die Sündenesserin ist unter uns.

Der Kirchenmann legt mir den Ring um den Hals. Außer an den Stellen, wo er ihn gehalten hat, ist der schwere Ring kalt, und unwillkürlich steht mir eine Pferdetrense vor Augen. Der zweite Kirchenmann packt das Schloss und legt den Bügel vor. Als er einrastet, spüre ich es bis in die Eingeweide.

Ich hebe beide Hände an das Eisen. Meine Finger tasten sich vor bis zum Schloss. Mit aller Kraft ziehe ich daran. Mit meinen starken Wäscherinnenarmen. Mit meinen kräftigen, schwieligen Fingern. Der Ring schneidet mir in den Hals, trotzdem zerre ich weiter. Ich reiße so fest daran, dass ich aus dem Gleichgewicht gerate und hinfalle. Der Ring sitzt fest.

»Warum ich?«, jaule ich, aber noch unterdessen erheben sich um mich herum Stimmen und beten zu unserem Schöpfer.

Schöpfer unser, auf ewig in der Sonne Licht,

der du Wunder durch deinen Namen wirkst:

Beschütze uns Sünder

jetzt und in der Stunde unseres Todes.

Wieder versuche ich, mir über die Stimmen hinweg Gehör zu verschaffen – »Bitte!« –, aber ich kann die Laute aus meiner Kehle selbst kaum noch hören. Sie gehen im Gebet unter. Niemand kann mich hören. Niemand wird mich mehr anhören.

Der erste Kirchenmann blickt empor zur Decke, doch als er anhebt zu sprechen, ahne ich, dass seine Worte an mich gerichtet sind: »Die Sündenesserin trägt der Menschen Sünden stumm zu ihrem eigenen Grabe. Sie selbst wird nie die Beichte ablegen und Vergebung erfahren. Wenn sie aber in ehrlicher Gottesfurcht und Folgsamkeit dem Willen des Schöpfers dient, wird am Tag ihres Ablebens Eva sie nicht für sich einfordern können. Ihre Seele wird zu unserem Schöpfer emporsteigen. Doch der Schöpfer sieht alles: Sie muss ihm ihr Leben weihen.«

»Hosianna«, sagt der zweite Kirchenmann, und die anderen im Saal sagen es ebenfalls, wie zum Abschluss eines Gebets.

Dann öffnet der Zweite seine Schatulle. Darin liegen eine Nadel, ein Fläschchen mit Tinte und eine Zange wie die eines Schmieds. Ich will die Flucht ergreifen, doch der zweite Kirchenmann nimmt seinen Stock hoch und erwischt mich mit der Gabel am Hals. Er drückt mich gegen die Mauer, sodass ich feststecke wie ein zänkisches Weib im Schandstock. Der erste Kirchenmann nimmt die Zange, zwingt mir den Mund auf und packt meine Zunge.

Es dauert ein bisschen, bis er mir mit der Tintennadel das S in die Zunge gestochen hat. Lange genug, dass meine Zunge zu trocken wird, um die Stiche noch zu spüren. Lange genug, dass meine Schluchzer zu einem leisen Japsen und schließlich zu Hicksern verkommen. Als sie fertig sind, lassen die Männer mich los. Meine Zunge puckert und ist angeschwollen, und ich kann Blut und die faulige Tinte schmecken, die mich auf ewig als Sündenesserin kennzeichnet.

Das Mädchen neben mir weicht vor mir zurück, als hätte mein Fleisch angefangen zu verderben und Blasen zu schlagen wie das einer Pestkranken. Die anderen, die mich gerade noch verwundert und neidisch angesehen haben, lassen von mir ab wie Egel, die sich mit Blut vollgesaugt haben. Es ist das letzte Mal, dass sie mich ansehen. Es ist das letzte Mal, dass so gut wie irgendjemand mich ansieht.

2Lammkopf

Als ich hinaus auf die Gasse taumele, gucken die Leute und gucken weg. Manche huschen davon. Ich husche ebenfalls davon. In den Graben, über Pfützen und an Bettlern vorbei.

Nachdem mir bei Gericht das Halseisen angelegt wurde, wandten sich alle ab. Ich konnte nur an das Puckern in meiner Zunge denken, und es dauerte einen Moment, ehe mir dämmerte, dass sie warteten. Es dauerte einen weiteren Moment, ehe mir dämmerte, dass sie auf mich warteten. Wie eine Betrunkene wankte ich an den zu Boden blickenden Mädchen vorbei. Ich wankte am Richteherrn vorbei, der auf sein Pergament starrte. An den Kirchenmännern, die gen Himmel sahen.

*

Als ich nach Wochen mein Zuhause wiedersehe, habe ich einen dicken Kloß im Hals. Seit wann sieht es so heruntergekommen aus? Die Schindeln sind fleckig vom Moos, und der Fensterladen vorn hängt schief in den Angeln. Der Garten ist so zugewuchert, dass das Unkraut fast bis an die Fenstersimse reicht. Ich muss bei dem Anblick fast lachen. Pa hat immer gesagt: Sei dir bewusst, wo du herkommst. Dort, wo ich herkomme, ist es einfach nur schäbig.

Am liebsten will ich Reißaus nehmen. In eine andere Stadt fliehen, wo mich keiner kennt und wo ich so tun kann, als wäre ich nie zur Sündenesserin gemacht worden. Wäre das möglich? Könnte ich den Mördern und Dieben am Wegesrand trotzen? Aber wo immer ich hinginge, würde man merken, dass ich dort nicht hingehöre, ich würde von einem Konstabler aufgelesen und ausgepeitscht oder mein Ohr würde zerstochen werden wie bei den Mädchen aus dem Gefängnis. Oder schlimmer noch: Ich würde von Leuten wie den Daffreys aufgegriffen und an einen Tisch gebunden und zum Huren feilgeboten werden. Dann fallen mir das Halseisen und das tintenschwarze S auf meiner Zunge ein. Ganz gleich, wohin ich gehe: Ich bin jetzt Sündenesserin.

Als ich auf unsere alte Tür zugehe, ist dahinter ein Rascheln zu hören, und sie lässt sich nicht aufdrücken.

»Das ist mein Zuhause!«, rufe ich. Sofort fängt meine Zunge wieder an zu puckern, und ich schmecke Blut. Wer immer inzwischen in unserem Haus wohnt, antwortet nicht.

Nebenan tritt Bessie aus der Tür. »Oh, war das etwa die Stimme von Anna?« Doch als sie mich sieht, klappt ihr der Mund auf und zu wie bei einem Molch, der eine Fliege verschlingt.

»Bessie …« Vor Schmerzen in der Zunge laufen mir Tränen über die Wangen.

Bessie kreischt auf und hebt an, den Schöpfer anzurufen. Sie streckt die Hand vor sich aus, wie um mich fernzuhalten.

Lee kommt aus der Küchentür. »Aber das ist Anna«, sagt sie, »sie hat ein … Mutter! Siehst du, was sie um den Hals trägt?«

»Du siehst sie nicht, Lee!« – und Lee schlägt sofort den Blick nieder. »Wenn sie dich anspricht, bring sie mit deinem frömmsten Gebet zum Schweigen!«

»Aber Bessie«, rufe ich, »ich weiß nicht, was ich machen soll!«

»Was ist mit ihrer Zunge?«, will Lee wissen. »Da ist eine Schlange auf ihrer Zunge!«

»›Schöpfer unser, auf ewig in der Sonne Licht‹«, schrillt Bessie. »Bete, Lee!«

»Schöpfer unser«, wiederholt Lee verunsichert.

»Bessie, wo soll ich denn hin?«, heule ich.

Ich kann sie zaudern sehen.

Und dann kommt Lee mir zu Hilfe: »Wo soll sie denn hin, Mutter?«

»Na, doch wohl zu der anderen? Dann sind sie zu zweit. Da können sie einander Gesellschaft leisten, möchte ich meinen.« Bessie hält inne, wartet darauf, dass ich endlich verschwinde. »Drüben in Northside«, fügt sie dann hinzu. »Da wohnt sie.«

*

Es sind immer Frauen, die Sünden essen, weil Eva die Erste war, die eine Sünde aß: die verbotene Frucht. Angeblich gibt es deshalb für Sünden so viele Früchte. Aber es gibt auch andere Speisen, etwa Rahm und Lauch, die keine Früchte sind, und manchmal stehen für verwandte Sünden dieselben Speisen; Sahne zum Beispiel steht für die Habsucht und für den Neid. Andere Verbindungen verstehe ich nicht. Warum steht gebratene Taube sowohl für Diebstahl als auch für das Beschmutzen des Andenkens eines Verstorbenen? Es ist wie mit den zwei Begriffen Fels und Stein, die das Gleiche besagen, trotzdem klingen die Wörter kein bisschen gleich.

Über Sündenesserinnen werden grausame Dinge erzählt. Eine Sündenesserin anzusehen heißt, in Evas Blickfeld zu geraten, ihre Stimme bringt einen in Hörweite der Versuchung, deshalb betet man zu unserem Schöpfer: um die Stimme der Sündenesserin zu übertönen, sollte sie je abseits der Beichte und der Speisung das Wort ergreifen. Die Berührung einer Sündenesserin ist am allerschlimmsten. Sie kommt einem Fluch gleich und brennt sich ins Fleisch des braven Menschen. Ich berühre meinen Unterarm, aber es fühlt sich wie immer an.

Ich muss an Hänsel und Gretel denken. Im Märchen schicken die Eltern sie in den Wald, um Pilze und Beeren zu sammeln. Die Kinder legen eine Spur aus Brotkrumen, damit sie zurückfinden, doch Vögel machen sich darüber her. Es wird kalt und dunkel, und Hänsel und Gretel befürchten schon, sie müssten verhungern oder erfrieren, als sie ein Licht vor sich sehen. Es ist ein Häuschen hinter Dornicht, Hagebutte, Borstenhirse und anderem Gewächs, das Leute in mageren Jahren essen. Hänsel und Gretel sind so hungrig, dass sie die Hagebutten und die Hirse essen, obwohl sie ihnen nicht gehören. Die Tür zum Häuschen geht auf, und eine alte Sündenesserin schaut heraus. Sie lädt die beiden ein, sich am Herdfeuer aufzuwärmen. Hänsel und Gretel treten ein und entschuldigen sich für den Mundraub. Die Sündenesserin lächelt bloß. Hänsel legt sich ans Feuer und schläft ein, doch Gretel bleibt wach und hört die Sündenesserin singen.

Verirrtes Kind

den Weg zu mir find.

Nimm dir, was mein,

und sieh, wie ich feix.

Denn dich werf ich ins Feuer

und brate Tauben über deinem Gebein.

Im Märchen indes schubst Gretel die Sündenesserin ins Feuer, und die Geschwister finden nach Hause zurück. Wann immer ich die Geschichte hörte, habe ich mir vorgestellt, ich sei Gretel.

*

Ich lasse die nördliche Schlossmauer hinter mir, wo der Wind am schärfsten an einem rüttelt. Northside ist einer der Orte, mit denen Mütter ihren Töchtern drohen. Noch ein Wort, und ich verkaufe dich nach Northside! Ich habe nie erfahren, wozu genau ein Mädchen verkauft werden sollte, aber zu etwas Gutem wird es wohl nicht sein.

Wenn man nach Northside kommt, sieht es dort aus wie im Rest der Stadt, nur schmutziger, ärmer. Die Behausungen sind mit Stroh gedeckt statt mit Schindeln oder Schiefer. Eine hat statt einer Mauer eine Wand aus gefilzter Wolle, die sich geräuschvoll im Wind bläht. Auf der Gasse, die ich entlanggehe, laufen zwei Jungen in zu großen Männersachen, so wie ich manchmal aus Spaß das Nachthemd meiner Mutter angezogen habe, nur dass sie draußen herumlaufen und das tatsächlich ihre Kleidung ist.

Die Jungen treiben mit einem Stock eine Schweinsblase vor sich her. Sowie sie mich sehen, weichen sie zur Seite aus, wollen glotzen, trauen sich aber kaum. Als ich gerade an ihnen vorbeigehe, schubst der größere den kleineren in meine Richtung. Der kleinere kreischt entsetzt auf und drischt mit den Fäusten auf den größeren ein.

Den Dorfkern erkennt man an einer Reihe Schenken und Wirtsstuben, an jeder Tür stehen zwei, drei Huren beisammen und winken Leute herein. »Mal gucken? Einen Penny. Anfassen zwei.«

Die Leute entdecken mein Halseisen, und ein Raunen kommt auf. Blicke huschen wie Ungeziefer in alle Richtungen, doch sobald ich vorbei bin, spüre ich sie in meinem Rücken. Ich weiß immer noch nicht, wo ich hinmuss.

Hinter der Gasse mit den Schenken liegt die der Wahrsager. Northside scheint wie der Rest der Stadt zu sein: je Gasse ein Gewerbe, nur dass hier die Geschäfte weniger angesehen sind. Bei einem Wahrsager brennt Weihrauch im Eingang. Womöglich Egyptier. Bessie hat mal gesagt, Egyptier seien wie Hexen.

Die nächste Gasse ist die der Flicker und Pillendreher. In einigen Fenstern stehen unnatürliche Dinge, etwa ein ungeborenes Ferkel in einem Gefäß und ein Gewürm mit jeder Menge Beinen. Bei seinem Anblick bekomme ich Bauchflattern.

Am Ende der Gasse ist vom Haus der Sündenesserin immer noch nichts zu sehen. In meinen Binsenschuhen tun mir die Fußsohlen weh. Vom Wäschewaschen sind meine Hände einiges gewöhnt; mit den Füßen ist das anders.

Ein Pillendreher in einem dünnen schwarzen Umhang tritt aus seinem Laden. Sein gieriger Blick wandert von meinem Gesicht zu meiner Brust.

So gut ich kann, halte ich die Zunge still. »Herr, wo finde ich …«

Ein scharfes Zischen bringt mich zum Schweigen. Er scheint in seinem Gewand zu schrumpfen, sagt das Gebet auf und schlägt über Brust und Hüfte das Kreuz. »Verfluch mich nicht!«, jault er und verschwindet durch die Tür, als hätte er nie nach draußen gewollt.

Wieder spüre ich Blicke im Rücken. Als ich mich umdrehe, klappen Fensterläden zu. Die Gasse hat sich geleert. Mehr als das. Eine leere Gasse fühlt sich immer noch lebendig an. Diese hier ist tot.

Genau wie mein Inneres. Auch ich habe mein Leben ausgehaucht. Ich sehe empor zu dem hohen, hellen Himmel, der sich keinen Deut um mich schert. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Plötzlich höre ich Pas Stimme. Die Dinge wollen funktionieren.

Ich atme seine Stimme ein. Ich atme sie aus. Ich drehe an seinem Ring. In der Gasse der Pillendreher.

Welche Gasse wäre wohl die einer Sündenesserin?, frage ich einen Stein.

Eine, die schlimmer ist als die Gasse der Pillendreher, antwortet er.

Aber wer könnte es schlimmer haben als die Pillendreher?, frage ich einen Käfer neben dem Stein.

Bettler, Heimlichkeitsfeger, zählt er auf. Waidfärber.

Mir fällt ein, dass eine Biegung im Fluss Dungsbrook genannt wird. Dort wird der Fluss breiter, fließt langsamer, man kann die verwesenden Reste riechen, wo die Schweineschlächter ihre Abfälle hinwerfen, und den Auswurf der Stadt, den die Abtrittfeger dort auskippen, damit der Fluss alles mitschwemmt. Auch das Land hinter der Biegung heißt Dungsbrook. Die Gassenkehrer verbrennen dort den Unrat der Stadt auf dem offenen Feld. Und auch die Waidfärber wohnen dort: Ihre Arbeit stinkt so widerwärtig, dass sie in einer gewissen Entfernung vom Schloss leben müssen. In Dungsbrook kommen die übelsten Gerüche der Welt zusammen. Es gibt keinen schlimmeren Ort. Ich glaube, jetzt weiß ich, wo die Sündenesserin wohnt.

Sobald ich der Nase nachgehe, ist es nicht mehr schwer zu finden. Erst kommen das Schlachthaus und das Unratfeld, als Nächstes die Jauchegrube und die Straße hinaus zu den Waidfärbern. Ich komme sogar am alten Domus Conversorum vorbei, einem großen Gebäude aus bröseligem Stein, wo die Juden auf Geheiß des alten Königs einziehen mussten, während sie zum neuen Glauben konvertierten. Dass es ebenfalls in Dungsbrook steht, überrascht mich nicht.