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Zwei Seelen gefangen im Schatten der Vergangenheit – verbunden durch eine Liebe, die stärker ist als jede Lüge.
Seit seiner Kindheit trägt Viscount Aidan Shevington eine Last in seinem Herzen: ein Geheimnis, das er auf Wunsch seiner Mutter bewahren musste und das das Leben seines Bruders Julian zerstören könnte.
Viele Jahre später ist Aidan überzeugt, dass Julian tatsächlich sein Bruder ist. Während Aidan mit seiner eigenen düsteren Vergangenheit ringt, geraten die beiden in einen Strudel aus verbotener Leidenschaft.
Aber die Wahrheit schläft nicht, und wenn sie ans Licht kommt, wird sie die Brüder vor eine Entscheidung stellen, die ihre Zukunft für immer verändern wird.
Neuveröffentlichung nach Rechterückgabe
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11 – Bonusstory
Nachwort
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Über die Autorin
Impressum
Inka Loreen Minden
SÜNDHAFTE KÜSSE
SINFUL KISSES
Gay Historical Romance
Neuauflage des 2008 beim Dead Soft Verlag und 2010 beim Club der Sinne erschienenen Romans.
»amor vincit omnia – Liebe besiegt alles«
Vergil
Zwei Seelen gefangen im Schatten der Vergangenheit – verbunden durch eine Liebe, die stärker ist als jede Lüge.
Seit seiner Kindheit trägt Viscount Aidan Shevington eine Last in seinem Herzen: ein Geheimnis, das er auf Wunsch seiner Mutter bewahren musste und das das Leben seines Bruders Julian zerstören könnte.
Viele Jahre später ist Aidan überzeugt, dass Julian tatsächlich sein Bruder ist. Während Aidan mit seiner eigenen düsteren Vergangenheit ringt, geraten die beiden in einen Strudel aus verbotener Leidenschaft.
Aber die Wahrheit schläft nicht, und wenn sie ans Licht kommt, wird sie die Brüder vor eine Entscheidung stellen, die ihre Zukunft für immer verändern wird.
»Das wurde aber auch Zeit!« Julian seufzte, als er sich aus dem Fenster der Mietkutsche lehnte und in der Abenddämmerung das prächtige Herrenhaus erblickte. Von der langen Fahrt taten ihm sämtliche Knochen weh, weshalb er sich freute, dieses rumpelnde Gefährt endlich verlassen zu können.
Shevington Manor, ein dreistöckiges, aus grauem Stein errichtetes Gebäude, lag eingebettet in einer großen Parkanlage mit ausladenden Wiesen, sich schlängelnden Bächen und Wegen, kleinen Seen und natürlichen Gärten. Allein die Landschaftspfleger müssen meinen Bruder ein Vermögen kosten, dachte Julian und fuhr sich durch sein blondes Haar, das ganz durcheinander war, da er in der Kutsche geschlafen hatte. Die Ländereien der Familie Shevington lagen in der Grafschaft Essex, etwa fünfzig Meilen von London entfernt, und erstreckten sich über viele Hektar. Julian hielt seine Nase in die frische Luft und nahm die herrliche Aussicht in sich auf. Kein Vergleich zur Stadt!
Ein eleganter Reiter preschte an der Kutsche vorbei, dicht gefolgt von einem großen Hund. Der Mann saß auf einem edlen Hengst; das schwarze Haar flatterte ihm ums Gesicht. Julian wusste sofort, wer der breitschultrige Gentleman in der Reitkleidung war, der vor dem Eingang des Herrenhauses abstieg: Viscount Shevington, sein älterer Bruder!
»Aidan!«, rief Julian aus der Kutsche, und noch bevor der Zweispänner vor den Stufen gehalten hatte, sprang er heraus. »Prince!« Der schwarze Retriever kam auf Julian zugestürmt und warf ihn beinahe um, als er die Pfoten gegen seine Oberschenkel drückte. Er bellte laut und wedelte heftig mit dem Schwanz.
»Hey, du Rumtreiber, wie geht es dir?« Julian kraulte das Tier hinter den Ohren, das bald von ihm abließ und sich davontrollte.
»Julian?« Sein Bruder wirkte sichtlich überrascht. Er übergab die Zügel einem herannahenden Burschen und zog sich die ledernen Handschuhe aus, die er seinem Butler in die Hand drückte. »Was machst du hier? Ist etwas mit Mutter oder Marianne?« Sofort lief Aidan auf ihn zu.
»Nein, es ist alles in Ordnung.« Julian grinste, als er in die blauen Augen seines Bruders blickte. Zwei Furchen hatten sich zwischen dessen Augenbrauen gebildet, die allerdings verschwanden, als sie sich in die Arme fielen.
Tief atmete Julian den vertrauten, männlichen Geruch ein, den nur Aidan verströmte. Es tat gut, ihm wieder zu begegnen. Julian hatte sich schon immer zu seinem großen Bruder hingezogen gefühlt. Deshalb war es furchtbar gewesen, als vor sieben Jahren ihr Vater starb, woraufhin Aidan das Familienoberhaupt wurde und den Titel erbte. Seitdem hatten sie viel weniger Zeit miteinander verbracht, da Aidan zahlreichen Verpflichtungen nachkommen musste. Und als sein großer Bruder auch noch auf den Landsitz gezogen war, hatten sie sich kaum mehr gesehen.
»Warum hast du mir nicht geschrieben, dass du kommst? Und warum hast du nicht die Familienkutsche genommen?« Sein Bruder, Lord Shevington, hielt Julian an den Schultern fest und musterte ihn von oben bis unten. »Blendend siehst du aus, Jul. Aus dir ist ein richtiger Mann geworden!«
Aidan hat keine Ahnung, wie viel mir seine Worte bedeuten, sagte sich Julian, als er ihn ebenfalls eingehender betrachtete. Aidan trug eng anliegende Breeches, die seine muskulösen Oberschenkel besonders gut zur Geltung brachten. Der Frack betonte die breiten Schultern und zeigte Julian wieder einmal, wie verschieden sie doch waren. Alles an seinem Bruder war kräftig, groß und muskulös, während Jul ihm kaum bis zum Kinn reichte und eher schmal gebaut war.
»Es war ein spontaner Entschluss.« Julian nahm von einem Lakaien seinen Beutel entgegen, bevor sich die Reisekutsche knirschend in Bewegung setzte. »Ich musste raus aus London, sonst hätte ich mich in die Themse gestürzt.«
»Was ist denn passiert?«
Julian verdrehte die Augen. »Mutter.« Mehr musste er nicht sagen, damit Aidan ihn verstand. Dieser lachte und wirkte dadurch unwahrscheinlich attraktiv auf Julian. Wie sehr ich ihn vermisst habe, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, obwohl sie sich erst vor einem halben Jahr das letzte Mal gesehen hatten.
Aidan legte einen Arm um seine Schultern und führte ihn die Treppen hinauf. »Komm, Jul, lass uns reingehen. So wie ich dich kenne, musst du am Verhungern sein.«
***
Nachdem Aidan und Julian die Kleidung gewechselt und zu Abend gegessen hatten, zogen sie sich in einen privaten Salon zurück, der Aidan auch als Arbeitszimmer diente, um sich fernab der Dienerschaft ungestört zu unterhalten. Die Brüder saßen in tiefen Ledersesseln vor einem prasselnden Kamin. Dabei berührten sich ihre Knie leicht, weil sie beide sehr lange Beine hatten. Prince lag hinter Aidans Sitz, die schwarze Schnauze unter den Pfoten versteckt. Manchmal gähnte er, knurrte im Schlaf oder änderte seine Position, aber sonst schien er sehr zufrieden zu sein.
Aidan lauschte seinem kleinen Bruder, der ihm überschwänglich sein Leid klagte, und ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen. Er wusste nicht, wie lange Julian blieb, weshalb er jedes Detail in sich aufsaugen wollte, um sich später daran erinnern zu können.
Aidan fehlte seine Familie, doch er würde um nichts auf der Welt nach London zurückgehen. Das hektische Stadtleben und die vielen Menschen waren nichts für ihn. Zudem hatte es dort vor langer Zeit einen Vorfall gegeben, der ihm noch immer in den Knochen steckte.
»Mutter und Marianne schleppen mich auf jedes gesellschaftliche Ereignis mit, um mich unzähligen jungen Damen vorzustellen«, jammerte Julian. »Ich kann keine Opern, Bälle und dergleichen mehr sehen.«
»Das glaube ich dir«, sagte Aidan todernst. »Jetzt weißt du, warum ich mich hier ganz wohlfühle.«
Er angelte nach der Karaffe, die auf dem Beistelltisch stand, bevor er seinem Bruder etwas Brandy nachgoss. Der Kleine verträgt wohl nicht viel. Er grinste in sich hinein, als er die roten Flecken auf Julians Wangen bemerkte. Mal sehen, wie trinkfest du bist, Brüderchen.
»Ich habe einfach noch kein Interesse an Mädchen und Heiraten und all so was«, fuhr Julian fort. »Ich möchte meine Freiheiten genießen, so lange ich kann.« Er leerte das Glas in einem Zug und hielt es Aidan vor die Nase, der kommentarlos nachschenkte. »Hast du schon mal ein Mädchen geküsst, Aidan, so richtig auf den Mund?«
Diese Frage überraschte ihn. Es war lange her, dass sie über solche Themen gesprochen hatten. Da waren sie noch halbe Kinder gewesen. Aber bevor er etwas antworten konnte, sagte Julian: »Natürlich hast du. Du wirst bald dreißig, siehst gut aus, bist ein Viscount – die Frauen liegen dir sicher haufenweise zu Füßen. Du hast dich doch bestimmt schon nach einer Frau umgesehen, mit der du einen Erben zeugen möchtest?«
»Na ja ...« Aidan kam einfach nicht dazu, etwas zu erwidern, aber daran war er gewöhnt. Er war schon immer der Ruhigere von ihnen gewesen, während Julian vor Energie nur so zu strotzen schien.
»Mutter wartet schon auf Enkelkinder, weißt du, und ich finde, du bist zuerst an der Reihe, schließlich bin ich sechs Jahre jünger als du.« Julian stellte das leere Glas auf den Tisch und lehnte sich zurück. Er schien sich bei ihm wohlzufühlen, denn er kuschelte sich in eine Ecke des Sessels. Aidan bemerkte, dass sein kleiner Bruder immer noch diese lustigen Sommersprossen um die Nase hatte. Als sich Julian über die schön geschwungenen Lippen leckte, spürte Aidan ein Ziehen in seinem Unterleib, das er sich nicht erklären konnte.
»Mutter macht mich verrückt mit ihren Verkupplungsplänen. Ich muss mich erholen, deshalb bleibe ich bei dir, bis die Saison vorüber ist. Also falls du nichts dagegen hast.« Julian blickte ihn mit seinen smaragdgrünen Augen eindringlich an, worauf Aidans Herz schneller schlug.
Was ist heute nur los mit mir?, fragte er sich und fuhr sich unwirsch durchs Haar. »Wieso sollte ich etwas dagegen haben? Tatsächlich finde ich es angenehm, ein wenig die Gesellschaft von einem Menschen zu genießen, der mir schon immer der liebste war.«
»Wirklich?« Julians Augen strahlten. »Weißt du, du bist auch schon immer mein Lieblingsbruder gewesen.«
»Du hast ja nur einen Bruder, Strohkopf!« So hatte Aidan ihn früher immer wegen seiner verstrubbelten blonden Haare genannt.
Julian lachte, und seine hellen Zähne blitzten auf. »Ich meinte ja auch im Gegensatz zu Marianne.«
»Sie ist auch deine Schwester.« Aidan grinste. »Ein Mädchen.«
»Ja, jetzt ist sie ein M ä d c h e n«, sagte Julian gedehnt, »eigentlich schon eine richtige Frau, aber erinnere dich an die Zeiten, als sie mit uns durch den Schlamm gewatet und auf Bäume geklettert ist. Mutter hat alles daran gesetzt, um aus ihr eine richtige Dame zu machen.«
»Und, hat sie es geschafft?«
»Ich befürchte ja. Sie ist genauso schlimm wie Mutter. Ständig lädt sie ihre Freundinnen zum Tee ein, nur um mich vorzuführen. Es ist einfach schrecklich.«
»Jetzt sind wir Männer ja unter uns.« Aidan kicherte, bevor ihm die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde. Ja, Jul war ein richtiger Mann.
Sein kleiner Bruder zog sich das Krawattentuch vom Hals, und Aidan konnte dessen entblößten Kehlkopf sehen. Er hätte bei den Frauen die allerbesten Chancen. Jul sah außerordentlich gut aus.
Mit heimlichen Blicken tastete Aidan den verführerischen Körper ab, der ausgestreckt vor ihm lag, da Julian immer tiefer in den Sessel sank.
»Um noch mal aufs Küssen zurückzukommen«, lallte Jul leicht. »Wie funktioniert das eigentlich?«
Will er mir weismachen, dass er noch nie ein Mädchen geküsst hat? Aidan wunderte sich, doch ein warmes Gefühl flutete seine Brust. Plötzlich fühlte er sich dazu berufen, Julian ein wenig Nachhilfe in Sachen Liebe zu geben. Schließlich trug er als Oberhaupt der Familie auch eine gewisse Verantwortung für seine Geschwister.
Aidan räusperte sich und ihm wurde noch wärmer, aber er schob es auf den Alkohol. »Na ja, zuerst musst du dir natürlich einen Ort suchen, wo ihr möglichst nicht überrascht werdet. Ein Kuss ist eine sehr komplizierte Sache. Wenn du Pech hast und dabei erwischt wirst, musst du das Mädchen womöglich heiraten.«
»Das ist mir klar«, stieß Julian hervor. »Und weiter?«
»Du stellst dich nah zu ihr, berührst ihren Arm, sagst ein paar nette Worte und machst ihr Komplimente über ihr Aussehen …« Während Aidan erzählte, beugte er sich zu Julian hinüber. Dabei stützte er die Unterarme auf den breiten Lehnen von Juls Sessel ab, weil ihm leicht schwindlig war. Der Brandy stieg Aidan schneller zu Kopf, als er dachte.
»Was würdest du mir für Komplimente machen, wenn ich ein Mädchen wäre?«, fragte sein Bruder leise.
»Du hast wunderschöne Augen. Sie glänzen wie Smaragde«, flüsterte Aidan.
Eine Weile starrten sie sich einfach nur an und verloren sich in den Augen des anderen, bevor Julian sich vorbeugte und Aidans Wangen umfasste. Theatralisch, mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel, sagte er: »Und deine Augen leuchten wie Aquamarine, mein Herz.«
Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Nur das Prasseln des Feuers und das Ticken der Standuhr waren zu hören. Julian sah ihn ernst an und flüsterte: »Funktioniert es so?«
Langsam, aber unaufhörlich, kamen seine Lippen näher, bis sie zart über Aidans Mund strichen. Er wollte sich abwenden, doch er konnte nicht, war wie gelähmt. Es fühlte sich herrlich an, wie vorsichtig Julians Zunge über seine Lippen fuhr, woraufhin er die Augen schloss. Es war zu lange her …
Aidan spürte Julians heißen Atem, roch den Brandy und flüsterte: »Du bist ein Naturtalent, Jul.«
Julian wich ein Stück zurück, ohne seine Wangen loszulassen, und grinste frech. Durch Aidans Körper rauschte das Blut und schoss geradewegs in seine Lenden; der Puls klopfte ihm hart in den Ohren. Ich darf mich nicht in ihn verlieben, nicht in Jul. Er ist mein Bruder!
Mit verklärtem Blick meinte Julian: »Du bist ein guter Lehrmeister«, bevor er seine Lippen hart auf Aidans Mund presste.
Ihm entfuhr ein Stöhnen. Er ließ sich auf Julian fallen und vergrub die Finger in dem weichen hellen Haar. Seine wachsende Männlichkeit drückte sich dabei gegen Julians Oberschenkel, wo er sich an ihm rieb, um das erregende Gefühl zu verstärken. Anschließend ließ er die Hände über Julians Brust gleiten, die sich unter der Kleidung schnell hob und senkte. Ohne zu überlegen, zerrte ihm Aidan den Stoff aus der Hose, um mit den Fingern darunterzufahren. Als er die warme, glatte Haut berührte und die harten Brustwarzen liebkoste, spürte er Julians Hand zwischen seinen Beinen.
Himmel, was machen wir da!, durchfuhr es Aidan schlagartig, während Julians Zunge immer wieder in seinen Mund schnellte. Sofort riss er sich von ihm los und ließ sich rückwärts in den Sessel fallen. Aidan war zutiefst geschockt und verwirrt – er wagte es nicht, Julian anzusehen, bis dieser laut auflachte. »Verdammter Alkohol, was, Aidan? Du hast mich abgefüllt!«
»Vielleicht solltest du doch bald heiraten«, sagte Aidan rau.
»Niemals!« Julian grinste verwegen und starrte ihm auf den Schritt, wo sich eine beachtliche Beule abzeichnete. Sofort schlug er die Oberschenkel übereinander und stützte seinen Kopf schwer auf eine Hand.
Schwankend kam Julian auf die Beine, um sich noch etwas Brandy nachzuschenken. »Greifst du den Frauen auch immer gleich an die Brust? Du bist ja ein Schwerenöter, Aidan!«
»Wir wollen mal nicht erwähnen, wo deine Hand war.« Aidan lächelte schief. Er war erleichtert, dass sein Bruder diesen Vorfall als Spaß abtat. Ihm selbst stand der kalte Schweiß auf der Stirn und er zitterte. Nur schwer konnte er sich wieder in den Griff bekommen.
Aidan wusste schon lange, dass ihn Männer reizten, aber sein eigener Bruder? Konnte es noch schlimmer kommen? Er seufzte innerlich. Erst Henry und jetzt Julian? Er war verflucht.
»Ich merke, großer Bruder, du hast das schon öfter gemacht.«
Aidan starrte in das Kaminfeuer, ohne ihm zu antworten. Wenn du wüsstest, Jul, wenn du nur wüsstest …
Am nächsten Morgen wachte Julian mit fürchterlichen Kopfschmerzen auf, als Aidans hagerer Diener die Vorhänge aufzog.
»Wie spät ist es, Wexcomb?« Jul gähnte und versuchte, sich im Bett aufzurichten.
Der alte Mann sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Es ist bereits nach Mittag, Sir.«
Julian kannte Wexcomb schon sein ganzes Leben. Er gehörte zu Shevington Manor wie die antike Einrichtung, weshalb er ihm diesen vorwurfsvollen Blick verzieh.
»Was macht mein Bruder?« Ausgiebig streckte er seine lahmen Glieder und gähnte noch einmal herzhaft.
»Lord Shevington hat heute schon sehr zeitig das Haus verlassen«, erwiderte der Butler, während er Jul in den Morgenrock half. Dann schickte Julian ihn aus dem Zimmer, weil er sich alt genug fühlte, um sich allein anzuziehen. Dieses ständige Betüddeln geht mir auf den Geist, dachte er. Das nervt mich in Mutters Haus schon zur Genüge.
Er ging zum Fenster und blickte hinaus auf den weitläufigen Park. Eine Weile betrachtete er den kunstvollen Brunnen, der gemütlich vor sich hinplätscherte, bevor sein Blick zum Horizont schweifte, an dem dicke Wolken wie weiße Schäfchen über den Himmel zogen. Was war es doch schön hier!
Ob Aidan geschäftlich unterwegs ist oder mir nur nicht unter die Augen treten möchte? Diese Fragen stellte er sich unentwegt. Wahrscheinlich Letzteres.
Julian konnte sich noch gut an die Geschehnisse des gestrigen Abends erinnern, obwohl er einen über den Durst getrunken hatte. Verdammt, Aidan, was war das nur zwischen uns?
Vorsichtig legte Jul die Stirn gegen das kühle Fensterglas und schloss die Augen, um sich noch einmal den wundervollen Kuss ins Gedächtnis zu rufen. Sein Mund hat so gut geschmeckt; ob das beim Küssen immer so ist? Vielleicht sollte ich es doch einmal bei einem Mädchen probieren? Aber Jul wollte keine Frau küssen – es fiel ihm auf jeden Fall keine ein, die dafür infrage kam, denn er sah immer nur Aidans scharf geschnittenes Gesicht vor Augen und die schmalen Lippen, die ihn so stürmisch empfangen hatten. Der Kuss darf nicht zwischen uns stehen, ich muss etwas dagegen unternehmen. Schließlich waren wir beide betrunken!
Seufzend wich er in den Raum zurück, um die Kleider zu begutachten, die ihm Wexcomb zurechtgelegt hatte: eine weiße Hose, eine dunkelgrüne Weste und passend dazu einen Frack. Die Sachen hatte er nicht eingepackt, aber die Shevingtons hatten immer eine Auswahl an Kleidung im Herrenhaus, falls sie spontan die Idee befiel, Landluft zu schnuppern.
Julian grinste in sich hinein. Er fragte sich, ob seine Mutter den Abschiedsbrief entdeckt hatte, den er ihr vor der überstürzten Abreise geschrieben hatte. Bestimmt. Hoffentlich kam sie nicht nach. Sie erstickte ihn mit ihrer Fürsorge. Aber so, wie er Lady Cathérine kannte, wollte sie mit Sicherheit kein gesellschaftliches Ereignis verpassen, immerhin suchte sie für Marianne einen Ehemann.
Julian gelüstete es jetzt mehr nach frischer Luft und einem wilden Ritt über die Wiesen, damit er den Kopf frei bekam. Also ging er in den Ankleideraum, um in seine bequemen Breeches und Stiefel zu schlüpfen, bevor er sich auf den Weg zu den Stallungen begab. Unterwegs machte er einen Abstecher in die Küche, denn sein Magen knurrte beleidigt.
»Na, wenn das nicht mein Juju ist!« Die rundliche Köchin strahlte ihn an, wischte sich die Hände an der Schürze ab und umarmte ihn herzlich.
»Hallo, Ellen!« Er ließ sich kurz von ihr drücken, dann musterte sie ihn eingehend.
»Dünn seid Ihr geworden, Julian, aber es ist noch genug vom Mittagessen übrig. Ich bekomm Euch schon wieder hin. Lord Shevington meinte, Ihr bleibt länger?«
Julian nickte und setzte sich an den alten Holztisch, der eigentlich nur für das Personal gedacht war. Doch als junger Bursche hatte er sich oft heimlich zu Ellen in die Küche geschlichen, weil sie immer etwas Leckeres für ihn hatte. Es war schön, dass noch so viele von den alten Angestellten in dem Herrenhaus arbeiteten. Aidan hatte sie nach dem Tod ihres Vaters sicher deshalb übernommen, weil er sich auf diese Leute verlassen konnte. Heutzutage war es schwer, anständiges Personal zu bekommen, wusste er von den Tiraden seiner Mutter, und er grinste zu Ellen hinüber, die ihm gerade eine reichliche Portion Eintopf auf einen Teller schaufelte. Das war natürlich nicht die Mahlzeit, die man Aidan vorgesetzt hatte, aber um Längen besser!
Genüsslich löffelte er alles aus und wischte den Teller anschließend mit einem Stück Brot sauber, das er sich, die Etikette außer Acht lassend, einfach in den Mund stopfte.
Ellen sah ihn mit großen Augen an. »Bekommt Ihr in London nichts zu essen, junger Mann?«
»Nicht das Richtige«, murmelte er und sagte, nachdem er geschluckt und alles mit einem Glas Wein hinuntergespült hatte: »Wenn ich wieder heimfahre, nehme ich Sie mit.«
Plötzlich schreckte er auf, als sich ein haariger Kopf zwischen seinen Beinen hindurch auf seinen Schoß drückte. »Prince! Du alter Rumtreiber, was machst du denn hier?«
»Na, betteln, was sonst.« Ellen warf dem Hund ein rohes Stück Fleisch unter den Tisch, das dieser begierig auffraß.
»Hat mein Bruder ihn nicht mitgenommen?«
Die Köchin sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ja, das habe ich mich heute auch schon gefragt, doch der Lord hatte es wohl sehr eilig. Das sieht ihm eigentlich nicht ähnlich, Prince hierzulassen, die beiden sind ein Herz und eine Seele.«
Julian wusste, dass Aidan das Tier vor zwei Jahren verletzt im Straßengraben gefunden hatte. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, den noch relativ jungen Hund sterben zu lassen, und so hatte er ihn mit Ellens Hilfe versorgt und wieder aufgepäppelt. Seit diesem Tag wich Prince seinem neuen Herrchen nicht von der Seite, außer, wenn er sich zu Ellen schlich.
***
Frisch gestärkt und frohen Mutes trabte Julian auf einem prächtigen Hannoveraner über die Wiesen auf das angrenzende Waldstück zu. Prince lief ein Stück vor ihm her, und Julian hatte nichts Besseres vor, als ihm zu folgen. Es war ein heißer Sommertag. Jul war danach, heute etwas ganz Verrücktes zu machen, wie damals als Junge. Spontan fiel ihm der kleine Waldsee ein, zu dem sich Aidan, Marianne und er immer geschlichen hatten, um darin zu baden, obwohl es ihnen Mutter ausdrücklich verboten hatte. Sie hatte Angst gehabt, ihre Kinder könnten in dem dunkelgrünen Wasser ertrinken.