Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Tagebuchgestützte Autobiografie eines beliebten Fernsehreporters, der schließlich als IM der Stasi enttarnt wird und dadurch in tiefe Depressionen verfällt. Der - bis auf die Stasi-Kontakte - ziemlich normale DDR-Lebenslauf wird durch die unwiderlegbaren Tagebuch-Innenansichten ein ungewöhnliches DDR-Zeitzeugnis. Die Härte des sozialen Absturzes durch die Enttarnung hält der Autor für Inquisition und lastet das dem späteren Präsidenten Joachim Gauck an.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 380
Veröffentlichungsjahr: 2013
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Mein langer Weg zum »Supergau(ck)«
Ein Zeitzeugnis
von Horst Mempel
Imprint
Mein langer Weg zum »Supergau(ck)«
Ein Zeitzeugnis
Horst Mempel
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2012 Horst Mempel
Coverfoto: Roy Bock
Layout und Satz: Marte Kiessling
ISBN 978-3-8442-4736-7
Dresden, den 06. Januar 2012
Sehr geehrter Herr Gauck,
es ist möglich, dass Herr Wulff sein Amt aufgeben muss und man dann Sie auffordert zu kandidieren.
Ich bitte Sie, das Amt des Bundespräsidenten nicht anzunehmen.
Sie haben damals, als Beauftragter für die Stasi-Unterlagen, neben dem, was notwendig und richtig war, so viel »Kollateralschaden« angerichtet, dass daran gemessen die Fragwürdigkeiten des Herrn Wulff geradezu lächerlich wirken.
Unter Kollateralschaden verstehe ich das Zertrümmern von Ansehen, Existenz, überhaupt aller Lebensgrundlagen auch solcher Bürger, die sich häufig bestenfalls minimaler Vergehen schuldig gemacht haben.
Mit dieser Vergangenheit würden Sie das hohe Amt weit mehr beschädigen als unser jetziger Präsident.
Vermutlich sind auch Sie dem verbreiteten Irrtum verfallen, dass, wer irgendwann einmal auf der richtigen Seite stand, für immer die Wahrheit gepachtet hat. Das stimmt wirklich nicht.
Sie hatten mir als Stasi-Beauftragter bereits meinen kindlichen Glauben ausgetrieben, dass alle Pastoren immer nur Gutes tun.
Von dem Amt des Bundespräsidenten habe ich eine ähnlich hohe Meinung. Demontieren Sie die bitte nicht auch noch.
Ich grüße Sie.
Horst Mempel
1. Kindheit, Krieg, Nachkriegszeit
Mein Vater wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen, ich habe ihn selten gesehen, nur wenn er auf Urlaub kam, und wirklich lebendige Erinnerungen an ihn gibt es nur zwei. Es war an einem sonnigen Morgen, unter dem Küchenfenster standen meines Vaters frischgeputzte Stiefel und glänzten. Meine Mutter, sie wollte Kartoffelklöße kochen, presste geriebene Kartoffelmasse in einem Tuch, um das Wasser zu entfernen. Auf einmal platzte der Stoff, die weiße Masse spritzte durch die Küche, und ein dicker Batzen klatschte auf einen der Stiefel. Dieses Bild, der weiße Fleck auf dem schwarzglänzenden Leder, hat sich mir so in die Seele gegraben, dass ich es mein ganzes Leben nicht vergessen konnte. Weshalb, kann ich nicht sagen.
Und dann erinnere ich mich noch daran, dass mein Vater doch einmal meinen inständigen Bitten nachgab und – im Garten der Oma – mit seiner Pistole in die Luft schoß. Das sehe ich heute noch vor mir. Wie er in seiner Uniform auf dem Gartenweg steht und den Arm hebt. Und dann dieser ungeheure Knall.
Im Großen und Ganzen verlief unser Leben während des Krieges ruhig und geordnet. Ich ging täglich bis Mittag in einen Kindergarten ganz in der Nähe. Ich war gern dort,
Einmal wurde meine kleine Seele ausgerechnet in diesem meinem heißgeliebten Kindergarten so verwundet, dass die Narbe bis heute ein bisschen schmerzt. Wenn ein Kind Geburtstag hatte, durfte es ein paar Freunde, fünf vielleicht, zu einem Kaffeetisch einladen. Als Bernd Block, den Namen habe ich sechs Jahrzehnte lang nicht vergessen, seinen Ehrentag hatte, war ich sicher, zu den Eingeladenen zu gehören, denn nach meinem Verständnis waren Bernd und ich Freunde. Aber Bernd lud mich nicht ein. Ich konnte das nicht begreifen, war schrecklich unglücklich und habe zu Hause bitterlich geweint.
Mein liebstes Spielzeug in jener Zeit war Omas Knopfkiste, ein Behältnis, in dem Knöpfe jeglicher Art aufbewahrt wurden. Stundenlang, immer wieder, sortierte ich die kleinen, glänzenden Dinger, nach Farbe, nach Größe, legte sie zu Schlangen oder versuchte, sie zu stapeln. Wenn ich meine Knöpfe hatte, fehlte mir nichts. Malbücher oder – später dann – der Stabilbaukasten gaben mir wenig. Ich war ungeschickt, malte immer über den Rand, und die Kräne, die ich baute, waren krumm und schief und funktionierten nicht. Dieses fehlende Geschick hat mich mein ganzes Leben begleitet. Wie überhaupt gewisse Eigenheiten, die mir als Erwachsener anhängen, schon damals sichtbar wurden, meine Begeisterungsfähigkeit zum Beispiel. Als bei Oma eines Tages eine neue Lampe hing, brach es aus mir – der Sprache noch nicht ganz mächtig – heraus:»Oh, mucke mimte Mampe!« (»Oh, welch wunderbare Lampe!«). Dieser Satz gehörte über Jahrzehnte zum Zitatenschatz in unserer Familie, deshalb erinnere ich mich daran. Aus ähnlich übervollem Herzen habe ich Jahre später, es muß in einem Sommer Ende der 40er Jahre gewesen sein, ich war also zehn oder elf, meiner Mutter einen begeisterten Brief geschrieben. Wie meist in den Ferien war ich zu Besuch bei meiner Tante in Coswig. Wir spielten an der Elbe, und plötzlich sah ich auf dem Fluß, zum ersten Mal in meinem Leben, einen weißen Passagierdampfer. Bis dahin kannte ich nur schwarze Schleppdampfer und Lastkähne. Der Anblick des im Sonnenlicht glänzenden Luxusgefährts überwältigte mich, ich setzte ich mich sofort hin und schilderte meiner Mutter in einem langen Brief den gewaltigen Eindruck. Ich gäbe einiges darum, könnte ich diesen Gefühlsausbruch heute noch einmal lesen.
Zu den bei mir in früher Kindheit sichtbaren Eigenschaften gehörte auch schon das Grüblerische. Ich konnte stundenlang vor mich hin glotzen. Besonders die Oma kam damit nicht zurecht. »Horsti simmeliert immer«, sagte sie ratlos, und: »Horsti, was simmelierste denn schon wieder?« Sie meinte »simulieren« oder »sinnieren«, nach ihrem Verständnis war das »nachdenken«. Wenn ich später, als Erwachsener, wieder mal »simmelierte«, und das, blöde Angewohnheit, auch noch mit halboffenem Mund, sagte meine Mutter trocken: »Junge, kannst Du doof aussehen!«
Außerdem war ich ein ängstliches Kind und ein überaus sensibles. Ich war noch als Jüngling – wie peinlich – schnell zu Tränen gerührt. Das gab sich dann für lange Zeit, doch jetzt, im Alter, neige ich erneut zur Rührseligkeit.
Einmal zu einem Kriegs-Weihnachten hatte unser Opa, von Beruf Stellmacher, für uns ein Schaukelpferd gebaut. Holz gab es damals kaum, der Opa war vermutlich auch nicht sonderlich geschickt, jedenfalls war das Gerät etwas seltsam geraten. Und so kam es, dass mein Bruder, als wir zur Bescherung ins Zimmer gerufen wurden, angesichts des Schaukelpferdes voller Entzücken ausrief: »Oh, ne Zicke, ne Zicke!«
»Vati kommt nicht wieder«
Im Dezember 1943, ich war fünfeinhalb, mein Bruder anderthalb, kam jemand vorbei und sprach mit unserer Mutter. Danach weinte sie, setzte sich in der Küchenecke auf die Fußbank, zog uns Kinder zu sich und sagte: »Der Vati kommt nicht wieder.« Ob wir das begriffen und danach auch weinten, kann ich nicht mehr sagen. Jahre später, es könnte 1947 gewesen sein, waren wir Kinder unserer Straße in freudiger Erregung, denn »...Herr Topf kommt nach Hause!« Herr Topf war der Nachbar in der Wohnung über uns, auch er war Soldat gewesen, war in Gefangenschaft geraten und war nun entlassen worden. Als Herr Topf schließlich kam und wir Kinder um ihn herumtanzten, da wurde mir die Brust auf einmal schwer. Ich ging zur Seite, und hier nun weiß ich, dass ich weinte. Denn so eine Freude würde es für mich, für unsere Familie nie geben können. Unser Vati war ja tot. Nebenbei – Herr Topf sah grauslich aus. Durch eine Kriegsverwundung fehlte ihm der halbe Unterkiefer. Als unsere Mutter später sagte, unser Vater hätte noch viel schlimmer ausgesehen (ihm war tatsächlich das ganze Gesicht zerfetzt worden, er hatte das nur wenige Tage überlebt), empfanden wir unseren Verlust als nicht mehr ganz so schlimm.
Ansonsten bekamen wir in unserer Kleinstadt Stassfurt vom Krieg wenig mit. Wenn Fliegeralarm war, mussten wir in den Luftschutzkeller. Die Erwachsenen gingen häufig nach oben vor die Tür, manchmal sagten sie dann »..sie brummen..«, was hieß, irgendwelche Flugzeuge flogen hoch über uns irgendwohin, vermutlich zum nicht weit entfernten Magdeburg. Auf unsere Stadt fielen nur einige wenige Bomben, weit draußen, auf das Industriegebiet. Insofern wäre es gar nicht nötig gewesen, den Platz vor der evangelischen Kirche aufzubaggern und dort einen großen Feuerlöschteich zu installieren. Der aufgehäufte Schutt neben dem Teich allerdings, der sogenannte »Baggerberg«, erfüllte schließlich doch eine wichtige Aufgabe. Die Kinder, insbesondere die kleineren wie mein Bruder, der dafür extra eine »Baggerberghose« besaß, kannten keinen schöneren Spielplatz.
Wir Größeren spielten damals Fußball, mit aus Lumpen zusammengenähten Stoffbällen und in der Regel barfuß. Schuhe waren Mangelware und durften nicht kaputtgehen. Ich hatte von meiner Mutter strengstes Schuh-Verbot, wenn ich zum Fußballspielen ging.
Im April 45, ich war inzwischen sieben, ging schon zur Schule, der Krieg lag in den letzten Zügen, aber ging noch immer an uns vorbei, am 20.April lief ich morgens ganz aufgeregt zu meinem Urgroßvater. »Großvater, Großvater, ich brauch die Fahne, der Führer hat Geburtstag!« Der Urgroßvater war der einzige in unserem engeren Familienkreis, der eine Hakenkreuzfahne besaß. Ich bekam die Fahne und zog stolz damit los. Wie viel sich schließlich zusammenfanden, um Hitlers letzten Geburtstag zu feiern, kann ich nicht mehr sagen.
Vermutlich waren zu diesem Zeitpunkt unsere Straßen schon aufgerissen, für Panzersperren. Wir haben jedoch in unserer Stadt bis zum Kriegsende keine Panzer zu Gesicht bekommen, mit einer Ausnahme. Es muß Anfang Mai gewesen sein, da jagte auf einer der wenigen intakten Durchgangsstraßen ein einzelner deutscher Panzer an uns vorbei, riesig, gewaltig, waffenstarrend, mit ungeheurem Getöse. Ich war zutiefst beeindruckt und erzählte wochenlang, also auch noch nach Kriegsende, wie großartig der »Königstigerpanzer« gewesen sei.
Irgendwann waren dann die Amerikaner da. Auch daran nur eine einzige schlaglichtartige Erinnerung. Ein offener Jeep mit langen, fühlerartig hängenden Antennen, drinnen zwei lustige Schwarze – Sensation, ich hatte noch nie einen »Neger« gesehen – und sie schenkten uns Schokolade.
Später kamen die Russen, u.a. mit den sogenannten »Panjewagen«, den ulkigen Holzgefährten, die von Pferden gezogen wurden. Alles andere kenne ich auch hier nur aus Erzählungen. Der Bruder meines Opas, wohl ein strammer Nazi, wurde von ehemaligen russischen Gefangenen, die unter ihm Zwangsarbeit leisten mussten, erstochen, er starb in den Armen seiner Frau (»Der war ja auch immer brutal mit denen...«, wurde bei uns in der Familie geflüstert). Mein Opa selbst, ein riesiger, phlegmatischer, gutmütiger Mensch, der bis dahin in seinem Leben vermutlich nie einen schnellen Schritt getan hatte, wurde von den selben Russen gejagt, rannte vor ihnen her, schrie immer, er sei Kommunist (was er bis 33 tatsächlich gewesen war) und rettete sich schließlich, indem er es in seiner Not schaffte, mit einem gewaltigen Satz einen zweieinhalb Meter hohen Bretterzaun zu überqueren. Noch Jahre später, wenn wir Kinder an dem Zaun vorbeikamen, gab ich damit an, dass mein Opa da drüber gesprungen wäre.
In dem Haus meiner Tante in Coswig, also dort, wo ich in der Regel die Ferien verbrachte, gab es eine Familie Sch. Sie waren nach unserem Verständnis »etwas Besseres«, also vermutlich Intellektuelle, sie unterschieden sich von uns durch ein gewisses vornehmes Auftreten, wir achteten sie. Die Tochter der Familie Sch. war am Kriegsende gerade so erwachsen, noch keine 20, denke ich. Als die Russen kamen, sperrten sie Herrn und Frau Sch. in die Küche ein und mit der Tochter gingen sie ins Schlafzimmer.
Ich kenne das alles natürlich nur vom Erzählen, dennoch hat sich das Leid dieser Familie für Jahrzehnte in meine Seele eingebrannt, eigenartiger Weise tiefer noch das des Vaters als das der Tochter.
Die Zeit nach dem Krieg brachte Hunger und Not. Meine Mutter, Kriegerwitwe mit zwei kleinen Kindern und zudem ohne Beruf, gehörte zu den Ärmsten. Wir liefen im Sommer barfuß und im Winter in Holzschuhen, wir aßen Kohlrüben, Brennnesseln und Kartoffelschalen, und ich verschlimmerte die Situation noch, weil ich mäkelig war und mich zum Beispiel weigerte, Speisen mit Mohrrüben oder Zwiebeln zu essen, obwohl meine Mutter froh war, dass sie die überhaupt aufgetrieben hatte. Keine Probleme dagegen bereitete mir, Hundefleisch zu essen. Mein Onkel, ein in Coswig stadtbekannter Hundefänger, erklärte uns, das sei Straßen-Reh. Zwar machte uns das Lachen der Erwachsenen misstrauisch, doch wir gaben uns mit der Erklärung zufrieden.
Was meine Mutter in jener Zeit leistete, war Heldentum. Sie aß fast nichts, nachts kroch sie auf Güterwagen herum, um Kohle zu stehlen, »Kohle klauen« war damals üblich und wurde kaum geahndet, am Tage ging sie stoppeln, d.h. sie sammelte auf abgeernteten Feldern die liegengebliebenen Ähren, Kartoffeln oder Zuckerrüben, abends nähte sie aus alten Kleidern für uns etwas zum Anziehen.
Es fehlte buchstäblich an allem. Dennoch, im Rückblick, ich weiß nicht, wie das möglich ist, empfinde ich diese Zeit als fröhliche Kindheit. Elend, als Ausdruck permanenter Verzweiflung, kommt mir dabei nicht einmal annähernd in den Sinn.
Natürlich machte der Hunger uns irgendwann krank. Ich bekam die Englische Krankheit, die sog. »Knochenweiche«, bis heute ist mein Brustbein davon seltsam verformt, und meiner Mutter verzog eine Nervenlähmung die eine Gesichtshälfte, sie hat unter ihrem schiefen Mund ein Leben lang gelitten.
Die groben Holzpantinen und später auch die eklig schweißtreibenden Igelitschuhe marterten meine Füße, ich bekam immer wieder schmerzhaft entzündete Hühneraugen, manchmal bin ich monatelang lahmgegangen. Irgendwann, oh Himmel, brachte mir meine Mutter ein Paar leinene Tennisschuhe, gebrauchte zwar, aber was tat das schon. Unsere Nachbarn hatten sie aus Amerika bekommen, von entfernten Verwandten, die ihnen gelegentlich Pakete schickten. Meine Mutter tauschte die Schuhe bei ihnen gegen einen Gutteil ihrer »Aussteuer« ein. 4 Bettbezüge, 4 Kopfkissen, 4 Laken, ungebraucht natürlich »...und alles Damast«, sagte meine Mutter mit traurigen Augen. Sie hatte sich die Wäsche in ihrer Jugend, während sie als Dienstmädchen »in Stellung« war, zusammengespart, und sie war immer stolz auf ihre Aussteuer. Unsere Nachbarn, gute Bekannte eigentlich, hielten den Tausch für angemessen.
Egal, ich zog die Schuhe sofort an, nach den schweren Holzschuhen war mir, als hätte ich Flügel bekommen Es war Winter, ich tollte mit den Stoffdingern draußen im tauenden Schnee herum und behauptete sogar, sie seien wasserdicht.
»Blume wird mit `h` geschrieben«
In der Schule bekamen wir sogenannte »Neulehrer«. Die ehemaligen waren entlassen worden. Ich hab das nicht sehr bedauert. Herr Kluge, der uns bis dahin unterrichtete, hatte bei jeder Kleinigkeit geschrien: »Flossen auf den Tisch!« und uns dann mit dem Rohrstock auf die Finger geschlagen. Der Neue, kein gelernter Lehrer, ich weiß nicht, aus welchem Beruf er kam, fiel auch bald unten durch. Er hatte uns u.a. weismachen wollen, »Blume« werde mit »h« geschrieben, weil das Wort von »blühen« komme. Voller Empörung hatte ich zu Hause davon berichtet, und für meine Mutter wie auch für andere Eltern bildeten diese und ähnliche Bildungslücken den Anlass, die »Neulehrer« und mit ihnen das gesamte neue Schulsystem über Jahre nicht ernst zu nehmen.
Nach und nach bekamen wir immer mehr Umsiedlerkinder in unsere Klasse. Sie passten nicht zu uns, meinten wir. Sie sprachen einen anderen Dialekt, trugen noch abgerissenere Kleidung, und außerdem waren sie bei manch einem unserer Einheimischen einquartiert, was als Zumutung betrachtet wurde. Es hat lange gedauert, bis wir die geschundenen Sudetendeutschen oder Ostpreußen als gleichberechtigte Schulkameraden akzeptierten. Unser Prügelknabe allerdings war einer von uns. Er war eigentlich der Größte und Kräftigste, vom Gemüt her aber ein Dulder. Jeden Tag nach der Schule wurde er gestellt und bekam eine Tracht Prügel. Ich denke, dass ich mich am Prügeln nicht beteiligte, mir das Schauspiel aber in der Regel genüsslich mit ansah. »Platte«, so war sein Spitzname, entkam dem Martyrium schließlich nur, weil er täglich von seiner Mutter abgeholt wurde. Später verlor ich ihn für viele Jahre aus den Augen, bis ich eines Tages seinen Namen in der Zeitung wiederfand. Er war ein einflussreicher Mann geworden, Parteisekretär in einem Großbetrieb.
Eines schönen Tages gab es bei uns zu Hause eine mittlere Sensation. Unsere Mutter hatte im Grubenbetrieb unserer Stadt zu arbeiten begonnen, zunächst als Reinemachefrau, später in der Verwaltung als Sachbearbeiterin. Es klingelte, und Herr Rath stand vor der Tür. Herr Rath war ein wichtiger Mann im Kaliwerk, er war der Kassierer der Verwaltung, aber er war klein, rundlich, leicht gebückt, und er hatte nur wenige Haare. Herr Rath war nicht im Krieg gewesen, er war Witwer und damit einer der ganz wenigen Männer in diesem Alter, die frei, d.h. nicht verheiratet waren.
Meine Mutter und Herr Rath zogen sich in die gute Stube zurück, und als nach vielleicht einer Stunde die Tür wieder aufging, war meine Mutter puterrot vor Aufregung und Herr Rath schien noch ein wenig gebückter. Meine Mutter hatte einen Heiratsantrag bekommen, und sie hatte ihn abgelehnt. Für uns Kinder war das selbstverständlich. Unser Vater war in unserer Erinnerung ein großer, strahlender, sportlicher Mann, da konnte Herr Rath keine Chance haben bei unserer Mutter. »Weshalb nimmst Du nicht Herrn Schulze,« fragten wir sie später, denn Herr Schulze war ein ähnlicher Strahlemann wie unser Vater, und er mochte uns. Aber dem Argument, der hätte schon eine Frau, hatten wir wenig entgegenzusetzen.
Das war die Zeit, als wir schon nicht mehr gar so sehr hungerten. Irgendwann hatte ich, nach Jahren bei trockenem Brot oder undefinierbarem, üblem Brotaufstrich, meine erste richtige Marmeladenstulle gegessen – es war göttlich. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich daran, dass ich eines Tages ein Stück Kernseife in die Hände bekam. Bis dahin waren wir nur die dumpfe, graue Tonseife gewöhnt. Der intensive, wohltuende Duft der Kernseife regte mich so an, dass ich tatsächlich hineinbiß – obwohl ich natürlich wusste, dass das nichts zum Essen war.
Oma und Opa hatten jetzt schon Kaninchen, Hühner und auch ein Schwein. Das Schwein wurde versteckt gehalten und, solange es noch klein genug war, gelegentlich sogar in den Keller verfrachtet, dann nämlich, wenn die Viehzähler angekündigt wurden. Diese amtlichen Personen stellten fest, wie viel Vieh in den jeweiligen Haushalten existierte, und entsprechend wurden die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten reduziert.
War es gelungen, das Schwein zu verheimlichen, musste es natürlich auch »schwarz« geschlachtet und verarbeitet werden. Das geschah gewöhnlich im Keller und war in der Regel ein rechtes Abenteuer für uns Kinder.
2. Die 50er: Kind, Jüngling, Mann
Irgendwann begann ich, regelmäßig zu lesen. Zu unseren wenigen Büchern, wir besaßen vielleicht ein halbes Dutzend, gehörten der dicke »Volksbrockhaus«, ein Lexikon also, und der Nazi-Roman »Befehl des Gewissens«. Jeden Abend vor dem Einschlafen nahm ich mir eins der beiden Bücher vor. Als ich den Roman zu Ende gelesen hatte, schwärmte ich vorübergehend für die beiden »arischen« Hauptfiguren, sie hießen sinnigerweise »Hans Kraft« und »Berta Schön«, ich war froh, kein Jude zu sein und hielt den Kommunismus für etwas Abgrundböses. Der Brockhaus hat mich länger gefesselt und wahrscheinlich auch nachhaltiger geprägt. Es waren vermutlich einige Jahre, in denen ich beim abendlichen Lesen Stichwort für Stichwort aufnahm und mir mein Weltbild zusammenbastelte.
Am Abend wurde zu Hause, mit unserer Mutter, häufig gesungen, Volkslieder und hin und wieder ein paar Schlager oder Operettenmelodien, die wir aus unserer »Goebbelsschnauze«, dem kleinen Volksempfänger, kannten. Irgendwann wurde ich folgerichtig Mitglied des Kinderchores unseres Grubenbetriebes. In dem Chor gab es ein Mädchen, das hieß Wilja. Schon dieser Name war ungewöhnlich, dann sah sie auch noch hübsch aus, und außerdem war sie die Tochter eines Steigers, was ihr zusätzlichen Glanz verlieh. Wilja wurde die große Liebe meines damals vielleicht zehn- oder elfjährigen Lebens. Und da Wilja häufig ein orangefarbenes Mäntelchen trug, was ebenfalls eine gewisse Besonderheit war, machte mein Herz jedes Mal einen Sprung, wenn ich irgendwo ein orangefarbenes Mäntelchen erblickte. Das blieb jahrelang so, auch dann noch, als ich Wilja längst aus den Augen und aus dem Herzen verloren hatte und die Mäntelchen ganz andere Mädchen trugen. Übrigens weiß ich nicht, ob Wilja jemals bemerkt hatte, wie sehr ich für sie schwärmte, denn größer noch als meine Liebe war meine Schüchternheit. Ein paar ausgesuchten Klassenkameraden allerdings schilderte ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass wir uns geküsst hätten und ich sie auch hier und da berührt hätte.
Ich war ein Spätentwickler. Wenn wir in der Schule der Größe nach antreten mussten, stand ich genau in der Mitte. Auch im Sport war ich zunächst unauffälliges Mittelmaß. Um so überraschender dann jener Tag in der Schulturnhalle, als Bockspringen angesagt war, und ich immer noch drüberkam, als alle anderen bereits gescheitert waren, und ich selbst dann noch nicht am Ende war, als der Bock nicht mehr weiter auszuziehen ging. Ob mich da schon eine erste leichte Ahnung von meinen besonderen Schnellkrafttalenten anwehte, weiß ich heute nicht mehr.
Eines Tages wurde uns während einer Chorprobe mitgeteilt, dass wir jetzt »Pioniere« werden könnten und dass wir dann ein Halstuch und ein Abzeichen bekämen. Zu Hause erzählte ich die Sache mit den Halstüchern und fügte hinzu: »Das wird genau so wie in Russland«, worauf meine Mutter verschreckt meinte, ich solle so etwas lieber nicht sagen. Ich weiß bis heute nicht, was sie dabei geängstigt hat.
1952 gehörte ich zu den Auserwählten, die zum Deutschlandtreffen in die Pionierrepublik in die Berliner Wuhlheide fahren durften. Wir wohnten in Zelten, schliefen auf Strohsäcken. Vermutlich stammt meine lebenslange Aversion gegen jede Art von Zelten von dieser ersten Erfahrung. Wenn es regnete, bildete sich an der Innenseite des Daches ein feuchter Film, aus dem es auf uns herunter tropfte, die Decken waren klamm und das Stroh stank.
Es wäre trotzdem ein tolles Erlebnis gewesen – die Hauptstadt, die Menge Menschen, die vielen Veranstaltungen –, wenn es da nicht die Sache mit dem Essen gegeben hätte. 1952 wurde in der DDR, glaube ich, zwar kaum noch richtig gehungert, jedoch alles war rationiert, alles war knapp. Wir in der Pionierrepublik aber wurden bestens verpflegt. Brot, Marmelade, Butter, Wurst, alles gab in so reichem Maße, dass wir uns richtig satt essen konnten. Die Mahlzeiten für die einzelnen Gruppen holten die Gruppenleiter von einer zentralen Ausgabestelle. Diese wichtige Tätigkeit war Älteren vorbehalten, die waren keine Pioniere mehr, sondern bereits FDJler. Ich fungierte als Helfer, Träger, und dadurch wurde ich Zeuge, wie die Gruppenleiter einen Teil der Lebensmittel beiseite schafften. Ich war empört, fassungslos. Diese FDJler waren doch unsere Besten, sonst hätten sie uns nicht nach Berlin führen dürfen. Sie sagten uns doch täglich, wir müssten ehrlich sein, selbstlos, immer mehr an die anderen als an uns selbst denken, sonst wären wir keine guten Pioniere. Ich war ratlos. Aber ich sagte nichts. Erst zu Hause, bei meiner Mutter, lud ich den ganzen Frust ab. Jahrzehnte später, bei einer Reise zur Vierschanzentournee in Österreich, erlebte ich übrigens genau das Gleiche. Unser Chefreporter, Parteisekretär, einer von den ganz Scharfen, die keine Gelegenheit ausließen, uns zu schurigeln und fehlende Parteimoral vorzuwerfen, ausgerechnet der versuchte mit kleinen, miesen Tricks, seine Spesen zu Lasten des DDR-Fernsehens um ein paar Westmark aufzubessern. Auch da war ich über die Maßen empört, aber auch da sagte ich nichts, sondern heulte mich nur bei meiner Frau und in meinem Tagebuch aus (später habe ich den Betrug dann doch offiziell zur Sprache gebracht, aber da flog mir das selbst um die Ohren, in mehrfacher Hinsicht, vermutlich werde ich noch darauf zu sprechen kommen).
Die vier schönsten Jahre
Ich war nun 14, ging in die achte Klasse. Damals war es üblich, nach 8 Jahren die Schule zu verlassen und in die Lehre zu gehen, oder, wenn die Leistungen es zuließen, auf die zwölfklassige Oberschule zu wechseln. Aber Oberschule würde bedeuten, dass ich meiner Mutter noch vier Jahre länger auf der Tasche läge. Das wollten wir beide nicht, meine Mutter nicht und ich auch nicht. Wir gehörten noch immer zu den Ärmsten, es war wichtig, dass ich bald mein eigenes Geld verdiente. Doch dann schloss ich die 8.Klasse mit »sehr gut« ab und wurde Zweitbester der Klasse. Eines Tages kam einer meiner Lehrer ins Haus, und er bearbeitete meine Mutter so lange, bis sie schließlich nachgab. Ich wurde Oberschüler.
Die folgenden vier Jahre haben in meinem Lebensrückblick den Umfang einer ganzen Epoche, sie sind in der Erinnerung noch heute, nach mehr als 50 Jahren, von einem Glanz überzogen, dass ich sicher bin, es war die interessanteste, vielleicht die schönste Zeit in meinem Leben. Etwa gleichlange Lebensabschnitte, auch durchaus freudvolle wie etwa meine Zehnkämpferjahre, haben sich nicht im Entferntesten so tief in meine Seele eingegraben. Und schon gar nicht das Studium, diese vier dumpfen Jahre, die sich unmittelbar an die Oberschulzeit anschlossen.
Wir waren die Klasse 9 B 2, und irgendwie passten wir von Anfang an zusammen. Fast alle sportlich, die meisten fröhlich, ein paar – dennoch nicht unangenehme – Streber, eine gute Mischung von insgesamt 28 Jungs und Mädchen, wir fühlten uns wohl. Es ist sicherlich kein Zufall, dass noch heute, nach mehr als 50 Jahren, zu den Klassentreffen fast alle zusammenkommen – so sie noch leben, dieser Zusatz ist leider nötig. Und ich nehme auch nicht mehr teil. Aber dazu später.
Unsere wichtigsten Lehrer waren nur wenig älter als wir, sie gehörten zu jener Neulehrergeneration, von der hier schon die Rede war, allerdings besaßen sie nun doch schon eine fundierte Ausbildung. Herr Reichel, der Klassenlehrer, hatte uns voll im Griff, »Eminenz Wiegand« hingegen, unsere Englischlehrerin, ebenfalls noch herzlich jung und zudem ledig, wurde von uns nie richtig ernst genommen. Diese Rollenspiele stellten sich in den ersten Tagen ein und veränderten sich dann nicht mehr.
Das Lernen geschah bei den meisten eher nebenbei. Wir passten im Unterricht auf, unser junges, noch zuverlässiges Gedächtnis speicherte das Gehörte, und wir erledigten mehr oder weniger sorgfältig unsere schriftlichen Hausaufgaben. Das wars. Vor wichtigen Arbeiten oder Prüfungen setzten wir uns zwar auch mal zu Hause hin und büffelten, aber im Normalfall vergeudeten wir unsere Freizeit nicht auf diese Weise. Wir trieben viel Sport – ich Handball, Faustball und Leichtathletik –, wir unternahmen auf unseren alten, zusammengesuchten Fahrrädern Ausflüge, manchmal bis in den Harz, und wir gingen auf die Pirsch. Zumindest wir Jungen. Am frühen Abend trafen wir uns, häufig bei uns zu Haus, weil wir günstig wohnten, und dann flanierten wir durch die Innenstadt. Einen Kilometer auf der einen Straßenseite hin, einen Kilometer auf der anderen Seite zurück. Immer in der Erwartung, Mädchen zu begegnen. Und sonntags, am Nachmittag zwischen 16 und 18 Uhr, gings zum Kindertanz.
In jener Zeit gab es auch das Wahnsinnsereignis, meinen ersten Kuß. Es geschah während eines Ferienlagers. Ich war mit meiner Klassenkameradin Lydia, an der ich bis dahin nur mittelmäßig interessiert war, in der Dämmerung spazieren gegangen. Als es so spät geworden war, dass wir ins Haus mussten, gab sie mir zum Abschied blitzschnell einen Kuß auf die Wange. Explosion! Explosion in Kopf und Herz! Ich war aufgewühlt wie noch nie in meinem Leben, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, ich fieberte am nächsten Morgen der Begegnung mit ihr entgegen. Aber sie – beachtete mich nicht. Sah durch mich durch. Ich konnte das nicht begreifen, meine junge Seele wurde gebeutelt von bitterem Liebesschmerz, es war grausam. Fortan liebte ich Lydia. Sieben lange Leidensjahre. Von 1954 bis 1962. Auch dazu später mehr.
Der 17.Juni in der Einbahnstraße
In diese ersten Jahre der Oberschulzeit fiel auch der 17.Juni 1953, jener Volksaufstand, der, so sagt man, das ganze Land erschütterte. Bei uns in Staßfurt jedoch, oder zumindest in meinem Umfeld, war wenig davon zu spüren. Gut, meine Mutter war ängstlich und unpolitisch, mein Opa Kommunist, da war in der Familie wenig zu erwarten. Aber auch in der Schule, wenn ich mich recht erinnere, gab es keine Aufregung.
Ich weiß noch, daß ich am Nachmittag des 17.Juni gemeinsam mit meiner Mutter aus dem Fenster gesehen habe (zwei Kissen auf dem Fensterbrett und gucken, was draußen los ist). Zunächst gab es nichts Auffälliges, aber dann geschah Unerhörtes: Eine Anzahl von Militärfahrzeugen kam die Löderburger Straße entlang, das ist eine Einbahnstraße, und die Kolonne fuhr, geradezu unglaublich, entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung! Damit wurde mir schlagartig klar, dass irgendetwas aus den Fugen geraten war. Aber dabei blieb es. Mehr habe ich in unserer Kleinstadt nicht bemerkt vom 17.Juni 1953.
Überhaupt habe ich Schwierigkeiten, mich an politische Dinge in jener Zeit zu erinnern. Immerhin waren wir – ausnahmslos übrigens – FDJler geworden, vermutlich gabs Versammlungen und politische Schulungen, aber nichts davon ist haften geblieben. Die Erinnerungen an jene Zeit sind geprägt von Jugendfreundschaften, von Sport, Mädchen, Trinken, auch ein bisschen Schule. Die Politik, die FDJ, die Unterdrückung kritischer Meinungen, die es damals gewiß auch schon gab, spielen zumindest in der Rückbesinnung keine Rolle. Eins fällt mir in diesem Zusammenhang jetzt doch noch ein. Es gab an unserer Schule einen Lehrer namens Dr. Z., einen unangenehmen Bürokratentyp, der sich dadurch einen Namen machte, dass er das Hohelied der Partei besonders hörbar sang und jeden Abweichler streng verwarnte. Ausgerechnet dieser Dr. Z. verschwand eines Tages Richtung Westen – die Mauer gab es in den 50er Jahren ja noch nicht. Logisch, dass wir danach unsere Lehrer mit Fragen nach der Glaubwürdigkeit nervten.
Zum Thema Politik vielleicht auch das noch: Mein Opa, Kommunist, wie gesagt, verschloß störrisch die Augen vor all den Unzulänglichkeiten des sozialistischen Versuchsprogramms. »Übergangsschwierigkeiten«, behauptete er (eine Erklärung, die wir später jahrzehntelang auch von den Parteioberen hören durften). Mit der Kritik an den derzeitigen Zuständen also brachten wir den Opa nicht aus dem Gleichgewicht. Unsicher und fast ein wenig hilflos aber wurde er, wenn wir ihn fragten, weshalb er als Kommunist nicht gegen Hitler gekämpft hatte. Weshalb er passiv und geduckt den Faschismus ertrug und sich erst danach wieder zu seiner Überzeugung bekannte. Mit anderen Worten, weshalb er nicht sein Leben riskiert hatte und zum Märtyrer geworden war.
Ich werde heute noch schamrot, wenn ich mir vorstelle, mit welcher Unverfrorenheit ich ein solches Ansinnen an den alten, gutmütigen Mann stellte. Schamrot vor allem, weil ich später auf meinem eigenen Lebensweg vor viel geringeren Bedrohungen einknickte.
Oh Gott, das Tagebuch
Jetzt wird’s verrückt!
Im Januar 1956, also noch während der gerade besprochenen Oberschulzeit, hatte ich begonnen, Tagebuch zu führen. Diese ersten Aufzeichnungen habe ich jetzt, just in diesen Minuten, nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder gelesen. Deshalb dieses Erschrecken. Ich bin ratlos! Gerade noch habe ich die 4 Jahre Oberschule als die in der Erinnerung interessantesten, unbeschwertesten, vielleicht schönsten meines Lebens bezeichnet. Und nun lese ich da von permanenten Auseinandersetzungen mit den Lehrern, von gelegentlichem Balancieren am Rande des Schulverweises, es geht hin bis zu summarischen Äußerungen in dem Sinne »..ich bin froh, wenn ich die ganze Scheiße endlich hinter mir habe!« Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass nur Sport, Mädchen, Kameradschaft, Freizeit, all das Schöne also, im Gedächtnis haften geblieben sind, und die damals genau so wichtigen fragwürdigen Begebenheiten, u.a. eben der permanente Kampf des aufsässigen Heranwachsenden mit den Autoritäten, einfach nicht mehr auffindbar sind? Dass sie für alle Zeiten verloren wären, wenn ich sie damals nicht aufgeschrieben hätte? Vielleicht stimmt es dann auch nicht, dass die Politik bei uns damals kaum eine Rolle spielte. Vielleicht habe ich auch das einfach nur vergessen (mein Tagebuch Nr.1, das ich ja leider erst im letzte halben Jahr der Oberschulzeit zu schreiben begann, lässt das zumindest vermuten).
Wie nun weiter hier mit diesen Aufzeichnungen? Das Lebensbild weiter aus dem Gedächtnis zeichnen und damit möglicherweise eine milde Verklärung in Kauf nehmen, oder aber sich an die Texte von damals halten? Wahrscheinlich sollte ich das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wenn das möglich ist. Zunächst bin ich einigermaßen irritiert.
Und nun noch einmal ein »Oh, Gott!«, das heißt, die Überraschungen nehmen kein Ende. Inzwischen habe ich Tagebuch Nr.1 bis zum Ende gelesen und bin erneut aus allen Wolken gefallen: Bis heute war ich der festen Überzeugung, meine Unschuld erst im Laufe des Studiums in Halle an eine Kommilitonin verloren zu haben. Wenn ich jedoch meinen Aufzeichnungen Glauben schenken darf, und weshalb sollte das ich nicht, gab es das wundersame Ereignis schon während der Oberschulzeit, im Frühling 1956, als ich noch mit einem ganz anderen Mädchen verbunden war. Kann man so etwas vergessen oder, noch schlimmer, verwechseln? Ist das Gedächtnis tatsächlich so erschreckend unzuverlässig? Denkbar wäre allenfalls, dass es damals, im Frühling, vielleicht »nicht so ganz richtig« geschehen war. Was ich erst später beurteilen konnte, als ich dann zweifelsfrei wusste, wie es geht. Ich könnte ja mal nachfragen, aber das traue ich mich nicht. Immerhin ist die Dame inzwischen ebenfalls Rentnerin (und weiß es möglicherweise auch nicht mehr).
Ach,Lydia
Übrigens, obwohl es damals die Mauer mit Stacheldraht und Todesstreifen noch nicht gab, existierte sie in gewisser Weise doch schon. Wir waren »hier«, das andere war »drüben«. Da stimmen Gedächtnis und Tagebuch ausnahmsweise überein. In der Regel focht mich diese Trennung nicht sonderlich an. Der Westen war zu weit weg, wir hatten dort kaum Verwandte und das Westfernsehen mit seinen Verlockungen gab es auch nicht, weil wir uns noch keinen Fernseher leisten konnten.
Aber irgendwann wurde aus der gleichmütig ertragenen deutschen Teilung auch für mich bitterer Ernst.
In der 12.Klasse entschied sich Lydia, nachdem sie sich jahrelang erfolglos um meinen Klassenkameraden Toni bemüht hatte, schließlich doch für mich. Siebter Himmel! Wir verbrachten jede freie Minute miteinander, am Wochenende gingen wir tanzen, regelmäßig verpasste sie den letzten Zug in den Nachbarort, in dem sie mit ihrer Mutter wohnte, natürlich brachte ich sie in tiefer Nacht zu Fuß nach Haus, fünf Kilometer hin, fünf Kilometer zurück, alles war schön, alles war wunderbar, ich war glücklich, ob sie es ebenfalls war …….ich weiß nicht so genau.
Dann nehmen die Dinge ihren Lauf. Mitte der 50er Jahre wurden die letzten deutschen Soldaten aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen, die sogenannten »Spätheimkehrer«, unter ihnen auch Lydias Vater. Der ging, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu seiner Familie in den Osten, sondern nach Hamburg. Es gehörte wohl zu den Abmachungen, die Bundeskanzler Adenauer damals mit den Sowjets ausgehandelt hatte, dass Familienzusammenführungen auch über die innerdeutsche Grenze gestattet wurden. Lydia und ihre Mutter konnten also, wenn sie wollten, nach Hamburg übersiedeln. Sie wollten.
Ich war der Entwicklung hilflos ausgeliefert und glitt langsam und unaufhaltsam in Richtung Abgrund.
Wenige Wochen nach dem Abitur war es so weit. Die letzten drei Tage vor ihrer Abreise gehören, denke ich, zu den schwersten, die ich je erlebt habe. Es gab für mich keinen Zweifel, dass es eine Trennung für immer sein würde. Das allein war schon schwer genug. Aber dass sie sich schließlich nicht von mir verabschiedete, mich die letzten Tage wie im Fieberwahn auf sie warten ließ, und dass sie mir später nicht ein einziges Mal schrieb, das war Folter.
Ich habe darunter gelitten, jahrelang, und so heftig, wie eine junge Seele nur unter Trennungsschmerz leiden kann.
Ich hätte ihr nachreisen können, wie gesagt, die Mauer gab es noch nicht, und so ungewöhnlich wäre das auch gar nicht gewesen, von unserer Klasse gingen nach dem Abitur insgesamt 7 nach dem Westen, das war ein Viertel aller Schüler und damals eine übliche Quote.
Aber meine Mutter, den Rest meiner Familie, alle Freunde, praktisch mein gesamtes Lebensumfeld vermutlich für immer zu verlassen, das kam mir, bei allem Schmerz, nie ernsthaft in den Sinn. Ich war eben ein Muttersöhnchen. Politische Überlegungen jedenfalls, da bin ich sicher, hielten mich nicht ab von einer Flucht in den Westen.
»Kannst Du mir sagen, wie spät es ist«
Das Leben ging weiter, natürlich weinte ich mich in meinem Tagebuch aus, aber gottseidank hielt ich auch anderes fest. Ich arbeitete in den Ferien nach dem Abitur für ein paar Wochen in einer kleinen Maschinenfabrik als Hilfsarbeiter, für einen Stundenlohn von 1,02 Mark. Mein erster Arbeitsplatz war eine Stanzmaschine, ich glaube, ich stellte Konservenbüchsen aus Weißblech her. Am Anfang schaffte ich gerade mal 60 % der vorgegebenen Stückzahl, später waren es 80 %, und als ich mich nach einer Woche endlich so eingearbeitet hatte, dass ich die Norm erfüllte – bekam ich eine andere Aufgabe.
Ein Jahr zuvor hatte ich einen besser bezahlten Ferien-Job gehabt. Ich schob in unserem Salzbergwerk, 600 m unter der Erde, die mit Kalisalz beladenen Hunte in den Förderkorb. Das war eine schwere Arbeit, aber sie machte mir nichts aus. Ich war Sportler und betrachtete die Schufterei als eine Art Training. Dennoch war ich wie erlöst, als die vier Wochen vorbei waren. Jeden Morgen halb fünf aufstehen, dann der Aufenthalt unter der Erde, ohne Tageslicht, ohne zu wissen, ob es draußen regnet oder die Sonne scheint, nur immer in feuchter, zugig-kalter Funzel-Dämmerung, nicht ein Freund dabei, von den erwachsenen Kumpels wurde man nicht ernstgenommen, abends ausgehen war auch nicht drin, weil man dann am nächsten Morgen erst recht nicht aus dem Bett kam – nein, die Zeit »im Schacht« war nichts für mein jugendliches Gemüt, ich wurde fast schwermütig.
Zudem hätte ich damals schon beinahe das Zeitliche gesegnet. Es war eins der wenigen Male in meinem Leben, dass ich meinte, es könne ein Schutzengel über mich wachen. In dem Kali, das wir aus dem Berg holten, gab es hin und wieder kleine, schmierig-weiße Klumpen, Borax hieß das Zeug, ich weiß bis heute nicht, wofür man es braucht. Wir sammelten die Stücke von den Hunten ab, weil es dafür ein paar Extra-Pfennige gab. Irgendwann steht der Hunt schon im Förderkorb, als ich noch ein Stückchen Borax entdecke. Türen gibt es nicht vor der Schachtöffnung, nur, etwa in Brusthöhe, eine Querstange. Ich krieche hastig mit dem Oberkörper zwischen Stange und Hunt weit in den Korb hinein, um den weißen Klumpen zu erreichen. Im selben Augenblick gibt der »Anschläger« das Signal zur Abfahrt. Normalerweise dauert es danach keine Sekunde, bis der Förderkorb ruckartig nach oben rast. Der Mann an der Klingel sieht, dass ich noch halb im Korb hänge, er schreit auf und drückt blitzartig das Notsignal. Der Korb bleibt stehen, alles gut, nichts passiert. Im anderen Falle hätte mich die Stange vermutlich halbiert.
Ich nutzte nahezu jeden Urlaub, um mein karges Taschengeld aufzupäppeln
Irgendwann war ich in unserer Sodafabrik Kohlefahrer, ich musste einen riesigen, ewig kreischenden Drehrohrofen bestücken. Während der Nachtschicht arbeitete ich mit einem Mann zusammen, der weder lesen noch schreiben und sich nicht einmal nach der Uhr richten konnte. Wir besprachen den Fall. Da das mit dem Lesen und Schreiben in der Kürze der Zeit aussichtslos wäre, überredete ich ihn, sich von mir wenigstens die Uhr erklären zu lassen. Und tatsächlich – nach Ablauf der Woche konnte er mir, wann immer ich ihn fragte, sagen, wie spät es ist. Wir waren beide ein bisschen stolz.
Wir gingen damals – Fernsehen gabs für uns noch nicht – oft ins Kino, gelegentlich sogar ins Theater. Die Preise waren erschwinglich. Und ich las noch immer viel.
Irgendwann war ich auf Tucholsky gestoßen. Ich beschaffte mir alles, was irgendwie von ihm zu bekommen war, auch gute Bücher gehörten in der DDR zur Mangelware. Meine Mutter, die vorher vermutlich den Namen Tucholsky gar nicht gekannt hatte, half mir bei der Suche. Tucholskys »Rheinsberg« war schließlich das erste der Bücher, vor denen ich kniete, das zweite wurde ein paar Jahre später »Das Bildnis des Dorian Gray« von Oskar Wilde, insgesamt kommt bis heute gerade mal ein halbes Dutzend Bücher zusammen, die mich derart faszinierten. Irgendwann war es »Baumeister der Welt« von Stefan Zweig und schließlich als letztes »1984« von George Orwell. Das hatte ich mir Anfang der 80er Jahre unter konspirativen Umständen aus dem Westen besorgt. Die unaufhaltsame, konsequente Zerstörung von Persönlichkeit durch den »Großen Bruder«, und dass die Zerstörten ihn schließlich lieben, beschäftigt mich immer noch, insbesondere jetzt, da ich dieses Manuskript hier verfasse. Nach der Wende hat mich kein Buch mehr in dieser Weise berührt, allerdings lese ich seitdem auch kaum noch.
Kein Fehler lastet mehr auf meiner Seele
Am Ende der Oberschulzeit leiste ich mir ein Fehlverhalten, von dem ich mehr als von allem anderen wünschte, ich könnte es rückgängig machen. Zum Abschluss des letzten Oberschuljahres gab es den traditionellen Abi-Ball. Das war in unserer Kleinstadt ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis, zu dem nicht jeder zugelassen war. Wir Abiturienten, unsere stolzen Eltern und unsere Lehrer, viel mehr Leuten wurde diese Ehre nicht zuteil. Am Tag vor dem Ball habe ich Streit mit meiner Mutter. Es geht um Geld. Das ist nichts Ungewöhnliches, ich werfe ihr immer mal wieder vor, dass sie nicht richtig wirtschaftet. Diesmal geht es darum, dass sie, obwohl wir Schulden haben, für eine kleine Familienfeier sündhaft teuren Bohnenkaffee gekauft hat. Sie wird wütend, wie immer in solchen Auseinandersetzungen. Als ich gegenhalte, steigert sie sich, und schließlich schreit sie, dass ich ihre Karte für den Abi-Ball »...in die Bode werfen....« könne. Am nächsten Tag ist Funkstille zwischen uns, keiner bricht das Eis, und so gehe ich tatsächlich am Abend ohne sie zum Ball. Als ich die Wohnung verlasse, bricht sie in Tränen aus.
Erst später kommt mir zum Bewusstsein, was ich angerichtet habe. Welch grandioser Undank. Vier Jahre lang hat sie gedarbt, um mir die Oberschule zu ermöglichen. Mein Abitur ist auch ihr Erfolg. Bei dem Ball will sie das feiern und genießen. Sie hat ja sonst kaum irgendwelche Erfolgserlebnisse. Und ich nehme sie nicht mit. Ich hab in meinem Leben vieles falsch gemacht. Aber kein Fehler, wirklich keiner, lastet mehr auf meiner Seele. Immer noch, nach nunmehr über 50 Jahren.
1977 starb meine Mutter, ich verehre sie, und eigentlich um so mehr, je länger sie nicht mehr ist. Sie war ein Kriegskind, wurde 1914 geboren, der Vater starb an der Front, sie hat ihn nie gesehen. Ihre Mutter, meine Großmutter also, kam mit ihr und ihren zwei Schwestern ins Armenhaus. Irgendwann starb auch diese Mutter, danach nahm ein Onkel, der in kinderloser Ehe lebte, sich der Waisen an. Meine Mutter schloss die Volksschule ab, danach ging sie bei einem Fleischermeister »in Stellung«, das heißt, sie wurde Dienstmädchen. Das war damals üblich bei Mädchen aus den ärmeren Volksschichten. Eine Lehre zu beginnen, wäre ungewöhnlich gewesen. Später, als junge Frau, geht meine Mutter als Arbeiterin in die Zündholzfabrik (sie lebt in Coswig/Anhalt). Damals lassen sich die Streichhölzer noch an jeder Schuhsohle entzünden, irgendwann steht ihre Packmaschine in Flammen, meine Mutter erleidet schwere Verbrennungen an Armen und Gesicht. Sie hat Angst, für ihr Leben entstellt zu sein, aber irgendwie schaffen es die Ärzte, die Haut so wiederherzustellen, dass nichts zu sehen ist. Es herrscht Kapitalismus pur, es wird nichts getan, um die Maschinen sicherer zu machen, nach einem Jahr steht meine Mutter wieder in den Flammen.
Aber irgendwann hat auch sie mal Glück – sie lernt meinen Vater kennen, einen Laboranten, der in der Nähe von Coswig beim Arbeitsdienst ist. Die beiden heiraten, ich komme zur Welt, sie ziehen nach Staßfurt, in die Heimatstadt meines Vaters. Damit ist es jedoch schon wieder vorbei mit dem Glück. Mein Vater wird gleich zu Kriegsbeginn eingezogen, der Rest ist bekannt.
Irgendwann in der 11.Klasse hatten wir äußern müssen, »was wir mal werden wollen«. Erste Entscheidung – Studium oder Lehre? Das war bei mir eigentlich keine Frage, denn wozu sonst hätte ich wohl das Abitur machen sollen, wenn nicht als Voraussetzung für ein Studium. Zweite, viel schwierigere Frage – w a s studieren? Nirgendwo zeigte sich meine fehlende Reife (Spätentwickler, wie gesagt) mehr als bei der Berufswahl. Dabei hatten sich doch meine Neigungen und Talente schon mehr oder weniger deutlich gezeigt – Sport, Schreiben, Psychologie. Da tat ich mich hervor bzw. das interessierte mich. Und alles wäre möglich gewesen. Ich war Arbeiterkind und hatte ganz ordentliche Noten. Keine Frage, dass ich hätte Sport studieren können, wahrscheinlich auch Journalistik, und vielleicht sogar Psychologie, da bin ich allerdings nicht sicher, weil das dem heißbegehrten Medizinstudium nahe kam.
Und was tue ich Idiot – ich bewerbe mich an der Uni Halle für das Fach Ökonomie. Da wird man Büro-Furzer, Hauptbuchhalter oder so etwas Schlimmes. Ich kann nicht sagen, welcher Teufel mich geritten hatte. Meine Mutter oder vielleicht sogar die Oma hatten besorgt gemeint, wenn ich Sport studierte und mir mal ein Bein bräche und das wüchse nicht mehr richtig zusammen, hätte ich keine Arbeit mehr. So ein Blödsinn. Arbeitslosigkeit war in der DDR bis zu ihrem Ende eine völlig unbekannte Größe.
Egal, ich bewarb mich an der Martin-Luther-Universität Halle, Fachrichtung Finanzökonomie, hatte das Pech, angenommen zu werden und bescherte mir damit vier Jahre, die heute in meiner Erinnerung wie ein schwarzes Loch sind
Die bösen Studenten-Jahre
Der Frust begann bereits in den ersten Stunden. Es war Montag, die erste Vorlesung überhaupt gab es in Politischer Ökonomie, unserem Hauptfach. Als ich die vier Stunden hinter mir hatte, war mir klar – ich bin hier fehl am Platze. An diesem Urteil änderte sich nichts mehr, vier Jahre lang, bis zum Schluß. Was ich hier lernen sollte, interessierte mich nicht, mit Ausnahme einiger Philosophie-Passagen vielleicht. Alles andere ging an mir vorbei, das wollte ich nicht wissen. Ich habe immer seltener teilgenommen an den Lehrveranstaltungen, ging zu Vorlesungen kaum, zu Seminaren nur dann, wenn die Anwesenheit kontrolliert wurde. Natürlich bekam ich Ärger, Prüfungen wurden zu Balance-Akten, wegen schwacher Leistungen drohte permanent die Exmatrikulation, hinzu kamen politische Repressionen, lächerliche zum Teil, aber natürlich ebenfalls existenzbedrohende, es war eine böse Zeit.
Es wäre naheliegend gewesen, das Martyrium vorzeitig zu beenden, das Ökonomie-Studium abzubrechen und umzusatteln, vielleicht nun doch zum Sport oder zur Journalistik.Wie einleuchtend besonders das Letztere gewesen wäre, mag ein erster Ausschnitt aus meinem Tagebuch beweisen, es ist praktisch eine Art Sportreportage über meinen ersten 6-m-Sprung als Jugendlicher, es war Kreisrekord, geschrieben übrigens schon damals instinktiv mit jenen Mitteln, die später meine journalistische Arbeit insgesamt prägten – so dicht herangehen an das Geschehen, wie es nur geht, um durch Nähe eigentlich unauffällige Details interessant zu machen.
Tagebuch vom 24.9.56
Beim dritten Sprung jagte ich im Anlauf alles raus, was ich hatte, musste zuletzt aber, um das Brett zu treffen, noch einen etwas größeren Schritt machen, so dass mir etwas Kraft verlorenging, drückte mich kräftig und hoch hinaus, und hatte zum ersten Mal beim Weitsprung das Gefühl, zu schweben. Ich spreizte in der Luft etwas die Beine, warf die Arme hoch, zog die Beine an und landete vorschriftsmäßig in tiefer Hocke. Gemessen wurden 6,01 m!
Es wäre schon logisch gewesen, auf Sport oder Journalistik umzusteigen, aber ein Studium nicht zu beenden, das Fachgebiet wechseln zu wollen, galt in der DDR als Vergehen. Es wurde bös geahndet, zumeist mit einem jahrelangen Schmoren, Bewährung genannt, in der »Produktion«, also als Arbeiter in einer Fabrik. Es war schwer abzusehen, wann man eine neue Chance, einen neuen Studienplatz bekäme. Das hätte ich für mich vielleicht noch hingenommen, aber meiner Mutter konnte ich das nicht antun. Sie hatte jahrelang erhebliche Entbehrungen auf sich genommen, als sie mir den Weg zum Abitur ermöglichte. Dass ihr Sohn jetzt studierte – um am Ende dann ein »Studierter« zu sein – war gewissermaßen der Lohn für ihre Mühe. Ein ordentliches Studium mit einem richtigen Abschluss wäre meine Gegenleistung für das, was sie für mich getan hatte. Ich konnte einfach nicht aufgeben.
Als ich schließlich – mit der schlechtestmöglichen Note – meine letzte Diplomprüfung bestanden hatte, war dann auch das erste, was ich als frischgebackener Akademiker schrieb, ein Telegramm an meine Mutter. Ich weiß den Text noch heute: »Es grüßt Diplomwirtschaftler Horst Mempel.«
Mehr als die letzte halbe Seite wüsste ich eigentlich nicht zu schreiben zu meiner ungeliebten Studienzeit.
Auch hier will ich nun mein Tagebuch befragen...
Diesmal gibt es keine Überraschungen, ich habe im Prinzip das meiste bestätigt gefunden. Nahezu alle konkreten Begebenheiten, die ich damals festhielt, unterstützen meinen summarischen Eindruck – es war eine böse Zeit.