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Mandy Lensey

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Beschreibung

Die Journalistin Lea wird von wiederkehrenden Albträumen gequält. Als die Motive daraus sich in ihr Leben schleichen, möchte sie die Ursache dafür finden, ohne zu wissen, in welche Gefahr sie ihre Psyche damit bringt. Denn je länger sie forscht, desto stärker wird die Frage: Ist ihr Leben echt – oder der Traum ihr Leben?

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Ähnliche


 

HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

04/2023

 

Surreal - An den Grenzen der Realität

 

© by Mandy Lensey

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design

Lektorat: Nicky DeMelly, Matthias Schlicke

Korrektorat:Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: privat

 

Coverbild ›Aljizar – Das Folterhaus‹

© 2021 by Creativ Work Design / Coverbild: Datei-Nr. 192894435 Portrait of beautifulgirl, Bild-nachweis: olly

Coverbild ›Mein ist die Strafe‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Auf Null gesetzt‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Dämonenritt‹

© 2021 by Creativ Work Design

Stock-Fotografie-ID:509859337 / Bildnachweis:D-Keine

Lizenzfreie Stockfoto Nummer: 2025647777 / Bildnachweis: FO-TOKITA

Stock-Fotografie-ID:1181216754 / Bildnachweis: mputsylo

 

ISBN 978-3-96741-182-9

 

www.hybridverlag.de / www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Mel Louis

 

Surreal

An den Grenzen der Realität

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Hybrid Verlag …

 

Kapitel 1

 

Ela

 

»Dachtest du, ich würde es nicht merken? Wie du diesen schwachsinnigen Lehrer anhimmelst?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Ihre Stimme drang kaum bis ins Kinderzimmer. Elas Instinkt schlug Alarm. Die Situation durfte nicht außer Kontrolle geraten!

»Du Schlampe, bestimmt hast ihn schon gefickt!«

Die Situation geriet außer Kontrolle. Sein Unterton verriet es, die Schwelle zur Vernunft war schon längst überschritten. Nun gab es nichts mehr, das ihn stoppen konnte. Das Herz schlug ihr heftig in der Brust. Heute stand alles auf dem Spiel! Nein, verdammt, es durfte nicht schief gehen!

Es polterte dumpf, gefolgt von einem spitzen Schrei.

Ela schlug die Decke beiseite, sprang zur Tür und mit einem Auge spähte sie in das Wohnzimmer.

Die Mutter schrie. Sie lag auf dem Rücken am Boden, die Arme schützend vor dem Kopf. Karl schlug auf sie ein, ein widerliches Lächeln umspielte seine Lippen. Wie sie dieses Lächeln hasste! Wie sie ihre eigene Schwäche hasste!

Er war ihnen körperlich weit überlegen und, verdammt, sie wusste, was er als Nächstes tun würde. Schon riss er an den Leggings der Mutter und öffnete seinen Gürtel. Die feine Anzughose rutschte herunter.

»Brauchst mal wieder ’ne Lektion!«

Ihr Wimmern konnte Ela nicht verstehen.

Karl beugte sich zu ihr hinab. Strähnen, die sich aus der Verankerung des Haarsprays lösten, hingen ihm wild ins Gesicht.

»Mama. Wehr dich«, flüsterte Ela.

Die Tränen flossen lautlos, tropften auf das hellblaue Nachthemd und hinterließen dort dunkle Flecken.

»Wehr dich doch endlich!«

Die Mutter trat mit einem klagenden Laut purer Verzweiflung nach ihm und traf Karl am Schienbein. Er jaulte auf, presste seine Hände fest auf die Stelle.

Ela jubelte leise.

Ihre Mutter versuchte davon zu robben, doch schnell setzte der Vater ihr nach.

In ihren Ohren rauschte das Blut. Sie musste etwas tun. Sofort! Ihr ganzer Körper zitterte und dann tat sie, was Karl ihr schon ein Leben lang einbläute — sie schob die Angst beiseite. Schnell wirbelte sie herum und durchsuchte ihr Zimmer nach etwas, das sie gegen ihn einsetzen konnte.

Dann fand sie es. Ihre Hände zitterten, als sie das kalte Glas umklammerten. Die Flasche wog schwer und wie einen Baseballschläger schwang sie das Ding. Rasch huschte sie ins Wohnzimmer. Karl drehte ihr den Rücken zu und sah sie nicht kommen.

Ein Schlag, dann ein zweiter, und er sackte zusammen wie ein nasser Sack.

Ela starrte auf den am Boden liegenden Mann, blendete alles um sich herum aus. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihre Mutter aufgestanden war und nun mit einem Zittern in der Stimme drängte: »Schnell, Ela!«

Karl stöhnte.

Verrecke Arschloch.

»Ela. Wir müssen weg.«

Wie von weit her hörte sie ihre Stimme, spürte, wie die Mutter sie an den Schultern packte und schüttelte.

»Wir müssen hier verschwinden!«

All die Jahre waren ihre Mutter und sie stumm geblieben. Stumm, wenn er sie schlug. Stumm, wenn er sie vergewaltigte.

Niemand hatte geholfen, niemand hatte hingesehen.

Doch heute sollte der Tag sein, an dem sich ihr Leben für immer veränderte.

Noch ehe sie begreifen konnte, was sie eben getan hatte, lief sie los, barfuß und im Nachthemd, hinaus, über Felder, durch den Wald …

 

 

Ela stolperte auf die Lichtung hinaus, gespenstisch leuchtete der Schnee im Sternenlicht.

»ELA!«, donnerte es durch den Wald.

Sein Ruf zerschnitt das Jaulen des Windes.

Ihr Kopf schoss herum und ihr Blick irrte zwischen den Bäumen umher. Eine eisige Böe riss an ihrem Nachthemd und biss ihr in die Haut. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Körper und schleppte sich voran. Schritt für Schritt. Sie stolperte, fiel auf die Knie und winselte. Mit einem Ächzen, das vom Wind davongetragen wurde, rappelte sie sich wieder auf die Beine.

Eine, höchstens zwei Minuten, dann würde er ihre Fußspuren entdecken. Sie schluchzte auf.

Hör auf zu heulen. Er kann deine Schwäche riechen!

»ELA? Wo bist du?«

»In der Hölle«, flüsterte sie.

Sie hob den Blick zu den Sternen und taumelte voran. Die kalten Lichter verschwammen hinter dem Schleier der Tränen, mit dem Handrücken schützte sie ihre Augen und blinzelte heftig.

Wer weiß, vielleicht ist das mein letzter Tag auf dieser scheiß Welt?

Karl, das kranke Schwein, jagte sie, ihr eigener verschissener Vater. Glaubte er wirklich, sie würde ihm antworten?

Er schlich wie ein Dämon durch den finsteren Wald, suchte ihre Spur, trieb sie in die Enge. Und dann … dann würde er über sie herfallen, ihr schlimme Dinge antun, schlimmer als der Tod.

Ela schauderte bei dem Gedanken und warf erneut einen Blick über die Schulter.

»Mama …« Ihre Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Tränen, die über blutleere Wangen rollten.

Es lief fast alles nach Plan. Nur dieses kleine Detail …

Nun stand Ela hier ganz allein.

»Ela! Ich kann dich sehen. Bleib, wo du bist!«

Ihr Kopf schoss herum. Eine dunkle Gestalt lief am Waldrand über die vom Mond erhellte Schneefläche.

Scheiße!

Weißer Atem stieg hektisch um sie herum auf. Sie konnte das blöde Schluchzen nicht unterdrücken, das ihr jedes Mal entfuhr. Er durfte sie so nicht sehen!

Die Hände zu Fäusten geballt schrie sie ihm entgegen: »Du hast sie umgebracht, du Schwein!«

Sie sehnte sich nach den Armen der Mutter — warm und geborgen. Der Wind flaute für einen Moment ab und sie hörte Schritte im Schnee. Er kam immer näher.

»Ela, komm her. Was machst du denn da?«, rief er.

Lieber wollte sie in der kalten Umarmung des Todes liegen, als ihm in die Hände zu fallen.

Der Wind drehte sich, zerrte an den Haaren, peitschte sie in ihr Gesicht, als wollte er ihr den Weg nach vorne weisen. Sie ging einen Schritt, dann zwei. Der Schnee auf dem Steg knirschte unter den Füßen. Ela humpelte los, dem Ende des Stegs entgegen, doch Karl rief etwas, das sie nicht verstand. Sie sprang.

Das Eis brach unter dem Aufprall wie eine Eierschale. Die Kälte schwappte über ihr zusammen, presste die Luft aus ihren Lungen. Sie strampelte verzweifelt, suchte Halt am Rand. Doch sobald sie sich daran hochziehen wollte, brach er weg. Der Schmerz, undefinierbar, durchbohrte jede Zelle; sie könnte genauso gut in kochendem Wasser liegen.

»Mama …«

Die Zähne schlugen heftig aufeinander. Ihre Gliedmaßen wurden mit jeder Bewegung schwerer, bald schon versagten Arme und Beine ganz den Dienst. Der Kampf schien ihr wie eine Ewigkeit, jetzt blieb die Zeit stehen.

Sie sank hinab in die dunkle Tiefe, der Trommelschlag des Lebens dröhnte noch in ihren Ohren.

Luft, alles in ihr schrie nach Luft, sie wollte nicht und dennoch öffnete sie den Mund. Der Tod kroch in ihren Körper und nahm ihr den Schmerz. In der Unendlichkeit schwebend dachte sie an Mutter.

»Meine Maus«, hörte Ela ihre zarte Stimme flüstern.

Das blaue Nachthemd umtanzte sie, wie der zarte Schein eines Engels. Eine plötzliche Wärme erfasste sie und trug ihre Seele mit sich in ein Reich voller Liebe und Geborgenheit. Auch die Mutter gehörte dazu. Sie wartete auf ihre Tochter, das spürte Ela.

Dann erfüllte Stille alles.

Und alles war nichts.

 

Kapitel 2

 

Lea

 

Lea bog in das Parkhaus des Senders ein und stellte ihr weißes Cabrio ab. Es war Montagmorgen. Ein kritischer Blick in den Rückspiegel und zwei geschickte Handbewegungen brachten die Frisur wieder in Ordnung — ein Nachteil, wenn man mit offenem Verdeck fährt. Mit einem Gähnen griff sie nach ihrer Tasche und dem Kaffeebecher, den sie von Zuhause mitgenommen hatte, und trank vorsichtig einen Schluck. Genug Zeit geschunden, ab in die Arbeit. Widerwillig schwang sie die Beine aus dem Auto und stöckelte zum Fahrstuhl. Laut hallten ihre Pfennigabsätze auf dem Beton wider.

Ich hasse diese Dinger.

Die High Heels würde sie am liebsten vom Fuß reißen und in den Müll werfen, aber in der Redaktion erwartete man ein gewisses Auftreten. Sie vermisste ihre Jogginghose. Ihre gute alte, labbrige Jogginghose.

Der Lift fuhr mit einem Ruck los und brummte, kündigte blechern den dritten Stock an.

Nerviges Teil!

Die Tür ging auf und sofort umfing sie der gewöhnlich laute Wirrwarr aus Stimmen, klickenden Tasten und klingelnden Telefonen. Für sie klang das wie Musik in den Ohren, auch wenn sie die Kleiderordnung für schwachsinnig hielt.

Jede Woche berichtete sie über ein gesellschaftlich angesagtes Thema. Der letzte Bericht handelte von der artgerechten Haltung von Nutztieren, denn der aktuelle Trend ging in Richtung Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein, was ihr sehr gefiel.

Worüber wollte sie diese Woche berichten? Vielleicht könnte sie ein anschließendes Thema hinterher schieben über die enormen Methangasausscheidungen der Tiere und die daraus resultierenden schädlichen Umweltfaktoren?

Viel Fleisch, viele furzende Viecher. Lea schmunzelte.

Sie bog links ab, lief an sämtlichen Schreibtischen vorbei, direkt auf den Konferenzraum zu. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr und, oh Überraschung, ihr Kollege Patrick stand vor ihr. Groß und gut gebaut, mit bernsteinfarbenen Augen, die Güte ausstrahlten. Ein netter, lästiger Kerl.

Sie spähte an ihm vorbei und sah durch die Glastür den pummeligen Mann, der sich rege mit Beata unterhielt. Ihr Chef Markus und seine unersetzliche rechte Hand. Die beiden leiteten den Sender und dirigierten ihre fleißigen Bienchen, wie Markus seine Angestellten gerne nannte, vom Büro oder Konferenzraum aus.

Beata lebte schon lange in Deutschland, doch ihr Dialekt verriet ihre osteuropäische Herkunft. Die schwarzen Haare trug sie zu einem Zopf gebunden, der ihr bis zur Hüfte reichte. Knallroter Lippenstift zierte ihren Mund und leider auch oft die Zähne. Übermäßiger Zigarettenkonsum war schuld an ihrer tiefen, kratzigen Stimme und den Falten in ihrem Gesicht. Beatas wahres Alter zu schätzen schien unmöglich und Lea wagte nicht zu fragen.

»Hey Lea! Markus wartet schon auf dich.«

Patrick kratzte sich am Hinterkopf und lächelte auf sie herab.

»Ja, offensichtlich.«

»Wie war dein Wochenende?«, fragte er.

»Gut.«

Sie schob ihn beiseite, doch so leicht wollte er nicht aufgeben.

»Schönes Wetter heute, stimmt’s?«

Lea schmunzelte. Süß, wie er sich bemühte, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

»Jaja, sehr schönes Wetter. Gibt’s sonst noch etwas?«

»Hast du später Lust auf ein Mittagessen?«

»Oh man, tut mir echt leid, Patrick, ich weiß leider nicht, was das ist.«

Sie zuckte mit den Schultern und ließ ihn stehen.

»Sowas tun Sterbliche, um am Leben zu bleiben!«, rief er ihr nach.

Ohne sich umzudrehen winkte sie ihm zu und verschwand hinter der Tür.

Patrick probierte es in regelmäßigen Abständen und sie bewunderte seine Ausdauer, aber eine Affäre mit einem Arbeitskollegen kam für sie nicht in Frage. Im Sender lauerten Schlangen und Aasgeier, die nur darauf warteten, dass jemand einen Fehltritt beging.

Markus brach sein Gespräch ab und drehte den Kopf zu ihr.

»Na, da bist du ja endlich!«

Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Lea spähte auf die Zeiger ihrer totschicken Analoguhr.

»Ich bin vier Minuten zu früh.«

»Normalerweise kommst du noch früher.«

»Hey, das mach ich freiwillig.«

»Hab mich dran gewöhnt.«

»Ach ja? Bekomm ich das dann auch bezahlt?«

»Guten Morgen, Liebes!«, grüßte Beata und rollte dabei das r.

Markus sah Lea an und lächelte wie ein kleiner Junge, der etwas im Schilde führte. Der Glanz in den blauen Augen, verriet seine Begeisterung.

»Ich habe heute Morgen mit einem Arzt der Uniklinik telefoniert. Er rief uns an, um zu fragen, ob wir Lust hätten, über seine Forschungen zu berichten.«

Beata rieb die Hände aneinander. »Das ist ein super Thema für die neue Freitagsshow, du musst …«

»Ist das nicht mehr meine Entscheidung?« Lea verschränkte die Arme vor der Brust.

»Doch, doch, Liebes! Aber dieses Thema wird dir sehr gefallen. Vertrau der guten Beata.« Beata grunzte belustigt und tätschelte Leas Schulter.

»Ja! Wir haben gleich zugesagt«, sagte Markus.

Lea schnaubte. »Ohne mich zu fragen?«

Vertraut legte Beata ihren Arm um Leas Schultern. »Wir kennen dich doch, Liebes.«

»So so, und worum geht’s?«

»Nahtoderfahrungen!«, sagte Markus.

Beide schauten sie erwartungsvoll an.

Lea schwieg und zog einen Stuhl heran. Sollten sie ruhig noch ein bisschen schmoren! Sie trank einen Schluck Kaffee, bevor sie den Becher betont langsam auf den Tisch stellte.

Das Kostüm spannte um ihren Bauch. Sie hätte das Teil wirklich eine Nummer größer kaufen sollen. Aber sie wollte einfach nicht zugeben, dass sie seit ihrer Schwangerschaft nicht mehr in eine XS passte.

»Was für ein Arzt soll das sein?«, fragte sie.

»Er heißt Doktor Stefan Friedrich und ist eigentlich Kardiologe. Er forscht seit dreißig Jahren im Bereich des Nahtods und kann erstaunliche Dinge berichten. Ich habe mir kurz ein paar davon angehört, aber besser, du sprichst gleich selbst mit ihm«, sagte Markus.

»Ich habe dir alle Infos auf deinen Platz gelegt, Liebes. Er wartet schon auf deinen Anruf.« Beata entblößte beim Lächeln ihre gelben Zähne.

Mit den Fingern knetete Lea ihre Stirn. Es ärgerte sie, dass die beiden über ihren Kopf hinweg entschieden, aber dieses Thema klang wirklich spannend. Wieso ist ihr diese Idee nicht gekommen?

»Ist gut, ich mach mich gleich an die Arbeit.«

»Hervorragend, Liebes. So, und jetzt geh ich erst einmal eine rauchen.« Dabei rollte sie das r besonders lang.

»Du warst doch eben erst«, rief Markus ihr kopfschüttelnd hinterher.

»Papperlapapp, das ist schon eine gute halbe Stunde her.«

Lea erhob sich aus dem Stuhl, zupfte ihr cremefarbenes Kostüm zurecht, dankbar, dass alle Knöpfe an Ort und Stelle blieben. Sie schnappte nach dem Kaffeebecher und verließ ohne ein weiteres Wort den Konferenzraum.

 

 

Kleine gelbe Zettel, in ordentlicher Druckschrift beschrieben, klebten an ihrem Monitor — das mussten Beatas Notizen sein. Darunter lag ein Papier, zerknittert und schlecht gefaltet, auf dem etwas in kryptischer Schrift gekritzelt stand — definitiv Markus’ Nachricht.

Lea verdrehte die Augen und legte den Zettel auf die Seite; er wusste genau, dass sie seine Notizen ignorierte, wenn sie unleserlich waren.

Und wie er das weiß.

Sie griff nach ihrer Tasche und wühlte darin herum, bis ihre Fingerspitzen die glatte Folie ertasteten. Mit einem Knistern zog sie den Schokoriegel heraus und legte ihn neben den Monitor.

Kaum hörbar huschte Beata an ihrem Schreibtisch vorbei, vermutlich auf dem Weg zum Raucherraum.

»Ui, Schokolade am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen«, sagte sie.

»Was, echt? Ich habe eher das Gefühl, die Dinger vergrößern meine Sorgen.«

»Dann iss einfach mehr davon.«

Sie war verschwunden, ehe Lea antworten konnte. Die zwang stattdessen ihre Aufmerksamkeit auf die Telefonnummer des Kardiologen.

»Doktor Stefan Friedrich«, las sie den Namen laut vor. Nie von dem gehört.

Mit dem Telefon in der Hand überlegte sie kurz und legte es zurück. Vielleicht wäre es besser, vorab ein paar Informationen zu sammeln, wie es ihr Job als Journalistin verlangte. Sollte der Arzt ruhig noch ein wenig warten. Sie klappte den Laptop auf und griff nach dem Riegel.

 

 

Die Recherchen nahmen den ganzen Vormittag in Anspruch. Das Thema nahm sie unglaublich gefangen. Sie gehörte keiner Glaubensgemeinschaft an, aber auch sie glaubte an eine höhere Macht. Die Vorstellung, nach dem Tod würde nichts als Schwärze existieren, behagte ihr nicht.

Erst, als am Nachmittag ein flaues Gefühl in ihrem Magen rumorte, klappte sie den Laptop zu.

Müde rieb sie mit den Händen über ihr Gesicht und warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk; halb vier.

Ihr Körper verlangte nach Zucker. Am besten dem schnellen, einfachen und ungesunden.

Hmm, ein Käsekuchen oder eins von den leckeren kleinen Plunderteilen, die es jeden Montag im Sonderangebot gibt.

Sie musste noch dringend einkaufen, bevor sie Jady aus dem Kindergarten abholte. Auf dem Weg dorthin gab es einen kleinen Bäcker, der leckere, selbstgebackene Teilchen anbot. Ihr Blick wanderte zu ihrem Bauch und den straffen Knöpfen, die warnend an dem Stoff des Kostüms zerrten.

Sie presste die Lippen aufeinander und grummelte.

 

 

»Mamaaaaa!«

Das kleine Mädchen jubelte und stürmte aus dem Gruppenraum heran, gefolgt von einer Schar Kinder und der jungen Erzieherin, deren Namen Lea immer wieder entfiel. Schweißperlen glänzten auf der Stirn der jungen Frau und ihr Blick wirkte gehetzt. Mit rudernden Armen stolperte sie hinter Jady her und kämpfte sich durch einen Hindernisparcours wuselnder Kinder. Lea kniete nieder und streckte die Arme aus, um Jady fest an sich zu drücken.

»Na Maus, hattest du einen schönen Tag?«

»Ja, total!«

Sie schob ihre Tochter auf Armeslänge von sich und blickte in das strahlende Gesicht.

»Wir gehen jetzt alle zurück in den Gruppenraum!«, rief die Erzieherin über das Geschnatter der anderen Kinder hinweg. Wie ein Hirte streckte sie die Hände aus und trieb alle zurück in den Raum. Die Tür krachte ins Schloss.

Lea atmete erleichtert aus, das wäre definitiv kein Job für sie.

Ihre Tochter zupfte an einer von Leas braunen Strähnen. »Du bist ja ganz verstrubbelt.«

»Wirklich?« Sie fuhr mit den Fingerspitzen durch ihre Haare und blieb hängen. »Egal, hab Feierabend. Hast du heute etwas Aufregendes erlebt?«

Liebe erfüllte sie, als sie das zarte Gesicht musterte. Jady besaß die gleichen Augen — mandelförmig und blau wie gefrorenes Eis. Die Erzieher nannten sie oft Engelchen, nicht zuletzt wegen ihrer blonden Locken und der blassen Haut. Und wahrhaftig, sie war ein kleiner Engel. Jedes Lebewesen behandelte sie respektvoll und mit Empathie, schloss schnell Freundschaften mit anderen Kindern und verzauberte die Erwachsenen. Lea selbst blieb am liebsten mit sich allein.

»Wir haben Tierarzt im Garten gespielt. Sophie und ich haben eine Käferpraxis eröffnet. Heute fliegen total viele Marienkäfer rum.«

»Ist ja auch ein echt schöner Tag. Ich habe sogar das Cabrio offen«, sagte Lea mit einem Zwinkern.

»Juhuuu!«

Freudig hüpfte Jady durch den Vorraum. Dann blieb sie plötzlich stehen und legte die Stirn in Falten.

»Weißt du, Anton hat heute alle Mädchen geärgert.«

»Böser Anton. Komm jetzt, deine Schuhe.«

Die kleinen Füße bohrte Jady lustlos in die Schuhe, schleuderte die Jacke beim Hinausgehen hin und her und quiekte vergnügt, als sie das Auto sah.

Mit der Sonnenbrille auf der Nase fuhr Lea los.

Es war einer der schönsten Frühlingstage, an die sie sich erinnern konnte. Im Rückspiegel sah sie, wie ihr Engelchen mit geschlossenen Augen das Gesicht der Sonne entgegenstreckte. Als Erwachsener gab es nicht mehr viele magische Momente im Leben, zumindest ging es Lea so. Jady hingegen sah überall Fabelwesen und sprach mit Tieren und Pflanzen, für sie steckte alles voller Wunder und Magie. Sie beneidete ihre Tochter darum und kramte in ihren Erinnerungen nach einem Anton aus ihrer Kindheit, fand aber nichts. Sie fand nicht einmal eine beste Freundin, wie es Sophia für Jady war. Ihr Hirn fühlte sich wie Matsch an, es brauchte dringend Brennstoff und Schlaf.

 

 

Zuhause angekommen, verschwand Jady im Kinderzimmer und erzählte den Puppen lautstark vom Kindergartentag.

Lea, halb verhungert, stürzte in die Küche und probierte sich daran, aus dem Einkauf etwas Essbares zu zaubern. Nicht, dass sie eine besonders gute Köchin gewesen wäre, im Gegenteil. Ihre Geduld und Experimentierfreudigkeit blieben sehr begrenzt. Sie nahm auch halbharte Nudeln in Kauf, wenn es besonders schnell gehen sollte. Oder eben ein paar kleine zuckerhaltige Snacks. Immerhin reichte es aus, um Jady und sich am Leben zu erhalten.

Den Topf mit Wasser stellte sie auf die Herdplatte und eilte die Treppen hinauf zu ihrem Schlafzimmer und dem begehbaren Kleiderschrank. Endlich raus aus diesem Folterkostüm. Sie atmete erleichtert aus, schlüpfte in ihre geliebte Jogginghose und ein weißes lockeres Shirt.

 

Keine zwanzig Minuten später standen die Nudeln mit kalorienreduzierter Rinderhack-Bolognese-Soße auf dem Tisch. Stolz beäugte sie ihr Werk.

»Jady, Essen.«

Ihre Tochter eilte herbei und kletterte auf den Stuhl.

»In einer Stunde kommt Anouk«, sagte Lea.

Ihr bester Freund und Jadys Klavierlehrer. Sie hatten die gleiche Schule besucht und sich schon damals sehr gut verstanden. Immer wieder knisterte es zwischen ihnen, aber die Freundschaft war ihr mehr wert, als sie durch eine Beziehung zu ruinieren. Eine gute Mutter zu sein fiel schon schwer, aber noch einem Partner gerecht zu werden, hätte womöglich ihre Kompetenzen gesprengt.

Ihr Magen knurrte. Mit der Gabel stach sie mehrfach in den Berg Nudeln und sah, dass Jady ihren Teller kritisch beäugte.

Die Gabel klatschte auf den Tisch und große, runde Augen fixierten Lea vorwurfsvoll.

»Mama?«

Lea hielt inne.

»Was denn?«

»Ich hab doch gesagt, ich mag kein Fleisch!« Die Arme vor der Brust verschränkt, schob sie die Unterlippe vor. »Ich will nicht, dass eine Mama-Kuh wegen uns getötet wird. Stell dir mal vor, man würde dich schlachten!«

Erschrocken schürzte Lea die Lippen und legte ihre volle Gabel beiseite. Verdammt, wie konnte sie das nur vergessen?

»Jady, ich habe dir doch erklärt, dass der Mensch hin und wieder Fleisch braucht. Einem Hund kannst du auch kein Gemüse geben.«

Jady schob den Teller von sich. »Wir sind aber keine Hunde!«

Das Essen vor Leas Nase duftete köstlich, aber sie versuchte sachlich zu bleiben. »Stimmt, deswegen essen wir auch nur sehr wenig Fleisch. Dein Körper braucht das.«

»Warum?«

»Eiweiße und so.«

»Hä?«

»Jetzt iss bitte.«

»Aber die Mama-Kuh?«

Seufzend warf Lea die Hände in die Luft.

»Soll ich die Soße runterkratzen?«

»Nö!« Ihre Stimmte bebte. Prompt kletterte sie vom Stuhl und stapfte in ihr Zimmer.

»Was machst du denn?«

Die Kinderzimmertür krachte laut ins Schloss.

»Oh Mann.«

Lea erhob sich schwerfällig aus dem Stuhl, hielt kurz inne und griff nach der vollen Gabel. Etwas fiel dabei herunter und hinterließ einen blassen roten Fleck auf dem weißen Shirt. Reste der Mutter-Kuh klebten darauf wie ein Brandmal, das allen entgegenschrie: Mamakuh-Mörder! Sie verdrehte die Augen. Mit dem Finger schnippte sie den Krümel weg und ging kauend zu Jadys Zimmer. Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten und stupste die Tür auf. Ihre Tochter saß schmollend auf dem Bett und zupfte am Ohr ihrer schwarzen Stoffkatze. Dieser Anblick löste in ihr sofort eine Welle der Liebe aus. Sie sollte die Bedürfnisse ihrer Tochter wirklich ernster nehmen!

Böse blickte Jady zu ihr auf. »Geh weg.«

Lea ignorierte das und nahm neben ihr Platz, die Hände im Schoss gefaltet. »Was denkst du gerade?«

»Dass du gemein bist.«

»Wieso?«

»Weil es so ist! Dir ist es egal, dass da draußen eine Baby-Kuh …«

»Kalb.«

»Was?«

»Das heißt nicht Baby-Kuh, sondern Kalb.«

»Boah Mama. Ist doch egal!« Die großen Augen wurden glasig. Die Stoffkatze fest an die Brust gepresst, blickte sie Lea mit einer steilen Falte zwischen den Augen an.

Das Kalb lag sicherlich auch schon in einer Kühltheke.

Nimm dein Kind gefälligst ernster, Lea Moske!

Bei dem Gedanken verlor sie fast die Kontrolle über ihre Mimik und presste ihre Hand fest auf den Mund.

Empört schnappte Jady nach Luft.

»Das ist nicht lustig, Mama!«

»Nein, Schatz. Natürlich nicht.« Lea gab auf und grinste über beide Ohren. »Ich lächle nur, weil du so, so süß bist! Ich kenne kein Kind, das so herzlich ist wie du.« Gerettet und dabei nicht gelogen, prima gelöst!

»Ich habe dich lieb, Maus«, sagte sie und nahm ihr Engelchen in den Arm.

Die kleinen Hände quetschten fest den Hals der Stoffkatze.

»Weißt du Mama, ich dich auch. Und ich muss nachts manchmal weinen, weil ich denke, dass dir etwas passieren könnte.«

»Aber Maus, was soll mir denn passieren?«

Jady schwieg einen Moment, als fürchtete sie sich davor, es auszusprechen, senkte den Blick und sprach so leise, dass Lea die Luft anhielt um sie zu verstehen.

»Ich träume manchmal, dass du ertrinkst.«

Irritiert musterte Lea das Gesicht ihrer Tochter.

»So ein Unsinn.«

»Du stehst dann an so einem See und alles ist total kalt und dann …«

Es läutete an der Tür.

»Er ist da«, rief Jady, plötzlich wieder ganz fröhlich, und sprang mit der Stoffkatze in der Hand auf, um die Tür zu öffnen.

Lea blieb allein auf dem Bett zurück. Von diesem seltsamen Traum hörte sie das erste Mal. Wie kam ihre Tochter nur auf solche Gedanken?

Ihr Magen knurrte. »Mist!«, murmelte sie und sah sich hastig im Zimmer um. Hier musste doch irgendetwas liegen, womit sie das hässliche Brandmal auf ihrem Shirt entfernen konnte. Der Holzboden im Flur knarzte leicht. Schnell warf sie kaschierend die dunklen Haare darüber. Anouks tiefe Stimme drang an ihr Ohr und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie kniff die Lippen zusammen.

Reiß dich zusammen!

Lea holte tief Luft und trat auf den Flur hinaus.

»Hi, schön dass du da bist!«

Ihre Hand wanderte zur Halskette und zupfte an dem Anhänger, wie so oft, wenn sie die Aufregung packte. Ein silbernes Kettchen mit einem tropfenförmig geschliffenen Mondstein, der in allen Farben leuchtete.

»Siehst gut aus, wie immer.« Er zwinkerte ihr zu.

Verlegen sah sie zu Boden.

»Und ich?«, fragte Jady und grinste zu ihm hinauf. Theatralisch fiel Anouk vor dem Mädchen auf die Knie und legte beide Hände in einer übertriebenen Geste auf die linke Brust.

»Mein Herz wird stets erwärmt, wenn meine Augen dein strahlendes Antlitz erblicken. Und es wäre mir eine Ehre, dich heute wieder unterrichten zu dürfen, edle Jady, Tochter von Lea.«

»Ach du meine Güte.« Lea rollte mit den Augen.

Kichernd lief Jady in ihr Zimmer und klimperte eine kleine Melodie.

Ihr bester Freund stand auf, strahlte Lea mit seinen perfekten Zähnen an, die noch heller wirkten, da er so unverschämt braun war. Die schwarzen Haare trug er etwas länger und immer, wirklich immer nach hinten gestylt. Sie kannte ihn gar nicht anders. Ihr halb indigener Kumpel, der in jeder Lebenslage gleich gut aussah. Frechheit. Wenn Lea nur zwei Stunden zu wenig Schlaf abbekam — und das passierte regelmäßig — waren das einzig Farbige in ihrem Gesicht die dunklen Augenringe.

Anouk lehrte an der Universität Musik, er gab Jady kostenlos Klavierunterricht.

Lea wollte es unbedingt auch einmal probieren. Eine Hand war noch kein Problem gewesen, aber beide Hände unterschiedliche Bewegungen ausführen zu lassen und diese auch noch zeitgleich …Niemals! Anschließend hatte sie einen inzwischen legendären Wutanfall hingelegt. Seither verklemmt ein c, wenn die Taste zu hart angeschlagen wurde.

Mit einem Nicken deutete er auf seine schwarze Ledertasche.

»Ich habe eine Flasche Sekt dabei.«

»Extra, extra trocken?«

»Er staubt quasi schon.«

Die Töne aus Jadys Zimmer klangen unharmonischer. Er hörte, wie auf dem Klavier herumgehämmert wurde und verzog das Gesicht.

»Jady, denk an die Tasten, die sind empfindlich«, rief Lea.

»Genau, hör auf deine Mama. Die hat die Tasten schon an ihre Grenzen gebracht.«

»Haha, sehr witzig.«

»Anouuuuhuuk! Kommst duuuu?«, rief Jady.

»Wie die Lady befehlen!«

Lea machte ihm Platz und beobachtete, wie er hinter der Tür verschwand. Sie schlenderte zurück in das Wohnzimmer und setzte sich wieder an den Tisch. Das Essen war nun kalt. Das Wort Mama-Kuh drängte sich in ihren Kopf, dann aß die Mama die Mama-Kuh. Und während sie das tat, stellte Lea sich vor, wie brutal und barbarisch das wohl auf ein hochsensibles Kind wie Jady wirken musste.

In der letzten Sendung hatte sie über die zum Teil schrecklichen Zustände in der Viehhaltung berichtet. Dabei sind Kühe alles andere als dumm. Sie können, genau wie der Mensch und viele andere Tierarten auch, über verschiedene Charaktereigenschaften verfügen. So gibt es sehr schlaue Kühe, aber auch etwas Begriffsstutzige. Sie können Freundschaften schließen oder aber jemandem lange grollen, der sie nicht gut behandelte. Das Interessanteste und zugleich Erschreckendste allerdings: Kühe können sich über die Zukunft sorgen! Die Forschung belegt, dass Kühe ganz eindeutig die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung erkennen, was wiederum vom Vorhandensein höherer kognitiver Fähigkeiten zeugt.

Lea drängte sich seither immer wieder die Frage auf, ob die Tiere ahnen, was sie erwartet?

Kauend sah Lea auf ihr Essen hinab und legte frustriert die Gabel beiseite.

Über solche Themen konnte sie stundenlang mit Anouk reden. Der Halbindigene brachte immer interessante Einwände. Sein Vater gehörte zum kanadischen Algonkin-Stamm, seine Mutter lebte in Deutschland. Seine Eltern legten großen Wert darauf, ihm die Sitten und Wertvorstellungen des Stammes nahezubringen.

Genau wie letzte Woche schwor sie, so schnell keine Mama-Kuh mehr zu essen. Den Schauplatz der Schandtat räumte sie in die Spülmaschine und schmierte ein paar Brote für die kleine Gerechtigkeitskämpferin. Gerade im richtigen Moment, denn schon stürmte Jady um die Ecke und klammerte sich an Leas Beine.

»Ich habe Hunger, Mama!«

»Hab ich mir fast gedacht.«

Sie hielt ihr den Teller entgegen. Schnell griffen die kleinen Kinderhände danach.

»Honigbrot? Hey, das ist ja schon angebissen!«

Lea zuckte mit den Schultern. »Ich hätte noch Leberwurst.«

»Oh ja!«

Anouk trat in die Küche und wuschelte Jady durch das blonde Haar.

»Ich dachte, du isst kein Fleisch mehr.«

Böse funkelte Lea ihn an. Zu spät, Jady blickte fragend zu ihm auf.

»Ist die auch aus Tieren gemacht?«

»Jap, aus kleinen Baby-Küh…«

»Anouk!« Lea stemmte die Hände in die Hüften.

»Die wird aus Babys gemacht?« Jady riss die Augen weit auf.

»Ja … Nein! Bleib bei deinem Honigbrot«, sagte Lea und spürte, wie sich ihre Wangen erwärmten.

»Genau, Honig wird nur aus Bienen gemacht.« Er lachte.

»Jetzt ist aber Schluss. Das stimmt nicht. Die Bienchen machen den nur für dich und der ist gesund. Nach dem Essen darfst du noch kurz spielen, aber dann ist Schlafenszeit.«

Sie schob Jady zum Tisch und hoffte, in keine neue Diskussion verwickelt zu werden.

Ihre Tochter stöhnte, sagte aber nichts mehr dazu. Anouk setzte sich zwischen die beiden an den Tisch und entlockte seiner kleinen Freundin ein paar Gurken, die sie nicht beachtete.

»Markus hat mir ein neues Thema rausgesucht«, sagte Lea.

»Seit wann sucht dir jemand die Themen aus? Ich dachte, du hättest freie Wahl?«

Lea winkte ab.

»Ich weiß, aber das Thema ist echt spannend. Ich soll mich mit einem Doktor Stefan Friedrich treffen. Er möchte über seine neuesten Forschungsergebnisse in unserer Sendung sprechen.«

»Okay, klingt wie ein Fernsehstar. Und um was geht’s?« Kopfnickend deutet sie auf Jady und wartete, bis ihre Tochter den Teller aufräumte und im Zimmer verschwand.

»Nahtod«, sagte sie.

Anouk ließ einen leisen Pfiff ertönen.

»Tolles Thema.«

Musik dröhnte aus dem Kinderzimmer und Jady sang lauthals und leidenschaftlich zusammen mit Elsa, der Eiskönigin. Lea lächelte ihren Freund entschuldigend an, stand auf und schloss die Wohnzimmertür.

»Ich habe ihn aber noch nicht interviewt. Ich wollte mich erst ein bisschen schlaumachen, damit ich nicht wie ein Idiot dastehe, wenn er mir was erzählt.«

»Tod und Wiedergeburt ist in meiner Kultur auch ein großes Thema.«

»Ach ja? Die meisten Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten von dem Gefühl eines tiefen Friedens. Es hat ihre Sicht auf die Welt total verändert. Sie seien danach ehrfürchtiger und naturverbundener geworden.«

Anouk schüttelte den Kopf und lachte.

»Komisch, dass ihr Weißen dazu erst sterben müsst.«

Die Tatsache, dass er zur Hälfte auch zu den Weißen gehörte, hielt ihn in Leas Gegenwart nicht davon ab, die typisch klischeehaften Bezeichnungen mit Freuden zu benutzen.

»Also ich mag die Bäumchen und Tierchen auch ohne zu sterben«, sagte Lea.

»Du hast sie zum fressen gern.« Amüsiert funkelte er sie an.

»Klappe. Du isst selber Fleisch.«

»Ich brauch das Eiweiß für meine Muskeln.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, als gäbe es darauf nichts mehr zu erwidern.

Die Natur war in Leas Augen das, was einem Gott am nächsten kam. Am liebsten hielt sie sich an jenen Orten auf, an denen sie keine anderen Menschen antraf. So ganz im Kontrast zu ihrer Arbeit, in der sie oft mitten im Geschehen stand. Spaziergänge im ruhigen Wald spendeten ihr Kraft, um in der schnelllebigen und lauten Branche mitzuhalten.

Anouk rieb mit Daumen und Zeigefinger über das bartlose Kinn.

»Mein Stamm glaubt, es gäbe zwei Seelen im Körper eines Lebewesens.«

»Wieso zwei?«

»Die körperliche, welche mit dem Herzen verbunden ist; sie ist zuständig für das Gedächtnis und die Intelligenz. Stirbt ein Lebewesen, so verweilt diese Seele für immer am Körper.«

»Und wenn der Körper schon längst zu Staub zerfallen ist?«

»Sie bleibt an dem Ort und gibt ihm einen Charakter. Je nachdem, wie stark die Persönlichkeit war.«

»Du meinst, wie in diesen Gruselhäusern, wo man spüren kann, dass jemand umgebracht worden ist?«

»Ähm, ja so was in der Art.«

»Und die Zweite?«

»Die echte Seele ist im Gehirn verwurzelt.« Er tippte sich gegen die Schläfe. »Sie enthält die Empfindung und Erfahrung eines Menschen oder Tieres. Wir nennen sie die freie Seele. Im Schlaf oder in Trance wandert diese Seele und kann sich mit der ewigen Energie verbinden. Im Tod wird sie dann ein Teil dieser Energie und kann sich an ihre frühere Existenz nicht mehr erinnern.«

Aufmerksam hörte sie zu. Ein seltsamer Schauer durchlief sie und ihre Finger tasteten nach der Halskette, drehten den Anhänger hin und her.

»Im Schlaf wandert die Seele?«, murmelte sie leise. Diese Worte hielten ihre Gedanken gefangen. Es löste ein Unbehagen in ihr aus, fast wie eine unangenehme Erinnerung, ohne dass sie sagen konnte, woher es kam. Sie schüttelte das Gefühl ab.

»Wow, das ist echt interessant. Irgendwie deckt es sich sogar mit den Ergebnissen meiner Nachforschungen. Ich habe über eine Frau gelesen, die während einer OP einen Herzstillstand erlitt. Sie konnte sich von oben sehen und spürte später eine Art gesamtes Bewusstsein, und das löste einen tiefen Frieden in ihr aus.«

»Ich sag es immer wieder, wir Naturvölker wussten instinktiv schon Dinge, wozu ihr erst Wissenschaftler braucht.«

»Was meinst du?«, fragte sie und beugte sich gespannt vor.

»Na ja, wusstest du, dass selbst Pflanzen über so etwas Ähnliches wie ein zentrales Nervensystem verfügen?«

»Ich weiß nur, dass sie über Pheromone und Botenstoffe miteinander kommunizieren. Um sich, zum Beispiel, gegenseitig vor Fressfeinden zu warnen.«

»Es ist noch viel mehr als das. Sie kümmern sich umeinander und um ihre Nachkommen. Die Wurzelspitzen senden Elektroimpulse wie in einem Gehirn. Alles auf diesem Planeten hat ein Bewusstsein und ist Teil der ewigen Energie. In einem geschlossenen System kann keine Energie verloren gehen, sie wird immer wieder umgewandelt in neues Leben!«

 

 

Weit nach Mitternacht verabschiedete Anouk sich und ließ sie allein. Lea schlurfte erschöpft ins Bad, wusch die Reste der Schminke aus ihrem Gesicht und schrubbte halbherzig die Zähne. Seufzend schaute sie in den Spiegel und betrachtete ihre ebenmäßigen Züge, die mandelförmigen blauen Augen, die hohen Wangenknochen umrahmt von dunklem, welligem Haar. Ewige Energie … Anouks Worte waberten durch ihren Kopf. Sein Stamm glaubte also an Reinkarnation, das erneute Manifestieren der Seele in einem empfindsamen Wesen nach dem Tod.

Wie oft wurde sie schon wiedergeboren?

Lea spähte in Jadys Zimmer. Friedlich lag sie in ihrem Bett, die Stoffkatze war auf den Boden gefallen. Mit leisen Schritten ging Lea zu ihr hinüber, legte die Katze zurück in Jadys Arm und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Im Traum wandert die Seele, dachte Lea.

 

Kapitel 3

 

Lea

Der erste Traum

 

Sie stand auf einem schneebedeckten Steg. Düstere Wolken hingen am Himmel, so tief, dass sie den Horizont streiften und jegliche Wärme verschluckten. Dumpfes Grollen erscholl aus der Ferne und brachte frostigen Wind mit sich. Er riss an ihren Haaren und dem Kleid, als wäre sie sein Spielzeug. Doch sie fror nicht.

Ein unendliches Meer aus Eis erstreckte sich vor ihr, aus dem gewaltige Platten ragten. Rechteckig und manche größer als ein Haus sahen die Gebilde aus, als hätte ein Riese sie aus dem Eis geschoben. Hin und wieder zerbarst eine und das laute Krachen mischte sich mit dem tiefen Grollen am Himmel.

Die Bedrohung, die dieser Ort ausstrahlte, presste ihren Brustkorb zusammen, raubte ihr langsam, aber sicher den Atem. Ihr Blick blieb an einem seltsamen Wesen hängen. Sie hielt sich die Hand schützend über die Augen und hauchte ein erschrockenes »Oh Gott.«

Das Wesen war gewaltig und von mystischer Schönheit. Der Rumpf des Buckelwals ruhte reglos auf dem Meer. Der Rest von ihm lag verborgen unter dem Eis. Die Haut, ledrig und so düster wie der Himmel über ihm, bedeckte eine Schicht Raureif. Doch das eine Auge, dass sie sehen konnte, jagte einen Schauer durch ihren Körper. Ein Sturm aus Feuer tobte darin und schien die einzige Farbe an diesem grauen Ort zu sein.

Donner rollte durch das Meer aus Wolken. Sie wollte ihn unbedingt aus der Nähe sehen, ihn anfassen und fühlen. Dieses tote magische Wesen. Lea nahm Anlauf, sprang und durchbrach die Eisschicht, als wäre sie aus Papier. Sie tauchte in die Dunkelheit ein und sah die Silhouette des Meeressäugers über sich. Die gewaltige Fluke hing reglos im Wasser. Schwerelos trieb Lea dahin und beobachtete, wie ihr Nachthemd um ihren Körper tanzte. Die Zeit schien stillzustehen, nur das fahle Licht der Oberfläche drang schwach bis zu ihr durch.

Schlagartig änderte sich alles. Mit einem Mal kam Bewegung in das riesige Tier, die Fluke hob und senkte sich. Die Eisschicht zersplitterte und der Wal tauchte ab. Er sah sie und hielt auf sie zu. Sie erstarrte, vor Angst gelähmt. Das Tier kam näher, öffnete das Maul. Mächtig. Bedrohlich. Die Kälte, die eben noch bedeutungslos war, umschlang ihren Körper und quetschte alle Luft aus ihren Lungen. Wie ein Spielzeug trieb der Wal sie vor sich her in die eisige Tiefe. Luft, alles in ihr schrie plötzlich nach Luft. Ihre Hände umklammerten ihren Hals, als könnte sie so verhindern, was folgen würde. Ihr Körper brannte, brannte vor Kälte, brannte danach, tief einzuatmen. Sie öffnete den Mund, sog das kalte Nass in sich auf.

Irgendwo, am anderen Ende der Ewigkeit, sah sie einen wirbelnden Feuersturm. Ihr Körper zuckte. Der Wal erreichte sie und es wurde finster.

 

 

Lea erwachte, geräuschvoll sog sie die Luft gierig in ihre Lungen ein. Nur das Licht der Straßenlaterne verirrte sich in ihr Zimmer. Das Nachthemd klebte auf der Haut. Ihr Herz schlug so heftig in der Brust, dass es ihr in den Ohren dröhnte. Was für ein seltsamer Traum? Mit geschlossenen Augen versuchte sie, im Geist das Bild des Wales festzuhalten. Diese Kreatur mit den seltsamen Augen. Sie erinnerte sich an noch etwas: an das übermächtige Gefühl von Angst.

Was wollte ihr das Unterbewusstsein damit sagen?

Blind tastete sie nach ihrem Handy auf dem Nachtschrank und das grelle Licht des Displays schmerzte auf der Netzhaut. Einige Sekunden später tippte sie in die Suchmaschine Traumdeutung Wal ein.

 

 

Deutung Wal: — Macht des Unbewussten, Wahrheit und Stärke des inneren Seins. Welche große Wahrheit ist der Träumer zu akzeptieren bereit?

Psychologisch: — Einen Wal zu sehen oder von einem verschluckt zu werden warnt davor, dass sich in Ihrem Unterbewusstsein eine große Gefahr verbirgt. Um negative Auswirkungen abzuwenden, müssen Sie sie unbedingt ans Tageslicht bringen. Das Symbol warnt außerdem vor einem Selbstbewusstsein, das ein Übermaß annehmen könnte.

 

 

Lea runzelte die Stirn und las die Zeilen noch einmal. »Alles klar.«

Seufzend schob sie das Handy unter ihr Kissen und vergrub das Gesicht darin. Bis die Arbeit rief, blieb ihr noch etwas Zeit.

 

Nur vier Stunden später passierte sie die Schranke zum Parkhaus des Senders. Regen auf der Windschutzscheibe reflektierte das Licht der Deckenleuchten, bevor der Scheibenwischer kurzen Prozess machte. Sie parkte ihr Auto auf dem für sie ausgeschilderten Platz, genau neben Patricks Kleinwagen, der vor Wassertropfen nur so glänzte. Beim Aussteigen zwängte sich Lea mit ihrer Tasche zwischen den beiden Fahrzeugen hindurch, berührte dabei mit dem Hintern Patricks Auto und spürte sofort, wie die feine Anzughose nass wurde. Angestrengt spähte sie über die Schulter und erspähte einen dunklen Fleck auf ihrem Gesäß.

Im Parkhaus war es kalt. Gänsehaut jagte ihr über die Arme und sie sehnte sich ihren dicken übergroßen Pulli herbei, den sie heute Morgen gegen die feine Bluse getauscht hatte.

Entnervt stakste sie auf ihren High Heels zum Fahrstuhl, wischte sich immer wieder mit der Hand über die feuchte Stelle und hoffte, niemand würde etwas bemerken. Sie rätselte noch darüber, wieso es ein Cabrio sein musste, als die blecherne Stimme sie in die Wirklichkeit zurückholte.

Die Tür öffnete sich und die typischen Geräusche drangen an ihr Ohr. Lea trat hinaus, spähte über die Schreibtische hinweg und bemerkte Patrick, der konzentriert auf seinen Monitor starrte. An ihrem Arbeitsplatz hing sie den Blazer ordentlich über den Stuhl und blickte noch einmal zu dem Kollegen, der noch immer keine Notiz von ihr nahm. Seltsam, schließlich war er sonst der Erste, der ihr morgens, breit grinsend wie ein Honigkuchenpferd, vor die Augen lief.

Egal. Keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, die Freitagsreportage machte sich schließlich nicht von allein und sie brauchte noch dringend das Interview mit dem Kardiologen. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und fischte als erstes nach ihrem Schokoriegel.

Die Schokolade von den Fingern geschleckt schnappte sie nach Beatas Zettel mit der Telefonnummer des Arztes, tippte die Nummer ein und lauschte dem monotonen Rufton. Viermal, fünfmal, niemand nahm ab. Lea verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich im Drehstuhl zurück. Ihr Blick glitt zur überdimensionalen Uhr an der Wand gegenüber — erst kurz vor neun. Vielleicht gehörte der Kardiologe zur Gattung der Neun-Uhr-Arbeiter?

Na schön, Zeit für die Kaffeemaschine, dachte sie, erhob sich aus dem Stuhl und ging in den Gemeinschaftsraum.

Die Maschine mahlte die Bohnen mit einem lauten Rauschen.

»Guten Morgen, Lea.«

Erschrocken fuhr sie herum.

»Schleich dich nicht so an!«

»Du hast da einen Fleck … am … ähm …« Patrick grinste jovial.

»Ich weiß. Das war dein Auto.« Sie musterte ihren Kollegen. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab. »Du siehst müde aus.«

»Ja, ein wenig. Ich sitze seit 05:00 Uhr hier im Sender.«

»Seit 05:00 Uhr? Da lag ich noch in meinem gemütlichen Bett.«

»Ja, danke sehr. Gib’s mir ruhig.«

»Was ist denn passiert?«

»In der Nähe von Cuxhaven ist ein riesiger Wal gestrandet. Markus hat mich aus dem Bett gescheucht und gemeint, ich solle mich der Sache annehmen. Also bin ich gleich hierhergefahren und arbeite, arbeite, arbeite, nur um die Story für unsere Nachrichten aktuell zu halten.«

»Das ist traurig. Ist es ähnlich schlimm wie 2016 mit den vielen toten Pottwalen?«

Immer wieder kamen einige der Giganten vom Kurs ab und schwammen in die flache Nordsee, wo sie elendiglich verendeten. Genau wie in vielen anderen Teilen der Welt. Was die Meeressäuger dazu veranlasste, blieb bis heute ein ungeklärtes Rätsel.

Er griff in den Hängeschrank über der Kaffeemaschine und nahm sich eine Tasse heraus. »Ist ein Buckelwal.«

»Wie bitte? Das gibt’s dort doch gar nicht.«

»Eben! Die sind selten in europäischen Gewässern. Er liegt da schon seit einigen Stunden.«

»Oh mein Gott.«

»Das ist noch nicht alles. Der ist wirklich riesig. Vermutlich einer der größten, die je gesichtet wurden, mit dreiundzwanzig Metern und über fünfunddreißig Tonnen.«

»Versucht man, ihm zu helfen?« Tief in Leas Unterbewusstsein fing etwas an zu kratzen.

»Natürlich! Es sind dutzende Helfer vor Ort. Aber es sieht schlecht aus, wenn du mich fragst. Bist du fertig?« Mit dem Finger deutete er auf die Kaffeemaschine.

Dann fiel ihr plötzlich der Traum von letzter Nacht ein.

Was für ein krasser Zufall.

Keine Zeit, darüber nachzudenken. Es gab jetzt andere Dinge, die ihre volle Konzentration forderten. Sie griff nach ihrer Tasse und warf noch einmal einen Blick über die Schulter. »Gibst du mir Bescheid, wenn sich etwas ändert?«

»Klar doch. Ich muss jetzt weiter machen.«

»Ich auch, muss mich echt ranhalten.«

»Das kommt davon, wenn man erst nach acht zu arbeiten anfängt.«

Lea winkte ab und stakste zurück zu ihrem Schreibtisch.

 

 

»Apparat Doktor Friedrich. Guten Tag!« Eine übertrieben freundliche Stimme quiekte ihr aus dem Hörer entgegen.

»Guten Morgen, mein Name ist Lea Moske. Ich bin vom Nachrichtensender …«

»Ach wie schön, dass Sie sich auch mal melden. Uns wurde der Rückruf gestern zugesichert.«

»Entschuldigen Sie, ich hatte viel zu tun.«

»Na ja, wie auch immer, Herr Doktor Friedrich ist momentan unpässlich.« Die Dame am anderen Ende gluckste.

Lea schluckte ihren Ärger hinunter.

»Wann wäre er denn zu sprechen, der Herr Doktor Friedrich?«

»Wie gesagt, wir haben Ihren Anruf gestern erwartet. Deshalb war ich so frei, heute um 16:00 Uhr einen Termin für Sie auszumachen. Die Treppe rauf, zweiter Stock links.«

Blöde Kuh! Das war genau die Uhrzeit, zu der sie Jady aus dem Kindergarten abholen musste.

»Würde es auch früher gehen?«

»Also was denken Sie denn? Herr Doktor Friedr…«

»16:00 Uhr passt gut. Bis später.«

Wütend knallte sie das Handy auf den Tisch. Was für eine dämliche Pute! Sie verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. Hoffentlich hatte Anouk Zeit, Jady abzuholen. Um sich auf das Interview vorzubereiten, blieben ihr nur noch wenige Stunden.

Es war Nachtmittag, als zwei große Hände sie an den Schultern packten.

»Hey!« Erschrocken fuhr sie zusammen und funkelte wütend in zwei belustigte Augen.

»Spinnst du? Du sollst mich doch nicht erschrecken.«

Patrick grinste sie frech an. Sein Aftershave streifte ihre Nase, der Geruch löste ein Gefühl des Vertrauens in ihr aus. Einen Moment überlegte sie, woher sie diesen Duft kannte, doch sie kam einfach nicht darauf. Egal. Stirnrunzelnd starrte sie auf ihre Notizen für das Interview.

»Mist. Jetzt hab ich voll den Faden verloren«, sagte sie und schüttelte seine Hände ab.

»Oh. Das tut mir leid, worum geht es denn?« Er spähte über ihre Schulter hinweg auf die Notizen. »Nahtoderfahrungen? Ein sehr emotionales Thema für ein nichtmenschliches Wesen«

»Wieso bin ich denn bitte nichtmenschlich?«

»Ich sehe dich niemals essen.«

Lea tippte mit einem Finger auf die Folie des Schokoriegels.

»Das ist doch kein Essen.«

Er schüttelte mit dem Kopf.

»Was willst du?« Seine Nähe wurde unangenehm. Mit dem Drehstuhl rollte sie einen Meter von dem Mann weg. Sie mochte Patrick wirklich, er war ein hervorragender Journalist, das Herz am rechten Fleck, er war ihr nur ein bisschen zu … sie konnte es nicht in Worte fassen … zu Patrick eben. Auch wenn er gut aussah, suchten sie keine erotischen Gedanken heim wie bei Anouk.

»Der Buckelwal ist gestorben.« Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst sah er sie an, als erwarte er einen Tränenausbruch.

Lea zog kurz die Mundwinkel nach unten.

»Das ist sehr traurig. Und jetzt verschwinde, ich muss arbeiten!« Mit dem rechten Bein holte sie aus und trat nach ihm, aber er sprang geschickt zur Seite und lachte laut.

»Kaffee?«, fragte er.

»Nein, danke.«

Noch immer grinsend marschierte er in den Aufenthaltsraum.

Einen Moment sah sie ihm nach und dachte an den Wal. Wann war schon einmal ein Buckelwal in deutschen Gewässern gestrandet? Sie hätte schwören können, dass der Wal in ihren Träumen auch ein Buckelwal gewesen war. Lea zog aus ihrer Tasche das Handy hervor und öffnete das letzte Browserfenster. Der Wal steht für etwas Unbewusstes.

Aber er war tot … Vielleicht hat er auch nur geschlafen und ist aufgewacht? Etwas Unbewusstes zeigte sich in ihr? Was konnte damit gemeint sein?

»Viel Spaß im Regen«, rief Patrick.

Lea blickte auf. Er trottete mit einer Tasse Kaffee in der Hand aus dem Aufenthaltsraum. An seiner Seite lief Lucy, die Praktikantin und redete unaufhörlich.

Die Zeiger der Uhr verhöhnten Lea.

»Verdammt!«

Kurz vor halb vier und draußen regnete es noch immer in Strömen, das bedeutete einen längeren Anfahrtsweg. Sie würde zu spät kommen. Hektisch kramte sie ihre Sachen zusammen und lief zum Fahrstuhl, überlegte es sich dann aber anders und nahm das Treppenhaus. Die Bewegung würde guttun und sie entging der nervigen Blechstimme.

 

 

Das Gelände der Universität wirkte größtenteils verlassen. Große Pfützen sammelten sich auf dem Parkplatz. Der Regen ließ nach, doch die Temperaturanzeige hielt sich stur an der Null fest. Lea schaltete den Motor aus und kramte in ihrer Tasche nach dem Block, in dem der Verlauf des Interviews notiert war. Ihre Wangen begannen zu glühen. Sie suchte unter dem Autositz und auf der Rücksitzbank. Doch auch dort lag kein Notizblock.

»Verdammt!« Verzweifelt raufte sie sich die Haare. Wahrscheinlich lag er noch im Sender auf ihrem Schreibtisch. »Scheiße, das ist mir noch nie passiert.« Oder doch? Zumindest erinnerte sie sich nicht daran. Und nun?

Improvisieren Lea, improvisieren!

Sieriss das Handschuhfach auf und wühlte hektisch darin herum, bis sie einen Terminplaner fand. Auf dem Einband glänzte fett das Jahr.

»2000? Wo kommt der denn her?« Das Teil war sechs Jahre alt, da hatte es noch nicht einmal das Cabrio gegeben. Sie drehte den Kalender hin und her. Der kam ihr so gar nicht bekannt vor. Die meisten Seiten waren leer, nur auf der vom dritten Januar fiel ihr ein kleines Bild auf. Die Mitte bildete eine Kugel, um die zwei Spiralarme kreisten. Es erinnerte an eine Galaxie.

»Na nu?« Überrascht hob sie die Augenbrauen und strich mit den Fingerspitzen darüber.

Der dritte Januar war Jadys Geburtstag. Wem gehörte dieses Buch?

Die Glocken läuteten. Lea zuckte zusammen, sie kam zu spät. Das leere Buch stopfte sie in ihre Tasche und hastete durch den Regen über den Parkplatz. Der Wind kroch unter ihr dünnes Jäckchen und jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper.

Die Eingangshalle des Hauptgebäudes beeindruckte sie. Eine Treppenanlage, über die man in den ersten Stock gelangte, gliederte den Bau in eine Süd- und Nordhälfte. Durch Rundbogenfenster drang das spärliche Licht von außen herein. Säulen säumten den Gang und stützten das mosaikverzierte Gewölbe. Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider. Wo musste sie abbiegen? Die Stufen rauf und zweiter Stock rechts? Nein, links? Verdammt! Lea spähte auf ihre Armbanduhr, sie kam bereits fünf Minuten zu spät.

Egal, alle wichtigen Leute kommen fünf Minuten zu spät.

Die blöde Kuh legte sich mit Sicherheit schon Worte zurecht, die sie Lea an den Kopf werfen konnte.

Es war zehn Minuten nach, als sie endlich das Büro fand.

Ein Kopf erschien hinter dem Empfangstresen.

»Sie müssen die Journalistin sein.«

Die Frau kniff die Lippen fest zusammen und warf demonstrativ einen Blick auf die Uhr an der Wand. Leicht schüttelte sie den Kopf.

»Sie sind viel zu spät!«

»Ach was, ich dachte fünfzehn Minuten gelten im akademischen Bereich als pünktlich.« Sie lächelte entwaffnend, aber der Mund der alten Zippe kräuselte sich noch mehr.

»Also wissen Sie, der werte Herr Doktor Friedrich hat viel zu tun. So etwas ist nicht professionell.«

Wieder kniff sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Lea schoss das Blut in die Wangen und sie presste die Zähne aufeinander. Sie ging einen Schritt auf den Tresen zu und verschränkte ihre Arme darauf. Mit einem kühlen Blick musterte sie die Dame von oben herab.

»Also wissen Sie, ich bin eine viel beschäftigte Reporterin. Wir müssen vorher genau prüfen, wen wir in unserer Sendung vorstellen. Nicht jeder bekommt diese Gelegenheit, immerhin sind wir kein Klatschprogramm. Aber wenn der werte Herr Doktor keine Zeit hat, ist das auch kein Problem. Es gibt genug Bewerber, die gerne in die Sendung wollen.«

Die Frau starrte sie einen Augenblick an und schluckte.

»Natürlich. Ich sage dem Herrn Doktor Bescheid.«

»Sehr gütig, danke.«

Noch bevor der Vorzimmerdrache sich von seinem Stuhl erheben konnte, ging eine Tür auf. Im Rahmen erschien ein imposanter Mann um die sechzig, der sich als Doktor Stefan Friedrich vorstellte. Sein dunkles Haar färbte sich an den Schläfen silbrig. Dass er nicht den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer saß, verrieten die gebräunte Haut und seine Figur. Mit einer einladenden Geste bedeutete er, in seinem Büro Platz zu nehmen.

---ENDE DER LESEPROBE---