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Susanna benötigt dringend frischen Wind in ihrem Leben! Nach einer kräftezehrenden Trennung kauft sie sich daher ein Hausboot, das in einem alten Industriekanal liegt. Dort lernt sie den attraktiven Engländer Phillip kennen, der sofort ein Auge auf sie wirft. Auch Thomas ist angetan – allerdings von einer spontanen, lebenslustigen Frau namens Laura, Susannas Mutter. Ihre Geschichte beginnt fast dreißig Jahre früher in Rom. Doch was noch niemand ahnt: Sie alle verbindet ein Geheimnis.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Karl-Adolf Günther
Susanna träumt
AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
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Titelbild: Karl-Adolf Günther, 1997
Lektorat: Katharina Strojek
ISBN 978-3-8372-2594-5
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
Juni 2019
2. Kapitel
Rom, August 1992
3. Kapitel
Mai 2019
4. Kapitel
Weihnachten 2018
5. Kapitel
Januar 2019
6. Kapitel
Juni 2019
7. Kapitel
Juni 2019
8. Kapitel
Rom, August 1992
9. Kapitel
Rom, August 1992
10. Kapitel
Juni 2019
11. Kapitel
Rom, August 1992
12. Kapitel
Juni 2019
13. Kapitel
Juli 2019
14. Kapitel
Rom, August 1992
15. Kapitel
Juli 2019
16. Kapitel
Pompeji, August 1992
17. Kapitel
August 2019
18. Kapitel
Rom, August 1992
19. Kapitel
August 2019
20. Kapitel
Rom, Ostern 1987
21. Kapitel
August 2019
22. Kapitel
Norfolk Broads, April 2000
23. Kapitel
August 2019
24. Kapitel
Oktober 1992
25. Kapitel
September 2019
26. Kapitel
Sizilien, Januar 1993
27. Kapitel
Sommer 1988
28. Kapitel
Rom, Mai 1994
29. Kapitel
London, September 2019
30. Kapitel
London 2007
31. Kapitel
London, September 2019
32. Kapitel
London, Oktober 2019
1. Kapitel
Juni 2019
19 m². Ziemlich knapp für eine ganze Wohnung. Und sie schaukelt etwas.
Raumhöhe vielleicht 1,80 m. Schon etwas beschränkt für Susanna mit ihren 1,72 m. Aber auch die 1,80 m gibt es nur im mittleren Bereich der Decke. An den Seiten , zu den Wänden hin, wird sie rund. Dort allerdings ist der Raum sowieso belegt mit Bad und anschließender Küchenzeile auf der einen und Tisch und Bett auf der anderen Seite. Hier wird es also nicht übertrieben gemütlich.
Das mit dünnen Wänden abgetrennte Bad hat immerhin das nötigste: Dusche, Waschbecken, Toilette – allerdings auf insgesamt 4 m². Auch darin kann sie sich nicht verlaufen.
Und das Ganze schaukelt immer noch und erinnert Susanna daran, dass sie gerade ernsthaft überlegt, ein Hausboot zu kaufen. Als ob dies für eine solche Entscheidung am wichtigsten wäre, denkt sie darüber nach, wie sie ihren Eltern nahebringen soll, hier jedenfalls mal für einige Zeit allein wohnen zu wollen. Mit dem für ihn typischen tatsächlich immer freundlichen Sarkasmus würde ihr Vater wahrscheinlich von einem Sarg mit eingebautem Klo sprechen.
Und wenn es auch nicht wirklich ein Sarg ist, ist es, das weiß auch Susanna, tatsächlich ein vorläufiger Endpunkt. Der Abschluss einer dauernden Flucht mit sich mehrfach ändernden Zielen. Zunächst in den letzten Jahren in dem noblen Elternhaus und in Nicos ebenfalls großzügiger Wohnung, von dort zurück zu ihren Eltern und nun – nach wenigen Monaten – hierher oder auch woanders hin, nur eben allein.
Sie ist jetzt 26 und hat bis vor drei Jahren, von Reisen und einem halbjährigen Sprachaufenthalt in England abgesehen, immer zu Hause bei ihren Eltern gewohnt, was nur dadurch funktionieren konnte, dass sie in der dreigeschossigen Villa eine ganze Etage für sich allein hatte und ihre Eltern auch klug genug waren, sie dort, zumindest während der letzten Jahre, weitgehend in Ruhe zu lassen.
Ihr Vater arbeitet schon seit Jahrzehnten im städtischen Klinikum als Anästhesist und Leiter der Intensivstation. Dort ist er Chefarzt und inzwischen auch der ärztliche Direktor der Klinik. Mit seinen knapp sechzig Jahren empfindet er all das zwar als ziemlich anstrengend, aber durch die damit verbundenen Kongresse und eigenen Vorträge dabei auch als intellektuell erfüllend. Trotz der unverändert geringen Freizeit ist er ausgesprochen zufrieden und finanziell absolut sorgenfrei.
Auch Susannas Mutter ist durch ihren Beruf zufrieden und zeitlich mehr als ausgefüllt. Sie übersetzt italienische Literatur ins Deutsche.
In der Stadt gilt die Familie mit der großzügigen Villa in ruhiger Lage als wirklich wohlhabend. Dies und die berufliche Situation ihres Vaters hat ganz natürlich zu Kontakten mit allen sonst wichtigen Persönlichkeiten der mittelgroßen Kreisstadt geführt. Und all dies betrachtet Susanna schon seit vielen Jahren immer dann mit Skepsis, wenn sich ein junger Mann für sie interessiert – für sie oder eben doch zumindest auch für das gesellschaftliche Trittbrett, das ihre Familie bieten kann.
Dabei besteht eigentlich kein Anlass für solch ein Misstrauen: Sie hat die Intelligenz ihrer Eltern geerbt und von ihrer Mutter, die man auch heute mit ihren 52 Jahren nur als Schönheit bezeichnen kann, ein hübsches fröhliches Gesicht, die tiefbraunen Augen, die lustige kleine Nase und einen etwas dunkleren Teint. Mit ihrer offenen Ausstrahlung fühlt sich so schon fast jeder Mann zu ihr hingezogen, auch wenn er die gesellschaftliche und finanzielle Situation ihrer Eltern nicht kennt.
Sie ist Halbitalienerin. Ihre Mutter stammt aus Sizilien. Sie und ihr Vater haben sich vor 27 Jahren in Rom kennengelernt, wo ihr Vater eine medizinische Tagung besucht hat und wo ihre Mutter damals Anglistik und Germanistik studierte, während sie abends in einer Trattoria bediente, in der ihr Vater zu Gast gewesen war. Wenn es so etwas wie „Liebe auf den ersten Blick“ gibt, scheint es das damals gewesen zu sein. Und Susanna ist aus dem Umgang ihrer Eltern miteinander, den sie seit Jahren genau beobachtet, sicher, dass diese Liebe – so spontan sie auch gewesen sein musste – wirklich Bestand hatte, immer noch hat, und das Leben ihrer Eltern unverändert erfüllt.
Ihr selbst ist etwas auch nur annähernd vergleichbares bisher leider nicht passiert. Und sie meint, mit 26 sei es nun doch langsam Zeit dafür.
2. Kapitel
Rom, August 1992
Samstagnachmittag. Thomas Brenner ist gerade im Tagungshotel angekommen. Gepflegtes Haus zwischen Hauptbahnhof und antikem Zentrum. Der Pharmakonzern hat nicht gespart. Großzügige Zimmer, Doppel auch für die Alleinreisenden, um allen Varianten in den freien Zeiten Platz zu bieten – und Gelegenheiten. Auch sonst ist alles kostenfrei: Flug, Reise, Vorträge, Frühstück und kulturelle Abendveranstaltungen mit gemeinsamen Kollegenessen (nichts liegt Thomas ferner) an allen vier Tagen.
Er war schon ganz lange nicht mehr in Rom. Die Stadt brütet – wie oft im August – in drückender Schwüle. Auch Leinen und Baumwolle – etwas anderes kommt sowieso nicht infrage – klebt nach wenigen Minuten feucht auf der Haut. Das erinnert ihn an Bangkok zur Regenzeit. Und wie dort sehnt man sich schon nach 300 m zu Fuß nach der nächsten Klimaanlage.
Alle Römer sind ans Meer geflüchtet, zumindest während des Wochenendes, die meisten länger. Und auch Touristen trifft man eher vereinzelt – kein Vergleich mit den Belagerungen von Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten in kühleren Reisemonaten.
Trotzdem will Thomas sich mehr mit der Stadt als mit den Vorträgen beschäftigen. Wie er schon zu Hause und im Flugzeug gehört hat, haben das die allermeisten seiner Kollegen (auch die ganz wenigen Kolleginnen) genauso geplant. Und auch bei der kurzen Begrüßungsansprache hat die Vertreterin der einladenden Firma zwar auf die wissenschaftliche Bedeutung der Vorträge (neue Erkenntnisse in der Intensivmedizin – natürlich mit pharmazeutischen Empfehlungen) und die Kompetenz der Referenten hingewiesen, gleichzeitig aber angekündigt, dass es weder eine Anwesenheitspflicht noch eine entsprechende Kontrolle gebe.
Und so wundert sich Thomas auch nicht, als er beim ersten Vortrag am Nachmittag lediglich sieben Kollegen im Vortragsraum vorfindet. Die anderen 141 verteilen sich, wie er später hört, ungefähr gleichmäßig zwischen Forum, Petersdom und den Shoppingangeboten im Umkreis der Spanischen Treppe.
So will es Thomas während der nächsten Tage auch machen. Zwar passt das Programm schon gut in die Fortbildung seiner beruflichen Spezifikation als Anästhesist und Arzt der Intensivstation im städtischen Klinikum. Aber andererseits ist es Sommer in Rom. Viele sind im Urlaub. Und davon will auch er etwas haben. Dass sich das noch am selben Abend mehr von selbst entwickelt, weiß er noch nicht.
Er hätte für sich natürlich auch einen normalen Urlaub zumindest für zwei Wochen planen können. Das Klinikum ist in der Anästhesie personell vernünftig besetzt. Und im Sommer ist es sowieso etwas ruhiger.
Aber allein macht ihm Reisen nicht so richtig Spaß. Mehrere Versuche nach dem unglücklichen Ende der intensiven Zeit mit Bea haben ihm das deutlich gemacht. Immer wieder hat er an besonders schönen Orten am Meer oder in einem Gebirge darüber nachgedacht, wie sich alles entwickelt hätte, wenn…
Seit vier Jahren hat er jetzt nichts mehr von ihr gehört, weiß nicht einmal, ob das Baby, das sie (wahrscheinlich) auf die Welt gebracht hat, ein Junge oder ein Mädchen ist.
3. Kapitel
Mai 2019
Mike sitzt in seinem lichtdurchfluteten Büro und arbeitet an einem Konzept für ein viergeschossiges Laden- und Praxis-Gebäude, der Auftrag eines kapitalgesegneten Investors an das Planungsbüro, in dem er – jetzt 29 Jahre alt – als jüngster Architekt tätig ist.
Gut behütet und ohne finanzielle Sorgen ist er groß geworden, konnte sein Studium ohne Umwege und ohne Zeitverlust für Nebenjobs erfolgreich zum Abschluss bringen. Die attraktive Stelle in dem Planungsbüro mit Partnerschaftsperspektive kam dann fast von selbst. Ähnlich war es mit seiner Beziehung mit der Tochter des Seniors, Elaine, der Partnerschaftsperspektive sicher zuträglich, wie viele im Büro tuscheln. Sie ist zwei Jahre jünger als er, klug, Rechtsreferendarin mit gutem ersten Staatsexamen. Seit etwas mehr als einem Jahr leben sie zusammen in einer großzügigen Vierzimmerwohnung (kostenfrei, gehört Elaines Vater), minimalistisch eingerichtet, wie das Haus ihrer Eltern auch und das gesamte Planungsbüro ebenso. Bauhausorientiert hat man den Eindruck: rechteckige Stühle und Sessel, rechteckiger Tisch, darauf rechteckige Schale mit allerdings runden Äpfeln (gab es noch nicht eckig), auch die aber immerhin zu viert in einem Quadrat angeordnet, essen verboten (oder falls doch, dann alle!).
Alles ein bisschen viel Automatismus, ein bisschen viel Planung und vorgegebene Abläufe, ein bisschen viel Reibungslosigkeit und für noch nicht einmal 30 ein bisschen wenig Abenteuer und Unvorhergesehenes.
Elaine ist durchaus hübsch – mittelgroß, schlank, dunkelblonde recht kurz geschnittene Haare, absolut gepflegt (immer) und perfekt gestylt, aber irgendwie unnahbar. Den Eindruck hatte er schon am Anfang, war sich aber sicher gewesen, dass sich das durch längeres Zusammensein und Vertrautwerden ändern würde – ein Irrtum, wie er inzwischen weiß. Und auch die erotischen Stunden mit ihr machen ihm zwar Freude, nur bleibt danach nichts zurück außer dem körperlichen Wohlbefinden eben – kein Gefühl, das zärtlicher wäre als vorher, keine anhaltende Nähe. Nichts als eine kleine Explosion ohne viel vorher und mit fast nichts danach.
Der einzige Freund, mit dem er darüber sprechen kann, acht Jahre älter als er, erklärt ihm immer wieder, solche Zweifel seien Quatsch, denn in 20 Jahren sei das sowieso alles nicht mehr wichtig, dann gehe es um anderes. Mike hält das für denkbar, aber 20 Jahre ohne richtige Highlights im Bett und ohne zärtliche Nähe danach…?
Er weiß ja aus dem einen gemeinsamen Jahr mit Franzi, dass das anders sein kann. Sie war eine Studienkollegin im zweiten und dritten Semester gewesen. Auf eine gemeinsame Nacht konnten sie sich den ganzen Abend vorher schon (manchmal auch den ganzen Tag lang) freuen. Und das Abenteuer selbst klang ganz lange nach, auch am nächsten Tag noch. Sie waren dann einfach enger zusammen.
Franzi war lebhaft, spaßig, absolut süß und klug, im Studium war sie mindestens so gut gewesen wie er. Und alle hatten ihn um sie beneidet.
Aber sie kam aus einem bescheidenen Elternhaus und kannte eigentlich niemanden, der in der Stadt wichtig war. Nie hätte sie eine Chance auf eine Stelle in dem Planungsbüro gehabt, wo er problemlos aufgenommen worden war. Schon der Name Franziska war ja nicht gerade geeignet für modernes perspektivisches Denken. „Franzi“ erst recht nicht. Und irgendeine Unterstützung seiner beruflichen Ziele war von ihr überhaupt nicht zu erwarten, eher im Gegenteil, weil ihr – und damit auch ihm – nicht wenige übel nehmen würden, dass man hübsch und intelligent und im Studium grandios sein konnte, ohne bereit zu sein sich anzupassen.
Mehr und mehr hatte das an ihm genagt. Und als sie nach etwas mehr als einem Jahr damit kam, ihre Eltern würden sie inzwischen regelmäßig mit der Frage bedrängen, ob ihr Freund (also er) nicht doch bald an ernstere Konsequenzen denke, nahm er das zum Anlass, ihre Beziehung zu beenden. Für sie war das eine Katastrophe. Sie hatte noch ein paar Wochen versucht, sich und ihn in die alte Situation zurückzubringen, hatte versichert, dass sie sich von den antiquierten Vorstellungen ihrer Eltern durchaus lösen und auch auf Dauer mit ihm zusammenleben könnte, ohne verheiratet zu sein, bis sie dann gemerkt hatte, dass mehr hinter seiner Flucht, wie sie das nun empfand, stand, und es aufgegeben hatte.
Sie hatte die Universität gewechselt und jeden weiteren Kontakt mit ihm abgelehnt.
Dass er das inzwischen schon mehr als hundert Mal bereut hat, empfindet sogar er selbst so, dass es ihm recht geschieht.
Seitdem sind Abenteuer aus seinem Leben verschwunden.
Es ist kurz vor zwölf, als sein Vater anruft. Ungewohnt, meist meldet er sich am Wochenende einmal. So einen Anruf an einem Werktag hat es schon einmal letzte Woche gegeben. Da hat sein Vater ihm mitgeteilt, sein älterer Bruder, Mikes Onkel, sei verstorben, ganz plötzlich ohne jede Vorankündigung. Mike hat das kaum berührt, seinen Vater wohl auch nicht. Die Brüder hatten sich nie gemocht und auch kaum Kontakt, Mike mit seinem Onkel deswegen noch weniger. Er war viel älter als sein Vater und jetzt eben mit 76 gestorben.
Die Beerdigung hatte schon in der letzten Woche stattgefunden. Seine Eltern sind dort gewesen – schon wegen „der Leute“. Mike nicht.
Jetzt berichtet sein Vater von dem Testament, das er inzwischen von einem Notarkollegen in Kopie erhalten hat – nichts Überraschendes außer einem Vermächtnis für Mike, verbunden mit der Erklärung, er (der verstorbene Onkel) könnte sich nicht vorstellen, dass sonst jemand in der Familie oder seinem Freundeskreis damit etwas anfangen kann: Sein Hausboot am alten Industriekanal, das auch er selbst nur ganz selten einmal benutzt hat.
4. Kapitel
Weihnachten 2018
Bei Nico hatte Susanna die Befürchtung nie gehabt, er könne sie als Steigbügel für seine Steuerberaterkarriere oder als Trophäe betrachten, eines der schönsten Mädchen der Stadt, wie er selbst einmal (ganz am Anfang) gesagt hatte. Er selbst sah auch toll aus, sportlich mit knapp 1,90 m, schlank, dunkelbraunes Haar und ein markantes, abenteuerliches Gesicht (darauf beschränkten sich die Abenteuer bei ihm später allerdings), in dem die dezente, randlose Brille nicht störte. Sie sahen schon wirklich sehr gut aus zusammen.
Klug war er auch. Unterstützung für sein berufliches Vorankommen konnte er aber trotzdem sicher gebrauchen. Steuerberater gab es in der nicht allzu großen Stadt schon jetzt genug. Und seine Eltern – ausgesprochen lieb, aber ohne „wichtige“ Kontakte – konnten ihm dabei nicht helfen. Susanna hatte das nie auch nur im Geringsten gestört. Und falls das bei ihren Eltern anders gewesen sein sollte, hatten die es perfekt verborgen und auch ihr gegenüber damals nicht angedeutet, als sie vor eineinhalb Jahren in seine Wohnung gezogen war.
Nicht nur wegen seines guten Aussehens hatte er sie zur persönlichen Aufwertung eigentlich nicht gebraucht. Er war auch unterhaltsam und gerade in Gesellschaft ausgesprochen witzig. Und es hatte, wie man in der Stadt wusste, schon vorher nicht wenige gegeben, die länger mit ihm befreundet gewesen waren, alle nicht hässlich.
So ein paar Wochen vor Weihnachten hatte sie dann aber eine Abkühlung und Distanz gespürt, die, da war sie sich sicher, nicht von ihr aus ging. Er blieb öfter abends länger in seinem Büro. Gemeinsame Unternehmungen und Freunde nahmen ebenso ab, wie zum Beispiel Restaurantbesuche zu zweit – Komplimente erst recht – und auch zärtlich aufregende Nächte fanden praktisch nicht mehr statt. Da sie früher beide (da ist sie sich inzwischen allerdings auch nicht mehr ganz sicher) daran sehr viel Spaß gehabt hatten, wählte sie dieses Thema als Einstieg für ein Gespräch mit ihm über die insgesamt traurig veränderte Situation. Das aber verweigerte er trotz mehrerer Anläufe.
Und so bittet Susanna ihre Mutter, Heiligabend in diesem Jahr wieder bei ihnen verbringen zu dürfen – alleine, also wie früher einfach zu dritt. Und sie nimmt ihr noch das Versprechen ab, eventuellen Rückfragen von Nico damit zu begegnen, sie, also ihre Mutter und ihr Vater, hätten sich dieses intime Familienfest gewünscht und Susanna darum gebeten.
Abgesehen von dem eher deprimierenden Anlass wird es trotz allem wirklich schön. Ihr Vater ist einen halben Tag lang unterwegs gewesen, um für das Weihnachtsmenü, das er sorgsam zusammengestellt und bei dem er ihre Vorlieben berücksichtigt hat, einzukaufen. Und so verbringen sie mehr als drei Stunden mit ruhiger, aber nicht nur klassischer Weihnachtsmusik.
Es beginnt gegen halb acht mit dem obligatorischen Glas Champagner, das ihr Vater Susanna nur halbvoll schenkt, weil er weiß, dass sie den eigentlich nicht sehr gern mag und nur aus Geselligkeit mittrinkt. Bei der folgenden Beerenauslese von der Nahe ist das ganz anders. Davon gibt es aber sowieso nur ein kleines Glas (danach darf der Wein bis zum Dessert wieder ausruhen) zu einer Scheibe Foie gras mit selbstgemachtem Waldorfsalat, den ihr Vater immer etwas stärker zuckert als der, den man kaufen kann, und lauwarmem Rosinenbrot.
Danach kommt schottischer Räucherlachs mit einer Crème double, Petersilie und Szechuanpfeffer, natürlich mit sizilianischem Weißwein vom Gut ihrer Großeltern.
Für den Hauptgang muss ihr Vater einige Zeit in die Küche verschwinden. Und wie Susanna das schon erwartet hat, nimmt ihre Mutter die Gelegenheit wahr, DAS Thema doch einmal anzusprechen:
„Ich sehe schon länger, dass es dir nicht gut geht. Und so sehr wir uns darüber freuen, dich gerade heute hier zu haben, ist es ja sicher nicht das, was du an Heiligabend eigentlich vorhattest. Natürlich kannst du, wenn dir irgendwann danach ist, immer mit mir darüber sprechen – und mit deinem Vater auch. Vielleicht ist bei so etwas gerade die männliche Optik hilfreich. Aber das muss nicht sein, wenn du das nicht möchtest.“
Als Susanna dem nur mit Schweigen begegnet, fährt ihre Mutter unbeirrt fort:
„Aus meiner eigenen Erfahrung mit solchen Entscheidungen will ich aber heute Abend doch noch loswerden, dass du das nicht allein rational angehen, sondern zumindest auch auf deine Gefühle hören solltest. Ich habe das vor 27 Jahren in Rom und in den Monaten danach auch so gemacht und nie bereut. Natürlich war es ein Risiko, zu deinem Vater hierherzuziehen. Und ganz viele haben mir davon abgeraten. Ich war damals so hübsch wie du heute, beliebt und hatte viele Freunde. Und ich hätte bestimmt auch in Rom oder Sizilien einen Mann gefunden, der sich gut um mich gekümmert und mit mir eine Familie aufgebaut hätte, das alles ohne die Ungewissheiten, die mich in Deutschland erwartet haben. Das war damals also nicht unbedingt klug. Aber es war das, was meine Gefühle wollten. Und heute weiß ich, dass es richtig gewesen ist. Natürlich sieht man sowas immer erst hinterher, manchmal Jahre später, und dann kann es auch sein, dass man erkennt, sich falsch entschieden zu haben. Aber Gefühle auszublenden, um vielleicht auf der sicheren Seite zu sein, wenn man die eigene Zukunft plant, ist, so sehe ich das, schon von vornherein falsch. So haben deine Gefühle dann nicht einmal die Chance, es richtig zu machen. Ich habe die Chance genutzt und bin sehr glücklich dadurch geworden.“
Für mehr reicht die Zeit nicht. Aber Laura ist auch all das losgeworden, was ihre Tochter heute Abend mitnehmen soll.
Schon kommt Thomas aus der Küche mit einem kleinen Kalbsfilet mit Steinpilzsoße und Kartoffelgratin. Auch dazu gibt es den Regaleali aus Sizilien, der Susanna nach und nach in zunehmend nachdenklichere Stimmung versetzt – dann weiter vertieft durch den folgenden weichen, aber schweren Barolo, den ihr Vater zu dem kleinen Käseteller mit drei verschiedenen französischen Rohmilchkäsen schon vor Stunden geöffnet hat.
Dazu frisch aufgebackenes Baguette.
Danach fehlt nur noch das Dessert, Lauras Part, weil sie aus der Trattoria, in der sie damals in Rom beschäftigt gewesen ist, mitgenommen hat, wie man eine unvergleichliche Panna Cotta zubereitet. Die steht natürlich schon kalt, muss nur noch mit ein paar Beeren dekoriert werden.
Aber bevor Laura dafür in die Küche geht – auch um die Maschine für den anschließenden Espresso in Gang zu setzten – sollen Päckchen ausgepackt werden. Es ist ja immerhin Weihnachten.
Susanna bekommt ein liebevoll verschnürtes Knallbonbon, in dem sie einen Gutschein findet für einen: „Hin- und Rückflug nach und von Sizilien mit freier Zeitwahl und beliebig langem Aufenthalt bei deinen Großeltern, die sich schon sehr auf dich freuen. Wann immer du möchtest – egal, ob dir vielleicht nach einer Auszeit nur für dich ist, oder aber auch gerne mit uns zusammen über Silvester und Neujahr vom 28. Dezember bis 7. Januar. Wir hätten dich gerne dabei und versprechen schon jetzt, dich immer dann in Ruhe zu lassen, wenn dir danach ist.“
Und das ist dann doch zu viel. Die mit Erinnerungen an frühere Weihnachten verbundene Stimmung, der etwas gequält bisher ausgegrenzte Grund für den Heiligabend diesmal wieder zu dritt, die inzwischen doch ordentliche Menge der leckeren Weine – und das jetzt noch. Susanna heult los.
Gegen halb zwölf steigt sie, dann doch wieder getröstet, – ein wenig auch durch den abschließenden im Barrique gereiften Grappa – vorsichtig die Treppe hoch zu ihrer alten unveränderten Wohnung im zweiten Stock und fällt dort ganz schnell ins Bett, fühlt noch ihren außergewöhnlich kugeligen Bauch und ist sehr, sehr froh, sicher zu wissen, dass dafür nur das üppige Weihnachtsmenü verantwortlich ist.
Das an diesem Heiligabend erlebte wirkt fort, auch das, was sie an Lauras Monolog vor dem Kalbsfilet noch gut in Erinnerung hat.
Susanna sagt das Mittagessen am ersten Feiertag bei Nicos Eltern ab, was ihr für die beiden, aber auch nur für sie, leid tut. Ebenso die bei Freunden geplante Silvesterfeier. Und sie fliegt mit ihren Eltern am 28. Dezember nach Sizilien.
5. Kapitel
Januar 2019
Susanna bleibt eine Woche länger bei ihren Großeltern in Sizilien. Auch sie lassen ihr ganz viel Zeit für sich.
Als sie Mitte Januar nach Deutschland zurückfliegt, sieht sie einen neuen Weg zwar noch nicht klar vor sich, weiß aber, dass der alte zu Ende ist.
Das Gespräch mit Nico verläuft unspektakulär. Die Ereignisse von Weihnachten und Silvester und die sie begleitende Funkstille hatten ihn wohl darauf vorbereitet. Dennoch wirkt er für Susanna so unbeteiligt, dass sie spätestens jetzt weiß, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.