Süßer Sieg der Leidenschaft - Tessa Dare - E-Book

Süßer Sieg der Leidenschaft E-Book

Tessa Dare

4,8
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Manchmal muss ein Mann verlieren, um das Herz einer Frau zu gewinnen ...

Junge Damen finden in Spindle Cove einen bezaubernden Rückzugsort fernab der Männerwelt. Ausgerechnet hierhin verschlägt es den attraktiven Victor Bramwell, der von dort die Angriffe Napoleons abwehren soll. Doch der drohende Feind ist bald sein geringstes Problem, denn Suzanna Finch, die ebenso schöne wie stolze Gründerin von Spindle Cove, ist nicht bereit, ihr weibliches Refugium kampflos aufzugeben. Als zwischen den beiden leidenschaftlichen Funken sprühen, stellt sich bald die eine Frage: Wie kannst du gewinnen, wenn es so viel zu verlieren gibt?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 559

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
16
0
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die schöne und freiheitsliebende Susanna Finch liebt ihr Leben in dem kleinen Küstenort Spindle Cove. Sie hat dort junge Damen um sich versammelt, die ihre Träume verwirklichen wollen und keine Lust auf ein Leben haben, in dem sich alles um die Suche nach dem richtigen Mann und ums Heiraten dreht.

Victor Bramwell bekommt den Auftrag, mit einer kleinen Militäreinheit die Küste Englands zu bewachen, und wird ausgerechnet nach Spindle Cove versetzt. Schnell merkt er, dass er in diesem Stästchen nicht willkommen ist. Um seine Mission zu erfüllen, muss Victor jedoch ausharren – und schließlich verführt ihn auch der Anblick der temperamentvollen Susanna zum Bleiben. Die wiederum gibt sich größte Mühe, ihre leidenschaftlichen Gefühle für Victor zu ignorieren – genau die richtige Herausforderung für einen Mann, der es gewohnt ist, das Kommando zu haben.

Autorin

Tessa Dare ist halbtags Buchhändlerin und ganztags Mutter. Wenn sie sich nicht um ihre Kinder oder ihre Bücher kümmert, schreibt sie Romane. Als Kind ist sie ständig umgezogen und hat schnell gelernt: Egal wie oft sie den Wohnort wechselt, eine bestimmte Sorte von Freunden bleibt ihr immer: die Helden aus den Romanen, die sie gelesen hat. Aus diesem Grund entschied sie eines Tages, sich selbst ihre eigenen Freunde zu schaffen und Romane zu schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und ihrem Hund in Kalifornien.

Von Tessa Dare bereits bei Blanvalet erschienen:

Wirbelsturm der Liebe, Leidenschaftliche Rache, Ein verführerischer Tanz, Zwei sündige Herzen, Drei sinnliche Nächte

Tessa Dare

Süßer Siegder Leidenschaft

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Beate Darius

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel»A Night to Surrender« bei Avon Books,an imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung September 2015bei Blanvalet, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 2011 by Eve OrtegaCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesignUmschlagmotiv: © Chris CocozzaRedaktion: Melike KaramustafaBS · Herstellung: samSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-15900-9www.blanvalet.deBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

Für meine Mom, in Liebe.Heilerin, Lehrerin, Autorin, Vorbild, Freundin.

1

Sussex, EnglandSommer 1813

Bram starrte in ein Paar großer dunkler Augen. Augen, die erstaunlich viel Intelligenz zeigten. Es bestand berechtigte Hoffnung, dass dies ein Exemplar der dünn gesäten Gattung Weibsbild war, mit der sich als Mann vernünftig reden ließ.

»Nun denn«, hob er an. »Wir können die Dinge auf einfache Weise regeln oder es kompliziert machen.«

Mit einem verächtlichen Schnauben wandte sie den Kopf ab. Es war, als hätte er aufgehört zu existieren.

In seinem Stolz getroffen, verlagerte Bram das Gewicht auf sein gutes Bein. Er war Oberstleutnant der britischen Armee, und mit einer Größe von über einem Meter achtzig gab er, so wurde ihm stets vermittelt, eine beeindruckende Figur ab. Für gewöhnlich genügte ein strenger Blick seinerseits, um aufflackernden Ungehorsam im Keim zu ersticken. Er war es nicht gewohnt, mit Verachtung gestraft zu werden.

»Wohlan, Ohren aufgesperrt!« Er zog sie unsanft am Ohr und senkte seine Stimme zu einem finsteren Grollen. »Wenn Ihr wisst, was gut für Euch ist, dann tut, wie von mir geheißen.«

Obschon sie kein Wort sprach, war ihre Antwort klar: Er kann mich mal an meinem dicken wollenen Hinterteil kratzen.

Verfluchte Schafe.

»Ah, das englische Landleben. So bezaubernd. Und so … wohlriechend.« Colin hatte sich seines edlen, von Londoner Maßschneidern gefertigten Gehrocks entledigt und watete durch das hüfttiefe Meer aus Wolle auf ihn zu. Er tupfte sich den feinen Schweißfilm mit seinem Hemdsärmel von der Stirn und fragte: »Ich nehme nicht an, dass das bedeutet, dass wir einfach umkehren werden?«

Vor ihnen hatte ein Junge seinen Handkarren zu Fall gebracht, woraufhin sich der geladene Mais über die gesamte Landstraße ergossen hatte. Die Szenerie glich einem offenen Büfett, und jeder Widder, jedes Mutterschaf in Sussex schien der Einladung gefolgt zu sein. Rings um den bedauernswerten Jungen blökte eine riesige Schafherde, die sich um die verstreuten Körner balgte – und Brams Fuhrwerken die Weiterfahrt versperrte.

»Sollen wir die Gruppen in umgekehrter Reihenfolge laufen lassen?«, fragte Colin. »Vielleicht können wir außen herum fahren, eine andere Straße finden.«

Mit einer ausgreifenden Handbewegung deutete Bram auf die Umgebung. »Es gibt keine andere Straße.«

Sie standen inmitten der furchigen, unbefestigten Passstraße, die sich durch ein enges Tal schlängelte. Eine undurchdringliche Böschung aus Stechginster erhob sich an einer Seite, auf der anderen trennten einige Dutzend Meter Heidelandschaft die Straße von bedrohlich steil abfallenden Felshängen. Und darunter – tief darunter – lag die funkelnde türkisfarbene See. Die Luft war witterungsbedingt trocken und klar, und Bram blinzelte angestrengt zu jener dünnen indigoblauen Linie des Horizonts, wo er vielleicht sogar die Nordküste Frankreichs erspähen könnte.

So nah. Dorthin wollte er. Nicht heute, aber bald. Er hatte hier einen Auftrag zu erfüllen, und je rascher er diesen erledigte, umso eher konnte er sich wieder seinem Regiment anschließen. Er würde vor nichts und niemandem kapitulieren.

Außer vor Schafen. Zum Henker damit. Es schien tatsächlich so, dass sie vor Schafen kapitulieren mussten.

Eine schroffe Stimme ertönte: »Ich werde mich ihrer annehmen.«

Thorne gesellte sich zu ihnen. Bram ließ den Blick zur Seite schweifen und erspähte seinen massigen Koloss von Unteroffizier, der soeben ein Steinschlossgewehr anlegte.

»Wir können sie nicht einfach erschießen, Thorne.«

In gewohnt striktem Gehorsam senkte der Angesprochene sofort seine Waffe. »Ansonsten habe ich auch ein Entermesser zur Hand. Ich habe die Klinge erst gestern Abend geschärft.«

»Wir können sie auch nicht abschlachten.«

Thorne zuckte mit den Achseln. »Ich bin hungrig.«

Ja, das war Thorne – freimütig, pragmatisch. Unerbittlich.

»Wir sind alle hungrig.« Brams Magen knurrte wie zur Bekräftigung dieser Feststellung. »Unser erstes Ziel sollte jedoch sein, den Weg freizuräumen, und ein totes Schaf ist schwerer zu bewegen als ein lebendes. Wir werden nicht umhinkommen, die Herde weiterzutreiben.«

Thorne senkte seine Büchse und sicherte sie, um die Waffe dann mit einer geschmeidigen Bewegung herumzuschwenken und den Kolben in eine wollene Flanke zu rammen. »Beweg dich, du nutzloses Stück Vieh.«

Das Tier trottete behäbig einige Schritte den Hang hinauf, als wollte es die umstehende Herde dazu anspornen, es ihm nachzutun. Am Fuße des Hangs trieben die Fuhrleute die Wagen voran, ehe sie abermals deren Bremsen feststellten, nicht willens, auch nur einen der wenigen, hart erkämpften Zoll des Fortkommens wieder herzugeben.

Die beiden Fuhrwerke waren mit einer Fülle von Waren beladen, um Brams Regiment damit auszustatten: Musketen, Lunten, Schwarzpulver, Wolldrillich und Serge für Uniformen. Er hatte an nichts gespart, und er würde sie diesen Berg hinaufschaffen. Selbst wenn es dafür den ganzen Tag brauchte und ihm bei jedem Schritt ein glühender Schmerz vom Schenkel bis ins Schienbein fuhr. Seine Vorgesetzten glaubten, er wäre noch nicht genügend genesen, um erneut das Feldkommando zu übernehmen? Er würde sie Lügen strafen. Indes, eins nach dem anderen.

»Es ist absurd«, grummelte Colin. »Bei diesem Tempo werden wir nicht vor dem nächsten Dienstag eintreffen.«

»Hör auf zu reden. Beweg dich lieber.« Als Bram mit seinem Stiefel nach einem Schaf trat, zuckte er stöhnend zusammen. Einmal abgesehen von seinem Bein, das ihn fast umbrachte, war ein Plagegeist das Letzte, was er jetzt brauchte, aber genau das war es, was er geerbt hatte, nebst sämtlichem Nachlass seines Vaters: die Verantwortung für seinen nichtsnutzigen Cousin, Colin Sandhurst, Lord Payne.

Er trat nach einer weiteren Schafflanke und erntete dafür ein missfälliges Blöken und ein paar Zentimeter zusätzlichen Raum.

»Ich habe eine Idee«, sagte Colin.

Bram schnaubte, das überraschte ihn wenig. Als erwachsene Männer waren er und Colin kaum mehr als Fremde füreinander. Doch nach den wenigen Jahren, in denen sie sich in Eton überschnitten hatten, wusste er, dass sein jüngerer Cousin stets voller Ideen steckte. Ideen, die ihn knietief in die Scheiße geritten hatten. Buchstäblich bei mindestens einer Gelegenheit.

Colin spähte mit zusammengekniffenen Augen von Bram zu Thorne und wieder zurück. »Ich frage euch, Gentlemen. Sind wir im Besitz einer großen Menge Schwarzpulvers oder nicht?«

»Ruhe ist die Seele unserer Gemeinschaft.«

Keine Viertelmeile entfernt saß Susanna Finch in dem mit Spitzengardinen ausstaffierten Salon des Queen’s Ruby, einer Pension für wohlerzogene junge Damen. Bei ihr saßen die neu eingetroffenen – hoffentlich zukünftigen – Pensionsgäste, eine Mrs. Highwood und ihre drei unverheirateten Töchter.

»Hier in Spindle Cove genießen junge Damen eine wohltuend erbauliche Atmosphäre.« Susanna deutete auf eine Gruppe von Damen, die um den Kamin geschart saßen und eifrig in ihre Handarbeiten vertieft waren. »Sehen Sie? Ein Bild bester Gesundheit und vornehmer Kultiviertheit.«

Gleichzeitig blickten die jungen Damen von ihren Stickrahmen auf und lächelten ein artiges, wohlfeiles Lächeln.

Ausgezeichnet. Susanna bedachte sie mit einem anerkennenden Nicken.

In der Regel hätten die Ladys von Spindle Cove einen solch schönen Nachmittag niemals damit vergeudet, mit einer Handarbeit in der Stube herumzuhocken. Stattdessen hätten sie Spaziergängen in der freien Natur, Seebädern in der kleinen Bucht oder Kletterpartien in den Felsen gefrönt. Aber an Tagen wie diesem, wenn neue Gäste das Dorf besuchten, war jedem gegenwärtig, dass ein gewisses Maß an Anstand und Schicklichkeit unerlässlich war. Susanna war niemand, der vor einem harmlosen kleinen Betrugsmanöver zurückscheute, wenn es galt, das künftige Wohlergehen einer jungen Frau zu sichern.

»Darf ich Ihnen noch eine Tasse Tee anbieten?«, fragte sie, derweil sie Mrs. Nichols, der betagten Pensionswirtin, eine frische Kanne abnahm. Wenn Mrs. Highwood die jungen Damen zu genau in Augenschein nahm, dürfte ihr auffallen, dass Kate Taylors Stickarbeit gälische Spottverse zierten. Oder dass in Violet Winterbottoms Nadel gar kein Faden steckte.

Mrs. Highwood blähte die Nasenflügel. Obschon der Tag mild war, fächelte sie sich mit aller Heftigkeit Luft zu. »Nun, Miss Finch, vielleicht vermag dieser Ort bei meiner Diana Positives zu bewirken.« Sie blickte zu ihrer ältesten Tochter. »Wir haben die allerbesten Ärzte konsultiert und uns wahrlich an einer Vielzahl von Behandlungen versucht. Ich habe sie sogar nach Bath zu einer Kur begleitet.«

Susanna nickte mitfühlend. Ihrer Einschätzung nach hatte Diana Highwood seit jungen Jahren an Anfällen leichten Asthmas gelitten. Mit ihren flachsblonden Haaren und dem rosigen Schwung ihres schüchternen Lächelns war die älteste Miss Highwood eine wahre Schönheit. Ihre zarte Gesundheit hatte bislang vereitelt, was mit ziemlicher Gewissheit ein sensationelles gesellschaftliches Debüt geworden wäre. Indes hegte Susanna den Verdacht, dass es an der Vielzahl medizinischer Koryphäen und Behandlungen lag, dass die junge Frau fortwährend kränkelte.

Sie bedachte Diana mit einem freundlichen Lächeln. »Ich bin mir sicher, dass ein Aufenthalt in Spindle Cove Miss Highwoods Gesundheit sehr zugutekommen wird. Ihnen allen, im Übrigen.«

Im Laufe der vorangegangenen Jahre war Spindle Cove der Seebadeort erster Wahl für einen gewissen Typ junger Dame aus gutem Hause geworden; jenen Typ, von dem man nicht recht wusste, wie mit ihm zu verfahren sei. Er umfasste die Kränkelnden, die Skandalumwitterten und die hoffnungslosen Mauerblümchen; junge Gemahlinnen, von der Ehe enttäuscht, und junge Mädchen, die sich zu sehr für die falschen Männer entzückten … Sie alle wurden hier abgeliefert – von denen, die ihre Erziehung verantworteten und denen sie Verdruss bereiteten – in der Hoffnung, dass die Seeluft sie von ihren Gebrechen heilen würde.

Als einzige Tochter des einzigen ortsansässigen Adligen war Susanna der Not gehorchend Repräsentantin und Gastgeberin ihres Dorfes. Diese schwierigen jungen Damen, derer sich niemand annehmen mochte – sie wusste, wie mit ihnen zu verfahren war. Oder, besser gesagt, wusste sie, wie mit ihnen nicht zu verfahren war. »Kuren« waren keinesfalls erforderlich. Sie benötigten weder Ärzte, die ihnen Lanzetten in die Venen trieben, noch Mädchenpensionate mit Erzieherinnen, die auf ihrer Ausdrucksweise herumritten. Sie brauchten schlicht und ergreifend einen Ort, an dem sie sie selbst sein konnten.

Spindle Cove war ein solcher Ort.

Mrs. Highwood malträtierte weiter ihren Fächer. »Ich bin eine Witwe ohne Söhne, Miss Finch. Einer meiner Töchter fällt das Los zu, eine gute Partie zu machen, und zwar möglichst bald. Ich hatte solche Hoffnungen in Diana gesetzt, liebreizend, wie sie ist. Doch wenn sie sich in der nächsten Saison nicht besserer Gesundheit erfreut …« Sie wies mit einer geringschätzigen Geste auf ihre mittlere Tochter, die unscheinbar im Hintergrund saß, ganz der Brille tragende Widerspruch zu ihren hübschen blonden Schwestern. »Mir wird keine Wahl bleiben, als Minerva an ihrer statt debütieren zu lassen.«

»Aber Minerva interessiert sich nicht für Männer«, gab Charlotte zu bedenken. »Sie zieht Schmutz und Steine vor.«

»Selbiges nennt sich Geologie«, erklärte Minerva. »Es ist eine Wissenschaft.«

»Papperlapapp, eine Grille verschmähter Jungfern, genau das ist es, was es ist! Absonderliches Mädchen! Tu mir wenigstens den Gefallen und sitz gerade auf deinem Stuhl.« Mrs. Highwood seufzte und fächelte sich noch inbrünstiger zu. An Susanna gerichtet, gestand sie: »Ich verzweifle noch an ihr. Das ist der Grund, weshalb Diana unbedingt zu Kräften kommen muss, verstehen Sie. Oder können Sie sich Minerva in der feinen Gesellschaft vorstellen?«

Susanna, die sich dies mit Leichtigkeit vorzustellen vermochte, versagte sich ein Lächeln. Vermutlich würde es ihrem eigenen Debüt ähneln. Wie Minerva war sie von eher undamenhaften Beschäftigungen angetan und das Objekt der ausgesprochenen Verzweiflung ihrer weiblichen Anverwandten gewesen. Auf Bällen war sie immer die sommersprossige Amazone gewesen, eine Außenseiterin, die sich überglücklich geschätzt hätte, mit dem Muster der Wandverkleidungen zu verschmelzen, wenn ihre Haarfarbe dies zugelassen hätte.

Und was die Gentlemen betraf, die sie dort angetroffen hatte … nicht einem war es gelungen, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte sich auch keiner von ihnen redlich bemüht.

Mit einem Achselzucken schüttelte sie die missliebigen Erinnerungen ab. Diese Zeit lag jetzt hinter ihr.

Mrs. Highwoods Blick fiel auf ein Buch, das am Rand des Tisches lag. »Ich bin erfreut zu sehen, dass Sie Mrs. Worthingtons in Reichweite haben.«

»Oh ja«, erwiderte Susanna und griff nach dem in blaues Leder gebundenen Wälzer. »Sie werden überall im Dorf auf Exemplare von Mrs. Worthingtons Weisheiten treffen. Wir finden, dass es ein überaus nützliches Buch ist.«

»Hörst du das, Minerva? Du würdest gut daran tun, dir dies zu Herzen zu nehmen.« Als Minerva mit den Augen rollte, sagte Mrs. Highwood: »Charlotte, öffne es gefälligst. Lies laut den Anfang von Kapitel zwölf vor.«

Charlotte tat, wie ihr geheißen, räusperte sich und las mit theatralischer Stimme vor. »Kapitel zwölf. Die Gefahren übertriebener Bildung. Der Verstand einer jungen Dame sollte in jeglicher Hinsicht wie ihre Leibwäsche sein. Präsent, von jungfräulicher Reinheit und unsichtbar für den zufälligen Beobachter.«

»Ja, ja, ganz recht. Dem ist so«, ereiferte sich Mrs. Highwood. »Da hörst du es, Minerva. Spitz die Ohren, und vertrau auf jedes Wort. Wie Miss Finch bereits erwähnte, wirst du dieses Buch noch für sehr nützlich befinden.«

Susanna nahm gleichmütig einen Schluck Tee, bemüht, damit den bitteren Klumpen Verärgerung hinunterzuschlucken. Sie war ganz gewiss keine aufbrausende oder übermäßig empfindsame Person. Einmal aufgebracht, hatte sie jedoch Mühe, ihr Temperament zu zügeln.

Und jenes Buch brachte sie auf, maßlos sogar.

Mrs. Worthingtons Weisheiten für junge Damen waren der Fluch aller aufgeweckter, gescheiter Mädchen dieser Welt; jede Seite vollgestopft mit einfältigen, unheilvollen Ratschlägen. Susanna hätte das Papier am liebsten mit Mörser und Stößel zu Pulver verarbeitet, das Behältnis mit einem Etikett mit Totenschädel und gekreuzten Knochen versehen und in ihrer Vorratskammer auf das höchste Regalbord gestellt, gleich neben die getrockneten Fingerhutblätter und die hochgiftigen Nachtschattenbeeren.

Stattdessen hatte sie es zu ihrer Mission erklärt, so viele Exemplare wie eben möglich der Verbreitung zu entziehen. Eine Art Quarantäne. Ehemalige Gäste des Queen’s Ruby schickten Susanna die Bücher aus den hintersten Winkeln Englands. Man konnte in Spindle Cove keine Kammer betreten, ohne auf ein bis drei Exemplare von Mrs. Worthingtons Weisheiten zu treffen. Genau wie Susanna es Mrs. Highwood erläutert hatte, fand man das Buch in der Tat überaus nützlich. Es hatte die ideale Größe, um damit ein Fenster offen zu halten. Überdies eignete es sich fabelhaft als Türstopper oder Briefbeschwerer. Susanna verwendete ihre persönlichen Exemplare zum Pressen von Kräutern. Oder zuweilen, um damit zu zielen.

Sie lenkte ihr Augenmerk auf Charlotte. »Darf ich?« Sie löste das Buch aus der Hand des Mädchens und hob es über den Kopf. Mit einer kräftigen Armbewegung ließ sie es auf den Tisch niedersausen und zerquetschte damit eine lästige Mücke.

Mit einem sanften Lächeln legte sie das Buch auf einen Beistelltisch. »In der Tat, überaus nützlich.«

»Sie werden nie erfahren, was sie getroffen hat.« Mit seiner Stiefelspitze stampfte Colin die Grasnarbe über der ersten Ladung Pulver fest.

»Nichts wird sie treffen«, entschied Bram. »Wir werden keine Schrapnellen verwenden.«

Das Letzte, was ihren Zwecken dienlich gewesen wäre, war die ohrenbetäubende Detonation von Sprenggeschossen ringsum. Das, was er soeben präparierte, waren Platzpatronen – Schwarzpulver in Papier eingewickelt, um ein bisschen Lärm und einen Schwall emporsprühenden Erdreichs zu erzeugen.

»Bist du dir sicher, dass die Pferde nicht scheuen werden?«, fragte Colin, während er eine Elle langsam brennender Lunte entrollte.

»Es sind für die Kavallerie geschulte Tiere. Immun gegen Explosionen. Die Schafe hingegen …«

»… werden aufgescheucht wie ein Schwarm lästiger Fliegen.« Über Colins Lippen huschte ein schadenfreudiges Grinsen.

»Davon gehe ich aus.«

Nach Brams Einschätzung war ein Bombardement der Schafe niederträchtig, unbedacht und im höchsten Maße töricht, wie all die kindischen Einfälle seines Cousins. Gegen eine Barrikade störrischer Wollknäuel boten sich bestimmt bessere und praktikablere Lösungen an, die ohne Schwarzpulver auskamen.

Doch die Zeit drängte, und Bram harrte ungeduldig des Fortkommens, in mehrerlei Hinsicht. Acht Monate zuvor war eine Bleikugel durch sein rechtes Knie gefegt und hatte sein Leben entzweigerissen. Er war Monate an sein Krankenlager gefesselt gewesen, und auch noch etliche Wochen danach hatte er sich nur strauchelnd, schwankend und stöhnend bewegen können, ähnlich einem in Ketten gelegten Gespenst. An manchen Tagen seiner Genesungszeit hatte Bram geglaubt, er würde explodieren.

Und nun war er so nah – lediglich eine geschätzte Meile noch – an Summerfield und Sir Lewis Finch dran. Nur eine Meile von der erneuten Übernahme seines Befehlskommandos entfernt. Er wollte verflucht sein, wenn er sich seine Pläne von einer Herde gefräßiger Schafe durchkreuzen ließ, deren Eingeweide vermutlich ohnehin platzten, verscheuchte man sie nicht von dem opulenten Maisschmaus.

Eine ordentliche, saubere Sprengung war das Einzige, was ihnen allen derzeit dienlich war.

»Das sollte reichen«, rief Thorne, der die letzte Ladung auf dem höchsten Punkt der Böschung angebracht hatte. Während er sich durch die Schafmassen einen Weg zu ihnen zurückbahnte, fügte er hinzu: »Alles in bester Ordnung, was die Landstraße betrifft. Ich konnte ein gutes Stück weit sehen.«

»Es ist ein Dorf in der Nähe, nicht wahr?«, erkundigte sich Colin. »Grundgütiger, bestätige mir, dass es da ein Dorf gibt.«

»Es gibt ein Dorf«, antwortete Bram und packte das übrige Pulver sorgsam fort. »Es war auf der Karte eingezeichnet. Irgend so eine Bay oder ein Was-weiß-ich-Hafenort … Ich kann mich nicht mehr recht entsinnen.«

»Was schert mich der Name?«, versetzte Colin. »Solange es dort eine Taverne gibt, ein bisschen Frohsinn und Geselligkeit. Teufel auch, ich hasse das Landleben.«

Thorne erklärte: »Ich konnte das Dorf sehen. Es liegt gleich hinter der Anhöhe.«

»Es sah doch gewiss nicht nach einem reizenden Seebadeort aus, oder?« Colin hob forschend eine Braue und griff nach dem Zunder. »Sei’s drum, es würde mich mit Abscheu erfüllen, wenn es reizend wäre. Gebt mir alle paar Tage ein dunkles, zwielichtiges, lasterhaftes Loch von einem Dorf mit einer ebensolchen Spelunke. Ein gesundes Leben verursacht mir ohnehin Gänsehaut.«

Der Unteroffizier maß ihn mit unverständigem Blick. »Mit Verlaub, mir fehlt die Kenntnis, was mit reizend gemeint sein soll, Mylord.«

»Nun, das sehe ich«, brummte Colin. Er rieb den Flintstein, bis der Funke die Lunte entzündete. »Das sehe ich sehr wohl.«

»Miss Finch, was für ein reizender Ort.« Diana Highwood klatschte in die Hände.

»Das hört man gern.« Bescheiden lächelnd, geleitete Susanna ihre Gäste zum Kirchplatz. »Hier haben wir das Gotteshaus, St. Ursula – ein fabelhaftes Beispiel mittelalterlicher Architektur. Natürlich ist die sattgrüne Wiese schon eine Augenweide für sich.« Sie versagte es sich, auf das Rasenoval hinzuweisen, das sie für Kricketspiele und Rasenbowling nutzten, und zog Mrs. Highwood hastig weiter, um nicht Zeugin zu werden, wie sich deren bestrumpfte Beine im Gesträuch verfingen.

»Schauen Sie, dort oben.« Sie deutete auf ein Wirrwarr aus steinernen Bögen und Türmen, die den steilen Felshang krönten. »Das sind die Ruinen von Rycliff Castle. Sie bieten sich hervorragend als Motiv für Gemälde und Zeichnungen an.«

»Oh, wie vollendet romantisch.« Charlotte seufzte.

»Es mutet feucht an«, erwiderte Mrs. Highwood.

»Aber mitnichten. In einem Monat wird das Schloss Schauplatz unseres Mittsommerfestes sein. Familien aus zehn Gemeinden kommen dorthin, manche sogar von so weit her wie Eastbourne. Wir Damen kleiden uns in mittelalterliche Gewänder, und mein Vater bereitet eine Ausstellung für die Dorfkinder vor. Er sammelt unter anderem alte Waffenröcke, müssen Sie wissen.«

»Wie zauberhaft«, flötete Diana.

»Es ist der Höhepunkt unseres Sommers.«

Minerva blinzelte angestrengt auf die Felsformation. »Mich würde die Beschaffenheit dieser Klippen interessieren. Sind sie aus Sandstein oder Kreide?«

»Oh … Sandstein, denke ich.« Susanna lenkte ihr Augenmerk auf eine Fassade mit roten Läden auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Schmucke Blumenkästen vor den Fenstern erstrahlten in voller Blütenpracht, und ein mit vergoldeten Lettern geprägtes Hinweisschild schwang geräuschlos in der sanften Brise. »Und dort ist die Teestube. Mr. Fosbury, der Inhaber, fertigt Torten und Konfekt, die es mit jeder Londoner Confiserie aufnehmen können.«

»Torten? Konfekt?« Mrs. Highwoods Lippen kräuselten sich in missfälliger Manier. »Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht dem übermäßigen Genuss von Naschwerk frönen.«

»Oh nein«, schwindelte Susanna. »Nie und nimmer.«

»Diana wurde strikt untersagt, sich der Völlerei hinzugeben. Und diese da«, sie zeigte auf Minerva, »neigt zur Korpulenz, fürchte ich.«

Auf die kränkende Bemerkung ihrer Mutter senkte Minerva den Blick auf ihre Füße, als müsse sie die Kiesel unter ihren Sohlen einer eingehenden Prüfung unterziehen. Oder als flehte sie darum, der Erdboden möge sich auftun und sie verschlucken.

»Minerva«, zischte Mrs. Highwood. »Haltung!«

Susanna legte einen Arm um die junge Frau und schob sie sanft weiter. »Wir haben das sonnigste Wetter in ganz England, erwähnte ich das bereits? Die Postkutsche kommt zweimal wöchentlich durch den Ort. Kann ich Sie für einen Bummel durch die Geschäfte begeistern?«

»Geschäfte? Ich sehe lediglich eins.«

»Ganz recht, es gibt tatsächlich nur eines. Aber dieses eine Geschäft genügt unseren Bedürfnissen. Bright’s All Things führt alles, was sich eine junge Dame zu kaufen wünscht.«

Mrs. Highwoods Blick wanderte forschend die Straße entlang. »Wo ist der Arzt ansässig? Diana muss jederzeit einen Arzt in der Nähe haben, der sie zur Ader lassen kann, wenn sie einen ihrer Anfälle hat.«

Susanna wand sich innerlich. Kein Wunder, dass sich Dianas Gesundheit nie gänzlich wiederherstellte. Eine solch sinnlose und entsetzliche Prozedur, wie der Aderlass war. Ein »Heilverfahren«, das eher Leben aussaugte als rettete, und eines, das Susanna um ein Haar selbst das Leben gekostet hätte. Aus einer Gewohnheit heraus strich sie die langen, bis zu ihren Ellbogen reichenden Handschuhe glatt, deren Säume sich an den gut verheilten Narben darunter rieben.

»Es gibt einen Doktor im Nachbarort«, antwortete sie. Ein Scharlatan, den sie nicht einmal in die Nähe ihres Viehs ließe, geschweige denn einer jungen Dame. »Hier im Dorf können wir mit einem überaus kompetenten Apotheker aufwarten.« Sie hoffte inständig, dass die Frau nicht nach diesbezüglichen Referenzen fragte.

»Wie verhält es sich mit den Männern?«, forschte Mrs. Highwood.

»Männer?«, wiederholte Susanna. »Was soll damit sein?«

»Bei den vielen unvermählten Damen, die im Dorf residieren, werden Sie da nicht von Glücksrittern überrannt? Bath wimmelte davon, und alle hatten es auf die Mitgift meiner Diana abgesehen. Als ob sie irgendeinen schmeichlerisch daherredenden drittgeborenen Sohn ehelichen würde!«

»Wahrhaftig nicht, Mrs. Highwood.« An diesem Punkt musste Susanna ihr nicht ausweichen. »Schuldengeplagte Lebemänner oder ambitionierte Offiziere suchen Sie hier vergebens. In der Tat haben wir in Spindle Cove nur wenige Männer. Abgesehen von meinem Vater nur einige Händler, Handwerker und Dienstboten.«

»Ich weiß nicht recht.« Mrs. Highwood seufzte und ließ ihren Blick abermals über den Dorfkern schweifen. »Es ist alles ziemlich gewöhnlich, nicht wahr? Meine Cousine, Lady Agatha, hat mir von einem neuen Kurbad in Kent berichtet. Mineralquellen, blutreinigende Anwendungen. Ihre Ladyschaft schwört auf die dortige Quecksilberkur.«

Susanna drehte sich der Magen um. Wenn Diana Highwood in einem solchen Heilbad landete, dann wäre dies unter Umständen ihr sicherer Tod. »Bitte, Mrs. Highwood. Man darf die gesundheitsförderlichen Vorzüge von schlichter Seeluft und Sonnenschein nicht unterschätzen.«

Charlotte löste ihre Augen gerade lange genug von den Schlossruinen, um ihrer Mutter ein inständiges Flehen zu schicken. »Lass uns doch bleiben, Mama. Ich möchte an dem Mittsommerfest teilnehmen.«

»Ich glaube, ich fühle mich bereits besser«, bekundete Diana und nahm einen tiefen Atemzug.

Susanna wich von Minervas Seite und trat zu der unschlüssig dreinblickenden Mutter. Mrs. Highwood mochte eine voreingenommene, überspannte Person sein, doch liebte sie ihre Töchter offenkundig und wünschte sich von Herzen das einzig Beste für die drei Mädchen. Sie benötigte lediglich ein wenig Zuspruch, um das Richtige zu tun. Und Susanna war um eine derartige Zusicherung wahrlich nicht verlegen. Alle drei Highwood-Schwestern würden von einem Aufenthalt in ihrem Dorf profitieren. Diana brauchte einen Rückzugsort, um sich von den Quacksalbermethoden irgendwelcher Scharlatane zu erholen. Minerva verdiente eine Chance, ihren eigenen Interessen nachzugehen, ohne dafür gemaßregelt zu werden. Und die junge Charlotte benötigte schlicht und ergreifend einen Ort, um Mädchen sein zu können; einen Ort, an dem sie ihre im Wachsen begriffenen Beine ausstrecken und ihre Fantasie schweifen lassen durfte. Und Susanna brauchte die Highwoods aus Gründen, die sie schwerlich erklären konnte. Es war ihr nicht beschieden, die Zeit zurückzudrehen und das Dilemma ihrer Jugendjahre ungeschehen zu machen. Jedoch konnte sie helfen, jungen Damen ein ähnlich tristes Dasein ohne Freundschaften zu ersparen, und das war eine gute Sache.

»Vertrauen Sie mir, Mrs. Highwood«, sagte sie und ergriff die Hand der Angesprochenen. »Spindle Cove ist der ideale Ort für den Sommeraufenthalt Ihrer Töchter. Ich verspreche Ihnen, hier werden sie gesund, glücklich und gänzlich sicher leben.«

Bumm. Eine entfernte Detonation zerriss die Luft. Susannas Rippen erbebten ob der Wucht der Explosion.

Mrs. Highwood umklammerte ihre Haube mit einer behandschuhten Hand. »Bei allen Heiligen. War das eine Explosion?«

Oh weh. Dabei hatte sich bislang alles so gut angelassen.

»Miss Finch, Sie beteuerten soeben, dass dieser Ort sicher sei.«

»Oh, das ist er.« Susanna bedachte die Highwoods mit ihrem sanftesten, über alle Maßen begütigenden Lächeln. »Das ist er. Gewiss hat es sich nur um ein Schiff auf dem Kanal gehandelt, das seine Signalkanone abgefeuert hat.«

Sie wusste sehr wohl, dass es kein Schiff gewesen war. Diese Explosion konnte nur das Werk ihres Vaters sein. In seiner aktiven Zeit war Sir Lewis Finch ein gefeierter Erfinder von Feuerwaffen und Artilleriegeschossen gewesen. Was er für die britische Armee geleistet hatte, hatte ihm Ruhm, Einfluss und ein stattliches Vermögen eingebracht. Doch nach diversen Vorkommnissen mit seiner Experimentierkanone hatte er Susanna versprochen, er würde seine Feldversuche einstellen. Er hatte es versprochen.

Kaum dass sie den Weg über die Dorfstraße fortsetzten, erfüllte ein eigentümliches dumpfes Grollen die Luft.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Diana.

Susanna heuchelte Ahnungslosigkeit. »Welches Geräusch?«

»Ebendieses Geräusch«, sagte Mrs. Highwood.

Das Grollen gewann mit jeder Sekunde an Stärke. Die Pflastersteine erzitterten unter den Sohlen ihrer hochhackigen Schuhe. Mrs. Highwood kniff die Augen fest zusammen und stieß einen leisen, lang gezogenen Klagelaut aus.

»Oh, dieses Geräusch«, sagte Susanna leichthin, während sie die Highwoods weiter über den Gehweg schob. Wenn es ihr doch bloß gelingen könnte, sie hinter die schützenden Mauern eines Hauses zu befördern … »Dieses Geräusch ist nichts, um das man in Sorge geraten müsste. Wir hören es hier alle Tage. Eine Kapriole des Wetters.«

»Es kann kein Donnergrollen sein«, erklärte Minerva.

»Nein. Nein, es ist mitnichten Donnergrollen. Es ist … ein atmosphärisches Phänomen, hervorgerufen von einem periodisch wiederkehrenden Ausbruch der …«

»Schafe!«, rief Charlotte aus und deutete auf die Straße.

Eine Herde verschreckter wollener Kreaturen stob durch den altehrwürdigen steinernen Torbogen und fiel ins Dorf ein. Sie drängten die Straße hinunter und hielten direkt auf sie zu.

»Oh, gewiss«, murmelte Susanna. »Exakt so ist es. Periodisch wiederkehrende Ausbrüche von Schafen.«

Sie scheuchte ihre Gäste über das Kopfsteinpflaster und drängte sie in den Ladeneingang des Bright’sAll Things, während die in wilden Aufruhr geratenen Schafe vorüberstürmten. Die Kakophonie aufgeregten Blökens tat Susanna in den Ohren weh. Sollte ihr Vater seine Hände im Spiel haben, so war sie fest entschlossen, ihn umzubringen.

»Es besteht kein Anlass zur Besorgnis«, übertönte Susanna den Lärm. »Das Landleben hat seine besonderen Eigenheiten. Miss Highwood, bekommen Sie ausreichend Luft?«

Diana nickte. »Ich fühle mich bestens, danke der Nachfrage.«

»Wenn Sie mich dann bitte entschuldigen wollen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, raffte Susanna ihre Röcke und rannte in wilder Hast die Straße hinunter. Sie schlängelte sich durch einige zurückgebliebene Schafe und strebte auf geradem Wege aus dem Dorf. Es war eine Sache von Sekunden. Spindle Cove war, schließlich und endlich, ein sehr kleiner Ort. Statt den längeren, geschlängelten Pfad einzuschlagen, erkletterte sie kurzerhand den Hügel. Kaum dass sie sich der Spitze näherte, trieb der Wind Susanna zart gekräuselte Rauchfäden und zerrupfte Wollbällchen entgegen. Ungeachtet dieser unheilvollen Vorzeichen erklomm sie die Anhöhe, um eine Szenerie vorzufinden, die keinem der bisherigen Artillerieexperimente ihres Vaters glich. Dort unten, in der Furt, standen zwei Fuhrwerke auf der Landstraße. Als sie die Augen zusammenkniff, konnte sie einige Personen ausmachen, die um die Wagen herumliefen. Hoch aufgeschossene, männliche Staturen. Ein beleibter Gentleman von kleinem Wuchs und mit schütterem Haar war dort nicht zu entdecken. Keiner von ihnen konnte Papa sein.

Sie nahm einen erleichterten Zug von der beißenden, pulvergeschwängerten Luft. Nachdem die Last der Furcht von ihr abgefallen war, nahm ihre Neugierde überhand. Fasziniert suchte sie sich einen Weg durch die Böschung aus Stechginster, um auf die enge, furchige Passstraße zu gelangen. In der Ferne verharrten die Silhouetten der Männer in ihrem Tun. Sie hatten Susanna bemerkt. Mit einer Hand beschattete sie ihre Augen und spähte konzentriert und in dem Bemühen, ihre Identität auszumachen, zu ihnen hinüber. Einer der Männer trug einen Offiziersrock. Ein anderer hatte sich seines Jacketts entledigt. Als sie sich ihnen näherte, begann der ohne Überrock mit aller Heftigkeit zu winken. Der Wind trug ferne Rufe zu ihr hinauf. Stirnrunzelnd trat Susanna näher, um das Gesagte besser verstehen zu können.

»Warten Sie! Miss, nicht …!«

Kawumm.

Eine unsichtbare Kraft hob sie von den Füßen und schleuderte sie durch die Luft, riss sie unerbittlich von dem Pfad fort. Sie landete auf der Seite, pflügte schultertief durch das hohe Gras, mitgeschleift von irgendeinem flüchtenden Ungeheuer. Einem flüchtenden Ungeheuer in hummerroter Wolle.

Gemeinsam kugelten sie den Hang hinunter, derweil Susanna versuchte, mit Ellbogen und Knien die harten Schläge des Aufprallens abzufangen. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, und sie biss sich hart auf die Zunge. Stoff zerriss, und kühle Luft streifte an ihren Schenkeln hoch – höher, als es eine schickliche Brise hätte wagen dürfen. Als sie endlich rutschend und schlitternd zum Halten kam, fand sie sich unter einem muskelgestählten, schwer atmenden Torso wieder. Und von einem stechenden grünen Blick durchbohrt.

»W…?«

Rabumm, antwortete die Welt rings um sie herum.

Susanna duckte ihren Kopf in den Stoff, den sie als Offiziersrock identifizierte. Die Wölbung eines Messingknopfs drückte in ihre Wange. Die Statur des Mannes bot ihr einen schützenden Schild, als eine Flut von Dreckklumpen auf sie beide niederregnete. Er roch nach Whiskey und Schwarzpulver.

Nachdem sich die Staubwolke gelegt hatte, schob sie ihm das Haar aus der Stirn und prüfte seinen Blick auf Anzeichen von Verwirrung oder Schmerz. Seine Augen waren wachsam und intelligent, und dann dieser faszinierende Grünton – so hart und dunkel wie geschliffene Jade.

»Sind Sie wohlauf?«

»Ja.« Seine Stimme war ein tiefes Kratzen. »Und Sie?«

Sie nickte in der Erwartung, dass er sie nach dieser Bestätigung freigeben würde. Als er keinerlei Anstalten machte, sich zu rühren, war sie ratlos. Entweder war er ernsthaft verletzt oder ungemein impertinent. »Sir, Sie sind … ähem, Sie sind ziemlich schwer.« Gewiss war er nicht so impertinent, diesen Wink zu übergehen.

»Sie sind so weich.«

Gütiger Herr im Himmel. Wer war dieser Mann? Wo war er hergekommen? Und weswegen lag er weiterhin auf ihr?

»Sie haben sich eine kleine Verletzung zugezogen.« Mit zitternden Fingern deutete sie auf ein rötliches Mal an seiner Stirn, in der Nähe des Haaransatzes. »Hier.« Sie drückte ihre Hand auf seinen Hals, suchte seinen Puls. Stark und gleichmäßig trommelte er gegen ihre behandschuhten Fingerspitzen.

»Ah. Das ist angenehm.«

Ihr Gesicht glühte vor Hitze. »Sehen Sie doppelt?«

»Vielleicht. Ich sehe zwei Lippen, zwei Augen, zwei gerötete Wangen und … Tausende Sommersprossen.«

Sie starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.

»Grämen Sie sich nicht, Miss. Es ist nichts.« Sein Blick verdunkelte sich, verschattet von einem rätselhaften Ansinnen. »Nichts, was ein kleiner Kuss nicht richten könnte.«

Noch ehe es ihr gelang,Atem zu schöpfen, hatte er seine Lippen auf ihre gedrückt. Ein Kuss. Sein Mund, der ihren berührte. Er war warm und fest, und … dann war es vorüber. Ihr erster richtiger Kuss in all ihren fünfundzwanzig Lebensjahren, und er fand kaum einen Herzschlag später sein Ende. Nur noch eine Erinnerung, bis auf das schwache Brennen des Whiskeys auf ihren Lippen. Und die Glut. Sie fühlte noch immer seine sengende, maskuline Glut. Sie schloss die Augen.

»Nun denn«, murmelte er. »Schon besser.«

Besser? Schlimmer? Die Dunkelheit hinter ihren Lidern lieferte keine Antworten, folglich öffnete sie sie wieder. Anders. Dieser fremde, starke Mann hielt sie in seiner schützenden Umarmung, und sie verlor sich in seinen berückenden grünen Augen, und sein Kuss vibrierte mit mehr Kraft in ihrem Körper nach als eine Sprengladung. Sie fühlte sich anders. Seine Glut und sein Gewicht … sie muteten wie eine Antwort an. Die Antwort auf eine Frage, von der Susanna nicht einmal gewusst hatte, dass ihr Körper sie jemals gestellt hatte. Die Antwort darauf, wie es sein würde, neben einem Mann zu liegen; das Gefühl, mit seiner warmen Haut zu verschmelzen; ihr Fleisch, das an einigen Stellen nachgab und an anderen Widerstand leistete; Glut, die sich zwischen zwei Leibern entfachte; duellierendes Herzklopfen, das auf beide Seiten derselben Trommel schlug. Vielleicht … nur vielleicht war es dieses Empfinden, worauf sie ihr Leben lang gewartet hatte. Nicht nur von den Füßen gerissen zu werden – sondern über die Straße geschleudert zu werden und Hals über Kopf zu straucheln, derweil die Welt um sie herum explodierte.

Er rollte sich auf die Seite, um ihr Raum zum Atmen zu lassen. »Woher kommen Sie?«

»Ich denke, das sollte ich Sie fragen.« Sie stützte sich auf einem Ellbogen auf. »Wer sind Sie? Was um Himmels willen tun Sie hier?«

»Ist das nicht offenkundig?« Sein Ton war ernst. »Wir bombardieren die Schafe.«

»Oh. Oh Gott. Das tun Sie wahrhaftig.« In ihrem Innern mischte sich Sympathie mit Betroffenheit. Gewiss war sein Verstand in Mitleidenschaft gezogen. Einer jener bedauernswürdigen Soldaten, die vom Krieg gezeichnet waren. Sie hätte es wissen müssen. Kein Mann im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte hatte sie jemals auf diese Weise angesehen. Sie wischte ihre Enttäuschung beiseite. Wenigstens war er an den richtigen Ort gekommen. Und auf der richtigen Frau gelandet. Sie war weitaus kundiger im Behandeln von Kopfverletzungen als im Umgang mit männlichen Avancen. Das Gescheiteste war, den ansehnlichen, vor Manneskraft strotzenden Gentleman auszublenden und ihn schlicht als eine Person zu betrachten, die ihrer Hilfe bedurfte. Als eine unattraktive, wunderlich überspannte Person – unmännlich wie ein Eunuch.

Sie streckte ihre Hand aus und strich mit einer Fingerspitze über seine Stirn. »Haben Sie keine Furcht«, sagte sie in ruhigem, festem Ton. »Alles wird gut. Sie werden sich schon bald wieder ganz wohlauf fühlen.« Sie umschloss seine Wange mit einer Hand und sah ihm fest in die Augen. »Die Schafe können Ihnen hier nichts anhaben.«

2

Sie werden sich schon bald wieder ganz wohlauf fühlen«, wiederholte sie.

Bram glaubte ihr. Aus tiefstem Herzen. In diesem Augenblick fühlte er sich in der Tat verdammt wohlauf. Er hatte eine Passstraße von Schafen befreit, ein gebrauchstüchtiges Bein, und eine hinreißende junge Dame streichelte seine Stirn. Zum Henker, weswegen sollte er sich beklagen? Einmal angenommen, dass die hinreißende junge Dame ihn für einen unsagbaren Idioten hielt. Aber das war bloße Haarspalterei. In Wahrheit bemühte er sich, seine fünf Sinne beisammenzuhalten.

In jenen ersten Augenblicken, die der Explosion gefolgt waren, hatte sein erster, zugegebenermaßen eigennütziger Gedanke seinem Knie gegolten. Er war fast sicher, dass er sich das Gelenk erneut ausgerenkt hatte, eine Folge jenes ungelenken Rettungsmanövers. Vor seiner Verletzung wäre es ihm gewiss gelungen, dieses Mädchen mit mehr Galanterie und Grazie aufzufangen. Sie hatte Glück, dass er am Straßenrand gestanden hatte und nicht am Fuß des Hügels bei den anderen, sonst hätte er sie niemals rechtzeitig erreicht.

Nachdem er sich mit einer blitzschnellen Bestandsaufnahme und ein, zwei Dehnungsversuchen vergewissert hatte, dass sein Knie intakt geblieben war, hatten sich all seine Gedanken auf sie konzentriert. Wie die Iris ihrer Augen beschaffen war, von dem gleichen Blau wie … nun, wie Irisblüten. Und wie sie duftete, erinnerte ihn an einen Garten – an einen perfekten Park. Nicht nur an Blüten und Kräuter, sondern den Saft knackigen grünen Laubs und das kräftige, fruchtbare Aroma des Bodens. Ein Paradies, perfekt, um dort zu verweilen, so warm und so weich. Dass eine töricht lange Zeit verstrichen war, seit er eine Frau unter sich gespürt hatte, und er sich an keine erinnern konnte, die ihn jemals so lieblich gestreichelt hatte wie diese, tat das Übrige.Gott, hatte er sie wahrhaftig geküsst?

Er hatte. Und sie hatte Glück, dass er nicht noch mehr getan hatte. Für den Augenblick eines Herzschlags war er aufs Höchste verwirrt gewesen. Er vermutete, dass das an der Explosion lag. Oder vielleicht auch an ihr.

Sie richtete sich ein wenig weiter auf. Feine Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Ihr Haar war von einem faszinierenden Goldton, überzogen von einem roten Schimmer, der ihn an geschmolzene Bronze denken ließ.

»Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«, fragte sie, während sie ihm forschend ins Gesicht sah.

»Wissen Sie es denn nicht?«

»Hier in Spindle Cove haben wir Damen ein festes Programm. Die Montage sind Spaziergängen in der unberührten Natur vorbehalten. Die Dienstage dem Bad in der See. Mittwochs finden Sie uns im Garten.« Sie berührte mit ihrem Handrücken seine Stirn. »Was war es noch gleich, das wir an den Montagen tun?«

»Wir kamen bislang nicht auf die Donnerstage zu sprechen.«

»Die Donnerstage sind nebensächlich. Ich bin dabei, Ihr Erinnerungsvermögen zu überprüfen. Erinnern Sie sich an die Montage?«

Er unterdrückte ein Lachen. Gott, ihre Berührung tat gut. Wenn sie ihn weiter in dieser Weise liebkoste und streichelte, könnte er sehr wohl den Verstand verlieren.

»Verraten Sie mir Ihren Namen«, sagte er. »Ich verspreche, er wird mir immer in Erinnerung bleiben.« Das mochte ein wenig dreist und vorlaut klingen. Indes war nach dem Schwarzpulvermalheur ohnehin jede Gelegenheit für eine formelle Vorstellung vertan. Apropos Schwarzpulvermalheur: Soeben nahte das brillante Denkerhirn der Schafbezwingung. Dass dieser Tölpel es noch wagte, ihm unter die Augen zu treten!

»Sind Sie wohlauf, Miss?«, erkundigte sich Colin.

»Mir geht es bestens«, antwortete sie. »Es erfüllt mich jedoch mit Bedauern, dass ich selbiges nicht von Ihrem Freund sagen kann.«

»Bram?« Colin stieß ihn mit der Spitze seines Stiefels an. »Du wirkst etwas mitgenommen.«

Das verdanke ich keinem Geringeren als dir.

»Er ist völlig verwirrt, der Ärmste.« Susanna tätschelte Brams Wange. »War es der Krieg? Wie lange geht das schon so mit ihm?«

»Wie lange?« Colin feixte zu ihm hinunter. »Oh, sein ganzes Leben.«

»Sein ganzes Leben?«

»Er ist mein Cousin. Ich sollte es wissen.«

Eine verlegene Röte schoss in ihre Wangen und übertünchte die Sommersprossen. »Wenn Sie sein Cousin sind, dann sollten Sie tunlichst besser auf ihn achthaben. Was treibt Sie um, ihm zu erlauben, die Landschaft zu durchstreifen und gegen Schafherden ins Feld zu ziehen?«

Ah, das war reizend. Das Mädchen äußerte sich betroffen über seine Gemütsverfassung. Sie würde gewiss dafür Sorge tragen, dass er in einem äußerst komfortablen Irrenhaus unterkam, wahrhaftig, das würde sie. Vielleicht wäre der Donnerstag ihr Tag, ihn zu besuchen und kalte Kräuterkompressen auf seine Stirn zu legen.

»Wem sagen Sie das?«, gab Colin mit tiefem Ernst zurück. »Ich weiß, dass er ein verrückter Narr ist. Gänzlich unzurechnungsfähig. Mitunter faselt der arme Kerl wunderliches Zeug. Doch das Vermaledeite ist, dass er mein Vermögen verwaltet. Bis auf den letzten Cent. Mir sind die Hände gebunden, ihm Vorschriften zu machen, was er zu tun und zu lassen hat.«

»Genug damit«, schnaubte Bram. Höchste Zeit, diesem Unsinn einen Riegel vorzuschieben. Es war eine Sache, einen Augenblick der Rast und die liebkosende Hand einer Frau zu genießen, eine andere hingegen, als unbedarfter Trottel hingestellt und damit sämtlicher Würde beraubt zu werden.

Er schwang sich ohne allzu viel Anstrengung auf die Füße und half ihr ebenfalls auf. Ihm gelang eine knappe Verbeugung. »Oberstleutnant Victor Bramwell. Ich versichere Ihnen, ich bin im Vollbesitz meiner Gesundheit, meiner geistigen Kräfte und eines nichtsnutzigen Cousins.«

»Ich begreife das nicht«, hob sie an. »Diese Sprengungen …«

»Schlichte Schwarzpulverladungen. Wir haben sie in den Straßengraben gelegt, um die Schafe zu verscheuchen.«

»Sie verwendeten Geschosse aus Schwarzpulver. Um eine Herde Schafe zu verscheuchen.« Sie löste die Hand aus seinem Griff und betrachtete die Krater, die die Explosion in die Straßendecke gerissen hatte. »Sir, ich bin weiterhin im Zweifel, was Ihren Geisteszustand anbelangt. Indes steht es gänzlich außer Frage, dass Sie männlichen Geschlechts sind.«

Er hob eine Augenbraue. »Selbiges stand noch nie in Zweifel.«

Statt einer Antwort errötete sie um eine Nuance tiefer.

»Ich versichere Ihnen, all dieser Irrsinn ist meinem Cousin anzulasten. Lord Payne hat vorhin nur gescherzt, um sich auf meine Kosten ein wenig zu belustigen.«

»Ich verstehe. Und Sie haben sich ein wenig auf meine Kosten belustigt, indem Sie vorgetäuscht haben, verletzt zu sein.«

»Mit Verlaub.« Er neigte sich zu ihr und murmelte: »Wollen Sie etwa so tun, als hätten Sie es nicht genossen?«

Ihre Augenbrauen hoben sich – und hoben sich, bis sie einen perfekten Doppelbogen bildeten. »Ich werde so tun, als hätte ich das nicht gehört.«

Sie zupfte an ihrem Handschuh, und er schluckte unbewusst. Augenblicke zuvor hatte sie ebendiese Hand auf seine bloße Kehle gelegt, und er hatte ihre Lippen geküsst. Täuschung hin, Heuchelei her, sie hatten einen Augenblick gegenseitiger Anziehung geteilt. Sinnlich. Übermächtig. Real. Vielleicht zog sie es vor, dies zu leugnen, doch vermochte sie die Erinnerung an ihren süßen, üppigen Mund nicht auszulöschen. Und sie konnte ihr Haar nicht verbergen. Allmächtiger, diese Haare. Jetzt, da sie vor ihm stand, übergossen von mittäglichem Licht, erstrahlten sie vor Schönheit. Rote Flammen und goldene Sonnenstrahlen, beide beflissen, einander auszustechen.

»Sie versäumten, mir Ihren Namen zu nennen«, sagte er. »Miss …?«

Ehe sie antworten konnte, kam eine geschlossene Kutsche über den Kamm des Hügels gejagt und hielt geradewegs auf sie zu. Der Fuhrmann unternahm keinerlei Anstalten, langsamer zu werden, stattdessen trieb er die Pferde noch zusätzlich mit lautem Peitschenschnalzen an, während das Gefährt mit seinen vier Insassen weiter auf sie zupreschte. Die Umstehenden sahen sich genötigt, blitzgeschwind an den Straßenrand zu springen, um von den Wagenrädern nicht zermalmt zu werden.

»Oh nein«, hauchte Susanna. »Nicht die Highwoods.« Sie rief der Kutsche hinterher, als diese in die Ferne davonrumpelte. »Mrs. Highwood, warten Sie! Kehren Sie um. Ich kann alles erklären. Reisen Sie nicht ab!«

»Die Abreise der Herrschaften ist wohl unabänderlich, wie mir scheint.«

Sie wirbelte zu Bram herum und blitzte ihn mit einem zornigen blauen Funkeln in den Augen an. Die Wucht ihres Blickes traf ihn. Längst nicht ausreichend, um ihn zu erschüttern, aber genug, um erheblichen Eindruck zu hinterlassen.

»Ich hoffe inständig, dass Sie jetzt zufrieden sind, Sir. Als hätten Sie mit dem Quälen unschuldiger Schafe und dem Sprengen von Kratern in unsere Landstraße nicht bereits genug Ungemach an einem Tag angerichtet, nein, Sie haben überdies die Zukunft einer jungen Frau ruiniert.«

»Ruiniert?« Bram hatte mitnichten die Angewohnheit, junge Damen zu ruinieren – das war das Spezialgebiet seines Cousins –, wäre er jedoch zu einem solchen Vorhaben entschlossen, würde er zu einer andersgearteten Taktik greifen. Er trat näher an sie heran und senkte die Stimme. »Wahrlich, es war nur ein kleiner Kuss. Oder ist es wegen Ihrer Garderobe?« Er lenkte den Blick auf ihr Kleid. Selbiges hatte am ärgsten unter ihrer Begegnung gelitten. Gras und Schmutz sprenkelten die vielen Lagen Stoff aus perlmuttfarbenem Musselin. Ein zerrissener Volant hing herab, schlaff wie ein ungestärktes Taschentuch. Ihr Ausschnitt war ein wenig unsittlich verrutscht. Er fragte sich, ob sie wusste, dass ihre linke Brust nur einen Hauch davon entfernt war, in Gänze aus ihrer Korsage herauszuhüpfen – und ob er aufhören sollte, dorthin zu starren.

Nein, entschied er. Er würde ihr einen Gefallen tun, indem er darauf starrte und ihr Augenmerk folglich auf das lenkte, was einer Korrektur bedurfte. In der Tat. Auf ihre halb entblößte, rosig erblühende Brustknospe zu starren war seine eherne Pflicht, und Bram gehörte beileibe nicht zu denen, die sich ihrer Verantwortung entzogen.

»Ähem.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust, womit sie seiner Mission ein abruptes Ende bescherte.

»Es geht nicht um mich«, führte sie aus, »oder um mein Kleid. Die Frau in der Kutsche war von angegriffener Gesundheit und bedurfte der Hilfe und …« Sie stieß den Atem aus und hob die Hände in einer resignierenden Geste. »Und jetzt ist sie fort. Sie sind alle fort.« Sie maß ihn von oben nach unten. »Nun, was ist es, das Sie benötigen? Einen Wagenmacher? Vorräte? Eine Wegbeschreibung, wie Sie zur Hauptdurchgangsstraße gelangen? Sagen Sie mir, was es braucht, damit Sie Ihrer Wege ziehen, und ich werde Ihnen mit Freuden zu Diensten stehen.«

»Wir wollen Sie nicht länger als nötig bemühen. Solange dies die Straße nach Summerfield ist, werden wir …«

»Summerfield? Sagten Sie eben Summerfield?«

Er verstand ihre Verdrossenheit und war sich sicher, ihren Unmut zu verdienen. Aber verdammt, es gelang ihm nicht, auch nur einen Funken Reue zu empfinden. Ihre glühenden Wangen waren so anziehend. Der Ringelreigen ihrer Sommersprossen, als sie ihn stirnrunzelnd musterte. Das Recken ihres schlanken Nackens, als sie ihm kerzengerade gegenüberstand, jeder Zoll ihres Körpers drückte reine, entzückende Entrüstung aus.

Sie war groß für eine Frau. Und er hatte ein Faible für große Frauen.

»Ich sagte Summerfield«, bekräftigte er. »Das ist die Residenz von Sir Lewis Finch, nicht wahr?«

Zwischen ihre Brauen schob sich eine steile Falte. »Was haben Sie mit Sir Lewis Finch zu schaffen?«

»Eine reine Angelegenheit unter Männern, meine Teuerste. Die Einzelheiten haben Sie nicht zu kümmern.«

»Summerfield ist mein Zuhause. Und Sir Lewis Finch ist mein Vater. Demzufolge, Oberstleutnant Victor Bramwell«, sie feuerte die Worte heraus, als wäre jedes einzelne eine Gewehrsalve, »hat es mich sehr wohl zu kümmern.«

»Victor Bramwell. Sie sind es wirklich.«

Sir Lewis Finch erhob sich hinter seinem Schreibtisch und durchquerte beschwingten Schrittes das Arbeitszimmer. Als Bram eine Verbeugung andeutete, winkte der Ältere ab. Stattdessen nahm er Brams Hand in seine beiden und drückte sie warmherzig.

»Teufel noch eins, es ist mir eine Freude, Sie zu sehen. Bei unserer letzten Begegnung waren Sie ein Grünschnabel von Offizier, frisch aus Cambridge entlassen.«

»Es ist lange her, nicht wahr?«

»Der Tod Ihres Vaters hat mich tief betroffen gemacht. Mein aufrichtig empfundenes Beileid.«

»Danke.« Bram räusperte sich umständlich. »Mich nicht minder.«

Er taxierte den ergrauten Exzentriker auf ersichtliche Anzeichen von Missvergnügen. Sir Lewis Finch war nicht nur ein brillanter Erfinder, sondern auch königlicher Berater. Es hieß, dass der Prinzregent ihm Gehör schenkte, wann immer Finch ihn um eine Audienz ersuchte. Das richtige Wort von diesem Mann konnte bewirken, dass Bram in der nächsten Woche wieder bei seinem Regiment weilte. Aber Narr, der er war, hatte Bram seine Ankunft in der Gegend kundgetan, indem er sich auf der Landstraße auf Finchs Tochter gestürzt, ihr das Kleid zerrissen und sie geküsst hatte, ohne im Mindesten um Erlaubnis zu fragen. Was strategische Kampagnen anbetraf, so wäre diese mitnichten medaillenverdächtig. Glücklicherweise schien Sir Lewis den derangierten Zustand seiner Tochter bei ihrem Eintreffen nicht bemerkt zu haben. Er hielt es für das Beste, die Unterredung zu beenden, ehe Miss Finch zurückkehrte und Gelegenheit bekam, von dem Vorfall zu berichten.

Man konnte es ihm keinesfalls vorwerfen, dass er die nahe Verwandtschaft zwischen den beiden übersehen hatte. Abgesehen von den blauen Augen, die sie teilten, hätte sie ihrem Vater nicht unähnlicher sehen können. Miss Finch war schlank und von auffälliger Größe für eine Frau. Sir Lewis hingegen war füllig um den Leib und von kleiner Statur. Die wenigen verbliebenen Strähnen silbernen Haars hätten kaum Brams Epauletten gestreift.

»Nehmen Sie doch Platz«, lud ihn der ältere Herr ein.

Bram versuchte tunlichst zu verbergen, wie viel Erleichterung es seinem geschundenen Bein verschaffte, als er in einen ledergepolsterten Sessel sank. Sir Lewis reichte ihm ein gut gefülltes Glas, und er trank den Whiskey in kleinen, wohltuenden Schlucken. Währenddessen studierte er aufmerksam seine Umgebung. Eine Bibliothek wie diese hatte er noch niemals gesehen. Gewiss, sie war mit einem Schreibtisch ausgestattet. Und mehreren Stühlen. Und Büchern, versteht sich. Ganze Wände davon, aneinandergereiht auf Regalen aus Mahagoniholz, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die Regalborde selbst wurden von Gipssäulen mit altägyptischen Motiven unterteilt. Einige ähnelten Papyrusrohr, andere waren in Gestalt von Pharaonen und Königinnen modelliert. Auf einer Seite des Raums beanspruchte ein riesiger Sarg aus schwerem sandfarbenem Stein einen Großteil der freien Fläche. Seine Oberfläche war innen wie außen mit winzigen Symbolen geschmückt.

»Ist das Marmor?«, erkundigte er sich.

»Alabaster. Es ist ein Sarkophag, aus dem Grab von König …« Sir Lewis raufte sich das schüttere Haar. »Der Name des Pharaos ist mir momentan entfallen. Ich habe ihn irgendwo notiert.«

»Und die Inschriften?«

»Hymnen auf den Außenseiten. Im Innern finden sich Verhaltenskodizes für die Unterwelt.« Die buschigen Brauen des alten Mannes hoben sich. »Wenn Ihnen danach ist, können Sie sich gern einmal hineinlegen. Gut für die Wirbelsäule.«

»Danke, nein.« Bram schauderte.

Sir Lewis klatschte in die Hände. »Nun, ich nehme nicht an, dass Sie zwei Fuhrwerke durch acht Zollstationen gebracht haben, einzig um bei einem guten Whiskey über Antiquitäten zu plaudern.«

»Sie wissen, dass dem nicht so ist. Hohles Geschwätz ist nicht nach meinem Geschmack – das ist es nie gewesen. Gleichwohl habe ich nichts gegen einen guten Whiskey einzuwenden.«

»Sie bleiben doch zum Dinner, hoffe ich. Susanna wird die Köchin bereits in Kenntnis gesetzt haben.«

Susanna. Soso, ihr Name war also Susanna. Der Name passte zu ihr. Schlicht und schön.Susanna. Susanna Finch. Das klang beinahe wie der Refrain eines Liedes. Eines fröhlichen, vertrackten Lieds. Die Art von Melodie, die einem hartnäckig in Erinnerung bleibt, weil sie sich in den Verstand eingräbt und dort munter weiterträllert, über Stunden, Tage … selbst wenn die betroffene Person sie lieber loswerden würde. Selbst wenn jene Person sich lieber die große Zehe abhacken würde, allein um ihre Konzentration auf irgendetwas anderes zu lenken, ganz gleich was.

ENDE DER LESEPROBE