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Fünftausend Soldaten des Menschenreichs unter Integrationsritter Bercouli stehen gegen die überwältigende Zahl von fünfzigtausend Mann des Reichs der Finsternis in der Schlacht am Großen Osttor. Die Integrationsritter an der Front tun alles, um die Angreifer aus dem Dark Territory zurückzuschlagen. Doch ausgerechnet die Berg-Goblins schaffen es vorbeizuschlüpfen und attackieren den Versorgungstrupp, wo sich die Novizinnen Ronie und Tiese mit dem bewusstlosen Kirito befinden! Währenddessen plant auch D.I.L., Anführerin der Gilde der dunklen Künste, eine mörderische Attacke zur Auslöschung der gesamten Armee des Menschenreichs.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2021
Kapitel XVIII
Kapitel XVIII
Krieg von Underworld
18 Uhr, 7. November 380 menschlicher Zeitrechnung
Die letzten Strahlen von Solus färbten das Tor, das die zwei Welten voneinander trennte, in ein blutiges Rot.
Das Große Osttor.
Dieses gewaltige, von Göttern errichtete Bauwerk, das dreihundert Jahre lang die Menschenwelt vom Reich der Finsternis abgegrenzt hatte, stand kurz vor seinem Einsturz.
Die fünftausend Mann des menschlichen Verteidigungsheeres und die fünfzigtausend der finsteren Angriffsarmee sahen schweigend dabei zu, wie auch der letzte Rest der ursprünglich schier endlosen Lebensdauer dieses Tors endete – und ein Donnern die Welt erschütterte, als würde eine sterbende Bestie noch ein letztes Mal laut brüllend aufbegehren.
Das Unheil verkündende Grollen breitete sich bis nach Centoria aus, der Hauptstadt des Menschenreichs im Westen, und bis nach Obsidia, dem Sitz des Imperators im Osten. Die Bewohner von ganz Underworld schauten erschrocken zum Himmel auf.
Ein paar Sekunden später … lief ein Riss durch die Mitte des dreihundert Mer hohen Tors. Weißes Licht schoss aus dem Inneren und blendete die Augen der Soldaten beider Armeen.
Der Spalt breitete sich schnell aus und verzweigte sich, bis er jede Ecke des großen Tors erreichte. Das weiße Licht folgte seiner Ausbreitungsrichtung und wurde zu einem leuchtenden Netz. Dann erschienen auf beiden Seiten des Tors riesige Feuerbuchstaben – Worte in sakraler Schrift.
Doch nur zwei Personen auf dem gesamten Schlachtfeld verstanden die Bedeutung des Geschriebenen.
Finaler Belastungstest.
Als die Flammen schließlich erloschen, gab es einen Lichtblitz, der bis in den Himmel reichte, und das Große Osttor begann, von oben nach unten in sich zusammenzufallen.
1
»Woah …« Vassago Casals lehnte sich mit seinem Oberkörper über das Geländer des Befehlswagens und stieß einen Laut aus, in dem unverhohlene Erregung mitschwang. »Finaler Belastungstest … Das klingt ja noch besser als Hollywood! Hey, Bro, sollten wir uns nicht anstelle der AI lieber diese geniale Visualisierungstechnik unter den Nagel reißen? Wir machen ein VFX-Studio auf und sind im Nu stinkreich!«
Als Gabriel Miller das hörte, wandte er seinen Blick jedoch nicht von dem umwerfenden Spektakel in der Ferne ab, sondern entgegnete kühl: »Leider lassen sich diese Bilder nicht auf ein Medium speichern. Diese Welt besteht eben nicht aus Polygonen. Alles an der gigantischen Show, die wir hier sehen, steht nur denen zur Verfügung, die mit einem STL verbunden sind.«
Das Große Osttor war schon halb in Trümmer zerfallen und würde sich bald komplett aufgelöst haben. Alles bebte und donnerte schrecklich, doch die gigantischen Felsbrocken schlugen gar nicht erst auf der Erde auf, sondern begannen schon kurz vorher, zu leuchten und einfach zu verschwinden. Daher brauchte man wohl keine Angst zu haben, dass die Trümmer einem den Weg auf die andere Seite versperren würden.
Gabriels schwarzer Pelzmantel wehte im Wind, als er von seinem Thron, der sich auf dem Dach des Befehlswagens befand, aufstand. Er ging auf einen großen Totenschädel zu, den eine der Fürsten des Reichs der Finsternis, die Anführerin der Gilde der dunklen Künste, D.I.L., hier platziert hatte.
Der Schädel lag auf einem kleinen Tisch und war ein Artefakt mit der Fähigkeit, gesprochene Sprache zu übertragen. Wenn Gabriel etwas in diesen Schädel sagte, hörte man seine Stimme aus den damit verbundenen Empfängerschädeln, die seine Generäle bei sich hatten. Dieses System war zwar bei Weitem nicht so gut wie das in den Befehlswagen, wo die Übertragung in beide Richtungen funktionierte, aber immer noch effektiver, als jedes Mal einen Boten schicken zu müssen.
Gabriel blickte hinab in die leeren Augenhöhlen des Totenkopfs und setzte in einer harten, ehrfurchtgebietenden Stimme an zu sprechen, ganz wie es seiner Rolle als Imperator des Reichs der Finsternis und des dunklen Gottes Vector entsprach.
»Generäle des Reichs der Finsternis! Jetzt ist der Moment gekommen, auf den ihr alle gewartet habt! Tötet alles, was lebt! Raubt alles, was ihr greifen könnt! Überwältigt die Menschen!«
Aus den Reihen des Heeres erhoben sich dröhnende Rufe der Begeisterung, die sogar das Krachen des einstürzenden Tors übertönten. Unzählige Schwerter und Speere wurden in die Luft gereckt und reflektierten blutrot das Licht der untergehenden Sonne.
Die erste Division der Armee des Dark Territory bestand aus fünftausend Berg-Goblins, fünftausend Flachland-Goblins, zweitausend Orks und eintausend Riesen, insgesamt dreizehntausend Soldaten. Sie würden als Erste vorstürmen – und Gabriel würde sehen und beurteilen, wie der Feind da-rauf reagierte.
Gabriel streckte seinen erhobenen rechten Arm energisch nach vorne und gab seinen ersten Befehl als Spieler in diesem Kriegsspiel.
»Erste Division … Angriff!«
***
Die fünftausend Berg-Goblins, die den rechten Flügel des Goblin-Bataillons in der ersten Division der insgesamt fünfzigtausend Mann starken Angriffsarmee bildeten, wurden von einem neuen Häuptling namens Kosogi angeführt. Er war einer von siebzehn Söhnen des vorherigen Häuptlings Hagashi, der beim gewaltsamen Aufstand des dunklen Generals Shasta ums Leben gekommen war.
Hagashi war dafür gepriesen worden, der grausamste und gierigste aller Goblinanführer gewesen zu sein. Kosogi hatte viel von diesen Eigenschaften seines Vaters geerbt, verfügte jedoch hinter seiner hässlichen Fratze auch über eine für Goblins erstaunlich hohe Intelligenz.
Kosogi war zwanzig Jahre alt und hatte die letzten fünf Jahre damit verbracht, sich ernsthafte Gedanken darüber zu machen, warum ausgerechnet die Goblins den niedrigsten Rang unter den fünf Völkern des Reichs der Finsternis nach den Menschen, den Riesen, den Ogern und den Orks einnahmen.
Ja, Goblins waren die Kleinsten und Schwächsten unter diesen Völkern. Aber sie hatten einst genügend Männer in ihrem Heer gehabt, um selbst diese Defizite auszugleichen. Außerdem waren sie damals in der Ära von Eisen und Blut so stark gewesen, dass sie ebenbürtige Schlachten gegen die Orks und die Schwarzen Iums – so nannten Goblins die Menschenrasse – ausgetragen hatten.
Als alle fünf Völker so sehr von den Kriegen erschöpft gewesen waren, dass sie einen Friedensvertrag miteinander geschlossen hatten, hatte auch der Häuptling der Goblins einen Platz im Rat der Zehn erhalten, dem höchsten Organ im Reich der Finsternis. In Wirklichkeit jedoch wurden sie von den anderen Völkern auch danach nicht gleich behandelt. Sowohl die Berg- als auch die Flachland-Goblins bekamen nur dürres Ödland im Norden des Reichs zugewiesen, das bei Weitem nicht ausreichte, um alle Mitglieder ihres Volks mit Getreide und Fleisch zu versorgen. Die Kinder waren ständig hungrig, und die Alten starben reihenweise hinweg.
Die Häuptlinge der anderen Völker hatten also dafür gesorgt, dass es den Goblins schlecht ging.
Sie hatten ihnen weites, aber kaum nutzbares Land gegeben, um die Goblins zahlenmäßig zu verringern. Dadurch mussten die Goblins all ihre Energie ins Überleben stecken und konnten keine richtige Zivilisation entwickeln. Sie konnten ihre Kinder nicht wie die Schwarzen Iums in Bildungseinrichtungen erziehen, weil sie solche Einrichtungen gar nicht betreiben konnten. Stattdessen wurden die Kinder der Goblins sogar in Boote gesetzt und flussabwärts geschickt, weil die Eltern sie nicht ernähren konnten. Und es war klar, dass solche Goblin-Kinder nichts Gutes erwartete, wenn ihreBoote in die Territorien anderer Völker trieben.
Hätten die Goblins fruchtbares Land und ausreichend andere Ressourcen gehabt, dann müssten ihre Soldaten jetzt keine aus rohem Eisen gegossenen Säbel sowie Rüstungen aus einfachen Metallplatten tragen, sondern man hätte sie mit ordentlich geschmiedeten Stahlwaffen ausstatten können. Man hätte sie genug essen und dadurch länger leben lassen können, und dann wären die Goblins eines Tages auch in der Lage gewesen, dunkle Künste zu benutzen, auf die derzeit die Schwarzen Iums ein Monopol beanspruchten.
Ja, dann würde sich niemand mehr trauen, die Goblins als niedere Kreaturen zu bezeichnen.
Kosogis Vater Hagashi hatte auch ein Leben lang die Schwarzen Iums gehasst, sie beneidet und sich gewünscht, ihnen ebenbürtig oder überlegen zu sein. Doch er hatte nicht die Intelligenz besessen, um sich zu überlegen, wie die Goblins das schaffen konnten. Seine Fähigkeiten hatten nur dafür gereicht, nach einem militärischen Erfolg in diesem Krieg zu streben, damit Imperator Vector den Goblins gegenüber wohlgesinnter würde.
Aber darauf, dass es so kommen würde, durften die Goblins nicht vertrauen. Militärisch konnten sie in diesem Gefecht eigentlich gar nicht als Gewinner hervorgehen. Das war klar, wenn man sich ihre Lage im Gesamtheer ansah.
Wahrscheinlich hatte die Anführerin der Gilde der dunklen Künste den Imperator dazu bewegt, sie genau dort zu platzieren. Dieses Weib hatte von Anfang an gewollt, dass die Goblins den ersten Angriff durchführten, und ihnen das als eine ehrenvolle Mission angepriesen. In Wahrheit jedoch wollte sie die Goblins dabei nur verheizen. Sie sollten die Vorhut bilden und den für ihre teuflische Stärke bekannten Integrationsrittern der Menschenwelt zum Opfer fallen. Währenddessen könnten die Dunkelkünstler ihre Feinde schön aus sicherer Entfernung verbrennen und alle Lorbeeren für sich einheimsen.
Dazu wollte Kosogi es natürlich nicht kommen lassen.
Aber er konnte sich den Anweisungen seines Befehlshabers auch nicht widersetzen. Der göttliche Imperator war nach dem Angriff des dunklen Generals Shasta ohne ein einziges gekrümmtes Haar zurückgeblieben, und das, obwohl Shasta zuvor zwei Häuptlinge der Goblins und den Anführer der Assassinengilde binnen einer Sekunde in den Tod geschickt hatte. Aber der Imperator war eben unbesiegbar stark, und die Schwachen mussten sich den Starken unterordnen. Das war die einzige große Regel im Reich der Finsternis.
Für das eine Weib von den Schwarzen Iums galt das jedoch nicht. Kosogi saß jetzt auch im Rat der Zehn und war ihr somit vom Rang her gleichgestellt. Also konnte ihn niemand zwingen, bei ihren niederträchtigen Machenschaften brav mitzuspielen.
Die Goblins hatten eigentlich nur einen simplen Befehl erhalten: Sie sollten als Erste angreifen und die gegnerische Armee vernichten.
Das war alles. Niemand hatte ihnen gesagt, dass sie die Stellung so lange halten sollten, bis von hinten die Flammen der Dunkelkünstler geflogen kämen. Somit hatte Kosogi etwas Spielraum, um sich gegen dieses Weib aufzulehnen.
Einen Moment vor dem Einsturz des Tors hatte Kosogi noch seinen treu ergebenen Offizieren leise eine Anweisung gegeben. Als dann die Empfängerschädel mit ihren Kiefern klappernd den Angriffsbefehl des Imperators übermittelten, steckte Kosogi eine Hand unter seine Rüstung und holte eine vorher dort verstaute kleine Kugel heraus. Und seine Offiziere taten in diesem Augenblick das Gleiche.
Mit einem ohrenbetäubenden Krachen fielen die Felsen, die das Große Osttor gebildet hatten, endgültig in sich zusammen und lösten sich in Licht auf.
Man hatte jetzt freien Blick auf eine Schlucht, in der man weiter hinten viele Lagerfeuer und das Glänzen von Rüstungen und Waffen sehen konnte.
Das war die Verteidigungseinheit der Weißen Iums.
Und noch weiter hinter ihnen lagen weites Land, unerschöpfliche Ressourcen und viele potenzielle Sklaven – genug, um die Berg-Goblins wieder in ein Zeitalter des Lichts zu führen.
Sie würden sich nicht einfach verheizen lassen. Diese Rolle durften ruhig die Flachland-Goblins – mit ihrem leider auch diesmal unfähigen Häuptling – und die noch dümmeren Orks übernehmen.
Kosogi verstärkte den Griff seiner linken Hand um die Kugel und stieß mit dem rechten Arm sein dickes Bergmesser in die Luft.
Dann brüllte er mit tiefer Stimme: »Männer, bleibt zusammen und folgt mir! Angrrrriiiiff!«
***
»Erstes Regiment, zieht eure Schwerter und macht euch bereit zum Kampf! Priester, ihr haltet euch bereit für das Anwenden sakraler Künste!« Fanatio Synthesis Two, Integrationsritterin und Vizekommandantin der menschlichen Verteidigungsarmee, ließ ihre Stimme laut durch die Dunkelheit schallen.
Tschliiing!
Auf ihren Befehl hin rollte das Geräusch von Metall durch die Schlucht. Die spärlichen Lagerfeuer ließen die frisch gezogenen stählernen Klingen rot leuchten.
Auf der anderen Seite des endlich eingestürzten Großen Osttors erhob sich ein Lärm, der die Erde beben ließ.
Kleine, schnelle Goblinschritte. Große Orkschritte. Dazwischen das dröhnende Getrampel der Riesen und das alles überlagert von unzähligen Kampfschreien. Die Unheil bringende Bestie namens Krieg röhrte, wie sie noch kein Mensch zuvor in diesem Ausmaß gehört hatte.
Nur dreihundert Wachsoldaten standen an der vorderen Verteidigungslinie, zweihundert Mer vor dem Tor, und es kostete sie schon all ihre Anstrengung, dort zu verharren. Beim kleinsten Anlass konnte diese Formation zusammenbrechen und in alle Richtungen auseinanderlaufen, ohne auch nur einen Schwerthieb mit dem Gegner gewechselt zu haben. Kein Wachsoldat hatte je zuvor einen Krieg gesehen oder sich auch nur in einem tatsächlichen Kampf um Leben und Tod befunden.
Sie verweilten jetzt nur deswegen auf ihrem Platz, weil sie vor sich, in einigem Abstand vor der Verteidigungslinie, die Rücken dreier Integrationsritter sahen, die sich dort aufgestellt hatten.
Vor dem linken Flügel stand Eldrie Synthesis Thirty-One mit seiner Frostschuppenpeitsche.
In der Mitte war die Kommandantin des Bataillons, Fanatio Synthesis Two, mit ihrer Himmelsperforatorklinge. Und den rechten Flügel schützte Deusolbert Synthesis Seven mit seinem Bogen der glühenden Flamme.
Diese drei Ritter, deren Rüstungen auch in tiefster Dunkelheit edel schimmerten, standen alle mit beiden Beinen fest auf dem Boden und warteten auf das Herannahen der Feinde, ohne sich zu rühren.
Auch in den Herzen dieser Ritter gab es Angst und Furcht. Anders als die Wachsoldaten hatten sie zwar zumindest Kampferfahrung, aber diese bestand fast nur aus Duellen gegen Dunkelritter. Weder Vizekommandantin Fanatio noch Bercouli Synthesis One, oberster Kommandant der Integrationsritter und Befehlshaber über das zweite Regiment, das hinter dem ersten stand, hatten je gegen eine derart große Armee gekämpft.
Außerdem gab es Administrator, die Hohepriesterin der Axiom-Kirche der Menschen, nicht mehr.
Längst herrschte nicht mehr die absolute Gerechtigkeit, für die die Kirche einst gestanden hatte.
Der letzte Halt, der den Rittern auf diesem Schlachtfeld noch blieb, war eine einzige Emotion – und zwar ironischerweise genau die, die eigentlich im geheimen Synthese-Ritual hätte zerstört werden müssen.
Während Deusolbert Synthesis Seven mit mutig geschwellter Brust auf die Ankunft des Feindes wartete, strich er mit den Fingern seiner rechten Hand über den alten Ring am Ringfinger seiner linken Hand, in der er den Bogen der glühenden Flamme hielt.
Als einer der ältesten Integrationsritter hatte er mehr als ein Jahrhundert lang seine Kraft nur darauf konzentriert, Recht und Ordnung im Norden des Menschenreichs zu bewahren.
Er hatte Eindringlinge abgewehrt, die versucht hatten, das Grenzgebirge aus dem Dark Territory zu überqueren. Er hatte große Bestien vertrieben, wenn sie in seinem Gebiet auftauchten. Und er hatte die wenigen Personen festgenommen, die manchmal gegen die geltenden Normen verstießen. Längst hatte er aufgehört sich zu fragen, warum er mit diesen Aufgaben betraut worden war. Er glaubte lieber einfach nur weiter daran, dass er ein aus dem Himmelreich entsandter Ritter war, und hegte kein Interesse am Leben der Menschen auf der Erde.
Nur ab und an brachte ein gewisser Traum, den er immer zu Beginn der Morgendämmerung hatte, Deusolbert ins Grübeln.
Eine kleine, fast durchscheinend weiße Hand. Und an ihrem Ringfinger leuchtete ein schlichter Silberring.
Die Hand strich über Deusolberts Haar, berührte seine Wange und schüttelte ihn sanft an der Schulter.
Und ein leises, sanftes Flüstern erklang.
Wach auf, mein Lieber. Es ist Morgen …
Deusolbert hatte niemandem je von diesem Traum erzählt. Denn er dachte, dass der Erzbischof, sollte er je davon erfahren, ihm diesen Traum in einer sakralen Operation löschen würde. Aber Deusolbert wollte den Traum nicht verlieren. Denn der gleiche Ring wie der, der im Traum an der kleinen Hand funkelte, saß bereits seit seinem Erwachen als Integrationsritter auch an seinem linken Ringfinger.
Ob der Traum wohl eine Erinnerung an die himmlische Welt war? Ob Deusolbert wohl nach der Erfüllung seiner Mission als Ritter hier unten und einer anschließenden Erlaubnis, in den Himmel zurückzukehren, wieder der Besitzerin dieser Hand und der Stimme begegnen würde?
Lange Zeit hatte Deusolbert diese Frage – oder diese Hoffnung? – tief in seinem Herzen mit sich getragen.
Bis zu dem gigantischen Vorfall, der vor einem halben Jahr die Central Cathedral erschüttert hatte.
Zwei junge Männer, Rebellen gegen die Kirche, waren in die Kathedrale eingefallen, und Deusolbert hatte gegen sie gekämpft. Doch selbst seine vollkommene Rüstungskontrolle hatte ihm nicht zum Sieg verholfen. Er hatte den Kampf kläglich verloren. Mit Schwerttechniken, wie Deusolbert sie noch nie gesehen hatte, waren die schwarzhaarigen jungen Männer in der Lage gewesen, das Feuer des Bogens der glühenden Flamme zu durchdringen – und als der Kampf vorbei gewesen war, hatten sie Deusolbert etwas Unglaubliches gesagt.
Die Integrationsritter waren nicht aus dem Himmel gerufen worden. Sie waren einfach nur gewöhnliche Sterbliche, geboren auf der Erde, und man hatte ihre Erinnerungen gestohlen und Ritter aus ihnen gemacht.
Es war eine grauenhafte Vorstellung: Administrator, die Hohepriesterin der Axiom-Kirche und die regelrechte Verkörperung höchster Tugend, Ordnung und Gerechtigkeit, soll zu derart hinterhältigen Methoden gegriffen und ihre Ritter getäuscht haben? Doch die zwei jungen Rebellen hatten sogar Vizekommandantin Fanatio, Kommandant Bercouli und Erzbischof Chudelkin ausgeschaltet und waren auf der obersten Etage der Central Cathedral angelangt, wo sie alsdann auch Administrator besiegt hatten. Wären sie einfach nur pöbelnde Rebellen gewesen, hätten ihre Klingen niemals so stark sein können.
Und eigentlich wusste Deusolbert es seit seinem ersten Schlagabtausch mit ihnen: Ihre klare Schwertführung hatte nicht den leisesten Hauch von Lüge oder Unehrlichkeit gezeigt.
Das würde aber bedeuten, dass die Person, der die kleine Hand aus Deusolberts Traum gehörte, ebenfalls nicht aus dem Himmel stammte, sondern als Mensch hier auf der Erde geboren war.
Als Deusolbert diese Wahrheit bewusst geworden war, hatte er etwas getan, das er in seiner Zeit als Ritter noch nie zuvor getan hatte: Er hatte seine Hand mit dem Ring daran an seine Brust gepresst und geweint.
Denn das Leben eines normalen Menschen war im Gegensatz zu dem eines Integrationsritters nach höchstens siebzig Jahren erschöpft. Und daher würde Deusolbert wohl nie wieder auf die Person treffen, die ihn in seinem Traum »mein Lieber« genannt hatte.
Trotzdem war er der Forderung des Ritterkommandanten Bercouli gefolgt und hierher zum Ort der Entscheidungsschlacht gekommen.
Und zwar weil er diese Welt verteidigen wollte, in der er und die Besitzerin der kleinen Hand einst zusammen gelebt hatten, wie lange dies auch her gewesen war.
Integrationsritter Deusolbert Synthesis Seven wich also keinen Schritt vor dem bevorstehenden Kampf gegen die riesige Arme des Reichs der Finsternis zurück, weil ihm ein einst gelöschtes Gefühl Antrieb gab: die Liebe.
Und obgleich er es nicht wusste, standen Fanatio und Eldrie neben ihm auch da, weil es bestimmte Personen gab, die sie liebten und für die sie hier kämpfen wollten.
Deusolbert nahm seine rechte Hand von dem Ring und zog vier Stahlpfeile aus dem überdimensionalen Köcher, der neben ihm auf dem Boden stand.
Er spannte sie alle in seine göttliche Waffe, den Bogen der glühenden Flamme.
Sein Spruch für die vollkommene Rüstungskontrolle war fast vollendet. Die anderen beiden Ritter schienen sich ihre Kräfte noch aufzusparen, aber Deusolbert würde seine wahre Kraft nicht entfalten können, wenn bereits ein Schlachtgetümmel entstanden war. Also holte der Integrationsritter tief Luft, bereit, die Hälfte der Lebensspanne seines treuen Bogens auf einmal einzusetzen, und sprach den Befehl.
»Enhance Armament!«
Alles wurde rot.
Eine gewaltige Welle purpurroter Flammen schoss aus dem kupferfarbenen riesigen Bogen und erleuchtete knallrot die Panzerungen der Angreifer, die sich schon auf zweihundert Mer genähert hatten.
Die vier Pfeile an der Bogensehne fingen ebenfalls an, scharlachrot zu brennen und grell zu leuchten.
»Ich bin Integrationsritter Deusolbert Synthesis Seven! Und ich werde alle, die sich mir entgegenstellen, bis auf die Knochen verbrennen!«
Deusolbert hatte keine Erinnerung daran, dass er sich vor acht Jahren, als er ein kleines Mädchen in einem abgelegenen Dorf im Norden festgenommen hatte, schon einmal sehr ähnlich vorgestellt hatte. Aber jetzt, da er seine schwere Stahlmaske abgenommen hatte, erklang seine Stimme noch wuchtiger und lauter um ihn herum.
Seine Finger ließen die bis zum Anschlag gespannte Bogensehne los.
Zzzzuuschh!
Mit einem ohrenbetäubenden Zischen schossen vier Feuerschweife in verschiedene Richtungen davon.
Die ersten Opfer dieses Krieges, der später als Krieg von Underworld bekannt werden sollte, waren die Soldaten der Flachland-Goblins, die auf der linken Seite der Schlucht vorstürmten.
Shibori, der junge neue Anführer der Flachland-Goblins, war längst nicht so klug und intelligent wie Kosogi von den Berg-Goblins und konnte nur mit seiner körperlichen Größe und Stärke trumpfen. Somit hatte er keine Strategie, wie er gegen die schon alleine sehr starken Integrationsritter ankommen sollte, und schickte seine fünftausend Kämpfer einfach nur voran in den Tod.
Deusolberts vier Flammenpfeile erwischten die dicht beisammen rennende Horde der Flachland-Goblins frontal und entfalteten maximale Wirkung. Schon diese erste Pfeilsalve verbrannte sofort zweiundvierzig Goblins und versetzte die um sie herum befindlichen Soldaten in Panik. Aber da der Angriff dieser Truppe von vornherein kein bisschen koordiniert war, trampelten die meisten der blutrünstigen Kämpfer einfach über die verkohlten Leichen ihrer Kameraden hinweg, stießen einige verängstigte Mitstreiter aus dem Weg und setzten ihren chaotischen Sturm fort.
Deusolbert ließ sie auf sich zukommen und spannte vier weitere Pfeile in seinen Bogen der glühenden Flamme. Diesmal ließ er sie jedoch nicht strahlenförmig in mehrere Richtungen fliegen, sondern gebündelt.
Die großen, brennenden Speerpfeile schlugen im Zentrum der Goblintruppe ein und verursachten eine gewaltige Explosion. Unter schrillen Schreien flogen viele Soldaten hoch in die Luft. Mehr als fünfzig weitere Goblins kamen ums Leben, doch auch das hielt den Rest von ihnen nicht auf.
Und das konnte es auch gar nicht. Denn hinter den beiden parallel zueinander vorstürmenden Goblineinheiten kamen bereits zweitausend Orks und eintausend Riesen, und wenn die Goblins stehen blieben, würden sie von diesen viel größeren Kreaturen einfach zertrampelt werden.
Die Flachland-Goblins konnten zwar nicht wie Kosogi von den Berg-Goblins konkrete Pläne schmieden, doch auch in ihnen steckten Wut und Groll darüber, dass man sie als minderwertige Rasse verspottet und tyrannisiert hatte. Und diese Gefühle nährten ihren Hass auf die Menschen der gegnerischen Seite, oder die Weißen Iums, wie die Goblins sie nannten, und die in Folge dieser Schlacht zu noch niedrigeren Wesen als den Goblins degradiert und in Sklaven verwandelt werden mussten.
Häuptling Shibori schwang mit seinem für einen Goblin äußerst kräftigen Arm eine grobe Streitaxt und schrie wild: »Metzelt zuerst diesen Bogenschützen nieder! Umzingelt ihn, schlagt ihn zu Boden und hackt ihn in Stücke!«
»Jaaaaa! Töten! Töten! Töten!«
Kampfgebrüll breitete sich durch die Reihen der fünftausend Soldaten aus.
Deusolbert nahm all die ihm entgegengeschleuderte Wut und Blutlust schweigend auf und schoss eine dritte Salve Feuerpfeile ab. Wieder gingen mehr als fünfzig Goblins zu Boden, doch der Rest der Truppe kam nach wie vor nicht zum Stehen.
Als die Entfernung zwischen ihnen nur noch fünfzig Mer betrug, löschte er die Flammen seines Bogens der glühenden Flamme und ging zu normalen Schussattacken über. Blitzschnell zog er weitere Stahlpfeile aus dem Köcher und feuerte sie ab, ohne allzu genau zu zielen. Jeder Pfeil durchbohrte zwei, drei oder gar noch mehr Goblins.
Jetzt stürmten von hinten die Wachsoldaten mit gezogenen Schwertern bis an Deusolberts Seite vor.
»Beschützt unseren Ritter! Lasst ihn nicht von den Klingen der Goblins getroffen werden!«, rief ein junger Leutnant, der noch nicht älter als zwanzig Jahre sein konnte. Er hielt ein großes zweihändiges Schwert vor sich, das ihm dank seines harten Trainings sehr gut in den Händen lag – nur die Spitze zitterte ein ganz klein wenig.
Deusolbert hätte ihm jetzt gerne gesagt, dass sie hinten bleiben und kein unnötiges Risiko eingehen sollten. Denn er hatte trotz der strengen Unterweisung, die diese jungen Männer durch die Ritter erhalten hatten, nicht die Gewissheit, dass sie genug mentale und militärische Stärke für eine echte Schlacht aufbringen würden. Eine Schlacht, in der Blut mit Blut vergolten wurde.
Doch er holte stattdessen nur scharf Luft und rief: »Danke! Verteidigt meine Flanken.«
»Das tun wir!«, antwortete der Leutnant und grinste breit.
Sekunden später prallten die Klingen der heranstürmenden Goblins und die Schwerter der sie erwartenden Wachsoldaten laut aufeinander.
***
Wenige Sekunden bevor dies geschah, bereitete sich Vizekommandantin Fanatio Synthesis Two in der Mitte der engen Schlucht in einer wahrlich merkwürdigen Haltung noch darauf vor, der feindlichen Armee zu begegnen.
Sie stand breitbeinig und schräg nach links vorne gebeugt da, den rechten Arm auf Schulterhöhe erhoben und eng angewinkelt, und in dessen Hand hielt sie fest die Himmelsperforatorklinge. Genauer gesagt hielt sie diese aber in der Rückhand, und der Knauf des waagerechten Schwerts ruhte auf ihrer Schulterpanzerung.
Ihre linke Hand war unterdessen nach vorne gestreckt, und mit der Handfläche stützte Fanatio die vorstehende Klinge. Hätten Gabriel oder Vassago sie so gesehen, wären sie wohl beide zu ein und derselben Meinung gekommen: Fanatio sah aus wie eine Scharfschützin, die mit ihrem Gewehr auf etwas zielte.
In gewissem Sinne war das auch richtig. Fanatio wartete darauf, dass der Feind ihr so nahe wie möglich kam, und suchte dabei den effektivsten Zielpunkt.
Deusolberts Bogen der glühenden Flamme konnte je nach Schießart das Schussfeld seiner Pfeile breiter oder schmaler machen, doch die Himmelsperforatorklinge war nur in der Lage, einen hauchdünnen Lichtstrahl abzufeuern. Es brachte also nichts, ihn einfach nur irgendwo in die feindliche Armee hinein zu schicken.
Fanatio musste stattdessen auf einen der zehn Fürsten des Reichs der Finsternis zielen, die irgendwo im gegnerischen Heer sein mussten.
Die Streitkräfte des Dark Territory wurden von Macht und Angst zusammengehalten. Alle Soldaten waren ihren Kommandanten mit absoluter Treue ergeben und würden bis auf den letzten Mann jeden Befehl ausführen, der ihnen gegeben wurde. Umgekehrt hieß das, wenn ihr Anführer fiel, so würde auf einen Schlag die gesamte Truppe ihren Zusammenhalt verlieren.
Wir waren früher auch nicht anders …
Fanatio erinnerte sich kurz zurück.
Die Nachricht von Administrators Tod hätte in einer einzigen Nacht beinahe die Ritterschaft aufgelöst. Nur Bercoulis Worte hatten es noch geschafft, die zutiefst bestürzten Integrationsritter wieder Halt finden zu lassen.
Lag unsere Bestimmung, der Sinn unserer Existenz, etwa nur darin, den Anweisungen der Hohepriesterin und des Erzbischofs Folge zu leisten?
Nein. Wir sollten doch das Menschenreich und die Menschen, die darin leben, beschützen.
Solange in uns der Wille ist, die Schwachen zu schützen, bleiben wir Ritter, bis zu unserem Tod.
Tatsächlich hatten aber nicht alle Integrationsritter die Worte ihres Kommandanten verstanden und waren ihnen gefolgt. Weniger als zwanzig von ihnen waren zu dieser Schlacht erschienen.
Doch alle, die gekommen waren, hatten die Bereitschaft, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Dasselbe konnte man wahrscheinlich auch von den fünftausend Wachsoldaten sagen, die sich ihnen in diesem Todeskampf angeschlossen hatten. Das war der entscheidende Unterschied zur Armee des Dark Territory.
Fanatio drückte ihre nackte Wange – ihre Silbermaske trug sie gerade nicht auf dem Gesicht – gegen den Griff ihres geliebten Schwerts und starrte mit weit aufgerissenen Augen die gegnerische Armee an.
Die dröhnend herantrampelnden Goblins waren jetzt nur noch hundert Mer entfernt. Rechts griff Deusolbert sie bereits mit seiner vollkommenen Rüstungskontrolle an. Rote Explosionen erhellten zwei-, dreimal die Dunkelheit.
Und in einem dieser hell erleuchteten Momente fand Fanatio schließlich das Ziel, nach dem sie gesucht hatte.
Hinter den vorne rennenden Goblins waren gewaltige Silhouetten zu sehen, die mittig auf die zwei Goblintruppen folgten und diese zum Weiterlaufen zwangen: Das waren die Riesen, die mehr als die doppelte Größe eines Menschen hatten. Und an deren Spitze lief ein besonders großer, monströser Riese, der Häuptling, den Fanatio nur einmal je gesehen hatte. Das musste Sigurosig sein, einer der zehn Fürsten.
Die Riesen waren ein überaus stolzes Volk, wenn nicht ein geradezu arrogantes. Körpergröße war das Einzige, an dem sie sich selbst und andere maßen, und daher sahen sie insgeheim sogar auf die leicht dunkelhäutigen Menschen herab, die die de facto herrschende Klasse im Reich der Finsternis bildeten.
Wenn Fanatio also deren Häuptling mit nur einem Treffer besiegte, bevor die eigentliche Schlacht begonnen hatte, so würde das für einen gewaltigen Tumult sorgen.
Fanatio atmete tief ein, hielt die Luft an und murmelte: »Enhance Armament.«
Ihre Himmelsperforatorklinge begann, tief zu vibrieren, und ein weißes Licht, strahlend wie das von Solus, legte sich um die Klinge.
Die scharfe Spitze richtete sich genau auf den wuchtigen Körper des noch weit in der Ferne rennenden Sigurosig.
Dann brüllte Fanatio laut: »Licht … durchbohre ihn!«
Whoooosch!
Die Luft erbebte, als ein Hitzestrahl aus verdichteter Soluskraft gleißend hell über das Schlachtfeld schoss.
***
»Es hat begonnen …«, murmelte Renly leise, als mehrere aufeinanderfolgende Explosionslaute in der Ferne erklangen.
Er war Integrationsritter Renly Synthesis Twenty-Seven und einer der sieben hochrangigen Ritter, die sich der Verteidigung des Menschenreichs verschrieben hatten. Er allein machte also einen beträchtlichen Teil der Kampfkraft der Verteidigungsarmee aus.
Doch jetzt kauerte er, die Arme um seine Knie geschlungen, nicht etwa ganz vorne im linken Flügel des zweiten Regiments, wo er eigentlich hätte stehen müssen, sondern viel weiter hinten, in der Ecke eines zwielichtigen Lagerzelts.
Er war geflohen.
Vor weniger als einer Stunde, unauffällig während der letzten eiligen Vorbereitungen für die Schlacht, hatte er sich aus dem Staub gemacht und ein unbesetztes Zelt gefunden, in dem er sich versteckt hatte. Hier saß er nun, atmete so leise wie möglich und lauschte.
Der Grund für seine Flucht war derselbe wie der, aus dem er überhaupt der Verteidigungsarmee beigetreten war.
Nämlich, dass er ein Versager war.
So hatte ihn auch Administrator bezeichnet, und Renly hatte fünf Jahre im eingefrorenen Zustand verbracht, ohne
irgendetwas Besonderes als Integrationsritter leisten zu können. Dann hatte er sich freiwillig für diese Schlacht gemeldet, um seinen Namen wieder mit etwas Rühmlichem in Verbindung zu bringen. Aber letztendlich war er eben doch seiner Angst erlegen.
Renly erinnerte sich nicht an seine frühere Vergangenheit, weil diese aus seinem Gedächtnis gelöscht worden war, aber er war einst ein Junge aus dem südlichen Kaiserreich Sothercrois gewesen und hatte als herausragendes Genie im Umgang mit dem Schwert gegolten. Mit gerade einmal dreizehn Jahren war er nach Centoria gekommen und hatte schon im darauffolgenden Jahr zum Erstaunen aller das Große Turnier der vier Kaiserreiche gewonnen. Danach war er zum Integrationsritter geschlagen worden.
Im Synthese-Ritual hatte er alle Erinnerungen an sein Leben davor verloren, doch selbst als er danach als Ritter erwacht war, hatte er eine bemerkenswerte Gabe für den Umgang mit dem Schwert gezeigt. Innerhalb kürzester Zeit war er in die Gruppe der hochrangigen Ritter aufgestiegen und hatte von der Hohepriesterin persönlich eine göttliche Waffe erhalten.
Wenn eine göttliche Waffe aus dem Waffenlager der Central Cathedral gewährt wurde, so war es nicht die Hohepriesterin oder gar der Ritter selbst, der die Waffe auswählte. Ganz im Gegenteil: Die Waffe wählte sich ihren Träger selbst. Zwischen der Seele des Ritters und dem Gedächtnis der göttlichen Waffe entstand dabei eine Art Resonanzverbindung.
Zwischen Renly und seiner göttlichen Waffe, die aus zwei Wurfklingen bestand und auf den Namen »Doppelflügelklingen« hörte, hatte sich in der Tat eine starke Resonanzverbindung gezeigt.
Doch, oh weh – er war kein einziges Mal in der Lage gewesen, mit ihr die vollkommene Rüstungskontrolle zu aktivieren, die ihn als hochrangigen Integrationsritter bestätigt hätte.
Allein schon dadurch hatte die Hohepriesterin jegliches Interesse an ihm verloren. Und Alice Synthesis Thirty, die kurz nach Renly zur Integrationsritterin geworden war, hatte ihn mit ihrem unglaublichen Talent erst recht weit in den Schatten gedrängt.
Es wäre wohl unfair, Renly selbst die gesamte Schuld daran zu geben. Denn Alice hatte ein derart gewaltiges Potenzial unter Beweis gestellt, dass sie direkt zur Nummer drei der Ritterschaft befördert worden war und das Schwert des goldenen Osmanthus erhalten hatte, das die älteste und mächtigste aller göttlichen Waffen war. Dennoch war Renly als Versager gebrandmarkt und in einen langen Schlaf versetzt worden.
In dem Moment, als der Erzbischof ihn mittels der Deep-Freeze-Technik in eine Eisskulptur verwandelte, hatte Renly nur ein überwältigendes Gefühl von Versagen und Unzulänglichkeit empfunden.
Ihm musste irgendetwas Großes und Wichtiges fehlen, darum war er daran gescheitert, die mit ihm resonierenden Doppelflügelklingen zu kontrollieren.
Lange, lange Zeit später war Renly wieder erwacht. Und das genau während der Rebellion, die die Central Cathedral so erschüttert hatte. Alle dauerhaft dort stationierten Ritter, bis hin zum Kommandanten Bercouli, hatten den Kampf verloren, und selbst Alice, ihre letzte Hoffnung, war verschwunden. Und so hatte Erzbischof Chudelkin sich entschieden, Renly aufzutauen.
Doch auch diesmal hatte Renly wieder dabei versagt, seine Pflicht zu erfüllen. Noch bevor Renly überhaupt vollständig erwacht war, waren Chudelkin und Administrator bereits besiegt worden. Und als Renly sich endlich bewegen konnte, fand er nur noch die anderen Integrationsritter in einem desolaten Zustand vor.
Dann war von ihm verlangt worden, dass an der furchterregenden Mission, die riesige Arme des Reichs der Finsternis zu besiegen, teilnahm. Und zwar von Bercouli, der anstelle von Administrator die Rolle des Befehlshabers übernommen hatte.
Fanatio, Deusolbert, Alice und andere hochrangige Ritter, die diesem Ruf gefolgt waren, hatten auf Renly fortan nur noch strahlender als zuvor schon gewirkt, denn sie stellten sich dieser Mission, obwohl sie schon einmal eine Niederlage erlebt hatten.
Und Renly hatte gedacht, wenn er sich ihnen anschloss, so würde er vielleicht endlich verstehen, was ihm fehlte und warum seine göttliche Waffe ihm nicht gehorchte.
Renly war vorsichtig aus seiner kauernden Haltung in der Ecke einer großen Halle aufgestanden und hatte seine Hände erhoben. Bercouli hatte ihm zufrieden zugenickt, eine große Hand auf Renlys Schulter gelegt und lediglich gesagt: »Ich zähle auf dich.«
Und doch …
Es war Renlys erstes Schlachtfeld und sein erster wirklicher Kampf überhaupt. Der Druck, der deswegen auf ihm lastete, war noch weitaus stärker, als Renly es sich vorgestellt hatte. Der stechende Geruch all der Mordlust und der Gier der dunklen Armee, die tausend Mer entfernt wartete, hatte ihn dermaßen überwältigt, dass er erst wieder zu sich gekommen war, als er schon weggerannt war.
Steh auf. Geh zurück an deinen Platz. Wenn du jetzt nicht kämpfst, bleibst du für immer ein Versager.
So schimpfte er immer wieder mit sich selbst, während er im Zelt saß.
Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, den Griff um seine Knie zu lösen. Und irgendwann sagten ihm ein schweres Beben der Erde und wildes Gebrüll, dass das Feuer eröffnet worden war.
»Es hat begonnen …«, murmelte Renly noch einmal zu sich selbst.
Er glaubte zu spüren, wie die zwei Klingen links und rechts an seiner Hüfte einmal leicht zitterten, wie um ihren Herrn zu tadeln.
Doch Renly konnte nicht mehr zurück an die Front. Wie sollte er auch je wieder dem Kommandanten der Ritter und den Wachsoldaten in die Augen schauen, die an ihn geglaubt hatten?
Es ist völlig egal, ob ich dort bin oder nicht. Ein hochrangiger Ritter, der die vollkommene Rüstungskontrolle nicht beherrscht, würde sowieso nur stören.
Solche Ausreden gab er sich in Gedanken und vergrub sein Gesicht dabei noch tiefer zwischen seinen Knien.
Da drang plötzlich eine leise Stimme vom Eingang des Zelts her zu ihm. Renly zuckte vor Schreck zusammen.
»Tiese, wie wäre es mit dem hier?«
Hatte man ihn etwa gesucht? Renly zog ängstlich die Schultern hoch, was nicht gerade dem Bild eines stolzen Ritters entsprach. Doch schon im nächsten Moment hörte er eine andere Stimme. Auch sie klang nach einer jungen Frau.
»Ja, dieses Zelt könnte sicher sein, Ronie. Wir verstecken ihn am besten hier und halten am Eingang Wache.«
***
Sigurosig, der Häuptling der Riesen, war ein legendärer Krieger mit einer Statur wie ein kleiner Berg, ungekämmten kupferfarbenen Haaren und einem ebensolchen Bart, wilden Gesichtszügen und unzähligen Narben, die seinen ganzen Körper bedeckten.
Wenn jemand das einzige Gesetz des Dark Territory, nämlich dass der Stärkere die Macht hatte, am besten verkörperte, so waren es wohl die Riesen. Von klein auf trugen sie Wettkämpfe aus, in denen sie ihre Kraft, ihre Fertigkeiten und ihren Mut maßen. Dadurch hatten sie eine noch strengere Rangordnung untereinander als die der Dunkelritter entwickelt. Die Riesen lebten im Hochland im Westen des Dark Territory, wo eigentlich immer viele riesige Bestien und mystische Geschöpfe auftauchten. Doch die Riesen hatten in der Regel Mühe, welche zu finden. Denn sie benutzten die Bestien für allerhand Initiationsriten und betrieben daher sehr viel Jagd auf sie.
Warum waren die Riesen so darauf aus, ihre Kraft zu demonstrieren?
Das lag daran, dass sich andernfalls ihre Seelen, ihre Fluctlights, auflösen würden.
Die vier nichtmenschlichen Rassen des Dark Territory besaßen tierische Körper, in denen die Prototypen menschlicher Seelen eingeschlossen waren. Man konnte fast sagen, sie seien missratene Existenzen. Daher brauchten sie geistige Ventile, um sich irgendwie bei klarem Bewusstsein zu halten.
Die Goblins zum Beispiel wandelten ihren Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Menschen, den sie aufgrund ihrer geringen Körpergröße hatten, in Energien der Eifersucht und des Hasses um und schafften es so, zu überleben.
Die Riesen machten es genau andersrum, sie hatten ein Überlegenheitsgefühl über die Menschen entwickelt und hielten so ihren inneren Konflikt unter Kontrolle, dass sie selbst einerseits auch Menschen waren und gleichzeitig doch nicht.
Jeder Riese würde, zumindest im Einzelkampf, immer über einen Menschen siegen. In diese Überzeugung, die für sie zu einer eisernen Regel geworden war, flüchteten sich die Riesen. Das war auch genau der Grund, warum sie ihren Nachwuchs solch grausamen Initiationsriten unterzogen und es sogar in Kauf nahmen, ihre Population zu verringern, wenn dafür jeder Einzelne stark war.
Die eintausend Soldaten der Riesen, die zu dieser Schlacht gerufen worden waren, hegten also trotz ihrer verschwiegenen Wesensart einen enormen Kampfesdrang. Es war der erste große Krieg für diese Generation, die nach der Ära von Eisen und Blut geboren worden war.
Und Häuptling Sigurosig hatte sich eine Sache fest vorgenommen: Er wollte direkt beim ersten Angriff die gesamte Armee des Gegners platt machen und damit die Schlacht beenden.
Er wollte weder den Dunkelrittern noch der Gilde der dunklen Künste oder gar den Pugilisten, die alle von Imperator Vector zu den Hauptstreitkräften der Armee auserkoren worden waren, eine Chance geben, sich zu beweisen. Stattdessen würde er einfach ohne sie den Sieg in dieser Schlacht erringen und damit allen zeigen, dass die Riesen sämtlichen anderen Rassen überlegen waren.
Als der Empfängerschädel mit seinem Kiefer klapperte und den Angriffsbefehl des Imperators verkündete, spürte Sigurosig einen brennenden Schmerz durch die vielen Narben aus früheren Kämpfen auf seinem Körper fahren. Und es fühlte sich für ihn so an, als sei dadurch die Kraft aller großen Bestien, die er bisher schon mit bloßen Händen zerfetzt hatte, auf ihn übergegangen.
»Trampelt sie nieder!«, donnerte er einen einzigen, kurzen Befehl.
Und dieser war genug. All die mutigen Kämpfer um ihn herum rissen zeitgleich mit ihm ihre gigantischen Kriegshammer hoch und rannten los, dass der Boden unter ihren Füßen nur so bebte.
Die Schlucht vor ihnen war erfüllt von Soldaten des Menschenreichs.
Aus Sicht der dreieinhalb Mer großen Riesen waren sie winzig, kaum größer als die Goblins. Die Schwerter der Menschen waren sogar kleiner als die Zähne neugeborener Felsschuppenwürmer.
Die Riesen würden alle Menschen zerschmettern, niedertreten, sie in Stücke reißen.
Sigurosigs fest in seine Seele eingebranntes Überlegenheitsgefühl wurde so stark aktiviert, dass es in ihm rot zu glühen und Funken der Freude zu sprühen begann. Sein kantiger Kiefer verzog sich, und ein wildes Lachen drang ihm aus der Kehle.
Im nächsten Moment lief ein fremdartiges und doch vertrautes Gefühl sein Rückgrat hinauf.
Es war kalt. Es lähmte ihn. Und schien ihn wie mit Eisnadeln zu durchbohren.
Sigurosig hatte dieses Gefühl schon einmal erlebt, tief im Grünschnabeltal ganz in der Nähe seines Dorfes. Dort hatte seine erste Prüfung stattgefunden. Er war losgezogen, um sich die Eier eines Schnappvogels zu erbeuten, und die Vogelmutter war von oben auf ihn heruntergeflogen …
Sigurosig riss beim Rennen seine Augen weit auf und versuchte, die Ursache für das Gefühl zu finden.
Da entdeckte er an der Spitze der Menschenarmee, genau in der Mitte der Schlucht, einen winzig kleinen Menschen. Er hatte lange Haare und einen schmalen Körper. Eine Frau – eine Ritterin, die eine funkelnde Silberrüstung trug.
Nur einmal zuvor hatte er einen Drachenritter des Menschenreichs gesehen, als dieser über das Grenzgebirge geflogen war. Sigurosig hatte den starken Drang gespürt, ihn zu zerquetschen, wenn er es gewagt hätte, herunterzukommen, doch das kleine Wesen war nur ein-, zweimal im Kreis über die Berggipfel geflogen und wieder verschwunden.
Sie bedeuteten ihm eigentlich nichts.
Doch die schwarzen Augen dieser Ritterin …
Trotz der Entfernung von über dreihundert Mer zwischen ihnen spürte er den nadelscharfen Blick auf seiner Haut. Und in ihren Augen lagen keine Furcht oder Angst, nicht ein Hauch davon.
Er konnte nur die Kälte spüren, mit der sie ihr Ziel identifizierte und ins Visier nahm.
Hat sie es auf mich abgesehen?
Auf mich, Sigurosig, den Häuptling der Riesen und damit einen der mächtigsten Kämpfer unter den fünf Völkern der Dunkelheit?
»Hurks …« Ein piepsiges Krächzen, das so gar nicht zu seinen groben Gesichtszügen passte, drang aus seiner Kehle.
Die Kraft wich aus seinen Beinen, und der große Hammer in seiner Hand wurde plötzlich unerträglich schwer. Sigurosig verlor sein Gleichgewicht und stürzte vornüber hin.
Und nur einen Augenblick später …
Fwoooosch!
Mit einem Sausen, wie Sigurosig es noch nie gehört hatte, schoss aus dem Schwert der Ritterin ein hauchdünner, greller Lichtstrahl. Und durchbohrte mit Leichtigkeit die rechte Seite der Brust eines Riesen, der direkt vor Sigurosig rannte.
Wäre Sigurosig nicht hingefallen, so hätte der Lichtstrahl sich als Nächstes den Weg durch sein Herz gebahnt.
Stattdessen verdampfte das weiße Licht jetzt nur einen Teil der roten Haarpracht des Riesenhäuptlings – und sein rechtes Ohr, das er mit einem Reißzahn von der Jagd hoch aufgestellt hatte.
Außerdem bohrte sich der Lichtstrahl durch die Köpfe zweier Riesen hinter ihm und tötete sie, bevor er schließlich in winzige Funken zerfiel und sich auflöste.
Sigurosig nahm kaum wahr, wie die Körper der drei so schnell ihres Lebens beraubten Riesen wie Baumstämme zu Boden fielen. Auch der heftige Schmerz an der verbrannten Stelle rechts an seinem Kopf war nichts weiter als ein Insektenstich im Vergleich zu dem wahnsinnigen Gefühl, das ihn jetzt überfiel.
Es war Furcht.
Sigurosig konnte nur wie ein Trottel auf dem Boden sitzen bleiben und mit dem Kiefer klappern.
Selbst als der dunkle General Shasta seine beispiellose Rebellion angeführt hatte, war Sigurosig zwar überrascht, aber nicht im Geringsten verängstigt gewesen. Schließlich hatte Shasta wie ein schwarzer Tornado nur diejenigen getötet, die von vornherein schwach gewesen waren, also Assassinen und Goblins. Imperator Vector hatte er nichts anhaben können, aber dieser war sowieso ein Gott aus alten Zeiten und kein Mensch.
Wieso bereitete ihm also eine so schmächtige kleine Ritterin dermaßen viel Angst?
Kein Mensch durfte Sigurosig je in die Knie zwingen.
»Das kann nicht sein … Das kann nicht wahr sein, nie im Leben kann das wahr sein!«, stöhnte der Häuptling der Riesen, während Rauch aus seinem versengten Haar aufstieg.
Es konnte einfach nicht sein. Sigurosig konnte doch keine Angst haben. Aber je mehr er sich das einredete, desto intensiver entzündeten sich weiße Funken tief in seinem Kopf und lähmten ihn vor Schmerz. Seine Lippen und die Zunge fingen heftig an zu zucken, was dazu führte, dass die Worte, die jetzt aus seinem Mund kamen, komisch verzerrt klangen.
»Das kann nicht sein, das kann nicht sein, ich töte sie, töte sie, töte sie, töttesie, töttesie, töttsi, töttsi, töttsi, töttsi, töttsi …«
In diesem Moment kam es in Sigurosig zu folgendem Phänomen: Das tief in seinem Fluctlight eingeprägte Selbstbild davon, dass er überragend stark war, kollidierte mit der Wahrnehmung seiner aktuellen Lage, wie er am Boden saß und vor Angst nicht aufstehen konnte. Und weil er keine Umleitung finden konnte, löste das den beginnenden Zerfall seines Quantennetzwerks im Light Cube aus.
Aus den Augen des Riesen schoss rotes Licht. »Töttsi, töttsi, töttsi, töttsi, töttsiiiii …«
Und vor den Augen der um ihn herum zum Stehen gekommenen, fassungslosen Soldaten der Riesen sprang Sigurosig überraschend auf.
Er begann, seinen riesigen Kriegshammer zu schwingen, als sei dieser nur ein Zweig, und stürmte wieder los.
Sigurosig stieß die Riesen vor sich aus dem Weg und holte bald die vorne rennenden Goblins ein. Wild bahnte er sich seinen Weg zwischen ihnen hindurch und über sie hinweg, ohne langsamer zu werden. Er nahm das Spritzen von Flüssigkeiten und panische Schreie unter seinen Füßen wahr. Doch der Riesenhäuptling war gerade dabei, seinen Verstand zu verlieren, und wusste diese Empfindungen daher nicht mehr einzuordnen.
Nur noch ein einziger Befehl dröhnte in seinem Kopf: Töte diese Ritterin.
***
Letztendlich hatten sowohl Shibori von den Flachland-Goblins als auch Sigurosig die Stärke der Integrationsritter unterschätzt.