Sword Art Online – Alicization exploding – Light Novel 17 - Reki Kawahara - E-Book

Sword Art Online – Alicization exploding – Light Novel 17 E-Book

Reki Kawahara

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Beschreibung

Der Finale Belastungstest geht in den zweiten Tag. Da die Armee des Dark Territory ins Hintertreffen geraten ist, setzt Critter, ein US-Söldner, nun die Menschen der realen Welt ein. Sein Aufruf zu einem »Betatest eines neuen Hardcore-VRMMOs« stärkt die Reihen der dunklen Armee um Zehntausende! Und die Menschenarmee befindet sich in einer verzweifelten Lage. Doch gerade als alles verloren scheint, nehmen zwei neue Gottheiten den Kampf auf: die Sonnengöttin Solus und die Erdgöttin Terraria. Die Besitzer dieser Superaccounts sind niemand anderes als Sinon und Leafa!

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Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kapitel XX

Kapitel XX

Schlachtplätze

7. Juli 2026 / 7. November des Jahres 380 menschlicher Zeitrechnung

1

Es war fünf Uhr morgens.

In der gigantischen Kuppel unter den Wurzeln des Weltenbaums, der inmitten der Hauptstadt der Weltkarte des VR-MMORPGs ALfheim Online emporragte, hatten sich mehr als dreitausend Spieler versammelt.

Die geflügelten Monster, die einst das Tor am höchsten Punkt der Kuppel bewacht hatten, waren längst beseitigt worden. Jetzt diente die Kuppel als Raum für Besprechungen und Verhandlungen zwischen den neun Elfenrassen sowie als Veranstaltungsort.

Nur vier Spieler standen den dreitausend gegenüber, die zu nachtschlafender Stunde zu dieser Großversammlung einberufen worden waren. Der hünenhafte Gnom Agil, der Salamander-Krieger Klein, die Beast-Tamerin Silica von den Cait Sith und die Leprechaun-Schmiedin Lisbeth – die Freunde des schwarzen Schwertkämpfers Kirito, der noch immer nicht aus seinem Dive in die Welt von Underworld erwacht war.

Um 04:20 Uhr, als die vier damit begonnen hatten, an sämtliche Kontakte auf ihrer Freundesliste Nachrichten zu verschicken, waren nur drei der Elfenfürsten eingeloggt gewesen. Indem sie diese drei und die ihnen unterstellten Spieler um Hilfe gebeten und sogar verbotenerweise Leute offline kontaktiert hatten, war es ihnen dennoch gelungen, innerhalb von nur vierzig Minuten diese große Menge zu versammeln.

Fast ein Drittel der Spieler, die in dem gewaltigen, halbkugelförmigen Raum standen oder schwebten, benutzten neu erstellte Charaktere. Sie waren jedoch keineswegs VRMMO-Neulinge. Sie alle waren Veteranen in einem der vielen anderen Spiele im The-Seed-Nexus und waren auf die Bitte ihrer Freunde mit ALO-Accounts hierhergekommen.

Mit anderen Worten, diese dreitausend Leute in der Weltenbaumkuppel waren die Besten der Besten unter den japanischen VRMMO-Spielern. Und für die Top-down-AI Yui waren sie der letzte Hoffnungsschimmer, die einzige Streitmacht, die die Verteidigungsarmee der Menschenwelt in Underworld noch retten konnte.

Die magisch verstärkte Stimme der Leprechaun-Schmiedin Lisbeth hallte eindringlich durch die ansonsten totenstille Kuppel.

»Das ist weder ein Bluff noch ein Witz! Ein japanisches Forschungsinstitut hat mit Unterstützung der Regierung die virtuelle Welt ›Underworld‹ basierend auf The Seed geschaffen! Schon bald werden Tausende amerikanischer Spieler hineindiven, ohne zu wissen, was es wirklich ist – und dann werden sie die Bewohner dieser Welt abschlachten!«

Sie schämte sich ihrer eigenen Worte, die den Patriotismus in den Spielern anstachelten. Doch sie ermutigte sich selbst, angesichts der verzweifelten Lage zu allen ihr verfügbaren Mitteln zu greifen, und fuhr fort.

»Die Bewohner von Underworld sind nicht einfach nur NPCs! Sie sind richtige künstliche Intelligenzen, geschaffen aus den Daten der vielen VRMMO-Welten, in denen wir spielen! Die Underworldler haben Gefühle und eine Seele, genau wie wir! Ich bitte euch, helft uns, sie zu beschützen! Bitte konvertiert euren Charakter nach Underworld!«

Nachdem sie ihre fünfminütige Rede beendet hatte, blickte Lisbeth flehentlich in die Menge.

In sämtlichen Gesichtern der versammelten Elfen lag der gleiche Ausdruck von Verwirrung. Und wer konnte es ihnen verdenken. Schließlich war dies nichts, was so aus heiterem Himmel und ganz ohne Vorwissen zu begreifen war. Trotz Yuis Erklärungen war sich Lisbeth selbst über viele Aspekte der Underworld und der dort lebenden synthetischen Fluctlights noch im Unklaren.

Aus der Mitte der Spieler, die mit verwunderten Mienen untereinander flüsterten, reckte sich ein Arm in die Höhe. Dann trat die Sylphenfürstin vor, ihre schlanke Gestalt in eine grüne Robe gehüllt.

»Lisbeth. Ich bin überzeugt, dass du und deine Freunde uns nicht nur herrufen würdet, um uns einen üblen Streich zu spielen. Und da Kirito seit fast zehn Tagen nicht mehr eingeloggt war, muss die Sache in der Tat ernst sein. Allerdings …«

Sakuyas sonst so sanfte und ruhige Stimme schwankte unschlüssig.

»Offen gesagt, ist es schwer zu glauben. AIs mit Seelen wie Menschen, und das amerikanische Militär, das sie stehlen will …? Beides klingt in meinen Ohren doch sehr weit hergeholt. Nun, natürlich könnten wir uns selbst vergewissern, sobald wir uns in diese Underworld eingeloggt haben. Aber du hast vorhin erwähnt, dass es beim Dive einige Probleme gäbe? Könntest du uns diese Probleme zunächst einmal genauer erklären?«

Jetzt ist der Moment gekommen.

Lisbeth atmete tief durch und schloss für einen Moment die Lider.

Dies war der Moment der Wahrheit. Wenn sie jetzt scheiterte, würde ihnen niemand zur Hilfe kommen.

Sie schlug die Augen auf und richtete ihren Blick auf Sakuya, die anderen Fürsten und die zahlreichen ALO-Spieler.

»Hört zu«, sprach sie mit fester Stimme. »Underworld wird nicht wie ein normales VRMMO-Spiel betrieben. Deswegen gibt’s eine Reihe von Problemen beim Dive. Zunächst mal gibt es in Underworld keine bedienbare Benutzeroberfläche. Das heißt, man kann sich nicht von selbst ausloggen.«

Das Gemurmel in der Kuppel wurde schlagartig lauter.

Kein freiwilliger Logout. Diese Worte erinnerten unweigerlich an das ebenso berüchtigte wie tödliche Spiel Sword Art Online. In allen aktuellen Seed-basierten Welten einschließlich ALO war der Logout sowohl über eine Benutzeroberfläche als auch über Sprachbefehle möglich.

»Die einzige Möglichkeit für den Logout ist der Tod innerhalb der virtuellen Welt. Aber das stellt uns vor ein weiteres Problem. In Underworld … gibt’s nämlich keinen Schmerzabsorber. Und ein Schaden, der die HP auf null reduziert, wird sicher heftige Schmerzen verursachen.«

Als die Spieler das hörten, geriet die Menge in Aufruhr.

Auch der Schmerzabsorber gehörte zu den obligatorischen Funktionen moderner VRMMOs. In einer virtuellen Welt ohne diese Funktion wäre jeder Schnitt einer Klinge und jede Verbrennung fast ebenso schmerzhaft wie in der realen Welt. Unter Umständen konnten dabei sogar Reaktionen auf der Haut des Spielers auftreten.

Doch das waren nicht die einzigen Schwierigkeiten, die der Dive mit sich brachte.

Lisbeth wartete, bis sich die Unruhe etwas gelegt hatte, bevor sie auf das dritte und größte Opfer zu sprechen kam.

»Und noch etwas. Underworld ist momentan in einem Zustand, in dem nicht einmal die Entwickler vollen Zugriff darauf haben. Kurz gesagt … Es gibt keine Garantie, dass ihr eure konvertierten Charaktere wieder in eure ursprünglichen Spiele zurück konvertieren könnt. Das bedeutet, es besteht das Risiko, dass eure Charaktere verloren gehen.«

Für einen Moment kehrte Stille ein – dann brach in der riesigen Kuppel wütendes Geschrei aus.

Schweigend standen Lisbeth, Silica, Agil und Klein mit Yui in ihrer Feengestalt auf seiner Schulter in der Mitte des Raums und ließen die Wellen der Entrüstung über sich ergehen, die ihnen von allen Seiten entgegenschlugen.

Es war exakt die Reaktion, die sie erwartet hatten.

Dies waren die dreitausend besten Spieler des Landes, und sie hatten unendlich viel Zeit und Mühe in die Entwicklung ihrer Charaktere gesteckt. In ALO bedeutete das etwa, eine Stunde lang unermüdlich Monster zu killen, um den Skillwert nur um einen einzigen Punkt zu erhöhen. Es war eine langwierige und mühselige Aufgabe – als würde man einen See mit einem einzigen Eimer leeren.

Niemand, der so viel in seinen Charakter investiert hatte, würde sich ohne Weiteres mit der Aussicht abfinden, dass all die harte Arbeit unwiderruflich verloren gehen könnte.

»Willst du uns verarschen?!«, schrie ein Spieler, der aus der Menge hervorsprang und mit dem Finger auf sie zeigte.

Es war ein Spieler in tiefroter Rüstung und mit einer Streitaxt auf dem Rücken. Er war nach Fürst Mortimer und General Eugene der ranghöchste Befehlshaber der Salamander.

Der Salamander klappte das Visier seines Helms hoch, unter dem seine zornig blitzenden Augen zum Vorschein kamen. Er wetterte in einer Lautstärke weiter, die die Menge hinter ihm verstummen ließ.

»Als würd’s nicht reichen, dass ihr uns alle um diese Uhrzeit herruft und breitschlagen wollt, auf irgendeinen fragwürdigen Server zu diven, jetzt kommst du uns noch mit dem Verlust unserer Charaktere?! Wie wollt ihr uns entschädigen, wenn sie verloren gehen?! Oder ist das ’ne Falle, um die anderen Rassen zu schwächen?!«

Klein schnaubte, das Gesicht rot vor Wut. Schon wollte er eine Antwort blaffen, als Lisbeth ihn mit einer Hand zurückhielt und mit ruhiger Stimme erklärte: »Es tut mir leid, aber wir können euch nicht entschädigen. Ich weiß nur zu gut, dass eure mühsam hochgelevelten Charaktere nicht mit Geld aufzuwiegen sind. Also können wir euch nur bitten. Helft uns … Und helft unseren Freunden, die gerade angestrengt versuchen, den Angriff der amerikanischen Spieler auf Underworld abzuwehren!«

Auch ohne ihre Stimme zu erheben, war Lisbeth bis in den letzten Winkel der Kuppel zu hören. Der Salamander hielt für einen Moment die Luft an, doch sofort platzte es wieder wütend aus ihm heraus.

»Diese Freunde, von denen du redest, sind doch bestimmt auch SAO-Überlebende, die herumstolzieren, als seien sie was Besseres als die anderen VRMMO-Spieler! Wir wissen genau, dass ihr Ehemaligen von SAO insgeheim auf uns herabschaut!«

Diesmal war es Lisbeth, der die Worte fehlten.

Dieser Einstellung, die der Salamander kritisierte, war sie sich bisher selbst nie bewusst gewesen. Doch bei seinen Worten wurde ihr klar, dass sie nicht mit absoluter Sicherheit sagen konnte, dass ihr solche Gedanken komplett fern lagen. Immerhin hatte sie ihre Spielerwohnung nicht in einer Stadt auf dem Boden, sondern in Neu-Aincrad im Himmel eingerichtet, zudem verbrachte sie ihre gesamte Zeit mit ihren alten Freunden und mischte sich nur selten unter die Leute hier unten.

Als hätte der Salamander ihre Verunsicherung durchschaut, setzte er erbarmungslos nach: »Was kümmern uns diese Invasion oder diese AIs und ihre Seelen! Haltet euren Real-Life-Scheiß aus den VRMMOs raus und labert uns nicht damit voll! Eure Probleme könnt ihr mal schön alleine lösen! Ihr Überlebenden seid doch auch in der echten Welt so ’ne große Nummer!«

Andere laute Stimmen aus der Menge stimmten ihm zu und forderten sie auf, sich zu verziehen.

Es hat nicht funktioniert. Meine Worte konnten sie nicht überzeugen, dachte Lisbeth und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Flehend blickte sie zu den wahren Machthabern in ALO, mit denen sie Kontakt gepflegt hatte: Sakuya, die Fürstin der Sylphen; General Eugene von den Salamandern; Alicia Rue, die Fürstin der Cait Sith.

Doch obwohl sich ihre Blicke trafen, sagten die drei kein Wort. Sie sahen Lisbeth nur durchdringend an, als wollten sie ihr bedeuten, ihnen ihre Entschlossenheit zu beweisen.

Lisbeth holte tief Luft und schloss wieder die Augen. Sie dachte an Asuna, die gerade in einer weit entfernten Welt aus Leibeskräften kämpfen musste, an den verletzten Kirito und an Leafa und Sinon, die bereits nach Underworld vorausgegangen waren.

Selbst wenn ich meinen Charakter konvertiere, kann ich nicht so gut kämpfen wie Asuna und die anderen. Aber es muss etwas geben, das ich für sie tun kann. Genau dieser Augenblick, genau hier und jetzt, das ist meine Schlacht.

Sie riss die Augen auf und wischte sich eine Träne weg, bevor sie erneut das Wort ergriff.

»Ja, es ist ein Problem der echten Welt. Und wie du schon sagst, neigen wir SAO-Leute vielleicht dazu, reale und virtuelle Welt zu vermischen. Aber wir halten uns auf keinen Fall für Helden.«

Sie ergriff die Hand von Silica, die ebenfalls mit Tränen in den Augen neben ihr stand.

»Sie und ich besuchen eine Schule, auf die nur Überlebende wie wir gehen. Da unsere alten Schulen uns wie Schulabbrecher behandelt haben, hatten wir keine andere Wahl«, erzählte Lisbeth. »Alle Schüler der Schule müssen mindestens einmal im Monat zu einer Therapiesitzung. Sie überwachen unsere Gehirnströme mit einem AmuSphere und stellen uns dabei so unangenehme Fragen wie ›Verlierst du manchmal den Sinn für die Realität?‹ oder ›Willst du manchmal andere Menschen verletzen?‹. Viele von uns müssen gegen ihren Willen Medikamente nehmen. Für die Regierung sind wir nur ein Haufen potenzieller Verbrecher, die überwacht werden müssen.«

Die zornigen Stimmen waren verebbt, und eine angespannte Stille erfüllte die Kuppel. Selbst der Salamander vor ihr starrte sie jetzt verblüfft und mit großen Augen an.

Lisbeth wusste selbst nicht genau, worauf sie damit hinauswollte. Sie tat einfach nur ihr Bestes, ihre aufgestauten Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen.

»Aber in Wahrheit sind die Schüler der Rückkehrer-Schule nicht die Einzigen, die so behandelt werden. So werden mehr oder minder alle VRMMO-Spieler verurteilt. Sie halten uns für eine Last, die keinen Beitrag zur Gesellschaft leistet, für Realitätsverweigerer, die keine Steuern oder Rente zahlen … Manche Leute sind sogar der Meinung, man sollte die Wehrpflicht wieder einführen, um uns so zu zwingen, dem Staat zu dienen!«

Die Stimmung in der Kuppel war jetzt zum Zerreißen gespannt. Schon ein winziger Tropfen konnte das Fass zum Überlaufen bringen und einen noch weitaus heftigeren Aufschrei als zuvor verursachen.

Lisbeth legte die freie Hand auf ihre Brust und rief: »Aber eines weiß ich genau! Und ich glaube daran! Das hier ist real!«

Sie hob die Hand und wies auf die Kuppel unter dem Weltenbaum – und ganz Alfheim dahinter.

»Diese Welt und all die anderen virtuellen Welten, die mit dieser verbunden sind, sind nicht einfach nur ein fiktiver Fluchtort! Für mich ist das hier die Realität, wo ich ein echtes Leben und echte Freunde habe, wo ich echte Begegnungen und Abschiede, echte Freude und Tränen erlebe! Und das geht euch doch ganz genauso, oder? Ihr steckt hier so viel Mühe rein, weil es für euch eine Art zweites Zuhause ist! Aber wenn das alles nur ein Spiel ist … wenn ihr behauptet, das alles sei letzten Endes nur ein virtuelles Imitat, was ist denn dann überhaupt noch real für uns …?!«

Nun strömten die Tränen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Lisbeth machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen, als sie ihre letzten Worte hervorstieß.

»Wir haben diese vielen Welten gemeinsam aufgebaut. Und wie der Weltenbaum wuchsen sie immer weiter, trieben Knospen, aus denen schließlich Underworld erblüht ist! Und deswegen möchte ich es beschützen! Ich flehe euch an … Bitte steht uns bei!«

Sie streckte ihre Hände zur Decke der Kuppel.

Durch ihren Tränenschleier sah sie die Lichtpartikel glitzern und funkeln, die von Abertausenden Elfenflügeln herabrieselten.

***

Ein silbernes Licht beschrieb glitzernd und funkelnd einen weiten Bogen am Morgenhimmel.

Eine Sekunde später wurde ein dickes Seil mit einem trockenen Reißen entzwei geteilt und wand sich wie eine dunkle Schlange durch die Luft. Dutzende von feindlichen Soldaten, die sich daran geklammert hatten, stürzten schreiend in die bodenlose Schlucht unter ihnen. Die Doppelflügelklingen, die das Seil durchtrennt hatten, wendeten in einem steilen Winkel und kehrten zurück in die Hände ihres Meisters, des Integrationsritters Renly Synthesis Twenty-Seven.

Schon hatte er fünf der zehn Seile durchtrennt, die von den Streitkräften des Dark Territory zur Überquerung der Schlucht angebracht worden waren. Doch in seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Stolz oder Genugtuung zu erkennen. Vielmehr schien es ihn zu schmerzen, die Rettungsleinen zu durchtrennen, an denen buchstäblich das Leben der feindlichen Soldaten hing, die getreu ihrer gnadenlosen Befehle todesmutig die Schlucht überquerten.

Nicht anders erging es Asuna, die neben ihm die Zügel ihres weißen Pferdes fester griff.

Als Asuna, Renly, Ritterin Alice Synthesis Thirty, Ritterin Scheta Synthesis Twelve und Kommandant Bercouli Synthesis One herangeritten waren, hatten mehrere Hundert der feindlichen Soldaten die Schlucht bereits überquert und griffen entschlossen an, um die verbliebenen Seile zu verteidigen. Die meisten von ihnen wurden von den vorderen drei Rittern, Bercouli, Scheta und Alice, niedergestreckt, doch ein paar griffen Renly von den Flanken an, sodass Asuna ihr Rapier schwingen musste, um ihm den Rücken freizuhalten.

Die virtuelle Welt von Underworld basierte auf The Seed, was es ihr ermöglichte, ihre noch zu SAO-Zeiten erlernten Kampf- und Reitskills einzusetzen.

Da sie den Superaccount der Göttin Stacia benutzte, waren all ihre Parameter annähernd auf dem Maximalwert. Überdies war ihr Rapier Radiant Light mächtiger als selbst die göttlichen Waffen der Integrationsritter. Schon ihr Basisskill »Linear« durchstieß die massiven Rüstungen der gegnerischen Dunkelritter und die muskulösen Körper der Pugilisten mit einem einzigen Hieb.

Doch das Blut, das aus ihren Wunden spritzte, ihre hasserfüllten Schreie und die ausgelöschten Leben, all das war real.

Die Bewohner von Underworld, ob nun in der Menschenwelt oder im Reich der Finsternis, besaßen Seelen – Fluctlights –, die sich im Grunde nicht von Asunas Seele unterschieden. Ihre Gegner waren echte Menschen. Dennoch war Asuna imstande, sie aufgrund ihrer videospielmäßigen Statuswerte und ihrer übermächtigen Waffe mit nur einem Hieb zu töten. Es fühlte sich falsch an und bereitete ihr unsägliche Qualen.

Die Dunkelritter und Pugilisten, die sich mit grimmiger Entschlossenheit auf sie stürzten, taten dies zudem nicht einmal aus eigenem Willen.

Diese synthetischen Fluctlights waren nicht fähig, sich Befehlen von oben zu widersetzen. Sie standen unter dem Kommando eines Menschen aus der realen Welt, der sich mit dem mächtigen Superaccount des dunklen Gottes Vector eingeloggt hatte. Auf sein Kommando griffen sie an, wohl wissend, dass es ihren sicheren Tod bedeutete. So gesehen waren auch sie Opfer des Kampfes um Spitzentechnologie in der realen Welt.

Doch Asuna verdrängte diesen Gedanken mit aller Macht aus ihrem Bewusstsein. Im Moment musste ihre oberste Priorität sein, Alice, die Priesterin des Lichts, vor Vectors Klauen zu schützen – und auch Kirito im Basislager hinter ihnen.

Wie ihr berichtet worden war, waren von den feindlichen Streitkräften des Dark Territory unter Vectors Befehl nur noch die Truppen der Pugilisten und Dunkelritter übrig. Wenn es ihnen gelang, deren waghalsige Überquerung der Schlucht zu ihrem Vorteil zu nutzen und die feindlichen Reihen zu dezimieren, sollten Vector allmählich die Optionen ausgehen.

»Weiter zum sechsten Seil!«

Bercoulis kraftvolle Stimme riss Asuna aus ihren Gedanken. Alice, Scheta und Renly antworteten ihm sofort, und einen Moment später rief auch Asuna laut: »Ja!«

Gerade als sie ihre Pferde nach Westen wendeten, ertönte hinter ihnen ein Hornsignal.

Als sie sich umdrehten, sahen sie die Lockvogeltruppe der menschlichen Verteidigungsarmee etwa einen Kilometer entfernt in Reih und Glied die Hügel heruntermarschieren. Nur eine Viertelstunde nach den Rittern waren sie bewaffnet und formiert aus dem Lager losgezogen.

»Himmel … Sie können wirklich nicht die Füße stillhalten«, brummte Bercouli mit mürrischer Miene.

Da inzwischen jedoch bereits gut fünfhundert feindliche Soldaten die Schlucht überquert hatten, kam die Verstärkung sehr willkommen. Wenn sie die Feinde in Schach halten würden, sollte es nicht allzu schwer sein, die verbliebenen fünf Seile zu durchtrennen.

Sieht ganz so aus, als würden wir diesen Kampf gewinnen, Vector.

Doch noch während Asuna das dachte, fiel ihr ein sonderbarer Anblick ins Auge.

Aus dem blutrot gefärbten Morgenhimmel senkte sich etwas Rätselhaftes auf das Schlachtfeld.

Es waren Strahlen von rotem Licht, röter noch als der Himmel. Nicht nur einer, sondern Dutzende … Hunderte.

Nein, es mussten Tausende sein.

Die zahllosen Strahlen schienen aus Strängen winziger Pixel zu bestehen. Doch bei näherem Hinsehen konnte Asuna Zahlen und Buchstaben erkennen.

Lautlos strömten die rätselhaften Zeichenfolgen etwa ein oder zwei Kilometer entfernt vom Schlachtfeld diesseits der Schlucht hinab.

Bald hielten auch die Integrationsritter und sogar die Dunkelritter und Pugilisten aus dem Dark Territory inne, um das unheimliche Spektakel zu beobachten.

Dann traf der erste rote Strahl auf die trockene Erde und formte sich wabernd zu einer amorphen Masse.

Es dauerte nur Sekunden, bis diese Masse menschliche Gestalt annahm.

***

Iskahn, der Anführer der Pugilisten, vergaß den brodelnden Zorn in ihm, wenn auch nur für einen Moment.

Was ist das?

Auf der anderen Seite der Schlucht hatten die fünfhundert Krieger der Finsternis gerade entschlossen zum Angriff auf die fünf Ritter angesetzt. Da blieben sie unvermittelt stehen und starrten ungläubig auf einen Punkt außerhalb des Schlachtfelds. Als Iskahn ihren Blicken folgte, sah er etwa zwei Kilor östlich von ihnen einen purpurroten Schauer niedergehen.

Es waren zahllose rote Strahlen, die sich mit einem unheilvollen Dröhnen aus dem Himmel ergossen.

Sobald sie den Boden berührten, schwollen sie an und nahmen im Nu menschliche Gestalt an.

Die Krieger, die zum Vorschein kamen, waren in dunkelrote Rüstungen gekleidet und mit Langschwertern, Streitäxten und langen Speeren bewaffnet.

Abgesehen von der Farbe ähnelten ihre Rüstungen stark denen der Dunkelritter. Zuerst vermutete Iskahn, dass der Imperator Vector ihnen mithilfe seiner göttlichen Macht Verstärkung gesandt hatte.

Doch gleich darauf überkam ihn eine unbeschreibliche Beklommenheit.

Wie die roten Krieger so herumstanden, ohne jegliche Ordnung oder Disziplin, schien es undenkbar, dass sie zu den Rittern gehörten, die vom verstorbenen dunklen General Shasta ausgebildet worden waren. Wild gestikulierend unterhielten sie sich untereinander, setzten sich auf den Boden oder fuchtelten ohne jeden Befehl mit ihren Waffen herum.

Beunruhigend war jedoch vor allem ihre Zahl.

Als der sonderbare Regen endlich versiegte, war die Legion der auf der Erde erschienenen Krieger zu einer schier unglaublichen Größe angewachsen. Nach Iskahns erster grober Schätzung mussten es weit über zehntausend sein, wenn nicht zwanzig- oder sogar dreißigtausend. Hätte der Orden der Dunkelritter über solche Reservetruppen verfügt, wäre der Rat der Zehn längst bedeutungslos gewesen und Shasta zum wahren Herrscher des Reichs der Finsternis geworden.

Aber auch von den Dunkelrittern, die diesseits der Schlucht noch darauf warteten, über das Seil zu klettern, waren überraschte Rufe zu hören. Demnach hatten auch sie keine Ahnung, was es mit dieser Armee auf sich hatte.

In dem Fall mussten diese roten Soldaten die wahrhaftige Armee der Finsternis sein, die von einer geheimnisvollen Kunst des Imperators und dunklen Gottes Vector aus den Tiefen der Erde oder sonst woher heraufbeschworen worden war.

Kaum war Iskahn zu dieser Erkenntnis gelangt, da schlug sein Erstaunen in rasende Wut um.

Wenn er solch eine Streitmacht beschwören konnte, warum hatte er es nicht schon früher getan? Es machte ganz den Eindruck, als seien die Pugilisten und Dunkelritter, die bei der halsbrecherischen Überquerung der Schlucht ihr Leben gelassen hatten, nichts als Lockvögel gewesen, um die feindlichen Streitkräfte aus ihrer Stellung zu locken.

Möglicherweise … war genau das der Fall.

Also hatte der Imperator ihnen diese selbstmörderische Operation befohlen, nur um den Feind zu ködern und dann von seinen eigenen Legionen vernichten zu lassen?

Aber nein …

Es war nicht nur dieses eine Mal. Schon seit Beginn des Angriffs auf das Große Osttor waren die Verluste aufseiten des Heers der Finsternis immens gewesen. Der Imperator hatte die Streitkräfte der Goblins, Riesen, Oger und Orks sowie die Gilde der dunklen Künste in ihr Verderben geschickt, ohne eine Miene zu verziehen, geschweige denn um die verlorenen Leben zu trauern.

Kurzum, für den Imperator Vector waren die fünfzigtausend Soldaten der Armee der Finsternis nichts als Bauernopfer.

Bis zu diesem Moment hatte sich der junge Anführer der Pugilisten nur für das Stählen seines Körpers und die Verbesserung seiner Fähigkeiten sowie die Entwicklung seines Stammes interessiert.

Nun war er zum ersten Mal in der Lage, Underworld in seiner Gesamtheit zu überblicken, seine Heimat, das Reich der Finsternis, ebenso wie die Menschenwelt. Und diese neue Perspektive erzeugte ein unlösbares Dilemma in ihm.

Imperator Vector hatte die absolute Macht. Dieser Macht musste Folge geleistet werden.

Und dennoch.

Dennoch …

»Urgh …!«

Sein rechtes Auge durchzuckte ein heftiger Schmerz, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte. Stöhnend bedeckte Iskahn seine rechte Gesichtshälfte mit einer Hand.

Er taumelte und fiel auf die Knie. Dann sah er, wie die dreißigtausend roten Krieger losstürmten, während sie Worte in einer Sprache brüllten, die er noch nie zuvor gehört hatte.

Sie steuerten auf die etwa tausend Soldaten der Verteidigungsarmee zu, die den Hügel südlich der Schlucht heruntergekommen waren, um sich den Integrationsrittern anzuschließen, und soeben in Gefechtsposition gingen.

Genau zwischen diesen beiden Seiten verharrten die fünfhundert Pugilisten und Dunkelritter, unschlüssig, was sie tun sollten.

So erbarmungslos Vectors Befehle auch sein mochten, zumindest waren damit diese fünfhundert Leben gerettet. So hoffte Iskahn, während er sich eine Hand auf das rechte Auge presste.

Doch selbst jetzt unterschätzte er noch Vectors Grausamkeit.

Denn die dreißigtausend heraufbeschworenen Krieger stürzten sich nicht etwa auf die Armee der Menschen, sondern auf die fünfhundert Kämpfer des Dark Territory.

Zahllose Schwerter, Äxte, Speere blitzten gleißend im roten Licht der Morgensonne auf – bevor sie unter blutrünstigen Schreien auf die Pugilisten und Dunkelritter niedergingen, die ihre Verbündeten sein sollten.

***

»Was zum … Wer sind diese Kerle?«, rief Kommandant Bercouli erschrocken.

Asuna wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Die dreißigtausend Soldaten, die unvermittelt im Osten des Schlachtfelds gelandet – nein, hierher gedivt – waren, mussten zweifellos vom Imperator Vector hergerufen worden sein.

Aber wo um alles in der Welt hatte er eine Streitmacht dieser Größe hergeholt?

Hatte er NPC-Soldaten wie Monster erzeugt und in die Schlacht geworfen? Aber die Konsole im Hauptkontrollraum der Ocean Turtle war gesperrt für den direkten Zugriff mit Adminrechten. Sie konnten höchstens Koordinaten bestimmt haben und hineingedivt sein, wie Asuna es getan hatte. Doch auf Vectors Seite gab es nur zwei Soul Translators, die sie nutzen konnten.

Die vorübergehende Verwirrung, die Asuna überkam, wurde von dem Gebrüll der roten Krieger zerstreut, die nur noch ein paar Hundert Meter entfernt waren.

»Charge ahead!«

»Give ’em hell!«

Sie sprachen Englisch, wie Asuna jetzt erkannte.

Sie waren Menschen aus der realen Welt und ihrer Aussprache nach zu urteilen hauptsächlich Amerikaner. Aber wie konnte das sein? Das hier sollte eine geheime, abgeschottete VR-Welt sein.

Nein.

Nein …

Für diejenigen, die mit einem STL divten, war Underworld eine wahrhaftige Alternativwelt, die dank der Mnemonic Visuals realistischer wirkte als die Realität selbst. Allerdings war diese Welt auf Basis des universellen VRMMO-Pakets »The Seed« entwickelt worden. Was bedeutete, dass es theoretisch möglich sein musste, in diese Welt zu diven, sofern man über ein AmuSphere verfügte … und die Ocean Turtle war mit einer leistungsstarken Satellitenverbindung ausgestattet.

Dann musste man nur noch schnell einen Client zusammenschustern und in aller Welt verteilen. So wäre es möglich, Zehntausende, sogar Hunderttausende von Kämpfern nach Underworld zu bringen.

Was Asunas erschreckende Vermutung bekräftigte, war das Verhalten der roten Krieger. Denn sie stürzten sich zuerst auf ihre eigentlich Verbündeten, die Ritter und Pugilisten des Dunklen Reiches, und hieben ohne zu zögern mit ihren Schwertern und Äxten auf sie ein.

»Wa… Was soll das …?!«

»Ich dachte, ihr seid auf unserer Seite …?!«

Die Ritter riefen entsetzt durcheinander, während sie den Angriff abzuwehren versuchten. Doch es waren einfach zu viele. Zudem schienen die roten Soldaten über hochwertigere Waffen und Rüstung zu verfügen als die Streitkräfte der Finsternis. Die zur Abwehr erhobenen Schwerter und Schilde wurden der Reihe nach zerbrochen und zertrümmert. Dort, wo die beiden Heere aufeinandertrafen, brachen Schreie und Blutfontänen hervor.

»Dude, that’s awesome!«

»Pretty gore!«

Die aufgeregt durcheinander schreienden Spieler hatten offenbar keine Ahnung von der wahren Natur dieses Kampfes – wahrscheinlich hatte man sie glauben lassen, an einem offenen Betatest für ein neues VRMMO teilzunehmen.

Die amerikanischen Spieler hatten keinen Grund, Feindseligkeit gegen die Underworldler zu hegen. Sie hielten die Leute aus dem Reich der Finsternis vor sich lediglich für NPCs. Hätte man die Zeit gehabt, ihnen die Wahrheit über Underworld und die synthetischen Fluctlights zu erklären, wären die meisten von ihnen vermutlich sogar bereit gewesen, sich auszuloggen.

Doch dazu blieb keine Gelegenheit mehr. Wenn sich Asuna ins Kampfgetümmel gestürzt und ihnen alles auf Englisch zu erklären versucht hätte, würden sie dies höchstens für den geskripteten Dialog eines NPCs halten. Hätte man japanischen Spielern erzählt, sie würden durchs Besiegen von Gegnern Punkte und basierend darauf beim offiziellen Start des Spiels ein rares Item erhalten, hätten sie sicher genau dasselbe getan.

Für Überzeugungsversuche mit Worten war es zu spät.

Was die Amerikaner attackierten, waren keine NPCs, sondern synthetische Fluctlights mit echten Seelen. Und wenn sie das gesamte Heer der Finsternis getötet hatten, würden sie sich als Nächstes auf die Truppen der Menschenwelt stürzen. In dem Fall hatte Asuna, die Einzige in ihren Reihen, deren Leben hier nicht auf dem Spiel stand, die Pflicht zu kämpfen.

Entschlossen hob sie ihr Rapier und sprach ein schnelles Kommando. »System Call! Create Field Object!«

Eine irisierende Aurora erschien um das Rapier.

Sie konnte nicht erneut eine bodenlose Schlucht erschaffen wie in der Nacht zuvor. Damit hätte sie auch den Streitkräften der Menschen den Fluchtweg abgeschnitten.

Stattdessen stellte sie sich gewaltige Felsen vor, spitz wie Speere, und schwang ihr Rapier herab.

Ein feierlicher Soundeffekt wie von Engelschören erklang. Regenbogenfarbenes Licht strömte aus der Spitze des Rapiers und bohrte sich kurz vor dem Kollisionspunkt der Amerikaner und der Underworldler in den Boden.

Mit einem Mal gab es eine Erschütterung, und ein grauer Felsen erhob sich. Im Nu wuchs er zu einer Höhe von dreißig Metern und schleuderte sämtliche roten Soldaten ringsum in die Luft.

Gleich darauf schossen vier weitere Felsen empor. Die Erde bebte, Hunderte rote Rüstungen flogen umher. Unter lautstarken Flüchen und Schreien wurden manche von ihnen von den Felsen zermalmt, andere versprühten Blut und Fleischfetzen, als sie auf dem Boden aufschlugen.

Asuna blieb keine Zeit für Mutmaßungen, wie diese Leute ihren Tod wahrnahmen.

Ein brennender Schmerz bohrte sich in ihren Kopf, dann sackte sie auf dem Rücken ihres Pferdes zusammen.

Silbrige Funken tanzten vor ihren Augen, und sie rang nach Luft. Der Schmerz war weitaus heftiger als beim Erschaffen der Schlucht gestern. Sie konnte lebhaft fühlen, wie sich ihre Seele – ihr Fluctlight – abnutzte, als riesige Mengen Geländedaten durch sie hindurchflossen.

Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen.

Sollte sie dabei die gleichen Wunden erleiden wie Kirito, dann sei es so. Sie biss die Zähne zusammen und richtete sich im Sattel auf.

Der Ansturm der amerikanischen Spieler von Osten schien sich etwas verlangsamt zu haben. Doch die fünf nebeneinander aufragenden Felsen waren bestenfalls fünfhundert Meter breit. Die Zehntausende von Spielern würden sie schon bald umrundet haben.

Asuna musste eine weitere Felswand im Süden erzeugen, um dem Heer der Menschenwelt dahinter zur Flucht zu verhelfen.

Schwer atmend erhob sie ihr Rapier ein weiteres Mal …

Da hielt ein goldener Panzerhandschuh ihren Arm zurück.

»Alice …?!«, rief sie heiser.

Die goldene Ritterin, ein Ausdruck festen Willens in ihrem schönen Gesicht, schüttelte rasch den Kopf. »Übernimm dich nicht, Asuna. Überlass uns Integrationsrittern den Rest.«

»A… Aber diese roten Soldaten sind Feinde aus der realen Welt … aus meiner Welt!«

»Sei es, wie es sei. Von Gegnern, die ihre Klingen nur in blindem Blutdurst schwingen, haben wir nichts zu befürchten, und mögen es noch so viele sein.«

»Sehe ich auch so!«, stimmte Bercouli breit grinsend zu. »Gewähr uns doch auch mal einen großen Auftritt.«

Die Tapferkeit der Ritter, die selbst in dieser Lage die Ruhe bewahrten, war beeindruckend. In ihren Mienen erkannte Asuna eine noch größere Entschlossenheit als zuvor.

Die Feinde, die wie eine rote Flutwelle heranstürmten, waren den Menschentruppen dreißig zu eins überlegen. Mut allein konnte an diesem Punkt nichts mehr ausrichten.

Dennoch reckte der Ritterkommandant sein poliertes Langschwert empor und brüllte energisch: »Hergehört! Alle Einheiten bleiben in enger Formation! Wir brechen gemeinsam durch!«

***

»A… Aah …« Die Laute, die tief aus Iskahns Kehle drangen, klangen kaum noch menschlich. »Groa…aaaaaah!«

Blut tropfte von seinen Fäusten, die er mit aller Kraft geballt hatte. Doch der junge Krieger spürte den Schmerz nicht einmal, er stieß weiter ein wütendes Gebrüll aus wie ein wildes Tier. An seiner Seite ließ auch sein Stellvertreter Dampa den Kopf hängen, als wollte er Iskahns Qualen mit ihm teilen.

Sie starben. Sie starben alle.

Ohne Befehle und ohne die Möglichkeit, zu kämpfen, starben die Krieger seines Stammes einer nach dem anderen unter den Klingen, die wild auf sie niedergingen.

Dennoch hangelten sich noch immer weitere Krieger über die verbliebenen fünf Seile. Der kaiserliche Befehl, die Schlucht zu überqueren, war immer noch gültig. Also kletterten sie wie befohlen an den Seilen entlang, nur um prompt von Horden roter Soldaten umzingelt und gnadenlos in Stücke gehackt zu werden.

Warum befahl Imperator Vector den Pugilisten und Dunkelrittern nicht, die Überquerung der Schlucht einzustellen, und warum untersagte er den roten Soldaten nicht, die anderen Streitkräfte des dunklen Reichs anzugreifen?

Wenn das so weiterging, waren die Krieger von Iskahns Stamm nicht einmal Lockvögel. Sie waren nur mehr Opferlämmer für die Armee, die der Imperator herbeigerufen hatte.

»I… Ich muss …«

Er musste dem Imperator Bericht erstatten. Er musste ihn ersuchen, diese Operation abzubrechen.

Von Wut, Verzweiflung und dem rasenden Schmerz in seinem rechten Auge gequält, machte Iskahn einen Schritt auf den Erddrachenpanzer weit hinten zu. Dampa, der die Absicht seines Stammesführers begriff, hob mit gramerfülltem Gesicht den Blick und wollte etwas sagen.

In diesem Augenblick glitt ein riesiger Schatten über sie hinweg. Iskahns und Dampas Köpfe ruckten reflexartig hoch.

Ein Flugdrache.

Und auf seinem Rücken saß Vector höchstselbst in einer prunkvollen Pelzrobe. Sein langes, blondes Haar flatterte im Wind.

»A… Aaah!«

Als hätte er Iskahns unbewusst ausgestoßenen Schrei gehört, blickte der Imperator aus seinem Sattel zur Erde herunter.

In seinen Augen lag keinerlei Emotion. Es war ein eisiger Blick ohne ein Fünkchen Mitleid oder auch nur Interesse an den Kriegern, die sinnlos auf dem Schlachtfeld für ihn starben.

Vector löste den Blick von Iskahn und lenkte seinen Drachen zur anderen Seite der Schlucht.

Das war ein Gott. Das war ein wahrer Herrscher.

Doch wenn er ein Herrscher war, der über absolute Macht wie sonst niemand verfügte, hatte er dann nicht auch eine entsprechende Verantwortung?

Ein Herrscher befehligt eine Armee und führt sein Volk zu mehr Wohlstand. Das ist die Aufgabe eines Herrschers. Ein Mann, der ohne irgendeine Gefühlsregung Abertausende Leben opferte, hat nicht das Recht, sich Imperator … mein Auge … sich Herrscher … mein Auge tut so weh … zu nennen …!

»U…aa…aaaaaaah!«

Iskahn reckte seine rechte Faust in die Luft. Er krümmte seine Finger zu Klauen. Dann stieß er sie in seine rechte Augenhöhle, die Quelle des Schmerzes, der ihn am Denken hinderte.

»Champion! Was hast du vor?!«

Dampa kam herangeeilt, doch der junge Krieger stieß ihn mit der anderen Hand beiseite. Mit einem Ruck und einem kurzen Schrei riss er sich den rechten Augapfel heraus. Die weiße Kugel leuchtete in seiner Faust noch immer rötlich. Doch das Licht erlosch, als er sie kurzerhand zerquetschte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Iskahn das Siegel des rechten Auges, mit anderen Worten Code 871, noch nicht gebrochen, wie es Alice und Eugeo getan hatten.

Daher konnte er keinen direkten Verrat am Imperator begehen und sich somit auch nicht gegen seine bestehenden Befehle auflehnen, die Operation zur Überquerung der Schlucht fortzuführen, ohne selbst über das Seil zu klettern.

Stattdessen umging der junge Pugilist die Befehle des Imperators gewaltsam mit einer Methode, die im Grunde einer Rebellion gleichkam.

Iskahn drehte sich langsam zu Dampa um, der ihn entsetzt anstarrte.

»Der Imperator hat uns keine Befehle hinsichtlich der roten Soldaten gegeben, oder?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ja … Das ist korrekt.«

»Dann geht es ihn auch nichts an, wenn wir diese Kerle erledigen.«

»Champion …« Dampa geriet ins Stocken.

Iskahn funkelte ihn mit seinem verbliebenen Auge an und befahl: »Hör zu … Sobald die Brücke über die Schlucht steht, greifst du mit sämtlichen Truppen an. Wir müssen unsere Leute auf der anderen Seite um jeden Preis retten.«

»Was …?! Wie sollen wir denn eine Brücke …?«

»Das liegt doch auf der Hand! Wir fragen jemanden, der die Macht dazu hat«, erwiderte Iskahn leise und wandte sich wieder zur Schlucht.

Gleich darauf umhüllten rote Flammen seine muskulösen Beine. Er preschte in Richtung der Schlucht los und hinterließ dabei schwarz schwelende Fußspuren.

Wenn ich nicht über das Seil klettern darf … muss ich eben hinüberspringen!

Damit sprang Iskahn am Rand des hundert Mer breiten Abgrunds mit aller Kraft vom Boden ab.

Sprünge waren ein essenzieller Teil der Pugilistenausbildung.

Sie begannen mit ungefährlichen Weitsprüngen im Sand und steigerten sich zu Sprüngen über aufgereihte Klingen oder siedendes Öl, bis sie festes Vertrauen in ihre Sprungkraft hatten. So bildeten sie ihre Willenskraft aus.

Die besten Krieger unter ihnen konnten bis zu zwanzig Mer weit springen. In einer Welt, in der das Fliegen mittels sakraler oder dunkler Künste untersagt war, war dies die maximale Sprungweite aus reiner Körperkraft.

Doch jetzt warf sich Iskahn über einen bodenlosen Abgrund, der fünfmal so breit war wie dieses Maximum.

In der Luft zog er einen feurigen Schweif hinter sich her, als er grimmig voraus starrte und sich mit beiden Füßen von der Luft abstieß.

Zehn Mer. Zwanzig Mer. Sein Körper stieg immer noch auf.

Dreißig Mer. Fünfunddreißig Mer. Die starken Winde, die aus der Schlucht aufstiegen, gaben ihm Auftrieb, wie von unsichtbaren Flügeln getragen.

Vierzig Mer.

Wenn er nur noch etwas, nur noch ein bisschen weiter aufstieg … dann würde er durch die Trägheitskraft die andere Seite erreichen können.

Doch …

Grausamerweise verebbte der Wind, kurz bevor er die Mitte der Schlucht erreichte.

Abrupt verlor sein Körper den Schwung. Die Flugbahn seines Sprunges erreichte den Scheitelpunkt und begann sich hinabzuneigen.

Fünf Mer zu wenig.

»Uo…ooooh!«

Iskahn schrie und streckte seine Hand aus, als wolle er nach irgendetwas greifen. Doch weder seine Hand noch seine Füße fanden Halt. Allein die Kälte, die aus der Dunkelheit unter ihm emporkroch, strich um seinen Körper.

In diesem Augenblick …

»Champiooooooon!« Ein dröhnendes Gebrüll drang an Iskahns Ohren.

Als er einen flüchtigen Blick zurückwarf, sah er seinen Stellvertreter Dampa mit einem Felsbrocken, der um ein Vielfaches größer war als sein eigener Kopf, zum Wurf ausholen.

Sofort begriff er das Vorhaben seines langjährigen, treuen Untergebenen. Doch ein Mensch konnte einen Fels von dieser Größe unmöglich über fünfzig Mer weit werfen …

Mit einem Ruck schwoll Dampas rechter Arm an. Seine Muskeln wölbten sich, und die Adern traten hervor, als er seine gesamte Kraft in diesem Körperteil sammelte.

»Haaaah!«

Brüllend nahm der hünenhafte Mann einige Schritte Anlauf und schwang seinen Arm.

Wie von einem Katapult schoss der Fels vorwärts, ließ die Luft erbeben – und gleich darauf zerbarst Dampas Arm in einem Regen aus Blut und Fleisch.

Der Anblick seines Stellvertreters, der mit einem dumpfen Aufprall vornüberfiel, brannte sich ihm ein. Doch Iskahn biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich ganz auf den Felsen, der geradewegs auf ihn zugeflogen kam.

»Raaaaah!«, schrie er und trat mit aller Kraft mit dem linken Fuß gegen den Felsen.

Der Fels zerbarst donnernd. Vom Rückstoß vorwärts katapultiert, beschleunigte sein Körper wieder. Die kämpfenden Soldaten auf der anderen Seite der Schlucht kamen immer näher.

***

»Verdammt!«

Ein amerikanischer Spieler sank fluchend zu Boden, als Asuna vom Rücken ihres Pferdes schwer atmend ihr Rapier aus seinem Körper zog.

Sie verspürte keinen seelischen Druck mehr, wie sie es im Kampf gegen die Streitkräfte der Finsternis getan hatte. Mit ihren schnellen Komboangriffen, die ihr die Spitznamen Blitz und Berserker-Heilerin eingebracht hatten, hatte sie bereits mehr als zehn der roten Soldaten zur Strecke gebracht.

Doch es waren einfach zu viele.

Nicht nur Asuna, auch die Soldaten der Menschenwelt und die vier Integrationsritter kämpften mit grimmiger Verbissenheit. Sie führten die Truppen in dichter Formation an und hinterließen Berge von Leichen, während sie sich einen Weg nach Süden zu bahnen versuchten.

Es gelang ihnen jedoch nicht, die Horden von Soldaten zurückzudrängen, die um die von Asuna erschaffene Felswand herumströmten. Sie konnten den Ansturm bestenfalls an Ort und Stelle abfangen.