Sylt - Andrea Reidt - E-Book

Sylt E-Book

Andrea Reidt

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Beschreibung

Wo Meer schäumt, Brandung tobt, Seehunde tauchen, Schweinswale ziehen, Kliffe leuchten, Heide blüht - dort ist Sylt, die Lieblingsinsel der Deutschen im Norden. Vergessen Sie die üblichen Storys. Andrea Reidt zeigt Ihnen versteckte Orte abseits vom Trubel, führt Sie zu den stillen Winkeln der Natur, erzählt Geschichten übers Meer und das Watt, die Küste, Dünen, Strände, Wikinger, Seefahrer, Inseltiere und -pflanzen, Friesenhäuser, Friedhöfe. Und sie erklärt, warum das Inselglück zerbrechlich, vergänglich, bedroht und schutzbedürftig ist. Lesen Sie!

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Seitenzahl: 178

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Sylt

Atem holen, Ruhe tanken

Andrea Reidt

Impressum

Ich widme dieses Buch meiner Schwester, der Malerin Korinna Reidt

Sofern hier nicht erwähnt, stammen alle Bilder von der Autorin ­Andrea Reidt. Photo Pförtner, Westerland 12; Franz Korwan alias Saly Katzenstein / Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Museum für Kommunikation Frankfurt 26; Richard Kelly Tipping: Flood / Foto M. Wussow / Syltfoundation 168; Sprotte 1986: Unverstellte Horizonte II, Aquarell auf Indischem Bütten, 77 x 58 cm / Falkenstern Fine Art & Atelier Sprotte 170; Lambert-Archiv 172. Die Angaben beziehen sich auf die Seitenzahlen im gedruckten Buch.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Dominika Sobecki

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Bildbearbeitung/Umschlaggestaltung: Benjamin Arnold

unter Verwendung eines Fotos von © Martin Elsen / luftbild.fotograf.de

Kartendesign: Mirjam Hecht; © The World of Maps (www.123vectormaps.com)

ISBN 978-3-8392-5252-9

Inhalt

Impressum

Karte

ÜBERS MEER

1  Salzwasser, Schilf, Schafe

Nössespitze am Hindenburgdamm

2  Ist noch Zeit? Vom Ankommen

Bahnhof Westerland

3  Mit eisigen Wassern gewaschen

Brandenburger Strand Westerland

4  Ohne Speck kein Überleben

Erlebniszentrum Naturgewalten List

5  Im Weltnaturerbe Wattenmeer

Wattweg an der Blidselbucht

6  Fangfrische Krabben vom Kutter

Hafen List

7  Leinen los! Nimm uns mit, Kapitän …

Von Hamburg nach Hörnum

AN UFERN

8  Kommt von irgendwo ein Lichtlein her

Leuchtfeuer List-West am Lister Ellenbogen

9  Letzte Ruhe für Egon

Friedhof in den Dünen List

10  Ein Bad im Lichtkleid in Nackedonien

FKK-Strand Buhne 16 Kampen

11  Ein Hinkelstein auf Reisen

Gneis-Findling am Roten Kliff Kampen

12  Am Fenster der Erdgeschichte

Morsum-Kliff

13  Kein Landunter mehr

Nössedeich am Nössekoog Archsum

14  Durchs Eidumtief zu Frau Ran

Seglerhafen Rantum

15  Von Raubrittern und Promenadengeiern

Rantumbecken-Damm

16  Von Enten, Seeschwalben, Halligstörchen

Eidum Vogelkoje Westerland

17  Nackt unter Hunden

Hundestrand Samoa Rantum

18  An der Wespentaille von Sylt

Strandabschnitt Sansibar Rantum

19  Achtung, Seebär in Sicht!

Jugendstrand Dikjen Deel Westerland

20  Vom selig-sandigen Leben in den Dünen

Hamburger Jugenderholungsheim Puan Klent Rantum

21  Träume sind Schäume, und alles fließt

Hörnum-Odde

ÜBER LAND

22  Von Moorbirken, Hexenbesen, Knickkiefern

Wäldchen Vogelkoje Kampen

23  »Über die Heide hallet mein Schritt …«

Naturzentrum Braderup

24  Das tonnenschwere Erbe der Nordmänner

Denghoog Wenningstedt

25  Hoch zu Ross mit Lanze oder Zigarre

Festwiese Archsum

26  Wo der Chronist wohnte, wo Hoboken baute

Altfriesisches Haus Keitum

27  »Pflanzet eine Rose mir aufs Grab«

Sankt Severin Keitum

28  Zweifacher Nikolaus für Stadt und Dorf

Sankt Nicolai Westerland

29  De erste und de oldeste Kerke

Sankt Martin Morsum

30  Lachende, Muskelprotz, Fischträger

Skulptur Wilhelmine Westerland

31  Alle an einem Tisch

Atelier Sprotte am Kampener Kunst- und Kulturpfad

32  Wohin man sich zum Trauen traut

Rathaus Westerland

33  »In the mood« am Strand und im Konzert

Akademie am Meer Klappholttal

Quellenverzeichnis

Allgemeine Literatur

Karte

ÜBERS MEER

1  Salzwasser, Schilf, Schafe

Nössespitze am Hindenburgdamm

Nössespitze am Hindenburgdamm /// Zum Wäldchen ///

25980 Klein-Morsum (Sackgasse am Dammwärterhaus vorbei) ///

Das einlullende Rattern der doppelstöckigen Transportwagen, die spitzen Schreie der den Konvoi begleitenden Möwen, die windverzerrten Kinderjuchzer aus vollbepackten Familienkutschen, die vorbeiflirrende Aussicht auf Wattenmeer, Salzwiesen, Schilf, Schafe. All diese Geräusche und optischen Reize graben sich bei heruntergelassenen Seitenscheiben während der Fahrt mit dem Sylt-Shuttle über den Hindenburgdamm ins Bewusstsein. Gierig inhalieren wir im Fahrtwind die lang vermisste würzige Seeluft. Am Wasserstand links und rechts versuchen wir zu ergründen, ob die Tide auf- oder abläuft. Auf dem kurzen Stück zwischen Wattenmeer und Äckern, wenn Salzwiesen und Schilfflächen der Nössespitze durchs Blickfeld huschen, beginnt Sylt. Sobald Rinder zu sehen sind, sind wir wirklich da.

Sylt ist eine Insel. Wer sie betreten möchte, muss übers Meer. Die Anreise auf die beliebteste Urlaubsinsel der Deutschen, von Mallorca mal abgesehen, ist heutzutage nicht mehr außergewöhnlich strapaziös. Man steigt in Berlin, München, Frankfurt, Köln, Düsseldorf in einen der durchschnittlich 20 Flieger, die täglich auf der Insel landen (zum Leidwesen der Keitumer und Braderuper in der Einflugschneise) – etwa 14.000 Starts und Landungen im Jahr mit etwa 200.000 Passagieren. Oder man rollt mit der eigenen Motorkutsche in Niebüll auf einen Autozug. Nach 30 Minuten und 44 Kilometern über Marschland, Wattenmeer und Inselgeest lenkt man sein Gefährt an der Verladestation Westerland auf Sylt wieder herab. Der Sylt-Shuttle ist der einzige Autozug Deutschlands, auf dem die Passagiere im Auto sitzen bleiben können, statt in einen Personenwagen der Bahn umzusteigen; das verleiht der Reise einen kleinen Abenteuerbonus. Eine griffnahe Reißleine dient als Notbremse, seitlich angebrachte Lautsprecher beschallen die Insassen mit Durchsagen. Überlegungen, bereits in Flensburg einen Autozug nach Sylt einzusetzen, verliefen im Sande: Die toilettenfreie Fahrt ohne Ausstiegsmöglichkeit sei nicht länger als eine halbe Stunde zumutbar. Auch diverse Vorschläge im 20. Jahrhundert, parallel zum Bahndamm eine Autostraße durchs Watt zu bauen, scheiterten, ebenso wie die jüngste Idee einer Radtrasse parallel zu den Schienen – vom schleswig-holsteinischen Umweltministerium für gut, vom Verkehrsministerium für zu gefährlich befunden.

Autozüge verkehren bereits seit 1932 auf dem fünf Jahre zuvor in Anwesenheit des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg eingeweihten Damm. Durch den Taufpaten wurde die Namensfindung erleichtert. Ein paar Jahre später wäre vielleicht der Reichskanzler Hitler persönlich erschienen, und es hätte nach 1945 eine peinliche Namensänderung geben müssen. Übrigens ernannten alle Sylter Gemeinden sowohl Hindenburg als auch Hitler zu Ehrenbürgern. Ab Kriegsbeginn 1939 galten Eisenbahndamm und Wattumgebung als militärisches Sperrgebiet. Heute ist das Watt südlich der Schienen bis Föhr als Nullnutzungsgebiet im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer ausgewiesen, während nördlich in Zone 1 die Krabbenfischerei erlaubt ist.

Der Hindenburgdamm ist ein neun Jahrzehnte altes stabiles Meisterwerk der Wasserbautechnik, das zwischen Sylter Nösse und Festland auf der Wattwasserscheide errichtet wurde. Solche Wasserscheiden, sogenannte Wattrücken, liegen bei Ebbe trocken, die Priele verlaufen in den Watttälern. Zwischen 1923 und 1927, einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik, schufteten 1.500 Männer in Tag- und Nachtschichten an dem Damm, verarbeiteten 3.600.000 Kubikmeter Erde und Sand sowie 400.000 Tonnen Kies, Steine, Pfähle, Buschwerk und Spundwände. Für die Sylter brach eine neue Zeitrechnung an. Vor allem die Morsumer und Archsumer Bevölkerung war keineswegs beglückt über das teure Geschenk, das der preußische Landtag 1913 genehmigt hatte. Manche Sylter ahnten und fürchteten (vermutlich nicht einmal das tatsächliche Ausmaß voraussehend) genau die Veränderungen, die letztendlich auch eintraten: dass fremde Investoren mehr als die Sylter selbst zu sagen hätten; dass die sölring-friesische Kultur an Bedeutung verlieren würde; dass alte Familienstrukturen sich auflösen könnten. Ob sie auch daran dachten, dass nicht nur Kur- und Freizeitgäste die neue Trasse nutzen würden, sondern auch Maikäfer, Füchse, Dachse, Maulwürfe und andere bis dato in der Inselwelt unbekannte Schädlinge den Weg finden würden?

Von Windstille bis Orkan definiert der Deutsche Wetterdienst zwölf Windstufen nach der Beaufort-Skala. Ab Windstärke vier transportiert der Sylt-Shuttle keine Pkw-, ab Stärke sechs keine Lkw-Anhänger, ab neun sind Fahrräder auf Dachgepäckträgern verboten, ab zehn müssen Lkw und Campingwagen an Land bleiben, ab Windstärke zwölf ist Feierabend. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, lässt sein Auto bereits bei acht am Festland. Größere Wohnmobile werden gar nicht mehr transportiert, mehrfach waren deren Panoramadächer abgefallen. Vor einigen Jahren wurde ein mit leichten Dämmstoffen beladener Lastwagen bei Windstärke acht vom Zug gefegt und stürzte ins Watt, der Fahrer überlebte den Unfall nicht. Kürzlich musste der Shuttle auf Höhe des Bahnhofs Keitum gestoppt werden, weil ein Mann ausgestiegen war, um die Aussicht besser zu genießen, und sich dadurch in Lebensgefahr gebracht hatte.

Ankommen ist so schön. Noch schöner geht aber auch – ohne Auto. Mag sein, weniger bequem, dafür ursprünglicher; die Familie begibt sich mit der Eisenbahn in die Sommerfrische. Der Bummelzug Hamburg-Altona ist bis Westerland gut drei Stunden unterwegs. Die flirrende Vorfreude der mehr oder weniger umständlichen Anreise möglichst lange genießen, das sich langsam mit insularem Aroma füllende innere Glücksglas spüren, vergleichbar einer aufkeimenden Verliebtheit, die kindliche Ungeduld des Wann. Sind. Wir. Endlich. Wieder. Da! Die Fahrräder reisen im Intercity mit oder wurden per Versanddienst vorausgeschickt, meist erwarten uns die geliebten Hochleistungsdrahtesel neben dem ausgebeulten »Übersee«-Koffer quasi als Begrüßungskomitee bereits am Eingang unserer Ferienklause. Dieses Lampenfieber beginnt jedes Jahr genau dann das Zwerchfell zu kitzeln, wenn zu Hause der Hermes-Mitarbeiter als eine Art Verkündigungsengel mit Migrationshintergrund an der Haustür schellt: Fahrrad! Er lacht, wenn er mich sieht: Wie beim letzten Mal?

Die Nord-Ostsee-Bahn verlässt den Morsumer Bahnhof. Nächster Halt: Keitum.

Von Klanxbüll am Saum des Wattenmeers bis Morsum auf Sylt geht es über den Hindenburgdamm. Das Meer tätschelt die Böschungen, leckt bei Orkan an den Schienen; dass der Damm Landunter steht, kommt sehr selten vor. Morsum Bahnhof. Erster Inselstopp der regionalen Nord-­Ostsee-Bahn (NOB) von Hamburg-Altona nach Sylt. In Morsum steigen die ersten Passagiere aus, morgens Pendler vom Festland, die in Morsum arbeiten, oder Tagesgäste, die in Niebüll preisgünstiger übernachtet haben, abends Insulaner, die nach Hause kommen. Ein älterer Mann mit Prinz-Heinrich-Mütze klappt sein Faltrad auseinander, schwingt sich sportlich auf den Sattel und trampelt den Bahnsteig entlang. Als er die Schienen überqueren will, muss er vor einer Schranke halten – erst setzt sich der Zug wieder in Bewegung und verlässt den Bahnhof, dann geht der Schlagbaum hoch. Bis vor Kurzem wurde der von einem Schrankenwärter hochgekurbelt. Die Kurbel befand sich auf dem Bahnsteig in einer Glaskammer mit den Maßen eines Telefonhäuschens. Das anachronistische Erlebnis, einen der letzten Schrankenwärter in Deutschland kurbeln zu sehen, ist heute endgültig Geschichte, die Kurbel hat ausgedient. Am Keitumer Bahnhof, der nächsten Station der NOB, wurde stattdessen ein »Modulgebäude« errichtet, von dem aus Schranken, Weichen, Lichtzeichen, Signale automatisch übertragen werden. Das eigentliche Befehlszentrum für Fernsteuerung befindet sich in Husum.

Kurz vor Beginn der Bauarbeiten zur Modernisierung der Bahnanlagen von Morsum und Keitum verfing sich ein Lastwagen auf den Gleisen zwischen den Morsumer Schranken. Vermutlich in Panik stieß der Fahrer sein Straßenschiff rückwärts in die Schranke, woraufhin der Wärter geistesgegenwärtig rasch die Hindernisse wieder hochkurbelte. Kaum befreit, raste der Transporter davon und ward nimmermehr gesichtet; die Reparaturkosten für die beschädigte Schranke überließ der Flüchtige der Bahn. Das war nicht nett und schon gar nicht fair von ihm. Hoffentlich passiert in wärterlosen Zeiten nie wieder so etwas.

Fahrräder sind das praktischste Verkehrsmittel auf der Insel.

2  Ist noch Zeit? Vom Ankommen

Bahnhof Westerland

Umstrittene Kunst im öffentlichen Raum: Überdimensionierte

Reisende auf dem Bahnhofsvorplatz

Bahnhof Westerland /// Kirchenweg 1 /// 25980 Westerland ///

Die giftgrüne vierköpfige Familie Reisende Riesen im Wind aus Fiberglas, die der Kieler Bildhauer Martin Wolke für den Westerländer Bahnhofsvorplatz schuf, ist ein Hingucker, an dem sich die Gemüter erhitzen. Wahre Kunst polarisiert. Insofern traf die Jury 2001 die richtige Wahl, die bis zu vier Meter hohe Art-in-Public-Installation den 71 anderen Bewerbungen vorzuziehen – und die Insel machte mal wieder republikweit Schlagzeilen.

Ich sitze auf einer Bank seitlich vor dem nördlichsten Bahnhof Deutschlands und beobachte die lebendigen Reisenden, die mit Rollkoffern, Rucksäcken, Surfbrettern, Kinderwagen oder Rollatoren vorbeihasten, -schlurfen, -schreiten. Es ist ein windiger Tag, die Passanten stemmen sich gegen die Naturenergie aus Südwest, bieten ihr die Stirn, genau wie die verbissen blickenden, schrägen Riesen zwischen vier grünen schiefen Laternenpfählen und ihrem verstreuten Skulpturengepäck. Wer es nicht eilig hat, nutzt den gewaltigen Koffer der grünen Family zum Verschnaufen. Vor allem Knirpse, zuweilen noch wackelig auf den Beinchen staksend, finden ihren Jux auf der weitläufigen Spielfläche. Sie rennen, klettern und kreischen lachend, versunken in ihre kindliche Dynamik, um die Riesenbeine, die ihnen zugleich Versteck und Halt bieten. Weil die Zwerge sich selbstständig bespaßen, lächeln ihre Mütter und Väter nun auch, beginnen um die Grünen zu lugen, Kuckuck. Die avantgardistischen Großfiguren ihrerseits kämpfen mit verzerrten Mienen sichtlich gegen Erschöpfung an, so wie viele Ankömmlinge vom Festland auch.

Das schmucke denkmalgeschützte Empfangsgebäude des Bahnhofs in Westerland ist sicher das meistfrequentierte Gebäude der Insel und findet doch in keinem aktuellen Reiseführer die geringste Beachtung. Dabei galt der neue Staatsbahnhof des Eisenbahn-Architekten Richard Brademann zwischen Wilhelmstraße und Trift dem Lehrer und Heimatforscher Christian Jensen, dessen Buch über die Nordfriesischen Inseln 1927 im Jahr der Bahnhofseröffnung erschien, als eine »Zierde Westerlands«. Die Bezeichnung Staatsbahnhof meint im Grunde einen Sylter Hauptbahnhof, in dem die »Badezüge« aus Berlin und Hamburg über den frisch eingeweihten Hindenburgdamm eintrafen. Denn es gab zu diesem Zeitpunkt in Westerland noch einen Süd- und einen Ostbahnhof, Letzterer später umbenannt in Nordbahnhof, außerdem Stationsbauten in List, Kampen und Hörnum. Der mehrmals erweiterte und 1996 aufwendig sanierte rote Ziegelbau ähnelt dem 1928 eingeweihten Berliner S-Bahnhof-Süd im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Bahn benutzte damals für viele ihrer Projekte identische Baupläne.

Der Westerländer Bahnhof wurde mit weißen Sprossenfenstern ausgestattet, gezackten Mauervorsprüngen, verspielten Gauben, eine davon größer dimensioniert, mit spitzwinkeligem Blechdach von Weitem sichtbar, daran die Außenbahnhofsuhr. Der Bau steht der in jener Zeit angesagten neoromantischen Heimatbewegung nahe und erfüllt die Normen des nordfriesischen Vereins Baupflege Kreis Tondern, welche die Bäderarchitektur prägten: neben den Sprossenfenstern und Gauben Backsteinwände und andere heimelige Stilelemente, die als typisch friesisch gelten. Allerdings bekam der Bahnhof kein Reetdach. Dutzende Male passierte ich die hohe Halle auf dem Weg zum Zeitungsladen, zum Café, zum Reisezentrum, zu den Gleisen oder auch zum musikberieselten WC-Center. Bis ich mich eines sonnigen Novembertages in dem menschenleeren Saal umsah und erstmals seine innenarchitektonische Schönheit wahrnahm. Welch prunkvolle Holzdecke mit eingelegten grünen Kassetten! Und erst der gewaltige, ziselierte, mit expressionistischem Dekor versehene Kronleuchter, passend zur quadratischen, mit spitzen Zacken versehenen Rahmung der Wanduhr. Der in großen Lettern daneben gesetzte Spruch »IST NOCH … ZEIT« könnte jedem erholungsbedürftigen Ankömmling als Motto dienen: Ruh Dich aus. Entschleunige Deinen Rush-Hour-Rhythmus. Entdecke die Langsamkeit. Komm an.

Was Anreisemöglichkeiten angeht, war Sylt um die Jahrhundertwende 1900 und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestens aufgestellt. Man konnte sogar mit dem Schnelldampfer der Hamburg-Amerika-Linie über Elbe und Nordsee mit Blick auf Halligen und Amrum nach Hörnum reisen. Vor dem 1. Juni 1927, dem Tag, an dem die Deutsche Reichsbahn erstmals Passagiere über den Hindenburgdamm nach Sylt transportierte, nutzten die meisten Reisenden den kombinierten Land- und Seeweg nach Sylt. Dieser führte zunächst mit der norddeutschen Marschbahn von Hamburg nach Tondern (eine der ältesten Städte des Herzogtums Schleswig und ab 1920 dänisch), von da mit einer Zubringerbahn nach Hoyer, wo die Fähre nach Munkmarsch die Reisenden an Bord nahm. Die Überfahrt dauerte in dieser modernen Zeit »nur« sieben Stunden; um 1840, also 15 Jahre vor Gründung des Seebades Westerland, schaukelte man noch zwölf Stunden übers Meer und konnte dabei ganz schön seekrank werden.

Christian Jensen reiste am 30. Mai 1927 als einer der Letzten noch auf der alten Strecke über den Knotenpunkt Tondern nach Sylt. Der neue Eisenbahndamm von Klanxbüll nach Morsum war nicht der einzige Grund dafür, dass Munkmarsch schlagartig seine Bedeutung als Sylter Fähr- und Frachthafen verlor. Tondern gehörte seit Ende des Deutsch-Dänischen Kriegs (1864) zum Deutschen Reich, jedoch fiel Nordschleswig nach dem Ersten Weltkrieg als Folge des Versailler Vertrags und einer Volksabstimmung an Dänemark. Züge rollten deshalb seit 1920 von der nördlichsten deutschen Station Süderlügum bis Hoyerschleuse mit plombierten Türen. Entsprechend wütend äußert sich der Pa­triot Jensen, denn er wäre gern in Tondern ein wenig spazieren gegangen. Stattdessen musste er unter »dänischer Bewachung« in Hoyerschleuse die Fähre der Sylter Dampfschiffahrtsgesellschaft (damals noch mit zwei f geschrieben) besteigen. In Munkmarsch nahm er die Sylter Inselbahn, die ihn auf der ersten, 1888 gebauten Trasse rasch ins Seebad Westerland brachte.

Welche Dampflokomotive diesem Bähnchen voranschnaufte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren; vielleicht war es noch eine der Ur-Loks: May (Präsident von Maybach) oder Max (Herzog Maximilian von Württemberg). Die Geschichte der Inselbahn von ihren Anfängen bis zur Henkersfahrt am 29. Dezember 1970 ist überaus spannend. Viele Anekdoten und Erinnerungen ranken sich um die diversen Generationen des »Dünenexpresses«, der auf der 38,6 Kilometer langen Ausbaustrecke gemütlich dahinzuckelte. Vielsagende Verbote wie »Blumenpflücken während der Fahrt verboten« verschafften den Gästen einen heiteren Ferienbeginn.

Empfangshalle des 1927 eröffneten, unter Denkmalschutz stehenden Bahnhofs Westerland

Von 1957 an wurden umgebaute Borgward-Sattelschlepper als Leichttriebwagen eingesetzt, flugs bekam die Inselbahn neue Spitznamen, sie wurde als »Rasende Emma« und wegen der plakativen Werbebanner als »Nivea-Express« tituliert. Dass die Bahn trotz zuletzt jährlich 1,3 Millionen Fahrgästen, wie das Sylt-Lexikon bescheinigt, nicht erhalten wurde, ist aus heutiger Sicht kaum verständlich. Im Hochsommer und um Silvester herum kollabiert der Autoverkehr auf der Insel regelmäßig. Der Sylter Geotouristiker Dr. Ekkehard Klatt bezeichnet das Phänomen, wenn man von Wenningstedt nach Kampen (zwei Kilometer) eine Dreiviertelstunde braucht und Handwerker in ihren Lieferwagen Tobsuchtsanfälle bekommen, leicht sarkastisch als »Kölner-Ring-Gefühl«. Immerhin dient die nun schienenfreie, teils planierte Inseltrasse von List bis Hörnum, die parallel zum Sylter »Highway Number One« durch idyllische Heide- und Dünenlandschaft verläuft, Radfahrern, Spaziergängern und Joggern als autofreie Zone, jedenfalls außerhalb von Westerland. Mittlerweile hat die Gemeinde Sylt einstimmig ein Leitbild zur Mobilität auf der Insel verabschiedet, worin sie sich verpflichtet, deutliche Anreize zu schaffen, damit Insulaner und Touristen das Auto (am besten schon am Festland) stehen lassen. Der Radverkehr soll einen »Qualitätssprung erfahren«.

An die »Rasende Emma« erinnern eine historische Achse und eine Gedenktafel vor dem Westerländer Bahnhof. Inzwischen erwarb Sven Paulsen, Besitzer der Sylter Verkehrsgesellschaft (SVG), die sich als Erbin der ersten Sylter Dampfspurbahn von 1888 versteht, vom Hannoverschen Straßenbahnmuseum den letzten noch existierenden Sylter Borgward-Schienenbus des Typs L.T.4. Das einstmals »rasende« Gefährt hatte seit 1970 jahre- und jahrzehntelang im Freien vor sich hin gerostet. »Emmas« dünnes Blech war so korrodiert, dass es schon fast als moderne Kunst durchgehen konnte. Sven Paulsen stiftete das Basiskapital, die maroden Teile des Ungetüms werden nun in fünf Werkstätten restauriert – ein Langzeitprojekt mit geschätzt 300.000 Euro Kosten, die durch Spenden von Eisenbahnfans und Sylt-Nostalgikern aufgebracht werden sollen. Auf der Internetseite sylter-duenenexpress.de protokolliert eine Spendenuhr den Geldfluss, der ungefähr so rasend schnell tröpfelt, wie die beliebte »Emma« einst vorwärtsstrebte.

Der Kronleuchter in der Bahnhofshalle weist expressionistische Stilelemente auf.

3  Mit eisigen Wassern gewaschen

Brandenburger Strand Westerland

Brandenburger Strand /// übergang Nr. 44, 

Brandenburger Straße /// 25980 Westerland ///

www.surfcup-sylt.de ///

In den Wellen vor dem Brandenburger Strand an der nördlichen Westerländer Promenade messen jeden Juli die besten Windsurfer Deutschlands ihre sportlichen Fähigkeiten. Auf diesen Surf Cup Sylt folgt im Herbst der Windsurf World Cup in drei Disziplinen. Die Surfer schützen sich bekanntlich mit einem Neoprenanzug, weil selbst sommerliche Wassertemperaturen von 16 bis 22 Grad den Körper nach kurzer Zeit auf eine lebensgefährliche Stufe abkühlen. Wesentlich kürzer, jedoch ganz ungeschützt, genießt man auf Sylt die winterlich kühlen Fluten. Verrückt? Wagemutig? Leichtsinnig? Ehrgeizig? Wer sich bei eisigem Wind, klirrender Kälte und einer Wassertemperatur von unter sechs Grad zum Gejohle einer dick vermummten Menge ins Meer stürzt, ist selbst schuld und verdient dafür Respekt oder Hohn. Das Sylter Weihnachtsbaden vor der Westerländer Promenade und das Neujahrsbaden am Wenningstedter Hauptstrand, bei denen sich 100 bis 150 Menschen nackt, in Badehose oder Bikini, verkleidet als Wikinger, Weihnachtsmann oder im Kombilook – rote Zipfelmütze zum Adamskostüm – in die Fluten stürzen oder sich sofort für die Fotografen in Positur bringen, sind eine Riesengaudi. Das Ritual, die Badesaison am Neujahrstag feucht-schlotternd zu eröffnen, wurde nicht auf Sylt erfunden. Der Spaß am kalten Nass etablierte sich, ausgehend von den Niederlanden, an der gesamten deutsch-friesischen Küste von Borkum bis Sylt als festes Ereignis im Jahreskalender.

Das Eisbaden ist nicht nur eine Mutprobe, sondern eine Sportart olympischen Rangs. Da ist zum Beispiel der Langstreckenschwimmer Martin Tschepe, ein Zeitungsredakteur aus Stuttgart, der seine Kindheit in Hörnum auf Sylt verbracht hat. Eines Sommers bewies er seine Fähigkeit, bei ruhiger See mit nur zwei Stopps – beim Strandabschnitt Samoa und vor Westerland – von Hörnum bis List zu kraulen. Die eigentliche Herausforderung stand ihm da aber noch bevor: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, an den Ice Swimming German Open im bayrischen Wöhrsee bei Altötting teilzunehmen. Dafür trainierte er zu Hause in einem See bei Schorndorf und in der Nordsee während seines Hörnumer Silvesterurlaubs. Sportjournalisten aus Magazinen und Tageszeitungen schilderte Tschepe seine Erfahrungen. In der Sylter Rundschau etwa erzählt er, dass der Wind und die Lufttemperatur ihn stärker als das kalte Wasser beeinträchtigen. Die Körperteile, die außerhalb des Nordseewassers an der Luft blieben, fühlten sich schon nach wenigen Sekunden im Eiswind an wie »Fremdkörper ohne jedes Gefühl«. Klar, dass Herz und Atmung das nicht unkommentiert lassen. Das Gefühl kennt jeder, der sich dem erfrischenden Brandungsbaden bei 16 Grad Wasser- und 13, 14 Grad Lufttemperatur hingibt. In den Wellen hüpfend, tauchend, spritzend fühle ich mich pudelwohl, aber wehe, ich muss irgendwann raus aus dem Riesenpool, das ist der ultimative (Ab-)Härtetest, vor allem, wenn einem auch noch ein knackig kalter Wind ins Genick fährt. Übrigens kühlt der Körper auch bei sommerlicher Temperatur im Wasser schneller ab, als man fühlt. Ohne Neoprenschutz macht der Kreislauf schon nach 20 bis 30 Minuten schlapp, schalten die Notaggregate des Körpers auf Schutz der inneren Organe um, während einem irgendwann die Sinne schwinden.

Einer, der sich mit den Gefahren des kühlen und strömungsreichen Nordseewassers auskannte und ihnen dennoch aus Ehrgeiz erlag, war der »Seebezwinger« Otto Kemmerich. Der Langstreckenschwimmer gewann in den 1920er-Jahren das Streckenschwimmen zwischen Husum und Westerland, durchquerte den Bodensee und bewältigte die 80 Kilometer lange Ostsee-Strecke Fehmarn – Warnemünde. Einen Weltrekord im Dauerschwimmen stellte er in einem wellenfreien Hamburger Tümpel auf: Er hielt es 46 Stunden am Stück im Wasser aus. Solche Triumphe genügten ihm allerdings nicht, sein Größenwahn ließ ihn leichtsinnig werden. Trotz sehr schlechter Strömungsbedingungen und niedriger Erfolgschancen schwimmt er von Juist nach Norderney – und gewinnt. Ob das ungewöhnliche Maskottchen – eine abessinische Löwin, die bei Publikumsveranstaltungen mit an seinem Tisch saß! – als guter Stern des Exzentrikers gewirkt hat? Letztendlich nicht. Im August 1952 kommt der 66-jährige Profi an seine Leistungs- und Lebensgrenze: In der mit 15 Kilometern verhältnismäßig schmalen Meeresenge zwischen den Inselspitzen Hörnum-Odde und Amrum-Odde erliegt der Bezwinger Kemmerich der tückischen Strömung im Vortrapptief und ertrinkt wie so viele vor ihm, die ihre Kräfte überschätzt hatten.