Sylter Frühling - Elke Schleich - E-Book

Sylter Frühling E-Book

Elke Schleich

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein altes Haus am Kliff, jede Menge Meeresbrise und ein Neuanfang. Für alle Leser:innen von Lena Wolf und Lisa Keil »Der Wind trieb blaue Wellen heran. Mit ihren weißen Gischtkronen erreichten sie rauschend den Strand, fielen in sich zusammen, liefen aus. Ich sog die Luft in meine Lungen, roch das Salz, meinte, es auch zu schmecken und genoss den Blick über die weite wogenden Nordsee, die irgendwo in der Ferne mit dem Himmel verschmolz.« Vor zwei Jahren musste Jule ihren geliebten Pflegeberuf aufgeben. Sie ist nach Sylt gezogen und kellnert in einem Café. Nach Feierabend hilft sie dem alten Hinnerk Boysen auf seinem kleinen Hof. Zwischen Hühnern und Pferden genießt sie das ruhige Landleben in der Nähe des Morsumer Kliff. Aber plötzlich fängt Hinnerk an, sich seltsam zu benehmen und Hinnerks Sohn Jann steht vor der Tür, der vor vielen Jahren nach einem Streit mit dem Vater Sylt verlassen hatte. Es knirscht und knistert, nicht nur im Hof-Gebälk, sondern auch in Jules Herz. Aber da ist auch noch Kollege Hark, der ihr verliebte Blicke zuwirft. Er ist ein netter Kerl, eine Beziehung mit ihm wäre eine gute solide Entscheidung, doch auf einmal brennt eine andere Frage in Jules Seele: Ist es genug, zufrieden zu sein oder will sie das ganz große Gefühl? Das Leben spüren mit allem, was dazu gehört und alles auf eine Karte setzen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher: www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Sylter Frühling« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Ulla Mothes

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Bilder unter Verwendung von Shutterstock und depositphotos

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

Epilog

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1.

Ziemlich frisch so frühmorgens, vor allem wenn man so müßig dasaß wie ich. Endlich schob sich die Sonne gelbrot über den Horizont, weit in der Ferne über dem Watt. Eine Windböe strich über das Kliff. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis unters Kinn.

Obwohl die Kälte an meinen Beinen heraufkroch, bereute ich keine Sekunde, endlich getan zu haben, was ich mir schon lange vorgenommen hatte: den Sonnenaufgang vom Morsumer Kliff aus anschauen. Das Farbenspiel, von Minute zu Minute anders, ließ die Steilhänge in Orange- und Rottönen leuchten, erste Vogelstimmen aus der Heide wagten sich in die Morgenstille. Und ich als einziger Mensch hier oben auf der Aussichtsplattform, die tagsüber selten leer war. Diese besonderen Minuten waren es wert gewesen, eine Stunde eher als sonst das warme Bett zu verlassen.

Trotzdem wurde es nun Zeit. Hinnerk war bestimmt schon auf den Beinen und wunderte sich, dass ich nicht da war. Beim Aufstehen kribbelte es in meinem rechten Fuß, als würde ein ganzes Ameisenvolk sich darin austoben. Eingeschlafen? Na warte! Ich reckte mich und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle, stampfte mit dem Kribbelfuß auf die Holzbohlen.

»Auf-wa-chen, auf-wa-chen!«, rief ich im Takt der Hopsschritte, so lange, bis der Fuß sich wieder einigermaßen normal anfühlte.

Dann zog ich mit steifen Fingern mein Handy aus der Jeanstasche und schoss weitere Fotos. Bevor ich mit dem Malen anfing, würde ich mir die Fotostrecke ansehen, doch eigentlich gelang mir ein Motiv am besten aus der Erinnerung heraus. Ein letzter langer Blick nach Osten in das aufsteigende Frühlingslicht, das den Himmel rosa färbte – so atemberaubend schön.

Als ich vom Aussichtspunkt den Fußweg hinunterlief, hörte ich eine Lerche singen und blieb stehen. Der kleine Vogel, hoch am Himmel über der Wiese, schien in der Luft schwirrend zu verharren, tirilierte sich die Seele aus dem Leib und entlockte mir ein Lächeln.

Nicht schlecht, so den Tag anzufangen, ging es mir durch den Kopf, wer weiß, wie er wird. Ich dachte daran, dass am späteren Morgen der Wocheneinkauf anstand. Mit Hark. Hark war der Sohn der Ohms, denen das Café Kiek mol in gehörte, in dem ich kellnerte. Und da er dort als Koch arbeitete, war er mein Arbeitskollege. Er hatte angeboten, mich zu fahren, weil ich kein Auto besaß und es mit dem Fahrrad und vollen Taschen von den Supermärkten in Tinnum bis zum Hof eine arge Plackerei war. Und für fünfzehn Uhr hatte der Sylter Frauenchor einen Tisch im Café reserviert. Es würde heute also genug zu tun sein.

Einsam stand mein Rad auf dem großen Parkplatz am Fuß des Kliffs. Ich schwang mich in den Sattel und trat kräftig in die Pedale, froh über die Handschuhe, die ich vor dem Losfahren übergezogen hatte. Beim Fotografieren hatte ich sie in die Jackentaschen verstaut. Keine fünf Grad hatte das Thermometer angezeigt, als ich im Dunkeln aufgebrochen war. Gleich würde ich mir erst einmal einen starken heißen Kaffee und ein Brot dazu machen, dick mit Butter und Marmelade bestrichen. Zum Glück war es nicht weit bis zu Hinnerks Hof südlich von Kleinmorsum.

Hinter dem Dielenfenster neben der Haustür sah ich einen schwachen Lichtschein. Hinnerk war sicher dabei, in der Küche seinen Tee aufzubrühen. Ich lehnte das Rad an die Hauswand und wollte hineingehen, als ich hinter mir ein leises Grummeln wahrnahm. Diesen tiefen Ton hatte nur Micky drauf. Normalerweise begrüßte die betagte Ponydame mich so, wenn ich morgens den Stall betrat, um sie und die anderen drei Pferde auf die Winterkoppel zu lassen; ab nächstem Monat würden sie auf die Weide dürfen.

Ich drehte mich um, und da stand sie tatsächlich, am Übergang vom Hof zum Vorgarten. Mit gespitzten Ohren schaute sie zu mir herüber.

»Micky! Was tust du da?«

Während ich verwundert über den Kiesweg auf das Pony zuging, senkte es in aller Ruhe den Kopf und machte sich über die frischen Grashalme entlang des Gartenzaunes her.

Hatte sich Micky aus ihrer Box befreit? Zuzutrauen war es ihr. Die alte Dartmoor-Ponystute war ziemlich clever.

»Hey, Mäuschen, gefiel es dir nicht mehr bei den anderen im Stall?« Ich bückte mich und griff nach Mickys Halfter. Es machte mich stutzig, denn über Nacht in der Box trugen die Pferde keines, sondern erst, wenn sie auf die Koppel gebracht wurden. »Na, komm schon! Aufs Gras musst du noch ein paar Wochen warten.«

Aufs Warten hatte Micky keine Lust. Nur widerwillig ließ sie sich von den grünen Halmen trennen und von mir zurück in den Hof führen, von dem aus es zum Stall und zur Winterkoppel ging. Hier wartete die nächste Überraschung auf mich. Das Tor zur Koppel stand sperrangelweit offen, und soeben schritt bedächtig Larissa hindurch, das mit neunundzwanzig Jahren älteste von Hinnerks Pferden.

»Oh nein!«

Ich versuchte, Micky zum schnelleren Gehen zu bewegen – ohne Erfolg. Wie gut, dass auch Larissa die Ruhe weghatte. Sie blieb stehen, als ich mit dem Pony im Schlepptau bei ihr vorbeikam, und schaute uns hinterher. Erleichtert registrierte ich, dass die beiden anderen Pferde es sich an der runden Heuraufe auf der Koppel schmecken ließen, hatte ich doch befürchtet, sie wären außerhalb des Hofs unterwegs. Ich brachte Micky zu ihnen, lief schnell zurück und verfrachtete auch Larissa wieder auf die Koppel. Sorgfältig schloss ich das Tor und warf einen letzten Blick auf die friedlich mampfende kleine Herde. Dann ging ich am Pferdestall vorbei, querte den Hof und betrat durch den Hintereingang das Haus.

Was war da los? Das Tor natürlich, gab ich mir ironisch zur Antwort. Aber warum hatte Hinnerk es nicht geschlossen? War er abgelenkt worden? Von wem? So früh verirrte sich doch niemand hierher.

Als ich in die Küche kam, sah ich ihn am Tisch sitzen, mit einem Pott Tee, der angenehmen Duft verbreitete. Eigentlich kein ungewöhnliches Bild, hätte er nicht zu seiner blauen Arbeitshose das Schlafanzugoberteil angehabt und an den Füßen schmutzverkrustete Pantoffeln.

»Moin!« Ich zog Handschuhe und Jacke aus und warf sie über einen Stuhl.

»Moin.« Hinnerk schlürfte einen Schluck, setzte den Becher ab und sagte, ohne mich anzuschauen: »Pferde sind draußen.«

»Hab ich gesehen.«

Während ich die Kaffeemaschine befüllte, überlegte ich, ob ich ihn auf das offene Tor ansprechen sollte, ließ es dann aber sein. Ich deckte den Tisch mit Frühstücksbrettchen, Messern, Brot, Butter und Marmelade und schob mich an Susebold vorbei auf die Eckbank. Der schwarze Kater lag zusammengerollt auf einem Sitzkissen und ließ sich von mir nicht stören.

»Wo warst du?«, fragte Hinnerk von der anderen Seite der Bank her.

»Auf dem Kliff.«

Hinter den Gläsern seiner Nickelbrille schienen Hinnerks trübblaue Augen heller zu werden, als er mich ansah. »Sonnenaufgang gucken?«

Ich nickte, und er murmelte dabei zustimmend. »Hab ich früher auch gemacht. Mit …« Er wirkte ferngerückt vom Hier und Jetzt und sprach nicht weiter. Anscheinend sah er Bilder aus längst vergangenen Tagen.

»Mit Regina?«

Sein Blick kehrte zu mir zurück. »Jo.«

Ich schob ihm die Butter herüber und reichte ihm den Brotkorb an. »Iss mal was. Die Sanddornmarmelade magst du doch so gern. Hab ich von Ohms mitgebracht, zum Einkaufspreis.«

Hinnerk nahm das Messer zur Hand und bestrich eine Scheibe Brot, während ich aufstand und die Kaffeekanne holte. Diesmal kommentierte Susebold die Störung blinzelnd mit einem Maunzen.

»Schon gut, du alter Rumtreiber. Nur noch einmal, versprochen.«

Bevor ich mich wieder an den Tisch setzte, legte ich Hinnerk meine Steppjacke über die Schultern.

Wir aßen schweigend, und ich hing in meinen Gedanken fest. Hinnerk war jetzt sechsundsiebzig. Seit zwei Jahren wohnte ich bei ihm, und unsere Symbiose hatte bislang einwandfrei funktioniert. Ich zahlte keine Miete für das Zimmer im Dachgeschoss und half ihm dafür auf dem Hof bei den Tieren und im Haushalt. Käme er allein überhaupt noch klar? Schwer zu sagen. Vorläufig stellte sich die Frage nicht, denn ich hatte nicht vor, die Insel zu verlassen. Ich liebte die ländliche Ruhe hier in der Nähe zum Meer genauso wie den Umgang mit den Tieren und mochte den alten Mann, der nicht viele Worte machte. Aber ich schätzte auch den Gegensatz zur Abgeschiedenheit mit Hinnerk: die trubeligen Stunden während der Saison in dem kleinen Café der Ohms, den Umgang mit vielen verschiedenen Menschen, alten und jungen, netten und unfreundlichen. Und mit Hark Ohm hatte ich ein gutes freundschaftliches Verhältnis. Alles war okay so und konnte gern so bleiben. Sollte so bleiben.

Die umgehängte Jacke rutschte Hinnerk von den Schultern. Es schien ihn nicht zu stören. Er hielt seinen inzwischen leeren Teebecher mit beiden Händen und starrte vor sich hin.

Ich stand auf und räumte den Tisch ab. »Zieh dir mal lieber was Warmes an«, sagte ich. »Ist verdammt frisch heute.«

Hinnerk gab keine Antwort, aber er erhob sich langsam und schlurfte hinaus. Ich blickte ihm nach. Er gefiel mir heute Morgen nicht.

Das Kikeriki von Albert riss mich aus den Gedanken, und ich verließ ebenfalls die Küche, zog in der Diele die Gummistiefel an und machte mich an die Arbeit. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass immer wieder das weit offenstehende Tor vor meinem inneren Auge auftauchte, während ich die Hühner und Kaninchen fütterte und ihre Ställe säuberte.

***

»So, die letzte Ladung.« Hark wuchtete den Wäschekorb voller Waren auf den Küchentisch.

»Dank dir.« Ich lächelte ihm zu, räumte dann schnell weiter die Einkäufe weg.

»Kann ich sonst noch was für dich tun?«

»Nöö.« Ich schloss die Kühlschranktür. »Das heißt …«

»Jo?«

»Ach nix, ich versuch’s erst selbst.«

»Na, sag schon!«

Hark half bei so manchem, und ich war dankbar dafür. Er war ein lieber Kerl, aber vielleicht sollte ich es nicht übertreiben.

»Wir sehen uns um zwei?« Ich nahm den leeren Korb vom Tisch.

Er strich sich eine Strähne seines welligen Blondhaars aus der Stirn, und es sah aus, als wäre er mit meiner Antwort nicht zufrieden. Unschlüssig huschte sein Blick von mir zur Tür und wieder zurück. »Dann geh ich mal.«

Ich wartete, bis er sich mit bedächtigen Schritten in Bewegung setzte. »Denk dran, die Chorifeen zwitschern heute Nachmittag!«, rief ich ihm hinterher. »Koch ihnen was Schönes.«

»Mach ich.« Er blieb im Türrahmen stehen. »Was isst du denn am liebsten?«, fragte er und schaute sich zu mir um.

»Hab ich dir das noch nie verraten? Lasagne.« Ich verfrachtete den leeren Korb mit Schwung auf den wackeligen Stuhl, der ausgemustert in der Ecke neben der Gefriertruhe stand.

»Ah, gut.« Harks Blauaugen strahlten mich an, bevor er endgültig aus der Küche verschwand.

Lieblingsessen, das Stichwort. Da war doch noch etwas vom Steckrübeneintopf in der Truhe, den Anke letztens rübergebracht und der Hinnerk so gut geschmeckt hatte. Zwar nicht mehr als eine Portion, aber für mich würde heute Mittag ein Butterbrot reichen, und ich konnte mir so die Arbeit mit dem Kochen ersparen.

Ich wusch mir im Bad die Hände und stellte fest, dass sich der tropfende Wasserhahn nicht auf wundersame Weise selbst repariert hatte.

»Ich mach dich fertig, da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte ich zu ihm und dachte an die Zeit, die dafür draufgehen würde. Und ob die von Erfolg gekrönt sein würde, war mehr als zweifelhaft.

Handwerkliche Geschicklichkeit war so gar nicht mein Ding. Lieber mistete ich drei Boxen aus, als einen verstopften Siphon instandzusetzen oder eine Dichtung zu erneuern. Hatten wir überhaupt so etwas im Haus? Musste ich gleich mal Hinnerk fragen. Vorher aber holte ich den Steckrübeneintopf aus der Truhe, gab ihn in einen Topf und schaltete eine der zwei intakten Herdplatten auf kleine Hitze an. Hinnerk würde sich freuen.

2.

Ein Aprilwetter der schönsten Sorte, fast zu schön zum Arbeiten. Hoffentlich bleibt es noch ein Weilchen so, zumindest bis Montag, dachte ich, und servierte den Chorifeen die ersten Portionen Lasagne, während sie die letzte Strophe von Nun will der Lenz uns grüßen zu Ende sangen. Der Chor, bestehend aus zwölf ebenso sangesfreudigen wie lebenslustigen älteren Damen, alle auf der Insel zu Hause, war in bester Stimmung. Zum Aufwärmen und Kehle ölen hatte es zunächst Prosecco gegeben, danach war erst einmal ein Lied angestimmt worden: Sonne über Sylt. Die schickte ihre Strahlen wie auf Bestellung zu den Frauen, die im Wintergarten am für sie reservierten, langen Tisch Platz genommen hatten.

Hark kam mit den nächsten köstlich duftenden Portionen aus der Küche. Er half mir, damit die Damen gleichzeitig mit dem Essen beginnen konnten.

»Da hast du man eine schöne Idee gehabt«, lobte ihn Frau Olsen. »Mal was anderes. Im letzten Urlaub am Gardasee, die von Guiseppe im Dolce Vita, war ein Gedicht. Ach, das ist schon wieder jahrelang her.« Sie seufzte.

»Wenn Sie Harks Lasagne probiert haben, werden Sie Guiseppe vergessen«, sagte ich und musste schmunzeln, weil Hark verlegen seine Kochmütze zurechtrückte.

»Ist genug von da«, verriet er mir, als wir in der Küche weitere Portionen von der Warmhalteplatte holten.

»Dann kann ja nix schiefgehen, falls die Chorifeen ausgehungert sind und Nachschlag brauchen.«

»Eigentlich meinte ich …«

Ich war schon wieder auf dem Weg ins Café. »Gleich!«, rief ich ihm über die Schulter zu.

Im Wintergarten unterbrach Frau Olsen die muntere Unterhaltung mit ihrer Tischnachbarin. »Ah, dat geiht weiter«, sagte sie und sah mir erwartungsfroh entgegen.

»Morsumer Lasagne à la Ohm für alle, guten Appetit!« Während ich den Teller vor ihr auf den Tisch stellte, bekam ich aus den Augenwinkeln mit, wie sich Frau Lorenzen am anderen Ende der Tafel langsam vom Stuhl hocharbeitete. Sie gehörte zu den Gründerinnen des Chors und war am längsten dabei. Sicher ging sie bereits auf die Neunzig zu.

Nachdem ich auch den zweiten Teller platziert hatte, lief ich um den Tisch zu ihr herum. »Noch mal raus?«, fragte ich leise und schaute nach ihrem Rollator aus, den sie stets an der Garderobe parkte.

»Nee, mien Deern, die Blase ist noch intakt.« Sie lachte, zog aber gleich darauf die Nase hoch. »Büschen erkältet bin ich. Hab die Taschentücher vergessen, in meinem Sportwagen sind welche.«

»Ach so«, sagte ich langsam und stützte sie vorsichtshalber unter dem Ellenbogen. »Aber da müssen Sie doch jetzt nicht hin, ihr Essen wird ja kalt.«

Ihr Blick schweifte unsicher zum Rollator, danach zur Serviette auf dem Tisch. Ich schob ihr sanft den Stuhl an die Kniekehlen. »Ich hol die, setzen Sie sich ruhig, bin gleich wieder da.«

Frau Lorenzen ließ sich ächzend auf den Sitz fallen, und ich holte das Gewünschte.

»Danke.« Sie trompetete ins Taschentuch, verstaute es in ihrem Pulloverärmel und griff zur Gabel.

Hark kam mit den letzten zwei Tellern und wünschte »Smakelk Eten«. Mit vor Eifer geröteten Wangen blieb er stehen und lächelte zufrieden, bevor er sich mit langsamen, schwerfällig wirkenden Schritten – es erinnerte mich an einen Seemann an Deck – auf den Weg zur Küche machte.

Ich folgte ihm flink und holte ihn ein. »Alle erst mal beschäftigt. Lässt du mich eine Gabel voll von deiner friesisch-italienischen Kreation kosten?« Hark antwortete nicht sofort. Ich knuffte ihm leicht in die Seite. »Du hast eben gesagt, dass genug davon da ist.«

»Deshalb ja.« Er blieb vor dem Gasherd stehen und begann, mit dem Küchentuch daran herumzuputzen, das wie immer aus seiner Kochjackentasche herauslugte.

»Versteh ich nicht.«

Abwartend sah ich ihm zu und konnte gar keinen Fleck mehr am Herd entdecken, aber er war noch nicht fertig. Bis Hark mit der Sprache herausrückte, konnte es dauern, das kannte ich.

»Und?«, half ich ihm auf die Sprünge.

»Na ja …« Wieder eine Pause. Umständlich faltete er das Tuch zusammen. »Ich dachte, da das deine Leibspeise ist.«

»Du hast für mich mitgekocht. Ist es das?«

Er nickte.

»Ach Hark, wie lieb von dir.« Ich trat einen Schritt näher, hatte den Impuls, ihn zu knuddeln, ließ es aber. »Darf ich mir nachher etwas einpacken?«

Jetzt schaute er mich richtig an, wirkte aber unsicher oder so, als wenn ihm meine Antwort nicht recht wäre. »Ich dachte, wir könnten …«

»Was?« Langsam aber sicher ging meine Geduld zu Ende. Konnte er mal weiterreden?

»Ist ja auch egal.« Er wandte sich ab und wieder dem Herd zu.

Auf einmal ging mir ein Licht auf. Oder eher eine Funzel, nur eine Vermutung.

»Wolltest du etwa mit mir zusammen die Lasagne essen? Hier, nach Feierabend?«

Hark drehte sich um und lächelte vorsichtig. »Hab da einen neuen Primitivo. Den könnten wir dazu probieren.«

Ach herrje. Das überraschte mich nun wirklich. Wir kamen gut miteinander aus, ich mochte ihn. Aber so richtig hatten wir außerhalb der Arbeitszeit bisher nie etwas zusammen gemacht. Allein zusammen gemacht. Auf Inselfesten waren wir schon gemeinsam unterwegs gewesen, aber mit anderen, mit Harks Vetter zum Beispiel. Oder im Sommer am Strand, als meine Freundin Nadine hier gewesen war. Ich fragte mich, ob ich dieses Essen mit ihm wirklich wollte und vor allem, ob er etwas wollte – von mir.

»Total schöne Idee«, sagte ich, holte meinen Zopf über die Schulter nach vorn und spielte an seinem Ende herum. »Aber ich muss nachher zurück, die Tiere füttern. Das weißt du.«

»Schon.« Sein Lächeln erlosch in dem Moment, in dem er den Blick von mir abwandte. »Könntest ja auch den Hinnerk anrufen. Der kann das – immer noch.«

Damit hatte er natürlich recht.

Jule, was soll’s, tu ihm den Gefallen. Ist doch nichts dabei, hier mit ihm zu essen. Vielleicht schauen nachher sogar die Ohms rein und essen mit.

Und überhaupt, ich wollte kein Spielverderber sein. »Okay, ich ruf ihn an.«

»Ehrlich?«

Ich bestätigte mit einem Nicken und zog mein Handy aus der Hosentasche. Das Strahlen in Harks Augen freute mich, löste aber andererseits auch ein seltsames Gefühl aus.

Hinnerk ging nicht ans Telefon. »Ich versuch’s nachher noch mal.«

Ein Summen und das blinkende Licht überm Kücheneingang zeigten an, dass die Tür zum Café von außen aufgemacht wurde.

»Neue Gäste, ich muss. Hoffentlich essen sie uns nicht die Lasagne weg«, sagte ich mit einem Zwinkern und ging.

Hinnerk erreichte ich auch bei meinen späteren mehrmaligen Anrufen nicht. Längst hatten die Chorifeen das Café verlassen, nicht ohne Harks Kochkünste ausdrücklich zu loben und sich für den nächsten Besuch eine weitere kulinarische Überraschung zu wünschen. Ich räumte die letzten Gläser und Espressotassen in die Spülmaschine und bemerkte, dass Hark seine Kochjacke ausgezogen hatte und mir zusah.

»Dann wird das ja wohl nichts«, sagte er.

»Weiß auch nicht, was da los ist.« Ich klappte die Tür zu und stellte die Maschine an. »Aber bleiben kann ich so nicht, da hätte ich keine Ruhe.«

»Klar.« Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Darf ich mir eine Portion einpacken?«

»Auch zwei. Das hab ich schon gemacht. Steht da vorne.« Er wies mit dem Kinn in Richtung Büffetschrank.

»Danke! Ich werde sie mir zu Hause schmecken lassen. Das heißt, falls nicht …« Mir wurde ganz mulmig bei der Vorstellung, mit Hinnerk könnte etwas passiert sein.

»Wenn was ist, ruf mich an«, sagte Hark. »Aber sicher sitzt der nur auf seinen Ohren.«

»Ja, so wird’s wohl sein.« Ich band die lange Kellnerschürze ab und hängte sie an den Haken neben der Tür.

»Montag soll es wärmer werden«, verkündete Hark.

»Na, das passt ja endlich mal an unserem freien Tag.« Ich schlüpfte in meine Steppjacke.

»Vielleicht …« Er fegte mit der Hand nicht vorhandene Krümel vom großen Kochtisch. »Ich mein, wenn du Lust hast, könnten wir was zusammen machen, eine Radtour oder was anderes.«

»Mal sehen«, antwortete ich ausweichend. Insgeheim hatte ich gehofft, endlich einmal wieder ausreiten zu können. Stattdessen den Tag mit Hark verbringen? Die Vorstellung löste zwiespältige Gefühle in mir aus, und das nicht nur, weil damit der Ausritt ins Wasser fiele. »Ich sag erst mal tschüss, bis morgen.« Damit verließ ich die Küche.

***

Nachdem ich Morsum-City, wie ich spaßeshalber den Ortsteil Großmorsum nannte, in dem das Kiek mol in lag, in östlicher Richtung durchquert hatte, radelte ich zwischen Wiesen und Feldern in Richtung Kleinmorsum, dessen nordfriesischer Name Litj Muasem lautete, was mir viel besser gefiel. Ich mochte die nordfriesischen Ausdrücke und hörte auch total gern zu, wenn Einheimische Sölring miteinander redeten, selbst wenn ich kaum ein Wort davon verstand. Fast nur die ältere Generation tat das, und bald würde die alte Inselsprache sicher aussterben und nur die Straßennamen würden daran erinnern, wie zum Beispiel der Terpstich, auf dem ich entlangfuhr. Stich bedeutete Weg, das hatte ich schon gelernt. Was es mit Terp auf sich hatte, musste ich Hinnerk fragen. Der Gedanke an ihn ließ mich schneller in die Pedale treten.

»Hinnerk?«

Keine Antwort auf meinen Ruf in Richtung seines Schlafzimmers, nachdem ich Küche und Wohnraum leer vorgefunden hatte. Ich nahm den Hinterausgang zum Hof, und das Mulmige fiel augenblicklich von mir ab, als ich Hinnerk zusammen mit Anke Vahl im Hühnerauslauf stehen sah. Sie streute aus einer Schüssel Körner unter das Federvolk.

Siehst du, Jule, wieder unnötig Gedanken gemacht.

Keiner konnte wohl aus seiner Haut. Wahrscheinlich hatte mich mein Beruf als Altenpflegerin in der Vergangenheit stark sensibilisiert, was die Achtsamkeit im Umgang mit Senioren betraf.

Ich ging zu den beiden an das Gehege. »Moin Anke.«

Die zierliche Frau mit den zwei roten Strähnen im grauen Haar drehte sich langsam zu mir um. »Ach, Jule, hab dich gar nicht kommen hören. Endlich Feierabend?«

Unsicher ging sie zum Tor. Hinnerk neben ihr hakte sie unter, und so verließen sie zusammen mit kleinen, sorgsam gesetzten Schritten das Gehege, vor dem Ankes Rollator auf sie wartete.

Das Bild berührte mich. Mit Hinnerk war alles in Ordnung, bestätigte es mir, würde er sich sonst so um seine alte Freundin kümmern?

»Kommst du noch mit rein auf einen Tee?«, fragte ich.

»Heute nicht. Ich brauch immer länger bis nach Haus, da mache ich mich lieber zeitig auf den Weg.«

Anke Vahl, Hinnerks nächste Nachbarin, war Witwe und wohnte allein in ihrem Häuschen, das etwa anderthalb Kilometer entfernt lag. Alle paar Tage trippelte sie mit ihrem Rollator zu uns herüber, wenn das Wetter es zuließ. Sie liebte die Hühner und hatte den Hahn Albert besonders in ihr Herz geschlossen. Und es schien, als wüsste der das sehr genau. Sobald Anke auftauchte, kam er angerannt und ließ sich gern von ihr auf den Arm nehmen. Auch jetzt begleitete er sie bis zum Tor.

Hinnerk schob den Riegel vor, nachdem sie herausgetreten waren, wie ich beruhigt feststellte. Gemeinsam gingen wir drei über den Hof und über den Kiesweg im Vorgarten.

»Koom good na Huus hen.« Hinnerk hob die Hand und winkte Anke zu, als sie auf dem Zufahrtsweg angekommen war und noch einmal zu uns zurückschaute.

»Ruf am besten kurz an«, setzte ich nach. Ich wusste, dass Anke diesen Wunsch nicht unbedingt befolgen würde, auch wenn sie jetzt mit einem »Maak ik« antwortete.

Wir warteten, bis sie unseren Blicken hinter dem Gebüsch an der Straße entschwunden war.

»Hast du ihr erzählt, wie doll dir ihre Steckrüben heute Mittag geschmeckt haben?«, fragte ich, als wir ins Haus gingen.

Hinnerk sah mich überrascht an. »Steckrüben? Hab ich nicht gegessen.«

***

Den ganzen Abend hörte ich immer wieder diese Worte. Sie hatten mir, als Hinnerk sie ausgesprochen hatte, einen kleinen Stich versetzt und tauchten automatisch bei allem, was ich tat, in meinem Kopf auf. Beim Abendessen, Geschirr abwaschen, beim Aufhängen der Wäsche, und sie veranlassten mich, vor dem Schlafengehen bei den Hühnern, Kaninchen und Pferden nach dem Rechten zu sehen, denn heute hatte Hinnerk das letzte Füttern der Tiere übernommen.

Der vertraute Geruch nach Stroh, Heu und ein kleines bisschen nach Ammoniak schlug mir warm entgegen, als ich den Stall betrat. Gleich darauf ertönte Mickys Grummeln. Ich schaltete das Licht an und begann meinen Kontrollgang von Box zu Box. Das Pony streckte seine Nase zum Stallgassenfenster hoch und bekam von mir zwei von den Apfelstücken ins Maul geschoben, die ich mitgenommen hatte. Larissa hatte sich schon hingelegt. Ich öffnete die Boxentür und hockte mich zu ihr ins Stroh, strich über die schöne dunkelbraune Stirn mit den unzähligen grauen Stichelhaaren. Sie schnoberte in meine Hand und nahm gern das kleine Betthupferl entgegen.

Auch Finnchen und Diana bekamen ihre Apfelration. Alle Boxentüren waren geschlossen gewesen, die Pferde malmten an den Resten ihrer letzten Heuration – alles in Ordnung. Erleichtert verließ ich den Stall, um nebenan nach den Kaninchen und Hühnern zu schauen. Ich ließ das Taschenlampenlicht im Hühnergehege kreisen und stellte zufrieden fest: Keines in Sicht. Sie saßen also längst auf den Stangen in ihrem Haus. Der Check bei den Langohren ergab ebenfalls keinen Grund zur Sorge. Die vier lagen aneinandergekuschelt im Stroh und schienen leicht irritiert von meiner Ruhestörung. Schnell löschte ich das Licht und zog mich zurück.

Hinnerk hatte also seine Arbeit gemacht wie immer, es gab nicht das Geringste zu beanstanden. Wenn da nur nicht dieser Steckrübensatz gewesen wäre …

Kleine Aussetzer können durchaus passieren in dem Alter, das weißt du, Jule, also mach dich nicht verrückt.

So redete ich mir später im Bett liegend zu. Hinnerk hatte mir beim Abendessen erzählt, dass morgen Vormittag Fiete und Maren, seine beiden eifrigsten Reitschüler, zum Unterricht kommen würden.

Bin gespannt, ob die wirklich hier aufschlagen. Sonntags ist unüblich für die beiden. Aber wir wollen ja optimistisch bleiben, also Augen zu, schlafen und was Schönes träumen.

3.

Ob ich etwas Angenehmes geträumt hatte, daran konnte ich mich am nächsten Morgen nicht erinnern. Ich hatte nicht einschlafen können und daher noch zwei Kapitel meines neusten E-Books Ein Hund für zwei gelesen. Es musste schon nach Mitternacht gewesen sein, als mir die Augen zu- und der Reader aus der Hand fielen. Umso erschrockener war ich beim Blick auf das Handy. Wie, halb acht? Was war mit dem Ding los, warum hatte es mich nicht geweckt?

Mir blieb keine Zeit mehr, es herauszukriegen. Ich sprang aus dem Bett und lief zum Gaubenfenster, aus dem ich direkt auf die Winterkoppel schauen konnte. Larissa und die Tinkerstute Finnchen schlenderten soeben zur Heuraufe. Hinnerk hatte das Tagewerk ohne mich angefangen – gut.

Natürlich, was hattet du denn gedacht, Jule? Dass er zu nichts mehr fähig ist, nur weil er einziges Mal das Koppeltor offengelassen hat?

Begleitet von Alberts Hahnenschrei, eilte ich nach einer Katzenwäsche die knarzende Holztreppe hinunter, zog mir meine alte Arbeitswinterjacke über und die Gummistiefel an.

»Moin Jule! Verschlafen?« Hinnerk grinste verschmitzt, als wir im Stall aufeinandertrafen.

»Hättest mich ruhig wecken können.«

Hinnerk hatte die Fuchsstute Diana aus der Box geholt. Ich schnappte mir Micky und folgte ihm mit ihr zur Koppel. Gemeinsam entfernten wir anschließend den Mist aus den vier Boxen und streuten frisches Stroh ein.

Auch heute startete der Tag recht kalt, aber bei der Arbeit merkte ich bald nichts mehr davon, und die aus Richtung Festland aufscheinende Sonne tat das Übrige dafür. Vor der Stalltür stehend hielt ich mein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen, atmete tief die würzige Luft ein und schaute zu den grünen Weiden herüber. Bald würde dort unsere kleine Herde grasen, der Winter endgültig abgehakt und der Frühling richtig da sein.

Unsere kleine Herde …? Ich belächelte selbstironisch meine Gedanken. Nix mit unsere.

Natürlich gehörten die Pferde Hinnerk. Nur diese vier waren übrig geblieben. Früher war der Boysen-Hof eine gut besuchte Reitschule gewesen, die Hinnerk zusammen mit seiner Frau Regina betrieben hatte. Selten, nur wenn er in Redelaune war, erzählte er mir davon. Kleine Anekdoten oder von besonders talentierten Schülern, die auf Turnieren erfolgreich gestartet waren. Doch diese Zeiten waren lange vorbei – sehr lange. Von Hark wusste ich, dass Hinnerk nach dem Tod seiner Frau ewig gebraucht hatte, um sich zu fangen. Hinzu kam, dass die Konkurrenz auf der Insel größer wurde. Als in der Nähe ein Reiterhof, der zuvor nur Ponyreiten für Kinder angeboten hatte, mächtig ausbaute und sogar eine Halle entstand, bekam Hinnerk das deutlich zu spüren. Die Zahl der Schüler nahm stetig ab. Es war eben bei nicht so tollem Wetter angenehmer, in einer Halle zu reiten als draußen auf dem möglicherweise matschigen Platz. Er musste sich nach und nach von immer mehr Schulpferden trennen, behielt am Ende nur die, für die sich kein guter Platz bei einem Käufer gefunden hätte: die zu alten und die mit Handicap. Die Folge davon war, dass mit ihnen nur wenig richtiger Unterricht oder Ausritte stattfanden. Ein paar Kinder aus der Umgebung kamen zwar regelmäßig, und ab und zu begleitete ich Urlauber auf Geländeritte, aber nennenswerte Einnahmen brachte das nicht.

Nun, dass es überall am Geld fehlte, war kaum zu übersehen. Das Reetdach des alten Hauses hatte zwei undichte Stellen, und ich war froh, dass es nicht auch in mein Zimmer tropfte. Stellten wir eben Eimer auf, wenn es regnete. Die Armaturen in den beiden Bädern und der Küche hätten dringend erneuert werden müssen, und der Kühlschrank gab bestimmt bald seinen Geist auf. Seine merkwürdigen Geräusche beunruhigten mich schon seit Monaten. Und das war längst nicht alles. Täglich stieß ich auf Dinge, die instandgesetzt werden müssten, doch nur notdürftig repariert worden waren.

Aber was sollte ich mir darüber Gedanken machen, ich konnte es nicht ändern und hoffte einfach, dass es noch eine Weile gut ging. Ich fühlte mich wohl in meinem neuen Zuhause, denn das war Hinnerk Boysens Hof tatsächlich für mich geworden, nach einer schwierigen unschönen Zeit zuvor.

»Jule? Frühstück is klaar!«, rief Hinnerk vom Hintereingang zu mir herüber.

»Ich komm gleich, sammele nur eben die Eier ein.«

Als ich mit dem Korb in die Küche trat, empfing mich ein gedeckter Tisch, und der altbekannte Duft nach Friesentee zog durch den Raum. Nur meinen Kaffee musste ich mir selbst machen.

»Von Erika ist auch eins dabei«, sagte ich.

Erika war unsere älteste Henne, ein gelb-weiß geflocktes Friesenhuhn, und mit ihrem in unterschiedlichen Gelbtönen gefärbten Gefieder eine besonders Hübsche. Sie hatte die Angewohnheit, ihr Ei nicht in eines der dafür vorgesehenen Nester zu legen, sondern in eine ausgemusterte Schiffermütze. Das geschah nicht mehr oft, aber wenn, dann freuten wir uns, und auch jetzt schauten Hinnerk und ich uns lächelnd an, bevor ich ins Bad ging.

Ich sah sie nicht, aber ich fühlte sie. Die Nässe drang sofort durch die dicken Schafwollsocken, die ich anstelle von Hausschuhen trug. Eine Wasserlache. Ich starrte zu ihr hinunter.

Meine Reparatur! Ruckartig blickte ich wieder hoch zur Armatur am Waschbecken. Es tröpfelte nicht, nein, ein feiner dünner Strahl floss aus dem Hahn. Hektisch versuchte ich, ihn fester zuzudrehen – es ging nicht.

»Mist, Mist, Mist!« Ich hatte es ja gewusst, warum schob ich solche Sachen immer vor mir her?

Aber wieso floss das verdammte Wasser nicht ab, sondern lief munter über den Rand des Waschbeckens? War auch noch der Ausguss verstopft? Einer inneren Eingebung folgend blickte ich ins Becken – der Stöpsel steckte! Mit einem Aufstöhnen zog ich ihn heraus und betrachtete meine vollgesogene Fußbekleidung sowie den kleinen See, der sich nur nicht bis in den Flur ausgebreitet hatte, weil es eine zentimeterhohe Türschwelle gab. Das Wasser musste weg. An der Tür zog ich die triefenden Wollsocken aus, tappte barfuß in die Diele, holte aus der Abstellkammer Eimer und Feudel und beseitigte die kleine Überschwemmung.

»Wo bleibst du denn?«

Musste ein wenig Wasser treten, Hinnerk, woran du nicht ganz unschuldig bist.

Mit neuen Socken ausgestattet, den Puls wieder einigermaßen im Normalzustand, konnte ich endlich meinen Kaffee zubereiten.

Dabei fragte ich Hinnerk: »Sag mal, warum hast du denn den Stopfen ins Waschbecken gesteckt?«

In seinen Augen sah ich Erstaunen. Oder war es Erschrecken?

»Da muss mal einer ran, da is wat kaputt.« Er nahm eine Scheibe Brot aus dem Korb und brach sie in kleine Stücke, von denen er sich eines in den Mund schob.

»Stimmt«, sagte ich. »Vielleicht kann Hark uns helfen.«

 

Er konnte, und er tat es wie immer gern und ohne lange zu fackeln, sogar sonntags. Aus einer Mischung von Dankbarkeit und schlechtem Gewissen heraus antwortete ich auf seine Frage, ob ich es mir überlegt habe mit morgen, dass ich mich freuen würde, etwas mit ihm zu unternehmen. Und zweifelte, sobald er den Hof verlassen hatte, ob meine Zusage richtig war, denn echte Freude kam bei dem Gedanken an morgen keineswegs auf, und das nicht nur wegen des verpassten Ausritts.

Hark tauchte am nächsten Tag pünktlich um zwei mit seinem Rad auf.

»Na, ausreichend gefrühstückt?«, begrüßte er mich bestens gelaunt. »Bereit für eine Inselumrundung?«

»Waas?« Ich hielt in der Bewegung inne, mit der ich dabei war, den Proviantbeutel im Korb auf dem Gepäckträger sicher zu verstauen, und sah ihn an. Das meinte er nicht ernst, oder?

Hark lachte. »Müsstest dein Gesicht sehen. – War Spaß.«

»Dann bin ich ja beruhigt. Für eine Mammuttour bin ich echt nicht fit genug.«

»Glaub ich gar nicht. Das auf dem Hof ist wie Fitnesstraining.«

Ich zupfte mir ein paar Ponyfransen unter dem Mützenrand zurecht. »Na ja, für die Arme tut es was, aber die Beine? Die machen nicht viel, außer mal am Strand wandern. Aufs Pferd komme ich kaum noch.« Wieder dachte ich an den heute verpassten Ausritt.

Komm, Jule, schieb das weg. Das wird sicher nett, sich mit Hark den Wind um die Nase wehen zu lassen.

»Super, dass heute kaum ein Lüftchen geht«, sagte in dem Moment Hark, »da haben wir’s leichter.«

»Aber dafür nie Rückenwind«, antwortete ich. »Also los!«

Hark schwang sich in den Sattel. »Erst mal am Watt lang bis …«

Ich tat es ihm nach, hielt mich auf dem Zufahrtsweg vom Hof neben ihm. »Bis …?«

»Mal gucken, bis wohin du es schaffst.« Er warf mir einen Seitenblick zu. »Du mit deinen untrainierten Beinchen.«

Ich drohte ihm spielerisch. »Na warte! Soviel ich weiß, bist du auch keine Sportskanone.«

Harks Gesicht rötete sich leicht. »Die paar Kilo zu viel gehen schnell runter. Ich hab mich im Fitnessstudio angemeldet.«

»Uiuiui, da werde ich ja bald nicht mehr mithalten können«, frotzelte ich, trat kräftig in die Pedale und sauste ihm auf dem Sträßchen Haawerlön ein Stück davon.

Etwas später radelten wir einträchtig nebeneinander am Watt entlang in Richtung Keitum. Die Sonne schaute immer öfter zwischen lockeren Wolkengebilden hervor und verzauberte das aufsteigende Wasser silbrig glänzend. Ich konnte mich nicht sattsehen daran und hatte bereits mein nächstes Bild vor Augen, obwohl ich schon einige Aquarelle von dieser Seite Sylts gemalt hatte.

Schnell näherten wir uns Keitum. Der einstige Hauptort der Insel zog jetzt als schönstes Dorf Sylts unzählige Urlauber und Ausflügler an. Aber noch war keine Hauptsaison und dazu Montag, alles sehr beschaulich und ruhig. Wir bogen auf Am Tipkenhoog ab und folgten der Straße in den Ort. Sie war nach einem Grabhügel benannt, der zwischen ihr und dem Watt lag. Der soll der Legende nach das Grab des Wächters der kämpfende Riesen sein, die man Sylter Kämpen nennt. Der Riese Tipken fiel im Kampf mit dänischen Eindringlingen und wurde in dem Grabhügel beigesetzt. Vorbei am Kulturhaus Sylt mit dem Friesensaal näherten wir uns dem Dorfkern.

»Lass uns doch absteigen und ein bisschen laufen«, bat ich Hark. »Ich bin so selten hier, dabei mag ich Keitum sehr.«

Hark bremste bereitwillig ab.

»Ist für dich sicher anders, du kennst das alles von klein auf.«

Er nickte und blieb stehen, als ich das Handy aus der Innenseite meiner Jacke hervorholte, um den einen oder anderen Eindruck als Foto festzuhalten. In den Bauerngärten vor den Friesenhäusern zeigten sich an Bäumen und Büschen zarte Knospen, die Forsythien setzten gelbe Farbtupfer, genau wie die ersten Narzissen, die ihre Blüten der Sonne entgegenstreckten.

Wir schoben unsere Räder durch die verschlungenen Sträßchen, und ich schoss hier und da Fotos: von den alten Kapitänshäusern, einer besonders hübschen Gasse oder nur von einem der hohen, noch kahlen Bäume, die die Sträßchen säumten.

Schließlich wandten wir uns auf dem Uwe-Lens-Jornsen-Wai wieder der Wattseite zu und radelten in gemächlichem Tempo ein Stück weiter in nördliche Richtung.

»Kleine Pause mit Kuchen und Tee?«, fragte Hark. »Ich lad dich ein.«

»Gern, aber nur, wenn es für mich auch eine mit Kaffee sein darf.«

»Ach, Mensch, hab vergessen, dass du nicht so für Tee bist.«

»Und das auf Sylt, nicht wahr? Ich mag euren geliebten Friesentee auch, aber eher so am Abend, wenn man es sich zu Hause gemütlich macht, mit einem schönen Film oder Buch zum Beispiel.«

»Mhm«, machte Hark und sah mich an.

»Hattest du hier gedacht?«, fragte ich ihn und schaute zum Terrassenaufgang von Nielsens Kaffeegarten, bei dem wir soeben angekommen waren.

»Jo.«

Wir ließen uns Flockensahnetorte und Friesenkekse schmecken, genossen dabei die freie Sicht über die Wiesen zum Wattenmeer.

»So kann man’s aushalten«, sagte ich und streckte die Beine aus, den Kaffeebecher in den Händen, dessen Inhalt meinen Magen wohlig erwärmt hatte. Ganz zu schweigen von der Torte, ein kalorienreicher Traum, nach der ich mich pappsatt fühlte.