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Ein heftiges Regenwetter tobte über die Landstraße dahin, welche sich von der kleinen Stadt Bischofswerda gegen Dresden zu durch die Windungen der Täler zog. Es war für die Reisenden ein unbehaglicher Moment in der Natur, denn der Wind schnaubte mit solcher Gewalt durch die Schluchten, dass er den stark niederprasselnden Regen wie nasse, zusammengeballte Wolken gegen alles trieb, was nur Widerstand leistete, und deshalb hatte es auch ein ziemlich großer, mit geteerter Leinwand bedeckter Wagen sehr schlimm, der wie ein Schiff im Sturme auf der See gegen das Unwetter auf der Straße kämpfte. Einige Male schien es so, als wolle der brausende Sturm das Fuhrwerk umstürzen, denn er setzte sich in dem geteerten Überzuge wie in einem großen Segel und schüttelte den Wagen, dass er von rechts nach links schwankte und eine sehr verdächtige Neigung zum »Kippen« verriet. Diese Beengung ward von dem lauten Wehgeschrei einiger Personen begleitet, welche im Innern des Fuhrwerkes saßen und, dem Tone nach zu urteilen, lauter Frauenzimmer sein mussten.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Historische Erzählung
von
1870
© 2022 Librorium Editions
ISBN : 9782383835738
I. Ein Thespiskarren
II. Die Gräfin Cosel
III. Zusammenfinden
IV. Vormittagsarbeiten des Grafen Brühl
V. Die Eröffnungen des preußischen Gesandten
VI. Das Haus der Servignis
VII. Die Soiree der Kurprinzessin
VIII. Im Hause des Kanzlisten
IX. Die Schläge des Grafen Brühl
X. Der erste Schuss im siebenjährigen Kriege
Ein heftiges Regenwetter tobte über die Landstraße dahin, welche sich von der kleinen Stadt Bischofswerda gegen Dresden zu durch die Windungen der Täler zog. Es war für die Reisenden ein unbehaglicher Moment in der Natur, denn der Wind schnaubte mit solcher Gewalt durch die Schluchten, dass er den stark niederprasselnden Regen wie nasse, zusammengeballte Wolken gegen alles trieb, was nur Widerstand leistete, und deshalb hatte es auch ein ziemlich großer, mit geteerter Leinwand bedeckter Wagen sehr schlimm, der wie ein Schiff im Sturme auf der See gegen das Unwetter auf der Straße kämpfte. Einige Male schien es so, als wolle der brausende Sturm das Fuhrwerk umstürzen, denn er setzte sich in dem geteerten Überzuge wie in einem großen Segel und schüttelte den Wagen, dass er von rechts nach links schwankte und eine sehr verdächtige Neigung zum »Kippen« verriet. Diese Beengung ward von dem lauten Wehgeschrei einiger Personen begleitet, welche im Innern des Fuhrwerkes saßen und, dem Tone nach zu urteilen, lauter Frauenzimmer sein mussten.
Das Missliche der ganzen Lage erhöhte sich noch wesentlich dadurch, dass diese ganze Szene bei einbrechender Nacht spielte. Der dunkle Gewitterhimmel sorgte für eine noch viel schneller eintretende Finsternis, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre, und ringsum ließ sich kein lebendes Wesen erblicken, auf dessen Hilfe im Falle der Not zu rechnen gewesen wäre. Der Wagen war jedoch augenscheinlich nicht ohne Eskorte oder Beistand. Es ließ sich nicht bestimmen, wie viel Personen in seinem Innern platzgenommen hatten, aber fünf bis sechs männliche Individuen schritten zu Fuß neben dem Gefährte einher. Sie hatten sich in höchst pittoresker Weise durch Decken, alte, weitfaltige Mäntel und dergleichen Dinge vermummt oder gegen den strömenden Regen geschützt, blieben indessen bei der Not des Fuhrwerks nicht müßig, sondern halfen oft, wenn die aufgeweichten Stellen des Weges die Räder einsinken ließen, durch Schieben und Eingreifen in die Radspeichen, während der Kutscher aus Leibeskräften auf die von Regen und Schweiß triefenden Rosse lospeitschte. War der schwerfällige Wagen wieder ein wenig fortgerückt, so holten die Männer Atem, schritten keuchend unter ihren Hüllen weiter und riefen den Insassen des Wagens Mut zu; bald genug aber vermochten auch sie nur noch schwache Hilfe zu leisten, weil die Finsternis einen ganz verwünschten Querstrich machte, und der Wagen blieb mitten in dem Unwetter halten.
Die Begleiter umstanden ihn ratlos, und der Kutscher rief in jenem breiten, immer so komisch klingenden sächsischen Dialekte:
»Ach Herrjähses, da sitzen mer nu im Kote feste!«
Die Männer vermochten trotz der unangenehmen Situation nicht ein Lächeln zu unterdrücken.
»Wir sitzen in der Höhle des Pluto, — oder nähern uns ihr mit reißenden Schritten«, sagte ein Mann mit tiefer Stimme und fast deklamierend.
»Wären wir nur erst dicht daran«, fiel ein Zweiter ein, »wir dürften hoffen, dort vor dem strömenden Regen sicher zu sein.«
»Mädchen — Damen — Signoras«, rief ein junger, bildhübscher Mann, sich gewandt auf das Rad schwingend und von dort aus seinen Oberkörper unter das Leinwanddach schiebend, »ich wollte, ich wäre heut der Sohn des Zauberers Horribilifax oder der wundertätige Ritter in Marinos herrlichem Spiele: dann sollten Sie gleich von dieser fatalen Landstraße fort — in einen köstlichen Palast versetzt werden.«
»Hebt die Leinwand nicht so hoch auf! Der Zugwind geht so scharf hindurch, und wir könnten das Unglück erleben, die Sylvia heiser nach Dresden zu bringen.«
Diese Worte, welche eine raue weibliche Stimme dem galanten Manne zurief, wurden durch mehrere andere Wehrufe übertönt, und alle diese Rufe lauteten:
»Schützt die Sylvia! Schützt die Sylvia!«
Die Genossen des feuchten Landstraßenabenteuers blieben nun, zu einem Feldherrnrate vereint, im Regen stehen, aber ein breitschultriger, kleiner Mann ergriff endlich die Initiative. Er trat zu dem Kutscher und sagte mit gebieterischer Stimme:
»Also was soll nun werden? Kommen wir heut noch gegen Dresden, oder was wird sonst?«
»Ach mei gues Herrchen, liebster Herr Brinzibal, dieses ist unmöglich. Wie kann ich weiter mit die Pferde? Es is Sie reene unmäglich, und es bleibt nischt weiter übrig, als dass wir die Nacht in Stolpen zubringen.«
Der Kleine brummte etwas in den Bart von neuen unerwarteten Ausgaben, von schweren Zeiten bei hoher Bezahlung, und die Genossen schnauften sehr vernehmlich unter ihren Decken hervor, als hätten sie von diesen Äußerungen des Kleinen nichts Gutes für sich erwartet.
»Ihr habt gehört, was uns bevorsteht«, sagte der Kleine, »wir bleiben totaliter auf der Landstraße liegen, wenn wir es riskieren, nach Dresden zu fahren — ergo muss uns Stolpen die Ruhe gewähren.«
»Vorwärts, über den Rubikon«, rief der Mann mit der tiefen Stimme, und unter den vereinten Kräften der Männer ward der Wagen weitergeschoben, wobei eine Schauerwolke von Regen und Schmutz zwischen die Gruppen fuhr, ihren ganzen Inhalt an hässlicher Flüssigkeit auf die Reisenden entladend. Sie hielten es fürs Beste, zu schweigen und sich nötigenfalls nur durch Gebärden anzufeuern, die Pferde schienen, wie es diesen Tieren oft genug nachgerühmt wird, Menschenverstand zu besitzen, und kraft dieser Begabung das tröstende Übereinkommen, nach welchem sie bald unter sicherem Dache weilen konnten, begriffen zu haben, denn sie eilten schneller als je auf der Landstraße vorwärts, so dass sich die Männer schon genötigt sahen, zuweilen einen Trab oder, wie man heute sagen würde, Dauerlauf zu beginnen, um nur nicht weiter zurückzubleiben, als ihnen lieb sein konnte. So, halb springend, halb laufend, keiner der zahllosen Pfützen achtend, welche die Straße überschwemmten, näherte sich das sonderbare Fuhrwerk mit seiner Eskorte in der Dunkelheit dem Städtchen Stolpen, polterte über die lange Brücke des Wesenitzflusses und rasselte endlich bei Rennersdorf vorüber in die Gassen der Altstadt.
»Wohin wenden wir uns?« rief der Kleine dem Kutscher zu.
»Ich fahre gleich bei den drei Kronen vor«, erscholl die Antwort, und wenige Minuten später hielt der Wagen vor dem Torwege eines großen Gasthofes, von dessen Front ein langer, eiserner Träger auslief, an welchem sich ein Schild, mit drei übereinanderstehenden Kronen bemalt, im Winde schaukelte.
Bei der mangelhaften Erleuchtung ließen sich die Ankömmlinge nicht sogleich erkennen, und der unter der schützenden Pforte stehende Hausknecht lief deshalb zur Glocke und ließ sie durch kraftvollen Zug laut und gellend ertönen. Auf dieses Zeichen kamen sofort eine Menge Menschen herbei, voran der Wirt, seine Sammetmütze zwischen den Fingern drehend, der, um durch das Regenwetter in der Unterhandlung über das Nachtquartier nicht gestört zu werden, befahl, das Tor zu öffnen und den Wagen in den Flur des Hauses zu fahren. Als dies geschehen, als die begleitenden Männer versammelt waren, erschienen Wirt und Hausknechte mit brennenden Kienspänen und Laternen, um die späten Gäste zu empfangen. Es bedarf keiner Versicherung, dass diese Leute nicht empfehlenswert aussahen. Der Marsch oder vielmehr die Jagd, das Rennen durch Schmutz und Nacht, die Regenschauer, endlich die seltsame Umhüllung ließen die Reisenden als wahre Landstreicher erscheinen, und nur die Anwesenheit des Wagens konnte einige bessere Begriffe erwecken.
Während die Hausknechte neugierig in den Wagen zu schauen sich abmühten, betrachtete der Wirt die Männer, welche stöhnend ihre Decken ablegten. Er leuchtete ringsumher und ließ das Licht auf den Wagen, auf dessen Schoßkelle, dann wieder auf die unter dem Langbaum schaukelnden Pakete fallen. Das Laternenlicht beleuchtete zwar ein sonst ganz gewöhnliches Fuhrwerk, allein die Bagage musste doch dem Beobachter ziemlich seltsam erscheinen, denn aus dem umhüllenden Leinwandstreifen schauten hier ein paar Lanzenspitzen, dort die kugelförmigen Enden eines vergoldeten Stabes, an dieser Stelle eine Leiter, an jener ein Instrument, welches genau einer Klistierspritze glich, hervor, und dicht daneben knäuelten sich zwei Pakete, welche auf den ersten Blick Stricke zu sein schienen, bei näherer Besichtigung jedoch die ziemlich freien Nachbildungen von Nattern oder sonstigem Schlangengezüchte waren. Sie hatten stark durch den Regen gelitten, und sämtliche Amphibien ließen ihre Häupter hängen.
»Aha! So — so —«, machte der Wirt, nachdem er diese Musterung vollendet hatte, bei welchem Ausrufe er zugleich das Licht seiner Laterne ausblies und den Hausknechten, welche bereits dem Kutscher beim Abschirren der Pferde behilflich waren, Halt! Zurief.
»Ich brauche nichts weiter zu sehen«, fuhr er kalt und geringschätzend fort, »Komödianten! — Weiter nichts.«
Der Kleine nahm jetzt eine herausfordernde Miene an und blähte sich dergestalt auf, dass er viele Ähnlichkeit mit dem Frosche in der Fabel haben mochte, dann, den Zipfel seines vom Regen halb aufgeweichten Mantels wie den einer Toga über die Schulter werfend, sagte er, indem er mit tragischem Schritte gegen den Wirt avancierte.
»Jawohl, mein Lieber — Komödianten — weiter nichts. Aber Diener der Muse, Freunde der Fürsten, Obdach suchen die Jünger des Komus und Momus unter Deinem Dache — aufgemacht, schnell, damit wir einziehen können!«
Der Wirt schüttelte jedoch eigensinnig das Haupt.
»Wenn der Herr Freund der Fürsten ist, na gut, so lasse Er sich im Schlosse einquartieren, und wenn die Fürsten Ihn aufnehmen, dann werden sie auch für Ihn bezahlen, ich aber, ich schere mich nicht um seine großartigen Gebärden, denn ich weiß, was das zu bedeuten hat. — Ich kenne die Komödianten aus dem ff, und ich weiß, was meine Börse darunter zu leiden hatte, als ich im Sommer vorigen Jahres den Hahnemann von Leitmeritz her in mein Haus genommen hatte. Nicht einen Groschen habe ich von ihm bekommen; ich habe mich an die Römerhelme, an die Fackeln und an die Masken gehalten, aber für den Plunder nicht die Hälfte herausgekriegt!«
»Hahnemann, Hahnemann!« rief pathetisch der Kleine. »Wie kann Er diesen Menschen nennen? Hahnemann — hier steht Kirsch — Joseph Kirsch, der Prinzipal des löblichen Musenspiels, vor ihm. Weiß Er, was das sagen will?«
»Ach — das ist mir ganz und gar gleichgültig«, entgegnete der unpoetische Wirt. »Ich habe wohl Seinen Namen schon nennen hören, mein lieber Herr; Er soll den Hanswurst ganz prächtig agieren.«
Die tölpischen Hausknechte und noch einige der herbeigekommenen Gäste lachten recht unverschämt bei diesen Worten.
»Natterngezücht!« rief nun der Mann mit der tiefen Stimme, »wagt Ihr es, in solcher Weise uns gegenüberzutreten? Ich werde Euch zeigen — —« er schlug bei diesen Worten seinen Rock auseinander und ließ ein Paar Pistolen blinken, welche in seinem Gürtel steckten.
»Ruhig, ruhig, Kramer«, gebot der Prinzipal. »Ich werde in anderer Weise mit dem Monsieur sprechen. Weiß Er, mein lieber Freund, dass Er zukünftige königlich polnische und kursächsische Hofkomödianten vor sich hat? Weiß Er, dass ein königlicher Befehl mich und meine Leute hier nach Dresden beruft, um auf dem Hoftheater daselbst meine Vorstellungen zu geben? He?«
Der Wirt kraute seine Glatze.
»Na, da müsste Er anders aussehen, denn so wie Er und Seine Mosjes jetzt beschaffen sind, würde man die gesamte Gesellschaft nicht in die Stadt ziehen lassen — ein bisschen abbürsten müssten sich die Herren wohl.«
Ein wieherndes Gelächter erschallte nun in dem Hausflur, es reizte die Schauspieler aber zu desto größerem Zorne.
»Zimmer anweisen! Den Wagen in die Remise! Wir lassen uns das nicht gefallen!« so riefen die Männer von der Truppe des Herrn Kirsch ergrimmt durcheinander, indem sie drohend auf den Wirt zuschritten; der jugendliche Liebhaber zog sogar einen Hirschfänger blank.
Diese unbedachtsame Handlung bewirkte jedoch, dass der Wirt nun auch seine Hilfstruppen in Schlachtordnung aufstellte, und es entstand der Ruf:
»Werft sie hinaus! Gebt ihnen keinen Pardon!«
Mehre Leute eilten herbei, die Hunde, welche vom Hofe aus hereingekommen waren, bellten, ein Hausknecht läutete die Glocke, und im Innern des noch mit dem geteerten Plane bedeckten Wagens kreischten einige Frauenstimmen nach Hilfe, zugleich wurde das Verdeck zurückgeschlagen, und es zeigten sich nun den erstaunten Blicken der Stolpener — vier Frauen, welche die süße Hauptlast des Wagens gebildet hatten. Zwei dieser Frauen standen in ziemlich gereiftem Alter, die beiden anderen waren bedeutend jünger, eine derselben ein junges, etwa zwanzig Jahre zählendes Mädchen. Sie hatte den Hals mit einem dicken Tuche umwunden, aber diejenigen Gäste des Kronenwirtes, welche sich zur jeunesse dorée von Stolpen rechneten, sahen auf den ersten Blick, dass es eine wunderschöne junge Person war.
Die plötzliche Erscheinung der vier Frauen führte eine Pause herbei, die Parteien standen einander gegenüber, der nahe Ausbruch des Kampfes war noch um einige Minuten verschoben.
»Das ist denn doch stark!« rief der Wirt. »Wer will mich zwingen, Leute hier im Hause zu beherbergen, wenn ich nicht Lust dazu habe?«
Eben wollte der Prinzipal wieder eine donnernde, mit einigen Handgreiflichkeiten begleitete Replik loslassen, als aufs Neue die Glocke des Haustores gezogen wurde. Im Feuer des Zwistes hatte niemand die Ankunft eines Wagens gehört, der soeben über das schlechte Pflaster gerasselt war und nun vor dem Wirtshause hielt.
»Herr Gott, da kommen neue Gäste«, schrie der Wirt, »und ich habe diese Gesellschaft noch hier; hurtig macht auf!«
Alles lief durcheinander; für den Augenblick waren die Komödianten vergessen, und die Türe ward geöffnet. Man sah draußen einen eleganten Reisewagen halten, zwei Laternen brannten zu beiden Seiten des Kutscherbockes, und zwei Herren stiegen unter Fluchen und Verwünschungen vor der Türe des Gasthofes aus.
»Was zum Teufel ist denn das für eine Wirtschaft?« rief der eine. »Man kann nicht in das Tor, muss mitten im Regen aussteigen!«
Der Wirt bückte sich wie ein Fragezeichen und kroch zu dem Reisenden.
»Gnaden werden verzeihen — aber — hier — Sie sehen — ein Wagen stopft den Hausflur — ein Wagen mit —«
»Ah, also Er kann uns nicht aufnehmen, will Er sagen?«
»Oh nein, nein. Diese Leute hier sollen hinaus, müssen Platz machen. Eben wollte ich sie spedieren.«
»Das wäre unnütz«, sagte der Fremde, »denn wir wollen nicht hierbleiben; wir wollen nur unsere Pferde, den Jäger und den Kutscher hier unterbringen; wir selbst aber gehen hinauf auf das Schloss.«
Der Wirt machte eine Bewegung des Staunens und bückte sich noch einmal.
»Wie Euer Gnaden befehlen«, sagte er. »Ich werde die betreffenden Personen und den Wagen unterbringen.«
Die beiden Reisenden hatten sich während dieser Unterhaltung dem Wagen genähert, welchen die Schauspieler noch immer umstanden. Bei der erregenden Szene waren verschiedene Lichter und Lampen herbeigebracht worden, so dass nunmehr der ganze Flur mit allen darin befindlichen Personen hell beleuchtet war; die Reisenden vermochten deshalb auch genau die Gesichter der Leute zu erkennen, welche in dem Wagen saßen, oder denselben hüteten.
»Sehen Sie, Graf«, flüsterte der jüngere der beiden Reisenden seinem Begleiter zu. »Sehen Sie das bildschöne Mädchen dort im Wagen?«
Er starrte die junge Komödiantin an, welche von den Ihrigen mit dem Namen Sylvia belegt und, wie schon angedeutet, der Gegenstand sorglichster Pflege und Vorsicht wider die raue Luft gewesen war.
»Aha, Sie sind ein Lovelace«, sagte der ältere Herr, »nehmen Sie sich in Acht, mein Lieber. In Ihrer schwierigen Situation müssen Sie besonders vorsichtig sein, wenn das schöne Geschlecht Ihnen gegenübertritt; es ist die erste Prüfung, welche Sie bestehen sollen.«
Der junge Mann schien aber gar keine Notiz von dieser Mahnung zu nehmen, sondern versenkte sich in wohlgefälliges Staunen über die reizende Persönlichkeit.
»Mein Himmel«, rief er endlich, »es scheint so, Herr Wirt, als wollten Sie durchaus jene Leute trotz Regen und Unwetters auf die Gasse werfen?«
»Dazu hab’ ich den besten Willen«, antwortete der Wirt in brutaler Weise.
»Und nur unsertwegen?« sagte der Baron.
»Nein; ehrlich gestanden, nein. Es sind Komödianten, welche Sorte von Menschen ich nicht gern in mein Haus aufnehme von wegen —« er machte die Gebärde des Zahlens. Jetzt aber trat der Prinzipal, Herr Kirsch, zwischen ihn und die Reisenden.
»Mein Herr«, sagte er zu dem Baron, »wer Sie auch sein mögen — Ihr Äußeres verrät den Mann von Bildung, von Welt. Sie werden wissen, dass der Gattungsname Komödianten Gutes und Schlechtes in sich begreift; aber wir selbst sind Leute, denen auch ihre Feinde Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen als den Prinzipal dieser Gesellschaft, den weltbekannten Schauspieldirektor Johann Christoph Kirsch.«
Er schob seine Hand unter die Weste und stellte sich gravitätisch vor den Baron hin, der ihn verwundert und mit Lächeln betrachtete.
»Ich bin«, fuhr Kirsch fort, »kein gewöhnlicher Prinzipal, nein, ein Befehl des Herrn von Dieskau ruft mich nach Dresden, um daselbst auf dem königlich-kurfürstlichen Theater einige Vorstellungen zu geben. — Meine Papiere kann ich vorweisen, und ich finde es empörend, dass dieser Mensch hier es wagt, die Künstlergesellschaft auf die Straße setzen zu wollen!«
Der Wirt zuckte die Achsel, aber der ältere Fremde nahm sofort einen anderen Ton an. Er hatte seine Lorgnette gezogen und betrachtete durch dieselbe das Personal.
»Ah, messieurs, mesdames«, sagte er sehr artig, »ich bedaure den Unfall, der Sie alle hier betroffen, die Verzögerung, welche Ihre Weiterreise hier erlitten. Herr Wirt, diese Herrschaften werden Ihm hiermit bestens empfohlen, und nun sogleich die Zimmer bereit, die Pferde, den Wagen dieser Herren und Damen in die Stallung gebracht! Vorwärts, schnell!«
Der Wirt verzog den Mund.
»Ich müsste aber doch erst wissen — ich will nur sagen: wer kann mir eigentlich garantieren?«
»Ich, mein Freund, kann das«, rief der Fremde. »Ich bin der Graf Wackerbarth-Salmour; hoffentlich bedarf es weiter keiner Auseinandersetzung.«
Bei Nennung dieses Namens erbebten der Wirt vor Schrecken und die Komödianten vor Freude; sie wussten nun, dass sie unter mächtigem Schutze standen, denn der Konferenzminister und Oberhofmeister des Kurprinzen Friedrich Christian war eine zu bedeutende Persönlichkeit, als dass man es hätte wagen dürfen, ihm eine Weigerung entgegenzusetzen. Der Wirt machte deshalb auch keine Umstände weiter, und in kurzer Zeit befand sich das Personal des Herrn Kirsch in dem großen, behaglichen Gastzimmer. Graf Wackerbarth und sein Begleiter fanden sich ebenfalls daselbst ein.
»Herr Wirt«, befahl der Graf kurz. »Sie werden nun Sorge tragen, dass zwei Männer, mit Laternen oder Windlichtern versehen, uns das Geleit zum Schlosse hinauf geben. Der Regen hat nachgelassen, und es lässt sich leidlich hinauf spazieren, aber die Dunkelheit ist abscheulich; eilen Sie.«
Der Wirt flitzte zur Tür hinaus, und der Graf näherte sich nun, zur größten Freude seines Begleiters, den Komödianten.
»Herr Graf«, begann Kirsch, »wir sind Ihnen zum größten, aufrichtigsten Danke für den Schutz verpflichtet!«
»Schon gut, mein Freund«, sagte Wackerbarth, graziös mit der Hand abwehrend, »ich protegiere gern die Künstler, und ich freue mich, wenn das anerkannt wird.«
Es fiel dem Prinzipal auf, dass der Graf sehr sorgfältig die Schauspieler musterte und namentlich seine Blicke auf Sylvia ruhen ließ, welche freilich schön genug dazu war. Da aber auch der Begleiter des Grafen die junge Schauspielerin mit glühenden Augen beobachtete, begann Herr Kirsch Sorge zu hegen, dass die Beschützer sich für ihre Großmut durch einen vielleicht allzu kühnen Anspruch auf Sylvia entschädigen möchten. Er trat deshalb wieder einen Schritt vor und sagte:
»Erlauben Sie nun, Herr Graf, Ihnen die Mitglieder meiner Gesellschaft vorstellen zu dürfen: Herr Kramer, Held und Vater.«
Der Mann mit der tiefen Stimme verbeugte sich.
»Bellon, Liebhaber«, fuhr Kirsch fort; »Pelzner, der Darsteller der Pantalons und Doktoren, — Weininger, der Renommist, und hier Schrader — mein Pierrot und tölpischer Diener.« —
Herr Schrader war ein baumlanger Mann, dessen Glieder, Arme und Beine aus lauter Charniers zusammengesetzt schienen; denn sie klappten fortwährend, wie die Feder eines Taschenmessers. Nach den Verbeugungen der Vorgestellten kamen die Damen an die Reihe:
»Frau Pelzner — keifende Alte.«
»Ah — sehr angenehm«, sagte der Graf.
»Frau Leue — junge Mütter«, fuhr Kirsch fort. »Hier Zezi — unsre Soubrette, und ich selbst der Harlekin und Prinzipal der Gesellschaft.«
Der Graf und sein Begleiter blickten verwundert und fragend auf die noch nicht vorgestellte, schöne Komödiantin.
»Nun, und jenes reizende Kind dort?« sagte Wackerbarth mit seltsamem, halb flüsterndem Tone.
»Diese junge Dame«, sagte Kirsch, »ist die Sylvia.«
Sylvia stand von ihrem Sitze auf und machte dem Grafen eine Verbeugung. Dieser wendete von der jungen Person kein Auge; ein leichtes Gefühl der Unruhe schien ihn zu befallen, und er schüttelte ein wenig sein Haupt.
»Mademoiselle Sylvia? Und der sonstige Name?«
»Ich trage weiter keinen Namen«, sagte das junge Mädchen mit wohltönender Stimme, die ein Klang von Wehmut durchzitterte.
»Mademoiselle Sylvia kam zu unsrer Gesellschaft in Prag«, fiel Kirsch schnell ein. »Dort sah sie Herr von Dieskau, und da ich mich bereits um die Gunst beworben hatte, in Dresden Vorstellungen geben zu dürfen, wurde mir vor einigen Wochen diese Erlaubnis erteilt unter der ausdrücklichen Bemerkung aber, Demoiselle Sylvia mit in die Hauptstadt zu bringen und dieselbe dem Hofe sowie dem Publico in ihren besten Rollen vorzuführen.«
»Sie ist es«, flüsterte der Graf leise; »pauvre enfant!«
Der Begleiter des Grafen war der jungen Dame jetzt ganz nahe. Er neigte sich leicht und sagte:
»Ich zweifle nicht daran, dass Demoiselle die Dresdner entzücken werde; in welchen Rollen wird man Sie zuerst sehen?«
»In Rollen, wo es gilt, die herrliche Stimme geltend zu machen, welche der Sylvia in ihrer Kehle sitzt«, erwiderte Herr Kirsch; — »oh, meine Herren, Sie werden staunen, wenn Sie diese Töne vernehmen — wenn Sylvia ihre Melodien schmettert. Deshalb auch wollte Herr von Dieskau durchaus die Sylvia nach Dresden haben. Sie kann sich dreist mit der Albuzzi und der Dennert messen; selbst Faustina Hasse würde die schöne Stimme anerkennen.«
»Prinzipal, Er schmeichelt«, rief Sylvia. »Ich bin noch eine Anfängerin.«
Der Graf hatte während der ganzen Zeit die Gestalt der Sängerin gemustert. Dieser reizende, von blonden Haaren umwallte Kopf, dessen tiefblaue Augen, kleiner Mund und feingeformtes Näschen einen Correggio oder Mourillo entzückt haben würden, diese schlanke Gestalt, deren edle Formen sich in dem einfachen Reisekleide ebenso graziös zeigten, wie sie in dem seidenen Gewande der Bühnenheldin sich gezeigt haben würden; diese Bewegungen, welche eine angeborne Eleganz verrieten — dies alles kam dem Grafen so bekannt vor. Er suchte in seinem Gedächtnisse hin und her, doch er konnte sich nicht sagen, wo er schon einmal diese weibliche Erscheinung erblickt, oder ein mindestens ihr etwas gleich sehendes Wesen angetroffen habe.
»Und Herr von Dieskau«, begann er nach einer Pause, »hatte sich nicht weiter um die Herkunft unserer reizenden Kunstnovize bekümmert? Ich dächte, es wäre doch interessant gewesen zu erfahren, welche glücklichen Eltern diesem Engel das Leben gaben. Oh, Demoiselle Sylvia will uns nur neugierig machen. Dieses Gesicht, dieser Wuchs, diese Anmut, sie gehören einer Dame von Stande an, und bei ihrer Jugend, mein schönes Fräulein, kann es noch gar nicht so lange her sein, dass Sie von Ihren Eltern, von dem heimatlichen Herde fortzogen, vielleicht durch irgendeine traurige Veranlassung genötigt, auf der Bühne — —«
»Sie irren, Herr Graf«, sagte Sylvia mit fester Stimme. »Ich bin aus Neigung eine Angehörige des Theaters, und ich kannte keinen heimatlichen Herd, in dem Sinne wenigstens nicht, wie Sie, Herr Graf, es zu verstehen scheinen.«
»Also Sie vermögen nichts von Ihrer Abkunft zu berichten? — Oh, Pardon, aber Ihre Erscheinung ist so interessant, dass ich wirklich nicht umhinkann, mich bei Ihnen selbst zu erkundigen, woher Sie stammen.«
»Sparen Sie mir die Antworten; lassen Sie mich schweigen darüber, Herr Graf. — Ich war von jeher allein in der Welt«, sagte Sylvia mit schmerzlichem Lächeln.
»Ah, je comprends«, lispelte Wackerbarth, »ein Kind der Liebe — diable! Vater und Mutter müssen schön gewesen sein. Hm, hm, es ist in der Zeit des hochseligen Herrn Augustus so vielerlei passiert, und ich stehe in meinem dreiundsechzigsten Jahre, während dieser Jahre habe ich doch auch manches erlebt. — Wohin bringe ich nun das schöne Gesicht? Und dies reizende Kind soll bestimmt sein — verwünschte Politik und Palastintrige — que faire? Wir müssen alles aufbieten.«
Während der Graf dieses Selbstgespräch vollendete, waren die beiden Hausknechte eingetreten, welche ihn und seinen Begleiter auf das Schloss führen sollten.
»Ah, es ist Zeit«, rief der Graf, seinen Mantel umschlagend. »Wir wollen eilen. Herr Prinzipal — meine Damen und Herren, au revoir in Dresden, und Sie, schöne, reizende Sylvia, mögen Sie viel Glück in allen Dingen haben, in allen, sage ich noch einmal.«
Sein Begleiter stotterte noch ein paar Worte, und da er sich von Sylvias Anblick kaum losreißen konnte, musste der Graf ihn beim Arme nehmen und den Schwärmer zur Türe hinausziehen.
Draußen auf der Gasse blies der Wind noch immer scharf genug, und obwohl es schon im Maimonat war, fühlte man doch noch einen kalten, winterlichen Hauch; die beiden Männer wickelten sich fest in ihre Mäntel. Ihnen voran schritten die Hausknechte des Gasthofes mit den brennenden Laternen. Die Gesellschaft stieg den Bergweg hinan, der zum Schlosse Stolpen führte. In diesem Wege war man zum Teil gegen den Wind gedeckt, und die beiden Herren konnten daher eine Unterhaltung beginnen.
»Sie vermochten sich kaum von der schönen Sylvia loszureißen«, begann Wackerbarth. »Ei, ei, mon cher Baron, Sie sind zu empfindsam.«
»Ich leugne es nicht!« rief begeistert der junge Mann. »Dieses reizende Geschöpf hat mich völlig verwirrt gemacht! Ich vergesse die ganze Mission, die ich mit so vieler Lust ergriffen hatte.«
»St! St! Um’s Himmels willen!« beschwichtigte der Graf; »wie können Sie so etwas laut aussprechen? Wie kann man Ihnen denn eine diplomatische Mission anvertrauen?«
Der junge Mann schlug sich auf den Mund.
»Es ist wahr, wenn man solche Dinge vorhat, darf man nicht an Nebensachen hängen; aber ich hoffe, die Sylvia in Dresden wiederzufinden, vielleicht, wenn alles glücklich vorüber ist.«
»Mein lieber Baron Klingen«, sagte der Graf, stehenbleibend; »denken Sie nicht weiter an jenes Mädchen. Sie werden wohltun, wenn Sie danach trachten, die Sylvia zu vergessen — streben Sie danach.«
Baron Klingen blieb ebenfalls wie angewurzelt stehen.
»Vergessen?« rief er; »Graf, ich will nicht hoffen, dass man mir Vorschriften machen darf, an wen und wohin ich meine Gefühle zu verschenken habe?«
Wackerbarth nahm einen ernsten, fast barschen Ton an.
»Baron, Sie sind jung. Sie wollen alles zugleich genießen: Glück in der Liebe, Glück in der Karriere, Glück in Ihren Zielen an dem table vert — oh, das ist zu viel. Sie ließen sich in die Intrige einweihen, Sie gehen mit mir just in diesem Augenblicke zu einem der seltsamsten Rendezvous, welches Sie wohl als Kavalier haben können, und dennoch betrachten Sie sich ganz vogelfrei? Denken Sie denn nicht, mein Lieber, dass bei unserem Unternehmen Rechte und Pflichten sehr gleichmäßig verteilt sind? Und dann, um auf die in Ihnen so plötzlich lodernde Leidenschaft zu kommen, auf die Sylvia, wissen Sie denn nicht, mein Freund, dass Sie so gut wie verlobt sind? Wissen Sie denn nicht, dass es in der Nähe Dresdens eine Villa gibt, welche der Familie von Servigni gehört und dass diese Familie neben manchen anderen interessanten Dingen auch ein weibliches Mitglied, namens Jeanne, besitzt, dessen bestimmter Bräutigam, der Herr Baron Robert von Klingen, mir zur Seite geht?«
Der Baron neigte sein Haupt und seufzte.
»Es ist wahr«, sagte er, »alles ist wahr, was Sie mir da sagen, meine Mission, meine Verpflichtung, meine Verlobung; was aber die Letztere betrifft, so ist das doch eine Grausamkeit ohnegleichen — einen Menschen testamentarisch zu vermachen, einer Braut den Bräutigam, sozusagen, als Erbstück übergeben, das ist abscheulich!«
»Eh bien, so lassen Sie es doch fahren, das große Glück?«
Klingen seufzte wieder.
»Herr Graf«, sagte er, »Sie wissen, dass der alte Herr von Servigni und mein Vater innig befreundet waren. Eine jener seltsamen Testamentsklauseln, wie sie sich in den alten vergilbten Papieren noch genugsam vorfinden, bestimmt, dass, nach Übereinkunft beider Väter der Familien, Robert von Klingen und Jeanne von Servigni ein Paar werden sollen. Mir, dem armen Edelmanne, wird durch diese Heirat ein großes glänzendes Vermögen in Aussicht gestellt; mir wird eine lachende Zukunft gezeigt, wenn ich einwillige, Jeanne zu heiraten; ist das nicht eine Folter? Bedenken Sie, dass ich arm bin, dass die Aussicht, welche sich mir eröffnet, eine glänzende ist, wenn ich das Vermögen, welches Jeanne von Servigni mir als Heiratsgut zubringt, neben mein Amt, neben meine Patente stellen kann; bedenken Sie, dass eine ehrwürdige, alte Mutter, eine jüngere Schwester vertrauensvoll auf mich blicken, dass ich ihnen durch die Einwilligung in jenes Ehebündnis ein herrliches Leben bereiten kann, ein Leben, wie es einst meine Familie führen konnte, ehe die harten Schläge des Schicksals unser Hab und Gut vernichteten —«
»Nun, und Sie willigen doch nicht in die Heirat? Sie haben Skrupel?«
»Gewiss! Ich soll meine Freiheit, meine Neigung verkaufen, Herr Graf; ich soll ein Wesen für das ganze Leben an mich fesseln, für welches ich keine Empfindung der Liebe in mir sich regen fühle; dennoch muss ich mir sagen, dass durch ein Wort der Zusage für jene Heirat der Name meiner Familie wieder den alten Glanz erhalten würde, der um unser Wappen strahlte. Stehe ich teilweise nicht inmitten eines Scheidepunktes, bald hierhin, bald dorthin gezerrt von widerstrebenden Gefühlen, die mich ohne Unterlass quälen?«
»Kennen Sie denn Jeanne von Servigni?«
»Ich darf sagen: nein! Als ein kleiner Knabe sah ich sie — das kleine Mädchen. Es war in jenen Tagen, als unsre Familie, in glücklichen Verhältnissen, innig befreundet mit den Servignis war. Damals schlossen unsere Väter jenen Vertrag.«
»Sie sehen, dass die Servignis mindestens Leute von Wort sind«, sagte der Graf. »Wenn der alte Marquis, der nach Ihrem Vater starb, der den Ruin Ihrer Familie nicht aufhalten konnte, dennoch seinen Pakt getreu hielt, so spricht das gewiss für seine Ehrenhaftigkeit. Sie kommen mindestens in eine wahrhaft edle Familie.«
»Ich habe daran nie gezweifelt, aber der Zwang — der Zwang. Wenn ich nun keine Neigung für Jeanne, und sie nicht die geringste für mich empfindet? Ist es da nicht Marter, zwei solcher Wesen aneinander zu fesseln?«
»So sagen Sie kurzweg: nein! Und die Geschichte ist vorüber.«
Robert von Klingen schwieg.
»Hätte ich die geringsten Aussichten, ich zögerte keine Minute, Herr Graf«, sagte er.
»Ihre Aussichten sind die besten. Seitdem Sie in den Staatsdienst getreten sind, kann es Ihnen nicht fehlen. Ihr König, Friedrich der Zweite, weiß talentvolle Leute zu platzieren.«
»Alles ungewiss, alles auf das Gelingen oder Verlieren basiert. Meine Mission, welche mich dem Gesandten Grafen Maltzahn beiordnet, ist eine sehr wichtige; aber noch kann ich sie nicht einmal klar übersehen. Es gehen absonderliche Dinge vor, und der Himmel hat sich mit Wolken bezogen, was werden wir nicht alles erleben!«
Die Unterhaltung schwieg, und die beiden Männer gelangten endlich an das Außentor des Schlosses. Schloss Stolpen, welches sich auf einem Grunde von Basaltfelsen über der Stadt erhebt, war zu jener Zeit sehr einsam. Es enthielt nur eine Besatzung von Invaliden, und selbst die Staatsgefangenen, welche zuweilen hinter den alten Mauern verwahrt wurden, fehlten jetzt. Über dem Eingange schaukelte eine Laterne in rostiger Kette, die eichene Pforte war fest geschlossen.
»Geht, Leute, wir bedürfen Euer nicht mehr«, sagte der Graf, den Hausknechten ein Stück Geld reichend.
Nachdem die Eskorte sie verlassen hatte, zog der Graf die Glocke.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis schlürfende Tritte über den Hof und zum Tore gelangten; dann ward ein Schließbalken fortgezogen, die Pforte öffnete sich, und ein halb militärisch gekleidetes Individuum zeigte sich in der geöffneten Türe.
»Wer da?« fragte der Wächter.
»Mein Freund«, begann der Graf sehr höflich, »ist die Schlossfrau zu sprechen?«
»Wer soll das sein?«
»Ei nun, die hohe vornehme Dame, welche seit beinahe vierzig Jahren dieses Schloss bewohnt.«
»Ihr meint die tolle Gräfin?«
»Ich weiß nicht, Bursche, ob Er berechtigt ist, die Frau Comtesse mit diesem Namen zu belegen«, rief Wackerbarth zornig und in so gebieterischem Tone, dass der Hüter des Tores erschreckt an seine Mütze griff.
»Vorwärts und gemeldet!« kommandierte der Graf weiter. »Sag’ Er, es seien die Herren da, welche der Dame des Schlosses ihre Ankunft aus Halle gemeldet hätten; flink, tummle Er sich! Wir haben keine Lust, hier im Dunkel zu stehen.«
Der mürrische Wächter schien vollkommen von seiner Grobheit kuriert, denn er lud durch eine zuvorkommende Handbewegung die Herren ein, in den Hof zu treten, dann schloss er das Tor.
»Dort, in jenem Turme logiert sie«, sagte er. »Belieben Sie zu warten; ich melde Sie bei dem Kammerdiener.«
Wackerbarth und Klingen blieben im dunklen Hofe.
»Sie sehen«, sagte der Graf, »wie man gefallene Größen behandelt. Jener Schlingel spricht wie von einer Blödsinnigen, wenn er eine Person meint, an deren Augenwinken einst die Geschicke vieler Tausende hingen. Dort – dort.«
Er deutete auf den Turm, hinter dessen schmalen Fenstern Lichtschein sich bewegte. Klingen seufzte, seine Gemütsstimmung harmonierte mit der unheimlichen Umgebung, er fuhr mit der Hand an seine Stirne.
»Mein Freund«, sagte der Graf, »Sie dürfen nicht mehr an Sylvia denken. Dieses reizende Gespenst hat Ihre Sinne gefangen genommen.«
»Oh — zum Teil ja; aber wie sollte ich nicht dürfen? Kann man es mir verargen?«
»Das nicht; allein ich sage Ihnen mit Bestimmtheit, Sie müssen diese kleine Person vergessen. Sie ist Ihnen nicht aufbewahrt.«
»Wie? Man hätte über Sylvia verfügt? Es ist also nicht Zufall, dass sie bei jener Gesellschaft sich befindet?«