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Die politische Zukunft der Welt ist offen. ›Szenario‹: Das Buch der Optionen Die Zukunft erscheint offener, furchteinflößender als vor wenigen Jahren. Wie sie aussieht, hängt nicht nur von Russland und den USA ab, sondern von einer großen Anzahl von Akteuren. Wir bekommen so das Gefühl zurück, dass auch wir eine Rolle in unserer eigenen Zukunft spielen, indem wir uns bewusst machen, was wir tatsächlich wissen, was wir nicht wissen und durch Annahmen ersetzt haben, und vor allem, welche Handlungsoptionen es gibt. Florence Gaub lädt dazu ein, selbst außenpolitische Entscheidungen zu treffen: Anstatt nur Zuschauer mehr oder weniger plausibler Szenarien zu sein, folgt man unterschiedlichen Entscheidungspfaden. Das Buch vermittelt Einblicke in mögliche Entscheidungsprozesse, und ein Gefühl der Selbstbestimmung.
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Seitenzahl: 603
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Zukunft erscheint offener, furchteinflößender als vor wenigen Jahren. Wie sie aussieht, hängt nicht nur von Russland und den USA ab, sondern von einer großen Anzahl von Akteuren.
Florence Gaub lädt dazu ein, selbst außenpolitische Entscheidungen zu treffen: Anstatt nur Zuschauer mehr oder weniger plausibler Szenarien zu sein, folgt man unterschiedlichen Entscheidungspfaden. Das Buch vermittelt Einblicke in mögliche Entscheidungsprozesse und ein Gefühl der Selbstbestimmung.
Wir bekommen so das Gefühl zurück, dass auch wir eine Rolle in unserer eigenen Zukunft spielen, indem wir uns bewusst machen, was wir tatsächlich wissen, was wir nicht wissen und durch Annahmen ersetzt haben, und vor allem, welche Handlungsoptionen es gibt.
Florence Gaub
Die Zukunft steht auf dem Spiel
Pour Maman, qui ne craint ni les décisions difficiles, ni le regard des autres, ni la vie elle-même.
»Nur wer der Gegenwart alles gibt, handelt wahrhaft großzügig gegenüber der Zukunft.«
Albert Camus, »Der Mensch in der Revolte«
»Die Zukunft ist, was wir daraus machen.« Das ist kein Zitat eines Philosophen, Politikers oder Tech-Unternehmers, es sind die Abschlussworte von Doc Brown, einer Figur aus der 1980er-Filmserie »Zurück in die Zukunft«. Die Filme mögen für Kinder ab zwölf gewesen sein, ihre Botschaft bleibt doch bis heute für alle Altersklassen gleich: Die Zukunft ist das Ergebnis von nachvollziehbaren Entwicklungen und Entscheidungen, nicht ein mystisches Zusammenspiel unergründlicher Mechanismen.
Diese Erkenntnis mag heute banal wirken, lange Zeit war man sich nicht so sicher, inwiefern die Zukunft tatsächlich schon feststeht oder von Menschen gemacht wird. Und auch heute begegne ich, gerade in Deutschland, immer wieder Menschen, die sich selbst nicht als Akteure in der Entwicklung der Zukunft sehen, sondern als Zuschauer. Das zeigt sich in Umfragen: 72 Prozent der Deutschen denken, ihr Leben und Erfolg seien allem voran das Ergebnis äußerer Umstände – in den USA denken das gerade mal 36 Prozent.[1] Und nur 25 Prozent der Deutschen glauben, man könne durch Leistung sozial aufsteigen – in Schweden sind das 70 Prozent.[2] Als Deutsche tun wir uns also vielleicht etwas schwerer als andere, die Zukunft als Möglichkeitsraum zu begreifen, neigen eher dazu, die Dinge als bereits entschieden wahrzunehmen.
Auch wenn es um Weltpolitik geht, zeigt sich dieser latente Fatalismus. Seien es die Themen Russland, China, USA, künstliche Intelligenz (KI) oder Klimawandel, das Gefühl der Überforderung ist dem der Resignation gewichen, man könne ja nichts tun, höre ich oft, es sei ja bald vorbei mit der NATO/der Europäischen Union/der westlichen Welt/der Demokratie/der Menschheit. Diese Niedergangsnarrative fühlen sich sehr exklusiv nach heute an, aber sie sind nicht neu, sie tauchen regelmäßig in der Geschichte der Menschheit auf, wenn sie sich überfordert fühlt. Die Details unterscheiden sich – heute geht es um CO2, früher um FCKW, heute um Trump, damals um Abraham Lincoln, heute um KI, einst um die Risiken von Strom –, aber die Haltung ist die gleiche – man könne ja nichts tun, die Zukunft sei schon unterwegs. Die gute Nachricht ist, jemand hat dann doch immer etwas getan, hat das Ozonloch geschlossen, die transatlantischen Beziehungen bewahrt, Technologie reguliert, Kriege verhindert und beendet.
Denn nicht die Defätismusgeschichten schreiben die Zukunft, sondern Entscheidungen und Handlungen, und das auch in der Weltpolitik. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man sich politische Vorhersagen ansieht. Alle paar Jahre werden diese mit viel Pomp veröffentlicht, meist mit reißerischen und angsteinflößenden Titeln wie »Armageddon and The Coming War with Russia« (Jerry Falwell, 1980), »The Coming War with Japan« (George Friedman, 1991), »The Coming Anarchy« (Robert Kaplan, 2000), »Kampf der Kulturen« (Samuel Huntington, 1996) – oder, der erste in der Serie, »Der Untergang des Abendlandes« (Oswald Spengler, 1918). Alle diese Bücher präsentierten die Zukunft mit großer Selbstsicherheit wie ein Land, das der Autor bereist und verstanden habe, man könne beklagen, was da komme, aber vor allem solle man staunen über diese Weitsicht. Die am Ende keine ist: Es kam nicht zum Krieg mit der Sowjetunion und Japan, Afrika zerfleischte sich nicht, und auch wenn Konflikte nach wie vor gang und gäbe sind, so passen sie nicht in das saubere Denkmuster vom Kampf der Kulturen. Die meisten großen Würfe in Sachen Zukunft der Weltpolitik liegen am Ende mehr oder weniger daneben, nur schaut am Ende niemand mehr hin, um es zu prüfen.
Der Grund dafür ist einfach: Die Zukunft ist messy. Sie ist das Ergebnis von Trends, von unverrückbaren physischen Realitäten, von Entscheidungen aberwitzig vieler Akteure, von kleinen und großen Überraschungen, die niemand hat kommen sehen. Und weil alles zusammenhängt in einem großen, komplexen, unüberschaubaren System, kann der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen, ein frustrierter Gemüsehändler in einer tunesischen Kleinstadt den Sturz von fünf arabischen Diktatoren herbeiführen. Zu behaupten, man wisse genau, was da komme, ist so falsch wie die Horoskope der Babylonier.
Der einzige Weg, diese Unordnung greifbarer zu machen, sind Szenarien, das Durchdenken von Handlungsketten und Dominoeffekten in alle Richtungen, von wahrscheinlich bis unwahrscheinlich, von wünschenswert bis katastrophal. Und genau deshalb ist dieses Buch nicht noch ein definitiver Entwurf der Zukunft der Weltpolitik, sondern eine Einladung an den Leser, selbst zu durchdenken, welche Handlungen und Entscheidungen zu welcher Zukunft führen.
Das Konzept beruht auf der Buchserie »Choose your own adventure«, die der amerikanische Anwalt und ehemalige Marineoffizier Edward Packard 1976 mit »The Adventures of You on Sugarcane Island« startete. Im Unterschied zu anderen Geschichten entscheidet jeder Leser darüber, wie es weitergeht: Am Ende jedes Abschnitts muss er wählen, was er als Nächstes tut. (Die Idee dafür kam Packard, weil er seinen drei Kindern ständig neue Gutenachtgeschichten erzählen musste.) Die Bücher wurden ein kommerzieller Erfolg, und unabsichtlich etablierten sie etwas als Unterhaltung, was in der Zukunftsforschung schon seit dem Zweiten Weltkrieg als eine der besten Methoden gilt: das Szenario.
Der Begriff Szenario ist insofern treffend, als er ursprünglich aus der Commedia dell’Arte kommt, dem italienischen Improvisationstheater des etwa 17./18. Jahrhunderts. Das scenario war das Blatt Papier, das auf der Rückseite der Bühne die Grundelemente der Szene auflistete – Auf- und Abtritte, Entwicklungen, Figuren etc. –, damit die Schauspieler in diesem Rahmen improvisieren konnten.
Auch heute ist ein Szenario in der Zukunftsforschung ein Werk der Improvisation, es geht nie darum, alles haargenau zu beschreiben und festzulegen, sondern die großen Linien und Zusammenhänge zu erkennen und mit ihnen zu spielen. In der Zukunftsforschung hat das drei Effekte: Erstens reduziert man die scheinbare Unendlichkeit von Möglichkeiten auf einige wenige, zweitens macht es einem den eigenen Handlungsspielraum bewusst, und drittens schafft man damit eine Erinnerung an die Zukunft – wenn eines der Szenarien eintritt, kann man schneller reagieren, weil man es ja schon kennt. Szenarien, egal wie negativ, führen also am Ende immer zur Bewusstmachung von Selbstwirksamkeit und damit auch zu Optimismus, sie reduzieren Schockmomente, und sie geben ein Gefühl der Kontrolle.
Auf den folgenden Seiten entscheiden Sie über die Zukunft. Sie operieren nicht im luftleeren Raum, Sie sind nicht in einer Science-Fiction-Serie, Realitäten aller Art werden Ihren Spielraum einschränken, angefangen von wissenschaftlichen Erkenntnissen bis hin zu den Handlungen anderer Akteure, die Sie nicht kontrollieren und auch nicht beeinflussen.
Die Vorarbeit habe ich geleistet: recherchiert, was bis 2033 als gesichert gilt, die großen Trends, die den Rahmen unserer Zukunft vorgeben, und mit Quellen versehen. Darin eingebettet sind die ebenso großen Ungewissheiten, gute wie schlechte, und die gilt es auszuloten. Sie sind weder Wonder Woman noch Superman, sondern ein normaler Mensch, aber als solcher sind Sie doch mit einer Superkraft auf die Welt gekommen: der, nach vorne zu denken, sich die Zukunft vorzustellen – und sie zu gestalten.
Vieles in diesem Buch ist von Ereignissen inspiriert, die ich selbst oder Freunde und Bekannte erlebt haben. Vieles, was noch nicht passiert ist, ist recherchiert und durch Studien belegt als entweder wahrscheinlich oder doch sehr möglich – in diesen Fällen habe ich die Quellen angegeben. Und das ein oder andere ist Fiktion – vor allem Personen. Sie sind (fast alle) frei erfunden, außer natürlich, es handelt sich um Personen des öffentlichen Lebens.
Ihr Auftrag, sollten Sie ihn annehmen, ist, die Zukunft durch Ihre Entscheidungen zu gestalten. Mit welcher laufen Sie 2033 über die Ziellinie?
Sie sitzen in der zweiten Reihe der Weltpolitik, Sie entscheiden nicht selbst, sondern empfehlen. Sie haben keine Exekutivgewalt, keine Truppen, keine Satellitenflotten. Was Ihnen zur Verfügung steht, sind Muster, Daten, Erfahrung – und ein Gefühl für Dynamik. Sie erkennen Zusammenhänge, bevor sie offizielle Bezeichnungen bekommen, Sie stellen Fragen, die sonst keiner stellt, Sie hinterfragen Allgemeinplätze und Annahmen, Sie erklären Sachverhalte sowohl Politikern als auch der Öffentlichkeit. Ihr Werkzeug ist das Szenario, Ihr Hebel die Frage: Was wäre, wenn? Sie graben nach tieferen Ursachen, statt nur die Schlagzeile von gestern zu analysieren. Ihre größte Herausforderung? Nicht, die Zukunft vorherzusagen. Sondern sie so zu rahmen, dass andere sich darin zurechtfinden. Und dann entscheiden – bevor es zu spät ist.
Sie arbeiten nicht für eine Nation, sondern für die Zukunft an sich. Sie sind am Zug.
Auf dem Weg zur Arbeit sitzen Sie in der Brüsseler U-Bahn und lesen auf Ihrem Handy die Nachrichten. Die russischen Präsidentschaftswahlen vom Sonntag werden erwähnt – Wladimir Putin, 77, wurde gerade bis 2036 wiedergewählt –, aber die Nachrichten werden dominiert von der chinesischen Mondlandung, die unmittelbar bevorsteht. Es besteht Sorge, dass Peking unnötige Risiken eingeht, um vor der amerikanischen Mission, geplant für August 2030, den Trabanten zu erreichen. Der Start der chinesischen Rakete wurde bereits zwei Mal verschoben, doch nächste Woche soll es so weit sein. Die Zeitungen übertreffen sich mit Analogien zu den 1960er Jahren, schreiben vom zweiten Space Race, dem Wettlauf ins All, und wer die schnittigeren Astroanzüge hat. US-Präsident Andy Beshear, ein Demokrat aus Kentucky, gerade über ein Jahr im Amt, besucht heute das Kennedy Space Center in Florida, vermutlich um der amerikanischen Crew Unterstützung zu signalisieren, als die ganze Welt zum Kosmodrom Wenchang in der Provinz Hainan schaut.[1] Außerdem wird von kleineren Scharmützeln an der Waffenstillstandslinie in der Ukraine berichtet, aber es ist nichts Ernsthaftes.
Als Sie sich durch die Menschenmenge den Weg nach oben bahnen, klingelt Ihr Telefon, es ist eine norwegische Nummer, ein netter Kollege, Erik Solberg, der im NATO Joint Warfare Centre in Stavanger stationiert ist, einem Trainingszentrum, keinem operationellen Hauptquartier. »Hast du schon gehört? Ein Forschungsschiff der Norweger hatte eine Havarie, die RV Framtid. Östlich von Spitzbergen, Richtung Franz-Josef-Land, sehr nah an russischen Hoheitsgewässern.« Spitzbergen ist eine Sammlung von 400 Inseln in der Arktis, demilitarisiert seit einem Vertrag von 1920, gehört zu Norwegen, aber genutzt wird es für Forschungszwecke von vielen Staaten, auch von Deutschland, China und ab und zu von Russland.
»Ist das Schiff untergegangen? Was ist mit der Besatzung?«, fragen Sie.
»Es hat starke Schlagseite, steht kurz vor dem Kentern, aber die Besatzung konnte sich retten, etwa 50 Personen.«
»Gibt es Bildmaterial?«
»Kaum was, du weißt ja, wie blind wir im Norden sind. Ich schicke, was wir haben, auf dem sicheren Netzwerk.«
»Was sind die Theorien bisher?«, fragen Sie.
Er seufzt. »Von Angriff durch Drohne bis Cybermanipulation der Bordcomputer oder Unterwasserdrohne und sogar Torpedo habe ich alles gehört. Alles, was wir wissen, ist, dass die Framtid aus irgendeinem Grund nicht mehr unter Kontrolle ist und sich zur Seite geneigt hat. Sieht nicht nach kriegerischem Akt aus, aber komisch.«
Spitzbergen ist schon länger Bestandteil Ihrer geopolitischen Szenarien – während andere auf das Baltikum, auf Grönland und Kaliningrad konzentriert waren, vermuteten Sie, dass die Arktis für Russland sowohl strategisch als auch operationell wichtiger ist und noch wichtiger werden würde. Das Schmelzen der Polkappen durch den Klimawandel hatte gleich mehrere Konsequenzen für Russland: Einerseits fühlte es sich im Norden nicht mehr so sicher wie zuvor, als es durch dicke Eisschichten geschützt war. 2020 schon hatte es daher strenge Regeln eingeführt, die die Nordische Seeroute für nicht russische Schiffe schwerer zugänglich machten.[2] Andererseits ging es auch um Geld: Ab 2050 erwarten russische Prognosen in der Arktis eine Ölproduktion, die mit der des Persischen Golfs mithalten kann. Und der Welthandel, gerade der von und nach China und Europa, würde sich vom Suezkanal weg verlegen, weil die Fahrtzeit über den Norden zehn Tage kürzer ist.[3] Allein in den letzten fünf Jahren hatte sich die Route durch ansteigende Temperaturen entscheidend verbreitert, die Frachtschifffahrt hatte sich von nur 34 Millionen auf 150 Millionen Tonnen jährlich fast verfünffacht.[4] Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Route komplett eisfrei und das ganze Jahr befahrbar ist. Für Russland ist die Region also von hoher strategischer Bedeutung.
Zehn Minuten später, Sie sitzen mittlerweile an Ihrem Schreibtisch, flimmern unscharfe Satellitenaufnahmen über Ihren Bildschirm: ein norwegisches Schiff, zerschrammter Bug, in seichtem Eiswasser. Es sind die Aufnahmen eines Satelliten, der nicht für nachrichtendienstliche oder militärische Zwecke gedacht ist. Zu wenig, um genau schließen zu können, was hier passiert ist.
Technische Tatortbegehung ist dabei genauso knifflig wie die im echten Leben. Natürlich kann man maritime Sonardaten, seismische Wellen, Satellitenbilder und militärische Bewegungsprofile zu einer rekonstruierten Sequenz zusammenfügen, aber selbst dann ist die Qualität nicht immer gut genug, es bleiben große Lücken und viel Interpretationsspielraum. Das machen aber ohnehin nicht Sie, sondern die Kollegen aus dem Nachrichtendienst. Und, das wissen Sie schon jetzt, die Lage ist dünn, keiner der westlichen Alliierten hat im hohen Norden ein dichtes Informationsnetz. Es wird auch dann nicht einwandfrei zu klären sein, was die Ursache dieser Schiffshavarie war, dessen sind Sie sich jetzt schon sicher.
Der Zwischenfall passiert natürlich nicht im luftleeren Raum: Seit dem kalten Kriegsende in der Ukraine ist die Spannung groß, die russische Aufrüstung sorgt schon seit Jahren für Unkenrufe, der nächste Krieg sei nur eine Frage der Zeit. Dabei ist der Krieg nicht »zu Ende«. Es gab zwar immer wieder Anläufe zu einem umfassenden Friedensvertrag, doch die sind gescheitert. Stattdessen haben sich beide Seiten in einem sehr langen Waffenstillstand mit gelegentlichen Scharmützeln eingerichtet. In der internationalen Politik ist das nicht unüblich, viele Staaten leben über lange Zeit in einem solchen Zustand, Nord- und Südkorea, die beiden Teile Zyperns, Armenien und Aserbaidschan, Israel und Syrien sind nur ein paar Beispiele. Aber ein offizieller Frieden gibt natürlich ein größeres Gefühl der Sicherheit. Die Stabilität hat Russland erlaubt, seine Truppenzahl in der Ukraine auf 80000 zu reduzieren – weniger als die Hälfte der Truppen zur Hochzeit des Krieges, aber doch genug, um die Stellung zu halten.[5]
Die Mehrheit der Kommentatoren hat sich seither auf das Baltikum als nächstes Opfer Russlands festgelegt, aber Sie sind sich sicher, dass es, wenn überhaupt, woanders kracht – und auch nicht so, wie es gemeinhin angenommen wird, nicht mit Panzern, sondern mit Schiffen, U-Booten und vielleicht auch Satelliten. Sie beobachten schon länger, wie die russische Nordflotte in den Militärdistrikt Leningrad integriert wurde, der an die NATO-Nordflanke grenzt, und im Europäischen Nordmeer ordentlich aufgerüstet hat. Russlands Atom-U-Boote sind vor allem dort unterwegs, sie können 9000 Kilometer entfernte Ziele in Westeuropa mit Raketen beschießen.[6] Aber die Modernisierung und Aufrüstung der Marine soll erst 2035 abgeschlossen sein, eigentlich ist Russland noch nicht kriegsbereit im Norden.[7]
Ist die Havarie vor Spitzbergen der Anfang eines Konfliktes mit Russland – oder tatsächlich nur ein Unfall? Alles, was Sie wissen, ist, dass ein norwegisches Schiff sehr nah an Russland starke Schlagseite hat – aber nicht, warum.
Sie reisen nach Moskau zum Moscow Security Forum. Hier können Sie sich mit Denkfabriken, Akademikern und ehemaligen Militärs treffen und austauschen. Ziel: atmosphärische Verdichtung, Gesprächssignale erkennen, Denkrahmen verstehen – jenseits offizieller Narrative.
Risiko: Der Besuch wird registriert – und könnte instrumentalisiert werden. Medien oder politische Kreise könnten Ihre Reise als »Anbiederung« auslegen.
Weiter zu Abschnitt 2 // Zwischen den Linien // Seite 17
Sie entscheiden sich für eine kurze Reise nach Norwegen, genauer gesagt nach Tromsø im Norden Norwegens. Ziel: Gespräch mit Küstenwache, Forschungseinrichtungen, lokalen Behörden. Sie wollen verstehen, wie das Ereignis dort eingeordnet wird – jenseits der diplomatischen Kanäle. Auch die Atmosphäre interessiert Sie: Wird das Thema verdrängt oder diskutiert?
Risiko: Sie könnten als ungebetener Gast empfunden werden. Vertrauen könnte geschwächt statt gestärkt werden.
Weiter zu Abschnitt 3 // Echoraum im Eis // Seite 22
China ist auf Spitzbergen mit einer Forschungsstation präsent und der große Unbekannte in der Gleichung. Ein diskreter Kontakt zu chinesischen Wissenschaftlern könnte neue Perspektiven eröffnen.
Risiko: Dreierkonflikt statt bilateraler Spannung. Die Lage könnte noch komplizierter werden.
Weiter zu Abschnitt 4 // Der Drache blickt nach Norden // Seite 28
30 Grad, Moskau ächzt unter einer Hitzewelle. Sie spüren am eigenen Leib, dass Russland sich doppelt so schnell erwärmt wie der Rest der Welt.[1] Die Straßen Moskaus sind menschenleer, fast ganz Russland sitzt vor den Fernsehern und schaut das WM-Achtelfinale zwischen Russland und Argentinien. Im Café Pushkin herrscht gedämpfte Atmosphäre. Sie sitzen am Fenster und essen Blinis mit Sauerrahm, aber ohne Kaviar, der ist immer schwerer zu bekommen, die Störe leiden unter den steigenden Meerestemperaturen. Ihr Gesprächspartner, Dr. Alexei Wolkow, war einmal Ihr Pendant in Sankt Petersburg, bevor die akademischen Kooperationen 2022 eingefroren wurden. Heute arbeitet er für das Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen IMEMO, eine der wenigen russischen Denkfabriken, die noch internationale Kontakte pflegen.
»Na, wo warst du, als die Chinesen auf dem Mond gelandet sind?«, fragt Wolkow auf Englisch zur Begrüßung, während er den Eistee umrührt und gleichzeitig das Spiel auf seinem Handy verfolgt.
»Daheim. Nichts Besonderes. Du?«
»Ich war in die chinesische Botschaft eingeladen zu einem Public Viewing.« Ein Aufschrei aus dem Café, Russland führt 1:0. Sie sprechen zunächst über Persönliches, über Familie, frühere gemeinsame Projekte. »Übrigens, gratuliere zum WM-Verlauf.«
Wolkow grinst. »Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet der Fußball unsere Moral rettet, während die Wirtschaft …« Er macht eine wegwerfende Handbewegung.
Erst nach 20 Minuten tasten Sie sich vor. »Alexei, wie wird hier über die Arktis gesprochen? Offiziell, aber auch … wie soll ich sagen … in den Kaffeepausen?«
Wolkow wird ernst und senkt die Stimme, obwohl alle anderen dem Spiel folgen. »Weißt du, in Moskau gibt es nicht nur eine Arktis. Da ist die offizielle Arktis – russisches Territorium, reiche Ressourcen, strategische Hoheit. Dann gibt es die militärische Arktis – Frühwarnsysteme, Seehandelswege, nukleare Sicherheit. Und dann …« Er pausiert, als Russland einen Eckball ausführt. »Dann gibt es die stille Arktis. Die, über die nicht gesprochen wird, weil sie Fragen aufwirft, die niemand beantworten möchte.«
Sie verstehen nur, dass Sie etwas nicht verstehen. »Hat das mit den Präsidentschaftswahlen zu tun? Mit Putins neuer Amtszeit?«
»Teilweise. Aber es ist komplizierter.« Wolkow schaut wieder zum Bildschirm, wo gerade Halbzeit ist. »Putin ist 77. Er denkt in historischen Dimensionen. Die Arktis ist für ihn das letzte große Spiel.«
Russland hat 2:1 gewonnen, die ganze Stadt feiert. Die Hotelbar ist voller als erwartet, Konferenzbesucher und Geschäftsleute stoßen mit Wodka auf den Sieg an. In dieser euphorischen Atmosphäre treffen Sie Admiral a.D. Sergej Morosow, ehemals Kommandeur der Nordflotte. Wolkow hat das Treffen arrangiert, »zufällige« Begegnung am Rande der Konferenz. Auch Prof. Dimitri Orlow vom Institut für USA- und Kanada-Studien ist dabei, anscheinend ein alter Bekannter Morosows.
Morosow ist ein Mann Ende sechzig, mit der Autorität von vier Jahrzehnten Marinedienst. »Großartiges Spiel heute«, beginnt er und Sie nicken zustimmend. Dann kommt er zur Sache. »Sie wollen verstehen, was mit der Framtid passiert ist? Die Wahrheit ist: Auch wir verstehen es nicht vollständig.« Er bestellt einen Wodka, signalisiert dem Barkeeper, drei Gläser zu bringen. »Unsere Nordflotte führt routinemäßige Operationen durch, Tests, Aufklärung, Präsenz zeigen. Aber die Details? Die kennen nur sehr wenige Menschen. Und diese Menschen sprechen nicht mit pensionierten Admirälen.«
»Aber Sie haben doch Kontakte …«
Orlow nickt nachdenklich. »Das Problem ist die Fragmentierung der Entscheidungswege. Früher gab es klare Ketten – Politbüro, Generalstab, operative Ebene. Heute entscheiden verschiedene Machtzentren parallel: der Sicherheitsrat, das Verteidigungsministerium, die Geheimdienste, manchmal sogar regionale Militärbezirke. Was als koordinierte Strategie aussieht, kann das Ergebnis unabgestimmter Initiativen sein.«
»Könnte es auch einfach nur ein Unfall sein?«, fragen Sie.
»Na klar, könnte es«, antwortet Morosow. »Es könnte auch ein absichtliches Verjagen eines NATO-Schiffes aus russischen Hoheitsgewässern sein.«
Sie protestieren. »Die Framtid ist kein NATO-Schiff. Es ist ein Forschungsschiff.«
Er sieht Sie schmunzelnd an. »Ach ja? Und seit wann ist Forschung nicht politisch? Soweit ich weiß, interessiert sich diese Besatzung sehr für den Meeresboden, vielleicht zu sehr! Und die Norweger sind spätestens seit der Spezialoperation in der Ukraine nicht unsere Freunde.«
»Dass Russland und China Forschungsschiffe nutzen, heißt noch nicht, dass wir das Gleiche tun.«[1] Wolkow grinst nur. »Und was denken Sie über westliche Reaktionen?«
Morosow lacht trocken. »Ihr reagiert immer gleich: erst Schweigen, dann Empörung, dann Sanktionen, dann Gespräche. Es ist vorhersagbar wie ein Uhrwerk. Aber diesmal …« Er zögert. »Diesmal ist das Schweigen länger. Das macht einige hier nervös.«
»Warum nervös?«
»Weil Schweigen zwei Dinge bedeuten kann«, antwortet Orlow, während im Hintergrund russische Fans die Nationalhymne anstimmen. »Entweder ihr versteht nicht, was passiert ist. Oder ihr versteht es zu gut – und bereitet etwas vor.«
Der Park ist voller Familien, die den warmen Morgen nach dem gestrigen WM-Triumph genießen. Wolkow begleitet Sie, hier, zwischen Bäumen und weit entfernt von möglichen Zuhörern, wird er offener.
»Weißt du, was gestern das Schönste war?«, sagt er und deutet auf eine Gruppe spielender Kinder. »Für zwei Stunden haben alle vergessen, dass wir angeblich in einem Kalten Krieg sind. Russische und ausländische Fans haben zusammen gefeiert.« Dann wird er ernster. »Du musst verstehen: Russland führt keinen Krieg gegen den Westen. Russland baut sich als Weltmacht auf. Ihr müsst aufhören, uns als Ost-West-Macht zu begreifen. Wir sind eine Nord-Süd-Macht.« Er bleibt stehen und sieht Sie an. »Spitzbergen war vielleicht nie geplant als … wie sagt ihr … Casus Belli. Es war vielleicht nur ein Test der Reaktionsgeschwindigkeit. Oder ein Versehen, das nachträglich rationalisiert wurde. Oder …« Er zuckt mit den Schultern. »Oder etwas ganz anderes.«
»Die Chinesen haben übrigens auch Fragen«, erwähnen Sie beiläufig.
Wolkow bleibt abrupt stehen. »Was für Fragen?«
»Ob ihre Investitionen in die arktische Infrastruktur sicher sind, wenn Russland anfängt, Forschungsschiffe zu rammen.«
Wolkow ist überrascht. »Die Chinesen haben sich bei euch beschwert?«
»Sagen wir … sie haben Bedenken geäußert.« Sie bluffen, Sie hatten bisher keinen Kontakt zu chinesischen Quellen. Schweigen. »Was würde passieren, wenn der Westen stark reagieren würde?«, fragen Sie.
Wolkow denkt lange nach, während sie an einem Spielplatz vorbeigehen, Kinder skandieren »WM-Champions«. »Das kommt darauf an, wie stark ›stark‹ ist. Wirtschaftssanktionen? Haben wir überlebt. Militärische Präsenz? Würde eskalieren, aber kontrolliert. Aber wenn ihr … wenn ihr direkt unsere arktischen Operationen herausfordern würdet …« Er schüttelt den Kopf. »Das wäre unpopulär hier. Sehr unpopulär. Auch bei Leuten, die sonst gegen den Kurs sind. Die Arktis ist russisches Herzland.« Er bleibt wieder stehen. »Aber wenn China auch Druck macht … das wäre eine andere Situation.«
Sie fahren nach Berlin und nutzen Deutschlands Ruf als vermittelnde Macht. Mit den russischen und chinesischen Erkenntnissen könnten Sie die deutsche Regierung überzeugen, eine Deeskalationsinitiative zu starten. Deutschland hat wirtschaftliche Interessen sowohl in Russland als auch in China.
Risiko: Deutsche Politik kann langsam sein, und Berlin könnte zu vorsichtig für entscheidende Schritte sein.
Weiter zu Abschnitt 5 // Deutsche Vermittlung // Seite 34
Sie reisen nach Warschau mit dem Argument, dass Polen und die baltischen Staaten die russische Mentalität besser verstehen als Westeuropa. Ihre Moskauer Erkenntnisse könnten helfen, eine realistische Ostpolitik zu entwickeln, die hart, aber nicht konfrontativ ist.
Risiko: Polen könnte auf militärische statt auf diplomatische Lösungen setzen und eine Deeskalation erschweren.
Weiter zu Abschnitt 6 // Osteuropäische Klarheit // Seite 39
Sie fahren nach Paris und appellieren an Frankreichs Selbstverständnis als unabhängige Großmacht. Macrons Nachfolger Gabriel Attal könnte interessiert sein, Europa als dritten Pol zwischen USA/China und Russland zu positionieren – mit einer eigenständigen Arktisdiplomatie.
Risiko: Französische Alleingänge könnten die NATO-Einheit schwächen und die Amerikaner verärgern.
Weiter zu Abschnitt 7 // Französische Autonomie // Seite 43
Der Flug von Brüssel nach Tromsø führt Sie über eine Landschaft aus Grün und Blau, unterbrochen von schroffen Bergen und noch teilweise zugefrorenen Fjorden. Selbst im Juni liegt hier in den Bergen noch Schnee, aber deutlich weniger als früher. Nachrichten flimmern über die Bordmonitore: China feiert den zweiten Monat seiner erfolgreichen Mondmission, die erste bemannte Landung seit Apollo 17. Die Bilder der chinesischen Flagge auf dem Mond fühlen sich historisch an. Trotzdem glauben mal wieder so manche Verschwörungstheoretiker, es sei alles nur gestellt.
Die Stadt Tromsø liegt wie ein kleiner Lichtpunkt in der arktischen Weite – fast 80000 Einwohner am Ende der Welt, die sich selbst als »Tor zur Arktis« verstehen. Beim Aussteigen überrascht Sie die milde Luft – zwölf Grad Mitte Juni, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Ein Mitpassagier sagt zu seiner Frau: »Früher hatten wir im Juni noch acht Grad.« Die Sonne steht hoch am Himmel, im Juni geht sie gar nicht unter.
Am Flughafen wartet niemand auf Sie, aber das war auch nicht zu erwarten. Ihre Anfragen an die norwegischen Behörden wurden höflich, aber kühl beantwortet: Man stehe »grundsätzlich für wissenschaftlichen Austausch zur Verfügung«, Details müssten »bilateral geklärt werden«.
Ihr Hotel liegt direkt am Wasser, moderne Glasfassade, Blick auf den Hafen. Die Lobby ist voller WM-Atmosphäre – überall laufen die Bildschirme mit den heutigen Spielen: Bei Brasilien gegen Südkorea steht es 2:0. Beim Abendessen in der Hotelbar kommen Sie mit dem Barkeeper ins Gespräch – einem jungen Mann namens Jonas, der Meeresbiologie studiert hat, bevor er »der Liebe wegen« nach Tromsø gezogen ist. »Sie sind wegen der Framtid hier, nicht wahr?«, fragt er, während er Ihnen ein Bier einschenkt und dabei das Spiel im Auge behält. Die Direktheit überrascht Sie. »Man spricht nicht viel darüber«, fährt er fort, »aber alle wissen es. In einer Stadt wie Tromsø bleibt nichts geheim. Die Besatzung war drei Tage hier, bevor sie nach Oslo geflogen wurden. Haben im Scandic übernachtet.« Jonas senkt die Stimme und ignoriert einen Torschrei aus dem Fernseher. »Mein Onkel arbeitet bei der Küstenwache. Er war einer der Ersten vor Ort.« Er schaut sich um, obwohl die Bar fast leer ist – alle anderen starren auf den Fernseher. »Es kursieren Gerüchte … die Ausrüstung an Bord war nicht nur für Meeresforschung. Sonar-Equipment, das verdammt militärisch aussah. Und die Besatzung? Die Hälfte waren keine Wissenschaftler.«
»Was meinen Sie damit?«
»Marinetechniker. Kommunikationsspezialisten. Leute, die normalerweise nicht auf Forschungsschiffen arbeiten.« Er wischt das bereits saubere Glas noch einmal ab. »Und dann diese seltsame Geschichte mit den Computerausfällen, kurz bevor es passierte. Als hätte jemand das Schiff blind gemacht.« Sie merken sich das letzte Detail, den Rest verwerfen Sie als Tratsch. Die nachrichtendienstliche Analyse hat wie erwartet nichts ergeben: Man konnte das Objekt nicht fassen, das das Schiff gerammt hat.
Das UNIS-Gebäude ist ein moderner Komplex aus Glas und Holz. Dr. Ingrid Haugen, Leiterin der Abteilung für Meeresforschung, empfängt Sie in ihrem Büro. Trotz der freundlichen Begrüßung spüren Sie sofort: Sie ist vorsichtig. An der Wand läuft stumm ein kleiner Fernseher mit WM-Highlights. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagt sie und schenkt Kaffee ein, »wir schätzen internationale Kooperation. Aber die letzten Wochen waren … schwierig.« Sie zeigt Ihnen eine Karte der Region um Spitzbergen. »Unsere Kollegen auf der Framtid führten angeblich Routinemessungen durch – Ozeantemperatur, Planktonverteilung, Eisdicke.«
»Angeblich?«
Dr. Haugen zögert. »Schauen Sie, ich will nichts Falsches sagen. Aber das Schiff hatte Equipment an Bord, das ungewöhnlich war für eine reine Forschungsmission.« Sie wird leiser. »Unterwasserkommunikationssysteme, High-End-Sonar, Sensoren für … nennen wir es mal ›maritime Anomalien‹.« Sie deutet auf ihren Computer. »Seit dem Vorfall antworten unsere russischen Kollegen nicht mehr auf E-Mails. Die Kooperation, die wir seit Jahren aufgebaut hatten – weg. Über Nacht.«
In einem kleinen Café treffen Sie den pensionierten Kapitän Lars Andersen, der früher bei der norwegischen Küstenwache war. Jonas, der Barkeeper, hat das Treffen vermittelt. Andersen ist Mitte sechzig, graue Haare, wettergegerbte Hände. Er kennt die arktischen Gewässer seit vier Jahrzehnten. Im Hintergrund läuft Japan gegen Mexiko – alle im Café schauen hin und wieder auf den Bildschirm.
»Wissen Sie, was mich am meisten stört?«, sagt er, nachdem er seinen Kaffee umgerührt hat. »Dass alle tun, als wäre das etwas Neues.« Er lacht bitter. »Die Spannungen mit Russland eskalieren seit zwei Jahren. Nicht erst seit Spitzbergen.«
»Wie meinen Sie das?«
Andersen wird ernst. »Russische U-Boote in unseren Gewässern, früher einmal im Monat, jetzt fast wöchentlich. Ihre Aufklärungsflugzeuge testen unsere Luftabwehr konstant. Und wir?« Er macht eine Pause. »Wir rüsten auch auf. Die Framtid war nicht das erste Schiff mit … erweiterten Fähigkeiten.« Er beugt sich vor. »Die offizielle Version – Forschungsschiff wird gerammt – ist Bullshit. Das war ein Aufklärungsschiff, getarnt als Wissenschaft. Und die Russen wussten das.«
»Woher?«
»Weil sie dasselbe machen. Russische ›Forschungsschiffe‹ kartografieren unsere Unterwasserkabel seit Jahren. Es ist ein stiller Krieg, und alle tun so, als wäre es Wissenschaft.« Ihnen gefällt nicht, wie Wissenschaftler als Spione abgestempelt werden. Sie zweifeln nicht daran, dass Russland Wissenschaft in der Arktis als Spionage empfindet – aber daraus gleich eine Undercoveraktion zu machen, daran glauben Sie nicht.
Am Hafen begegnen Sie Feldwebel Olav Eriksen von der norwegischen Marineinfanterie, der gerade Feierabend hat und ein WM-Spiel auf seinem Handy verfolgt. Er ist Ende zwanzig, wirkt müde.
»Sie fragen wegen des Schiffs?« Er schaut sich um. »Offiziell darf ich nichts sagen. Inoffiziell … die Lage hier ist angespannter, als die Medien berichten.«
»Wie angespannt?«
»Wir sind seit drei Monaten in erhöhter Bereitschaft. Nicht wegen eines Unfalls – wegen systematischer Provokationen.« Eriksen zeigt auf den Horizont. »Sehen Sie die neuen Radaranlagen dort drüben? Die standen vor einem Jahr noch nicht da. Und unsere Patrouillen? Doppelt so häufig wie früher.« Er wird direkter: »Die Russen testen uns seit Monaten. Luftraumverletzungen, U-Boot-Sichtungen, Cyberangriffe auf unsere Kommunikation. Spitzbergen war nur der erste Vorfall, der öffentlich wurde.«
»Und Ihre Regierung weiß das?«
»Natürlich. Aber sagen können sie es nicht. Wer will schon zugeben, dass wir praktisch im Kalten Krieg sind, während alle anderen WM schauen?«
Am nächsten Morgen denken Sie nach über die verstörenden 48 Stunden. Vier Erkenntnisse stechen hervor:
Verdeckte Operationen: Die RV Framtid war vielleicht kein reines Forschungsschiff, sondern Teil eines Aufklärungsprogramms.
Systematische Eskalation: Der Vorfall war nicht isoliert, sondern Teil einer monatelangen Eskalationsspirale.
Stille Mobilisierung: Norwegen ist praktisch in Kriegsbereitschaft, ohne dass die Öffentlichkeit davon weiß.
Mediale Verschleierung: Die wahre Dimension der Krise wird bewusst vertuscht, um Panik zu vermeiden.
Sie fahren zum NATO Joint Warfare Centre in Stavanger, wo Ihr norwegischer Kollege arbeitet. Ziel: die militärische Dimension der arktischen Spannungen verstehen. Wie bereitet sich die NATO auf Konflikte in der Region vor? Welche Szenarien werden trainiert? Was bedeutet der Spitzbergenzwischenfall aus militärstrategischer Sicht?
Risiko: Da das Centre ein Trainingszentrum ist und kein strategisches Hauptquartier, kann es sein, dass die Reise umsonst ist.
Weiter zu Abschnitt 8 // Kriegsspiele im Norden // Seite 48
Sie reisen nach London und bitten um ein vertrauliches Gespräch mit MI6-Analysten sowie Vertretern aus dem Außen- und Verteidigungsministerium.
Risiko: Sie werden zum »Geheimdienst-Asset« – Ihre Unabhängigkeit als Analyst wird kompromittiert. Andere Länder könnten Ihnen misstrauen.
Weiter zu Abschnitt 9 // Hinter verschlossenen Türen // Seite 53
Sie mobilisieren die deutschen und internationalen Medien durch Artikel und Interviews.
Risiko: Sie werden als »Alarmist« abgestempelt. Ihre Warnung könnte als selbsterfüllende Prophezeiung wirken und Spannungen verschärfen.
Weiter zu Abschnitt 10 // Kassandra der Arktis // Seite 57
Die Landung in Peking erfolgt inmitten des WM-Fiebers – überall in der Ankunftshalle laufen Bildschirme mit Spielzusammenfassungen. Auch wenn China sich mal wieder nicht qualifiziert hat, ist das Land doch komplett vom Fußballfieber ergriffen. Das Taxi bringt Sie durch die nächtlichen Straßen Pekings, vorbei an Hochhäusern, deren LED-Fassaden Chinas erfolgreiche Mondlandung vor zwei Monaten feiern. Zwischen den Fußball-Jubel-Nachrichten laufen Meldungen wie: »Mondstation Chang’e-7 macht Fortschritte«, »Arktische Forschungskooperation mit Russland vertieft«, »Neue Polar-Seidenstraße nimmt Gestalt an«.
Sie treffen sich mit Dr. Li Wei-ming vom China Institute of International Studies, Sie kennen sich noch aus einer Zeit, als Beziehungen zwischen Europa und China vor allem wirtschaftlich waren. Sie machen sich keine Illusionen über die akademische Freiheit Lis, alle Angestellten des Institutes arbeiten für das Außenministerium. Er ist Ende vierzig, Harvard-Absolvent, aber seit zehn Jahren zurück in China und einer der führenden Strategen für Chinas Arktispolitik. »Gratulation zur Mondlandung«, beginnen Sie höflich. Li lächelt.
»Der Westen versteht nicht, dass China sowohl auf der Erde als auch im Weltraum Frieden will. Aber Frieden muss auf Respekt basieren.« Er wird direkter: »Der Spitzbergenzwischenfall zeigt das Problem mit westlicher Heuchelei. Ihr nennt es ›Forschungsschiff‹, aber jeder weiß, dass es Spionage war.«
»Spionage?«
»Bitte.« Li wirkt fast beleidigt. »Ein norwegisches Schiff kartiert systematisch russische Unterwasseranlagen? Das ist Aufklärung, keine Wissenschaft. Russland hat sich nur verteidigt.«
Sie gehen nicht auf die Provokation ein. »Sorgt es China nicht, dass Russland die Arktis militarisiert? Schließlich sind fast alle seine Atom-U-Boote dort unterwegs. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich glaube, der nächste Krieg wird wenn, dann maritim.«
Li lächelt undurchsichtig. »Niemand weiß das besser als China. Wir haben schließlich die größte Marine der Welt, und niemand kann so schnell neue Schiffe bauen wie wir.«[1]
Sie fragen sich, ob es der richtige Moment ist, Taiwan anzusprechen. »Und jetzt fehlt nur noch der Tiefseehafen Kaohsiung in Taiwan?«[2] Li lacht. »Es ist kein Geheimnis, dass Sie von dort aus den Pazifik mit Ihren U-Booten viel leichter kontrollieren könnten als von Hainan aus.«
Er zuckt mit den Schultern. »Bei Taiwan geht es um mehr als um U-Boote.«
Im modernen Glasgebäude des Instituts führt Li Sie zu einem sicheren Besprechungsraum. Er bleibt freundlich, aber ist sehr direkt. »Sehen Sie diese Karten«, sagt er und zeigt eine Präsentation der arktischen Region. »Russland ist hier umzingelt von NATO-Staaten.«
»Ich glaube nicht, dass man das als umzingeln bezeichnen kann. Norwegen, Dänemark, Kanada und die USA sind eben auch arktische Anrainer.«
»Mag sein, aber das macht vier NATO-Staaten gegen Russland. Und die Arktis gehört zu 53 Prozent zu Russland. Sie haben jedes Recht, dort zu operieren.«
»Aber das leugnet doch niemand. Was wir nicht wollen, ist militärische Eskalation, und genau das passiert gerade.«
Li schüttelt den Kopf. »Amerikanische U-Boote patrouillieren vor der russischen Küste. Und dann wundert ihr euch, wenn Russland reagiert?« Er zeigt Satellitenbilder von westlichen Militäranlagen. »Norwegen, ein ›neutrales‹ Land, beherbergt amerikanische Radarstationen 400 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das ist Provokation, nicht Verteidigung.«[1]
»Sie können uns doch Aufklärung im eigenen Territorium nicht verbieten, das machen alle. Aber Wehrübungen, wie China sie jüngst mit Russland in der Nähe von Finnland gemacht hat, das sendet ein aggressives Signal in unsere Richtung.«[2]
Li wird emotionaler: »China investiert in friedliche Entwicklung der Arktis. Handelswege, Energiekooperation, wissenschaftliche Forschung. Aber der Westen überreagiert ständig.«[3]
In einem traditionellen Hutong-Restaurant, versteckt in den alten Gassen Pekings, wird Li persönlicher. »Wissen Sie, was das wirkliche Problem ist?«, sagt er bei Pekingente und nach dem dritten Glas Baijiu. »Amerika behandelt die ganze Welt wie seinen Hinterhof.«
Er zeigt Fotos auf seinem Handy – chinesische Investitionen in der Arktis. »Wir bauen Häfen, Straßen, bringen Wohlstand. Amerika bringt Raketen und Kriegsschiffe.« Seine Stimme wird härter. »Ihr Europäer seid Amerikas Geiseln. Sie zwingen euch, China und Russland als Feinde zu behandeln, obwohl wir natürliche Partner sein könnten.«
»Natürliche Partner?«
»Natürlich!« Li wird lebhafter. »Europa braucht Energie – Russland hat sie. Europa braucht Märkte – China bietet sie. Europa braucht Technologie – wir haben sie. Aber Amerika sabotiert alles.« Er beugt sich vor: »Schauen Sie auf unsere Mondstation. Friedlich, wissenschaftlich, international. Während Amerika Weltraumwaffen entwickelt. Wer ist hier der Aggressor?«
»Und was ist mit chinesischen Weltraumwaffen?«[1] Li antwortet nicht.
Ein schwarzer Mercedes bringt Sie zu einem unscheinbaren Bürogebäude in der Nähe des Regierungsviertels. Hier treffen Sie Prof. Zhang Yifei von der Parteihochschule, einen der einflussreichsten Ideologen Chinas. Das Gespräch wird grundsätzlicher.
»Der Westen versteht die neue Weltordnung nicht«, sagt Zhang ohne Umschweife. »Ihr denkt immer noch, ihr könntet uns vorschreiben, mit wem wir befreundet sein dürfen.« Er zeigt eine Weltkarte mit chinesischen und russischen Einflusssphären. »China und Russland sind strategische Partner, weil wir dieselben Werte teilen: Souveränität, Multipolarität, Respekt vor Zivilisationen.«
»Aber was ist mit internationalen Regeln?«
Zhang lacht bitter. »Welche Regeln? Die, die Amerika schreibt? Die, die nur für andere gelten?« Er wird ernster: »Russland hat in der Arktis getan, was Amerika überall tut – seine Interessen verteidigt.«
Zurück im Hotel führen Sie ein letztes Gespräch, diesmal ohne Protokoll. »Hören Sie«, sagt Li leise, »ich mag Sie. Deshalb ein ehrlicher Rat.« Er schaut sich um, obwohl Sie allein sind. »Europa macht einen Fehler. Ihr folgt Amerika in einen Konflikt, den ihr nicht gewinnen könnt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Amerika ist schwächer, als es zugibt. China und Russland sind stärker, als ihr denkt. Und Europa?« Er macht eine Pause. »Europa ist gefangen zwischen den Fronten.« Li wird noch direkter: »Aber das muss nicht so sein. China respektiert europäische Zivilisation. Wir wollen Handel, nicht Krieg. Partnerschaft, nicht Unterwerfung.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Strategische Autonomie. Echte Autonomie.« Seine Stimme wird eindringlich. »Verlasst die amerikanische Umklammerung. Arbeitet direkt mit uns. Die Arktis könnte ein Raum der Kooperation werden – China, Russland, Europa. Ohne amerikanische Störungen.«
Er reicht Ihnen eine Visitenkarte. »Denken Sie darüber nach. Der Weg zur multipolaren Welt führt durch europäische Unabhängigkeit.«
Am Flughafen überreicht Li Ihnen ein kleines Geschenk, ein Jade-Amulett. »Für Glück auf dem Weg zur Weisheit«, sagt er diplomatisch. Beim Abschied wird er noch einmal ernst: »Vergessen Sie nicht: China ist geduldig. Wir denken in Jahrzehnten, nicht in Wahlzyklen. Aber unsere Geduld ist nicht endlos.«
»Was heißt das?«
»Es heißt, dass Europa bald wählen muss. Amerikanische Vasallenschaft oder eurasische Partnerschaft. Beides zugleich geht nicht.«
Im Flugzeug nach Europa reflektieren Sie über die zurückliegenden verstörenden 48 Stunden. Li hatte Russland kompromisslos verteidigt und den Westen als Aggressor dargestellt. Aber am Ende hatte er eine Alternative angeboten: ein von Amerika unabhängiges Europa, das mit China und Russland kooperiert.
Die Frage ist: War das ein aufrichtiges Angebot für eine multipolare Welt? Oder ein raffinierter Versuch, den Westen zu spalten?
Dr. Susan Chang vom Institute for National Defense and Security Research in Taipeh kontaktiert Sie per E-Mail. »Taiwan versteht Grauzonentaktiken besser als jeder andere. China testet uns täglich, in der Luft, zu Wasser, im Cyberspace. Was Sie in der Arktis beschreiben, erleben wir seit Jahren. Vielleicht können wir voneinander lernen.« Ein Besuch in Taiwan könnte zeigen, wie man sich gegen systematische Zermürbung wehren kann, aber auch die Arktiskrise in den größeren Chinakonflikt einordnen.
Risiko: Ein Taiwan-Besuch wird von Peking als Provokation gewertet. Ihre Chinakontakte könnten einfrieren, gerade als das Reich der Mitte als Vermittler wichtig werden könnte.
Weiter zu Abschnitt 11 // Taiwanesische Lektionen // Seite 62
Die Brookings Institution lädt Sie nach Washington ein: »Arctic Competition and the New Cold War« – ein hochkarätig besetztes Panel. Nach der erfolgreichen Mondlandung fühlen sich die USA wieder selbstbewusst, aber die Arktis blieb ein Stiefkind der amerikanischen Strategie. Ihr Gespräch mit Li Wei-ming in Peking über chinesisch-russische Kooperation alarmiert Washington. Gespräche im Pentagon, State Department und NSC sollen klären: Ist Amerika bereit für ein neues great game in der Arktis?
Risiko: Sie werden in amerikanische Strategien eingespannt und verlieren europäische Perspektiven. Washington könnte Sie instrumentalisieren für seine eigenen Ambitionen in der Arktis.
Weiter zu Abschnitt 12 // Amerikanisches Erwachen // Seite 68
Eine unerwartete Einladung: Das grönländische Parlament lädt Sie nach Nuuk ein. Nach Ihren Gesprächen in Peking über die polare Seidenstraße und chinesische Arktisambitionen will Ministerpräsident Malik Kleist die grönländische Sicht der Dinge vermitteln. »57000 Grönländer entscheiden über 20 Prozent der Oberfläche der Erde«, schreibt er in seiner Einladung. »Alle reden über uns, aber niemand mit uns. Dabei haben wir 4000 Jahre Erfahrung im Überleben zwischen Supermächten – wir nannten sie nur anders: Eis, Sturm und Hunger.«
Risiko: Grönland gilt als Randthema. Ihre Reise könnte als exotischer Umweg wahrgenommen werden, während sich die eigentlichen Krisen in Europa und Asien abspielen.
Weiter zu Abschnitt 13 // Arktische Weisheit // Seite 72
Die ersten Herbstblätter fallen auf den Werderschen Markt, als Sie das Auswärtige Amt betreten. In New York hat vorgestern die UN-Generalversammlung begonnen, Generalsekretär Vuk Jeremić, eben in seiner zweiten Amtszeit bestätigt, eröffnet sie, mal wieder, mit einer starken Rede, in der er für Frieden und Kooperation eintritt.[1] Sie wird überschattet von Nachrichten aus der Ukraine, drei Tage lang haben russische und ukrainische Soldaten sich über die Waffenstillstandslinie Schießereien geliefert, vier Menschen sind ums Leben gekommen, ein französischer Soldat eingeschlossen, der Teil der Stabilisierungsmission war. Es herrscht Besorgnis, dass der Krieg wieder eskalieren kann, aber sie ist nicht sehr stark – in den letzten Jahren haben Sie sich daran gewöhnt, dass der Kalte Frieden hält, auch wenn es immer wieder kracht.
Dr. Michael Hoffmann, Unterabteilungsleiter für Sicherheitspolitik, empfängt Sie in seinem Büro im vierten Stock. Durch die Fenster hört man den Verkehr. »Komplizierte Zeiten«, sagt Hoffmann. »Die Eskalation in der Ukraine hat alle anderen Themen überschattet. Ehrlich gesagt ist die Arktis derzeit nicht unsere Priorität.«
»Aber genau das ist das Problem«, antworten Sie. »Während alle auf die Ukraine starren, baut Russland seine Positionen in der Arktis aus.«
Hoffmann seufzt. »Sehen Sie, wir haben gerade den nachrichtendienstlichen Bericht zur RV Framtid bekommen.« Er öffnet eine als geheim eingestufte Mappe. »Fazit: Keiner weiß, was da wirklich passiert ist. Unfall, Provokation, technisches Versagen – alles möglich.«
»Ja, das mag sein, aber es geht vielleicht weniger um diesen Zwischenfall und mehr um die allgemeine Lage dort«, wiederholen Sie, aber Sie sehen, Hoffmann ist nicht überzeugt.
»Wir haben genug im Baltikum zu tun. Wir sind da allein in Litauen schon mit über 5000 Mann. Vom Aufbau der Bundeswehr fange ich gar nicht erst an. Das läuft zwar, aber langsamer als gedacht. Wir sind noch lange nicht bei den 260000 Männern und Frauen, die wir für dieses Jahr anvisiert hatten, das gescheiterte Wehrpflichtgesetz, die Haushaltskrise … Beim NATO-Gipfel diesen Sommer haben die Amerikaner uns auf die Finger geklopft, weil wir nicht wie vereinbart bis 2035 bei 3,5 Prozent landen werden.«[2]
»Aber die Leoparden sind da.«
Er überhört Ihren Sarkasmus. »Gott sei Dank!«
Weiss empfängt Sie in ihrem Büro, das mit Karten der Polarregionen und Klimaforschungsberichten geschmückt ist. Im Gegensatz zu ihren Kollegen wirkt sie entspannt, fast optimistisch. »Endlich jemand, der sich für die Arktis interessiert«, sagt sie und schenkt Kaffee ein. »Zwischen all der Ukrainehysterie wird vergessen, dass es auch andere wichtige Themen gibt.« Sie zeigt auf eine große Karte der Arktis. »Sehen Sie, die Arktis ist ein perfektes Beispiel für Global Commons – ein Raum, der allen gehört und nur durch internationale Kooperation erfolgreich verwaltet werden kann.«
»Aber der Spitzbergenzwischenfall …«
»Ach, das«, winkt sie ab. »Schauen Sie, in der Arktis passieren ständig solche Zwischenfälle. Eisberge rammen Schiffe, technische Ausfälle, Navigationsfehler bei schlechtem Wetter. Das wird völlig überinterpretiert.« Sie öffnet eine Mappe mit Kooperationsprojekten. »Wissen Sie, was wirklich bemerkenswert ist? Dass selbst während der Ukrainekrise die wissenschaftliche Zusammenarbeit in der Arktis weiterlief. Russische und westliche Forscher arbeiten immer noch zusammen am Klimamonitoring.«
»Die militärischen Spannungen …?«
»Werden maßlos übertrieben«, unterbricht Weiss. »Die Arktis war schon immer militarisiert – das ist nichts Neues. Aber schauen Sie auf die Fakten: Der Arktisrat funktioniert weiterhin, sogar während des Krieges. Die Schifffahrtsregeln werden eingehalten. Die Umweltschutzabkommen werden respektiert.« Sie wird enthusiastischer: »Deutschland hat eine einmalige Chance, als ehrlicher Makler zu agieren. Wir haben keine territorialen Ansprüche in der Arktis, keine historischen Konflikte. Wir können vermitteln zwischen allen Seiten.«
»Ihre Kollegen sehen das anders …«
»Meine Kollegen denken zu militärisch. Sie verstehen nicht, dass die Arktis kein Schlachtfeld ist, sondern ein Forschungslabor. Das größte Naturlabor der Welt, wo wir den Klimawandel verstehen und bekämpfen können.« Weiss zeigt Statistiken zur arktischen Kooperation: »47 gemeinsame Forschungsprojekte, zwölf internationale Überwachungsstationen, geteilte Rettungsdienste. Das ist die wahre Arktis, nicht die Fantasien der Sicherheitspolitiker.« Sie wird fast missionarisch: »Die Arktis zu militarisieren, wäre eine Tragödie für die Menschheit. Dort oben schmilzt unser Klima, dort können wir es retten. Aber nur zusammen – Russen, Chinesen, Amerikaner, Europäer. Die Global-Commons-Perspektive ist der einzige Weg.«
Sie sind froh, eine Arktisenthusiastin gefunden zu haben im Auswärtigen Amt, aber Sie haben dennoch das Gefühl, dass Frau Dr. Weiss nur einen Teil der Wahrheit sieht.
In einem fensterlosen Raum im Keller treffen Sie Dr. Steinbach, der die Verbindung zwischen Außenamt und Bundesnachrichtendienst koordiniert. Er ist direkter als seine Kollegen: »Ihre Arktistheorie ist interessant, aber strategisch irrelevant.« Er zeigt eine Karte Europas. »Russland führt Krieg 1500 Kilometer von hier entfernt. Die Arktis ist 3000 Kilometer weg. Was ist wohl wichtiger?«
»Die langfristigen Implikationen …?«
»Langfristig sind wir alle tot, wenn Putin durchdreht«, unterbricht Steinbach. »Unser nachrichtendienstlicher Bericht zum norwegischen Zwischenfall ist eindeutig: Niemand weiß, was passiert ist. Könnte alles Mögliche gewesen sein – von einem Softwarefehler bis zu einer Kollision mit einem Wal.« Er wird sarkastisch: »Soll Deutschland jetzt wegen eines ungeklärten Vorfalls in der Arktis eine neue Sicherheitsstrategie entwickeln? Während russische Panzer 200 Kilometer vor der polnischen Grenze stehen? Die deutschen Wähler verstehen das Thema Ukraine, dort geht es um europäische Sicherheit. Aber die Arktis? Das ist für sie so fern wie der Mars.«
Sie erwähnen Peking, aber Steinbach schüttelt den Kopf. »China ist derzeit Teil des Problems, nicht der Lösung. Ihre Unterstützung für Russland macht jede Dreiecksdiplomatie unmöglich.«
Im Paul-Löbe-Haus treffen Sie Bundestagsabgeordnete verschiedener Parteien. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die Ukraine dominiert alles. »Arktispolitik?«, fragt ein CDU-Abgeordneter verwundert. »Dafür haben wir derzeit weder Zeit noch politischen Raum.« Eine Grünen-Abgeordnete ist direkter: »Russland führt Angriffskrieg in Europa. Da können wir nicht gleichzeitig über Kooperation in der Arktis reden. Das wäre politischer Selbstmord.«
Im Flugzeug nach Brüssel denken Sie über den gescheiterten Tag nach. Deutschland ist komplett auf die Ukraine fixiert, traumatisiert von der Eskalation im Sommer, und hat weder Kapazitäten noch politischen Willen für Arktisdiplomatie.
Ihre wichtigsten Erkenntnisse notieren Sie:
Tunnelblick Ukraine: Berlin sieht nur noch die unmittelbare Bedrohung und ignoriert langfristige strategische Herausforderungen.
Vertrauensverlust: Nach den Kämpfen im August gilt jede russische Initiative als verdächtig.
Nachrichtendienstliche Unsicherheit: Selbst die Geheimdienste haben keine klaren Antworten zur Arktis.
Politische Lähmung: Die deutsche Politik kann nicht gleichzeitig konfrontativ und kooperativ sein.
Vielleicht war Deutschland der falsche Adressat.
Sie entscheiden sich für einen radikalen Schritt: eine groß angelegte Medienkampagne mit drastischen Szenarien. Ziel: die deutsche Öffentlichkeit so zu alarmieren, dass die Politik zum Handeln gezwungen wird. Manchmal braucht es Panikmache, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Risiko: Sie werden als Kriegstreiber und Russland-Hasser abgestempelt. Übertriebene Warnungen könnten sich als selbsterfüllende Prophezeiung erweisen und echte Eskalation auslösen.
Weiter zu Abschnitt 14 // Deutsche Angst als Strategie // Seite 82
Sie nutzen Ihre alten Kontakte, um diskrete Track-II-Gespräche mit Russland zu organisieren – inoffizielle Dialoge zwischen westlichen und russischen Denkern. Vielleicht gibt es einen Weg, russische Sicherheitsinteressen anzuerkennen, ohne die Arktis preiszugeben.
Risiko: Sie werden als »Putin-Versteher« und nützlicher Idiot diskreditiert. Ihre Bemühungen könnten von Moskau instrumentalisiert werden, ohne echte Zugeständnisse zu erhalten.
Weiter zu Abschnitt 15 // Diplomatische Experimente // Seite 86
Der Herbstregen prasselt gegen die Fenster des neoklassizistischen Gebäudes am Klonowa-Platz. Die Stimmung in Warschau ist angespannt, vor zwei Tagen haben die Gefechte zwischen russischen und ukrainischen Soldaten entlang der Waffenstillstandslinie aufgehört, aber die Schockwellen sind noch zu spüren. Vier Tote in drei Tagen, darunter ein französischer Soldat der EU-Überwachungsmission. In New York tagt seit gestern die UN-Generalversammlung, und Generalsekretär Vuk Jeremić, gerade für eine zweite Amtszeit bestätigt, bemüht sich verzweifelt um Deeskalation.[1]
Dr. Katarzyna Nowak, stellvertretende Direktorin des Strategischen Forschungsinstituts, empfängt Sie in einem spartanisch eingerichteten Konferenzraum. Die Wände sind mit Karten vom Baltikum geschmückt, der Suwałki-Lücke, der östlichen NATO-Flanke. An einer Wand hängt eine neue Karte mit polnischen Militärbasen, sie zeigt deutlich mehr rote Punkte als noch vor einem Jahr.
»Wir schätzen Ihr Interesse an unserer Perspektive«, sagt Nowak, während sie Kaffee einschenkt. »Aber Sie müssen verstehen: Nach den Gefechten diese Woche ist Polen in höchster Alarmbereitschaft.« Sie deutet auf die Militärkarte. »Sehen Sie diese neuen Stellungen? 15000 zusätzliche Soldaten entlang der Ostgrenze seit dem Frühjahr. Unser Verteidigungsbudget haben wir um 40 Prozent erhöht. Und im Gegensatz zu manch anderem NATO-Staat hatten wir kein Problem, unsere Truppenstärke auf 300000 zu verdoppeln.«[2] Sie zeigt auf eine große Karte der NATO-Ostflanke. »Für uns beginnt die Bedrohung nicht in der Arktis. Sie beginnt 180 Kilometer östlich von hier. Und diese Woche hat sich gezeigt: Die Gefahr ist real.« Nowak macht eine Pause. »Die Arktis ist für uns eher ein intellektuelles Problem, aber die Ostflanke ist existenziell.«
Im Restaurant Amber Room treffen Sie General a.D. Marek Duda, den ehemaligen stellvertretenden Generalstabschef der polnischen Streitkräfte. Duda ist ein Mann der direkten Worte, heute noch angespannter als gewöhnlich. Bei Pierogi und Bier kommt er sofort zur Sache. »Nach dieser Woche kann niemand mehr behaupten, die russische Bedrohung sei übertrieben«, sagt er. »Vier Tote. Ein französischer Soldat. Mitten in Europa, im Jahr 2030.« Er lehnt sich vor. »Wissen Sie, was existenziell ist? Kaliningrad, 200 Kilometer von hier. Die Suwałki-Lücke. Die Tatsache, dass russische Iskander-Raketen Warschau in acht Minuten erreichen können.«
»Sehen Sie Verbindungen zur Arktis?«
Duda trinkt einen Schluck Bier. »Russland testet. Immer und überall. Diese Woche die Ukraine, im Frühjahr Spitzbergen. Das ist eine Gesamtstrategie. Aber schauen Sie sich unsere Aufrüstung an: 250 neue Leopard-Panzer seit Januar, F-35-Jets ab nächstem Jahr, Patriot-Systeme entlang der ganzen Ostgrenze. Ich schlafe besser als noch vor fünf Jahren.«
»Und die Arktis in diesem Kontext?«
»Ein Nebenkriegsschauplatz. Selbst wenn das Eis schmilzt, das ist ein baltisches Problem, ein norwegisches, wegen mir ein amerikanisches, aber kein polnisches. Wir haben genug damit zu tun, unsere Ostflanke zu verteidigen.«
Dr. Anna Kwiatkowska vom Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten (PISM) empfängt Sie in ihrem Büro voller Bücher und Analysepapiere. Als eine der wenigen polnischen Arktisexpertinnen wirkt sie nach den jüngsten Ereignissen besonders nachdenklich. »Diese Woche hat alles verändert«, beginnt sie ohne Umschweife. »Die Gefechte in der Ukraine zeigen: Russland ist bereit, rote Linien zu überschreiten.« Sie öffnet ihren Laptop und zeigt eine Grafik. »Sehen Sie diese Statistik? Russische Verletzungen des polnischen Luftraums sind seit den Gefechten um 60 Prozent gestiegen. Täglich fliegen ihre Jets Provokationsmissionen.«[1]
Sie zeigt auf eine Weltkarte: »Polen ist paradox positioniert. Geografisch weit von der Arktis, aber strategisch mittendrin. Wenn Russland die arktischen Seewege kontrolliert, umgeht es die europäischen Landrouten – und damit unsere geopolitische Bedeutung.« Kwiatkowska wird analytischer: »Die Arktis ist Russlands Plan B. Wenn sie Europa über die Ostflanke nicht dominieren können, versuchen sie es von Norden aus. Das haben wir zu lange unterschätzt.«
In der kleinen Kneipe U Fukiera treffen Sie den Journalisten Tomasz Kowalski von der »Gazeta Wyborcza«. Die Atmosphäre ist gedrückt. Überall laufen Fernseher mit Nachrichten aus der Ukraine. Kowalski wirkt erschöpft. »Die offiziellen Positionen haben Sie gehört«, sagt er. »Jetzt die Wahrheit: Diese Woche war ein Wendepunkt. Polen fühlt sich existenziell bedroht.« Er deutet auf den Fernseher, der Bilder des französischen Militärbegräbnisses zeigt. »Ein EU-Soldat tot durch russische Kugeln. Das ist nicht mehr Grauzonentaktik, das ist Krieg.«
»Und die Arktis in diesem Kontext?«
Kowalski wird bitter: »Ehrlich? Nach dieser Woche interessiert sich hier niemand mehr für diplomatische Lösungen. Weder in der Ukraine noch in der Arktis.« Er trinkt nachdenklich. »Russland hat bewiesen, dass es bereit ist zu töten. Da helfen keine Gespräche über Global Commons.« Und er wird strategischer: »Aber vielleicht ist das Russlands Fehler. Sie haben uns gezeigt, wozu sie fähig sind. Jetzt rüsten wir alle auf, auch für die Arktis. NATO-Marinepräsenz, neue Eisbrecher, Überwachungssysteme. Wenn Russland einen Kalten Krieg will, bekommt es ihn.«
»Das klingt nach Eskalation …«
»Nach Realismus. Russland versteht nur Stärke. Das wussten wir schon seit der Ukraine, aber die vier Toten haben uns noch mal daran erinnert.«
Im Flugzeug denken Sie nach über die gespannte Atmosphäre in Warschau. Die Gefechte der letzten Woche haben Polen traumatisiert und jeden diplomatischen Optimismus zerstört. Vier zentrale Erkenntnisse stechen hervor:
Traumatische Zeitenwende: Die Gefechte mit vier Toten haben Polen von Diplomatie auf Konfrontation umgestellt – aber Sie haben nicht das Gefühl, dass andere NATO-Staaten das Scharmützel ebenso dramatisch bewerten.
Militärische Aufrüstung: Polen investiert massiv in Verteidigung: fünf Prozent des BIP, neue Waffensysteme, verstärkte NATO-Präsenz. Die Ostflanke scheint gesichert.
Arktis als Nebenschauplatz: Trotz strategischer Relevanz bleibt die Ostflanke absolute Priorität.
Vielleicht ist Frankreich bereit für den Weg, den Deutschland und Polen ablehnen: eine unabhängige europäische Strategie, die weder amerikanische Härte noch deutsche Naivität kopiert.
Nach den Gesprächen in Warschau erkennen Sie: Osteuropa sieht Russlands Bedrohung vor allem als ein östliches, territoriales. Sie reisen nach Tallinn. Estland liegt nur 300 Kilometer von St. Petersburg entfernt und kennt russische Grauzonentaktiken aus täglicher Erfahrung. Das Estonian Foreign Policy Institute hat Sie eingeladen: »Arctic Security from the Baltic Perspective.«
Risiko: Sie werden zu sehr in osteuropäische Sichtweisen hineingezogen und verlieren den Blick für westeuropäische Realitäten. Die »Russland-Traumatisierten« könnten Ihre Analyse verzerren.
Weiter zu Abschnitt 20 // Der Tallinn-Konsens // Seite 111
Die polnischen Gespräche zeigen Ihnen: Nur Amerika hat die militärische Macht, Russland in der Arktis zu stoppen. Sie reisen nach Washington zu Gesprächen.
Risiko: Eine amerikanisch-osteuropäische Achse ohne Deutschland und Frankreich könnte die NATO zerreißen.
Weiter zu Abschnitt 16 // Atlantische Härte // Seite 90
Die Straßen von Paris sind noch geschmückt mit den Siegesfahnen der Fußballweltmeisterschaft – »Allez les Bleus« und »Champions du Monde 2030« hängen von Balkonen und in Schaufenstern. Frankreichs WM-Triumph vor sechs Wochen hat das Land in Euphorie versetzt, aber die jüngsten Ereignisse haben die Stimmung getrübt. Der Tod des Sergent Thomas Moreau, eines Soldaten der EU-Überwachungsmission, hat die Öffentlichkeit schockiert. In New York, wo vor zwei Tagen die UN-Generalversammlung begonnen hat, appelliert der Generalsekretär Vuk Jeremić, gerade für eine zweite Amtszeit bestätigt, mal wieder an Russland und die Ukraine, Ruhe zu bewahren.[1] Bisher scheint dies auch zu funktionieren.
Sie betreten das französische Außenministerium am Quai d’Orsay, ein imposanter Bau am Ufer der Seine. Marie-Claire Tertrais, Direktorin für strategische Angelegenheiten, empfängt Sie in einem eleganten Salon mit Blick auf die Seine. »Vom WM-Triumph zur strategischen Krise in sechs Wochen«, sagt sie mit bitterem Lächeln. »So schnell kann sich die Welt ändern.« Sie deutet auf die stummen Fernsehbildschirme, die Bilder der amerikanischen Mondlandung vom August zeigen. Durch die Landung Chinas nur wenige Monate zuvor und die Weltmeisterschaft hatte die Landung nicht ganz den strategischen PR-Effekt, den man sich in Washington erhofft hatte.
»Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über die Arktis sprechen will«, sagen Sie vorsichtig.
Tertrais nickt. »Oder Le Grand Nord, wie sie bei uns heißt. Frankreich hat schon seit Jahren eine Arktisstrategie, wir waren die Ersten, die in Spitzbergen eine Forschungsstation errichtet haben. Wir haben sogar einen eigenen Botschafter für die Polarregionen. Und wir haben Beobachterstatus im Arktisrat.«[2]
»Heißt das auch, dass Sie die Arktis als womöglich nächsten Kriegsschauplatz gegen Russland wahrnehmen?«
Tertrais rührt Zucker in ihren Kaffee. Sie zögert. »Zunehmend. Wir nehmen schon seit Jahren an maritimen NATO-Wehrübungen vor der Küste Norwegens teil. Uns ist durchaus klar, was sich dort alles abspielt, erst recht seit dem Ukrainekrieg, und wir arbeiten eng mit Großbritannien zusammen.«[3]
Sie sind zufrieden, hier zumindest laufen Sie offene Türen ein. »Was, denken Sie, ist bei Spitzbergen passiert?«
Tertrais winkt ab. »Ich glaube, das ist fast irrelevant. Wir sollten uns nicht an einzelnen Ereignissen festhalten. Unsere Aufgabe jetzt ist es, die anderen Alliierten mit an Bord zu holen. Unsere Nordflanke muss noch viel besser geschützt werden, gerade auf hoher See.«
Sie fragen sich, wie das gelingen kann.
Das moderne Verteidigungsministerium im 15. Arrondissement ist ein Kontrastprogramm zum historischen Quai d’Orsay. Am Eingang hängt eine französische Flagge auf halbmast – eine Erinnerung an Sergent Thomas Moreau. Colonel Emmanuel Chiva, Leiter der Direction générale des relations internationales et de la stratégie (DGRIS), empfängt Sie in einem hochmodernen Szenarioraum voller interaktiver Displays und Simulationssysteme.
»Arbeiten Sie an Eskalationsszenarien in der Arktis?«, fragen Sie.
»Mais oui«, erwidert er. Colonel Chiva aktiviert eine Simulation: »Lassen Sie uns durchspielen, was passiert, wenn Russland seine Drohungen wahr macht, diesmal in der Arktis.« Auf den Bildschirmen erscheint eine animierte Karte der Arktis.
»Tag 1: Ein russisches U-Boot versenkt ein norwegisches Forschungsschiff. Offiziell ein ›Unfall‹, inoffiziell eine Warnung. Tag 3: NATO aktiviert Artikel 5. Tag 7: Erste NATO-Marinekräfte erreichen die Arktis, darunter französische Truppen.« Seine Stimme wird überraschend entspannt, er macht das wohl nicht zum ersten Mal: »Tag 10: Russland erklärt eine 200-Seemeilen-Sperrzone. Tag 15: Erste Scharmützel zwischen französischen und russischen Marineeinheiten. Tag 20: Ein französisches Überwachungsflugzeug wird abgeschossen. Zwei Piloten tot.«
»Ist das nicht ein bisschen zu plump? Wo ist denn die Strategie? Warum würde denn Russland überhaupt ein Forschungsschiff versenken?«
Chiva zuckt mit den Achseln. »Das weiß man ja nie so genau. Kann ein Unfall sein, eine Provokation, ein Test.«
Sie denken sich: Immer noch ist die russische Strategie nicht klar, auch in diesen Kreisen nicht.
»Aber es gibt Gegenmittel«, fährt Chiva fort. Er wechselt zu anderen Projektionen. »Strategie Alpha: Massive Präventivdiplomatie. Arktisvertrag 2.0 mit klaren Regeln für alle Akteure. Strategie Beta: Technologische Deeskalation. Transparenz-Initiative für alle autonomen Systeme in der Arktis.« Er zeigt eine neue Simulation: »Strategie Gamma: Multipolare Governance. USA, Russland, China, EU teilen sich die Verantwortung für verschiedene arktische Zonen. Geregelt, überwacht, ohne weitere Thomas Moreaus.«
»Welche Strategie bevorzugt Frankreich?«
»Eine französisch-europäische«, antwortet Chiva entschlossen. »Thomas starb für europäische Werte. Jetzt entwickeln wir eine ›Force de Dissuasion Arctique‹, eine Abschreckungsfähigkeit in der Arktis – nicht um anzugreifen, sondern um zu verhindern, dass weitere junge Europäer sterben.« Er wird konkreter: »Das Ziel: Europa wird zum vierten Pol in der Arktis. Stark genug, um respektiert zu werden. Stark genug, dass Russland zweimal überlegt, bevor es wieder europäisches Blut vergießt.«
»Ich habe eine methodische Frage.«
Chiva schaut beglückt. Nur Franzosen freuen sich, wenn es um Methoden geht.
»Worauf basiert diese Simulation?«
»Wir haben mit Wissenschaftlern zusammen Daten eingespeist und Annahmen validiert. Es ist quasi eine mathematische Hochrechnung.«
Sie zögern. »Aber das heißt auch, dass hier Fehler passieren können.«
Chiva lacht. »Natürlich, das ist ja nur ein Tool, um schneller Entscheidungspfade durchzuspielen. Es ist nicht die Realität.« Er zeigt Ihnen, was das Spiel kann. »Sie sind die EU, ich bin Russland. Zeigen Sie mir, wie Sie auf russische Eskalation reagieren würden.«
Das Spiel ist ernüchternd: Bei jeder EU-Reaktion findet Russland eine Antwort. Wirtschaftssanktionen? Russland diversifiziert seine Exportmärkte. Militärische Präsenz? Russland verstärkt seine U-Boot-Patrouillen. Diplomatische Proteste? Russland ignoriert sie.
»Sehen Sie das Problem?«, fragt Chiva. »Europa reagiert immer, anstatt zu agieren. Thomas ist gestorben, weil wir reaktiv statt proaktiv waren. Das darf in der Arktis nicht passieren.«
»Kannten Sie Thomas?«, fragen Sie.
»Ja … wir waren vor drei Jahren mal in einer Einheit zusammen. Ein echt guter Typ.« Er muss kurz schlucken. »Hier geht nur Abschreckung, präventive Präsenz. Nicht konfrontativ, aber sichtbar. Nicht aggressiv, aber ernst zu nehmen. Das zwingt alle anderen, mit uns zu rechnen – und verhindert weitere Todesfälle.«
»Wie viel Zeit haben wir noch?«
Er überschlägt gedanklich. »Schwer zu sagen, vielleicht nur noch 18 Monate, vielleicht mehr.«
Die Simulationen haben gezeigt: Ohne aktive Deeskalation oder
