Tachyon 3 - Brandon Q. Morris - E-Book

Tachyon 3 E-Book

Brandon Q. Morris

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Beschreibung

Die außerirdische Bedrohung erreicht unser Sonnensystem. Tachyon. Der Planet ist das Finale des faszinierenden Space-Epos von Brandon Q. Morris. Die verlorene Schlacht im Orbit von Terra Nova hat auch den größten Skeptikern gezeigt, wie stark die außerirdische Bedrohung wirklich ist. Die Machtblöcke des Sonnensystems bereiten sich gemeinsam auf den einen entscheidenden Zusammenstoß vor. Währenddessen versucht ein ungewöhnliches Trio zu verhindern, dass der Konflikt die Erde erreicht. Tsai Yini, die Tachyonlauscherin, hofft auf die Hilfe ihres Vaters, der eine hundertjährige Reise überlebt hat und eine besondere Beziehung zu den Angreifern zu haben scheint. Der Detektiv Claudio Pedramonte trägt das Mittel, das den Krieg beenden könnte, in seiner Hosentasche, weiß aber nichts davon. Und eine geheimnisvolle Persönlichkeit geht über Leichen, scheint aber besonders effektiv voranzukommen. Am Ende stehen alle vor Entscheidungen, von denen die Weiterexistenz der Menschheit abhängt. Für Leser von Cixin Liu, Andy Weir oder Frank Herbert

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Seitenzahl: 753

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Brandon Q. Morris

Tachyon 3

Der Planet

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die verlorene Schlacht im Orbit von Terra Nova hat auch den größten Skeptikern gezeigt, wie stark die außerirdische Bedrohung wirklich ist. Die Machtblöcke des Sonnensystems bereiten sich gemeinsam auf den einen entscheidenden Zusammenstoß vor. Währenddessen versucht ein ungewöhnliches Trio zu verhindern, dass der Konflikt die Erde erreicht. Tsai Yini, die Tachyonlauscherin, hofft auf die Hilfe ihres Vaters, der eine hundertjährige Reise überlebt hat und eine besondere Beziehung zu den Angreifern zu haben scheint. Der Detektiv Claudio Pedramonte

trägt das Mittel, das den Krieg beenden könnte, in seiner Hosentasche, weiß aber nichts davon. Und eine geheimnisvolle Persönlichkeit geht über Leichen, scheint aber besonders effektiv voranzukommen. Am Ende stehen alle vor Entscheidungen, von denen die Weiterexistenz der Menschheit abhängt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Brandon Q. Morris ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit Weltraum-Themen. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten.

Inhalt

Motto

5. Dezember 2862, Starbird

1. April 2864, Albatros-1

15. Paopi 225, Terra Nova

6. Dezember 2862, Starbird

2. April 2864, Albatros-1

16. Paopi 225, Terra Nova

7. Dezember 2862, Starbird

3. April 2864, Albatros-1

17. Paopi 225, Terra Nova

8. Dezember 2862, Starbird

4. April 2864, Albatros-1

18. Paopi 225, Terra Nova

10. Dezember 2862, Starbird

5. April 2864, Albatros-1

19. Paopi 225, Astrobiologisches Labor

12. Dezember 2862, Starbird

6. April 2864, Albatros-1

20. Paopi 225, Gleiter

1. Januar 2864, 2320C1

8. April 2864, Albatros-1

21. Paopi 225, Planetenkontrolle

9. April 2864, Starbird

9. April 2864, Albatros-1

22. Paopi 225, Astrobiologisches Labor

10. April 2864, Starbird

13. Hatur 225, Terra Nova

16. Hatur 225, Vanguard

25. Hatur 225, Astrobiologisches Labor

26. Hatur 225, Terra Nova

27. Hatur 225, Astrobiologisches Labor

27. Hatur 225, Terra Nova

15. Mai 2864, Der Berg

16. Mai 2864, Der Berg

17. Mai 2864, Der Berg

6. November 2920, Der Berg

7. November 2920, Ceres

7. November 2920, Der Berg

8. November 2920, Ceres

8. November 2920, Der Berg

9. November 2920, Ceres

9. November 2920, Der Berg

9. November 2920, Starbird

10. November 2920, Ceres

10. November 2920, Erdmond

10. November 2920, Ceres

11. November 2920, Erdmond

11. November 2920, Erdnaher Raum

11. November 2920, Erdmond

11. November 2920, Der Berg

16. November 2920, Erdmond

21. November 2920, Venus

31. Dezember 2920, Erdmond

15. Januar 2921, HD 219134 g

29. Januar 2921, Venus

30. Januar 2932, Erdmond

Nachwort der Chronoskribentin

Das kleine Handbuch des Raumschiffbaus

Nachwort

Um das Leben als Ganzes zu sehen, musst du es als endlich erkennen. Ich sterbe, du stirbst; wie könnten wir einander sonst lieben? Die Sonne brennt aus, wie könnte sie sonst scheinen?

 

Ursula K. Le Guin, Freie Geister

5. Dezember 2862, Starbird

Yini erwachte unter einer Glasscheibe. Was war hier los? Sie war verwirrt. Offensichtlich lag sie in einem Kälteschlafbehälter. Aber erwachte man nicht erst, wenn sich der Glassarg geöffnet hatte? Sie hasste es, eingesperrt zu sein. Ihr Herz schlug schneller. Und was war das für ein lautes Piepsen? Gab es eine Fehlfunktion? Die Panik ließ sie hyperventilieren. Sie würde in der Glaskiste ersticken! Yini presste die Hände gegen das Glas. Es war eiskalt.

In diesem Moment hob sich der Deckel. Yini atmete tief durch. Alles hatte seine Richtigkeit. Sie erhob sich trotzdem so schnell wie möglich und kletterte gebückt aus der Kiste, noch bevor sich der Deckel ganz geöffnet hatte. Der Fußboden war kalt. Es herrschte eine Schwerkraft, die deutlich stärker war als auf Luna. Die Starbird bremste oder beschleunigte also. Yini fror. Sie schlang die Arme um den nackten Körper, aber das half nicht. Sie hüpfte auf der Stelle. Reste der zähen Flüssigkeit, in der sie gelegen hatte, spritzten nach allen Seiten. Sie war noch überall, selbst im Gesicht hatte Yini Reste. Sie musste schnell unter die Dusche. Das warme Wasser würde auch ihr Frieren beenden, das sie heftig zittern ließ.

Das Piepsen hatte nicht aufgehört. Es war also nicht alles in Ordnung. Das Alarmsignal kam von der Konsole, die für die vier Kälteschlafbehälter zuständig war. Erst die Dusche oder erst das Piepsen? Sie entschied sich für das Signal. Es galt nicht ihr selbst. Sie lebte. Aber vielleicht waren ihre neuen Freundinnen in Gefahr – oder ihre Mutter. Sie nahm das Handtuch, das auf dem Boden vor dem Schlafbehälter lag, schlang es sich um den Körper und lief zu der Konsole. Bei jedem Schritt blieb ihre rechte Fußsohle am metallischen Boden kleben. Es war die Flüssigkeit aus dem Behälter. Sie kletterte auf die Leiter, um die Glaskästen zu kontrollieren, in denen Brinja und Maria schliefen. Brinja schien noch älter geworden zu sein. Und war sie schon immer so klein und dünn gewesen? Maria, die Neomarsianerin, füllte ihren Behälter hingegen mit einer Präsenz, als wäre sie wach und könnte Yini jederzeit zuwinken. Vielleicht lag es daran, dass ihre dicke Haut schon immer fast weiß gewesen war.

Yini erreichte die Konsole und schaltete als Erstes den Alarm ab. Auf dem Bildschirm war der Schlafbehälter unten rechts markiert. Es war der, in dem ihre Mutter schlief. Yini kontrollierte die Parameter. Der Behälter wies keinen Fehler auf. Das war gut. Doch die Vitalwerte der darin schlafenden Person hatten sich so sehr verschlechtert, dass das System entschieden hatte, einen der anderen drei Menschen an Bord zu wecken.

Aber was sollte sie tun? Yini war keine Ärztin. Sie lief die Wendeltreppe nach unten zur Zentrale. Das Schiff beschleunigte nicht, es bremste, so dass das Heck in Richtung Ziel zeigte. Die Flugsteuerung verriet, dass sie bereits auf Terra Nova zuhielten. Sie würden erst in ein paar Jahren dort ankommen, doch die Starbird musste trotzdem schon bremsen, wenn sie nicht über das Ziel hinausschießen wollten. Yini überprüfte die Kommunikationsmöglichkeiten. Ein Signal brauchte über ein Jahr, um Terra Nova zu erreichen. Es war also unmöglich, um medizinische Hilfe zu bitten. Sie war ganz auf sich gestellt, wenn sie ihrer Mutter helfen wollte.

Vielleicht wusste die Konsole, die die Schlafplätze überwachte, mehr. Die private Yacht, mit der sie flogen, musste einem reichen Industriellen gehören oder gehört haben. Sie besaß sämtlichen Komfort. Da es keine Crew im herkömmlichen Sinn gab, musste das Schiff bei den typisch ewigen interstellaren Flugzeiten medizinische Versorgungssysteme mitführen.

Sie hetzte die Treppe wieder hinauf. Die Konsole hatte das Alarmsignal von selbst wieder eingeschaltet. Anscheinend hatte sie auf irgendeine Reaktion von Yini gewartet, und als die ausblieb, hatte sie Alternativen gesucht. Yini sah auch gleich, welche: Die Konsole hatte begonnen, Brinja zu wecken. Yini übernahm die Steuerung und brach den Prozess ab. Sie hätte zwar sehr gern Gesellschaft gehabt, aber der Notaufwachprozess, den die Konsole gewählt hatte, brachte einige Risiken und Nebenwirkungen mit sich, denen sie ihre Freundinnen nicht aussetzen wollte.

Was war mit ihrer Mutter nur los? Yini ging die Zahlen durch. Der Herzrhythmus war auf einen Schlag alle zwanzig Minuten gesunken. Für den Stasezustand normal waren in dieser Zeit vier bis fünf Schläge. Der Blutfluss hatte sich extrem verlangsamt, was mit der Zeit dazu führen musste, dass den Zellen in Tailins Körper der Sauerstoff ausging. Sie arbeiteten zwar in einem extremen Sparmodus, aber der Stoffwechsel setzte sich fort. Sie waren nicht tot.

Noch nicht, musste man im Fall ihrer Mutter sagen. Tailin starb. Das sagten die Daten. Yini lief zu ihrem Schlafbehälter und betrachtete sie. Niemand sah im Kälteschlaf schön aus. Schon die Schläuche in Mund und Nase wirkten abstoßend, dazu die bleiche Haut und der zähe Schleim, der den Körper in einer dünnen Schicht bedeckte. Manchmal bewegte sich darin etwas. Doch ihre Mutter wirkte friedlich. Sie war ohne Schmerzen eingeschlafen. Soweit man das ob des Schlauches im Mund sagen konnte, hatte sie sogar gelächelt. Freute sie sich auf das Wiedersehen mit ihrer Tochter? Bestimmt. Mütter waren so, sagte man das nicht?

Ganz sicher war sich Yini allerdings nicht. Tailin hatte sie und ihren Bruder weggegeben. Sie hatten nicht einmal gewusst, dass ihre Eltern im Skyring nur ihre Pflegeeltern waren. Wie war ihre Mutter wirklich? Yini hätte es gern herausgefunden, aber diese Maschine wollte ihr das Wiedersehen nehmen. Wütend hieb sie auf die Tastatur, um der Konsole ihre Fragen einzuhämmern.

»Was ist los mit Tsai Tailin?«, tippte sie.

»Die Vitalwerte der Person Tsai Tailin haben sich verschlechtert«, antwortete die Konsole laut. Sehr gut, es gab auch ein Sprach-Interface. »Deshalb habe ich die Person Tsai Yini geweckt. Als ihre nächste Angehörige ist sie befugt, über das weitere Vorgehen zu entscheiden.«

»Ich bin Tsai Yini.«

»Entschuldigung. Auch Ihre Vitalwerte sind derzeit außerhalb des Normbereichs. Ich empfehle Maßnahmen, die die Hauttemperatur erhöhen und Puls und Blutdruck senken.«

»Wie bitte?«

»Konkret könnten Ihnen derzeit eine Ganzkörperanwendung warmen Wassers sowie Meditation helfen.«

Meditation? Ihre Mutter starb, sollte sie etwa darüber meditieren? Aber die KI schien nicht besonders fortgeschritten zu sein. Sie durfte es ihr nicht übel nehmen.

»Das weiß ich selbst«, sagte Yini.

»Entschuldigung. Ich bin irrtümlich davon ausgegangen, dass Sie die angezeigten Gegenmaßnahmen nicht kennen, da Sie bisher auf ihre Anwendung verzichtet haben.«

Wer gab dem Programm denn solche passiv-aggressiven Antworten ein? Diese verdammte Konsole regte sie nun wirklich auf.

»Mir geht es gut, du Kackautomat! Ich will wissen, wie es meiner Mutter geht!«

»Ich entnehme Ihrer Antwort, dass Sie Fragen bezüglich einer möglichen Verbesserung des gesundheitlichen Status von Tsai Tailin haben. Leider bin ich allerdings weder eine Erste-Hilfe- noch eine Medizinstation. Ich erfasse lediglich die Vitaldaten der von mir betreuten Personen. Bitte wenden Sie sich an eine Automatik mit der passenden Zuständigkeit.«

»Gibt es denn an Bord eine Medizinstation?«

»Darüber bin ich nicht informiert.«

»Kannst du mir denn überhaupt etwas sagen? Irgendwas?«

»Ich kann eine Prognose zum Verlauf der Vitaldaten der Person Tsai Tailin abgeben.«

»Ach, das darfst du?«

»Ja, auf der Basis dieser Prognose habe ich veranlasst, Sie zu wecken.«

»Das klingt nicht gut. Nun sag schon, wie steht es um meine Mutter?«

»Ich muss ergänzen, dass es sich um eine rein statistische Vorhersage handelt, die auf den von mir messbaren Vitaldaten beruht. Die Grundgesamtheit der Daten könnte sich signifikant von den bei der Person Tsai Tailin vorliegenden Problemen unterscheiden. Zudem basieren meine Daten auf Sterbefällen der letzten vierhundert Jahre. Sie sind zwar mit dem Faktor des medizinischen Fortschritts gewichtet, aber der exakte Wert der Wichtung ist wissenschaftlich umstritten.«

»Verstanden. Nun rück schon damit heraus.«

»Von einhundert terranisch gelesenen Personen mit denselben Vitaldaten wie die Person Tsai Tailin haben nur drei das Ziel ihrer Reise erreicht, wenn es mehr als fünf Jahre entfernt war.«

»Terranisch? Was soll das? Meine Mutter ist Bürgerin des Neomars.«

»Es geht um die Physiologie. Als gentechnisch veränderte Neomarsianerin, wie die Person Alina Jokkelsen in Behälter drei, hätte Tsai Tailin eine etwas höhere Chance.«

Das klang logisch. Yini musste eine Medizinstation finden. Aber was hatte die Konsole da über Maria gesagt? Sie schüttelte den Kopf. Dafür war auch später noch Zeit.

***

Yini beugte sich über den Glasbehälter, in dem ihre Mutter lag. Sie hatten sich so lange nicht gesehen – und nun sollte schon wieder alles vorüber sein? Sie wischte den Tropfen weg, der auf der Scheibe gelandet war. Ihre Mutter sollte nicht sehen, wie traurig sie war. Yini schniefte kurz und schluckte. Es war zu früh, um in Verzweiflung auszubrechen.

Als Erstes stieg sie wieder in die Zentrale hinab. Jetzt erwies es sich als Fehler, dass sie die Starbird vor dem Schlafen nicht genauer untersucht hatten. Aber wer rechnete denn schon mit einem Versagen der Schlafkammern? So etwas passierte äußerst selten – angeblich nur in einem von zehntausend Fällen. Sie hatte allerdings auch schon gehört, dass das nur die halbe Wahrheit sein sollte und Staat und Militär gemeinsam die wahren Zahlen verschwiegen, weil sonst niemand mehr auf diese Weise reisen würde. Aber das war so eine typische Verschwörungserzählung, die von denselben Kreisen verbreitet wurde, die die Existenz irgendwelcher interstellarer Kolonien der Erde bestritten oder behaupteten, dass die Erde längst insgeheim von den Grosnopfen beherrscht wurde.

In der Zentrale gab es einen Computer, den sie nach den medizinischen Einrichtungen auf dem Schiff befragen wollte – und ein winziges Bad samt Dusche. Erst als sie daran vorbeikam, merkte Yini, wie sehr sie immer noch fror. Sie kämpfte kurz mit ihrem schlechten Gewissen, dann verschwand sie hinter der flachen Tür des Bads. Ihrer Mutter ging es nicht akut schlecht, und sie musste endlich die ekligen Reste des Kälteschlafs von ihrem Körper bekommen.

In ein Handtuch gehüllt und mit rosigen Wangen kam sie wieder heraus. Yini hatte keine Ahnung, was aus den Sachen geworden war, die sie bei ihrer Ankunft in der Schleuse getragen hatte. Aber direkt neben dem Bad stand ein Spind mit Uniformen. Sie schienen für die Bediensteten gedacht gewesen zu sein, die den Besitzer oder die Besitzerin der Starbird auf seinen Reisen begleiten mussten. Alle bestanden aus Bluse, Jacke, einem langen Rock und Plateauschuhen. In einem Seitenfach lag sogar Unterwäsche, eher praktisch als schick und aus einem grauen Stoff, aber das war genau das, was Yini jetzt brauchte. Als sie sich danach im Spiegel in der Innentür des Spinds betrachtete, sah sie ein konservativ gekleidetes Dienstmädchen. Sie brauchte sich bloß noch die Haare zum Zopf zu flechten, dann war das Bild komplett.

Ihr Magen knurrte. Aber das konnte nun wirklich warten. Sie lief zur Hauptkonsole, die sie an dem protzigen Stuhl wiedererkannte, der direkt davorstand. Es war kein Stuhl, sondern schon fast ein Thron. Sie setzte sich darauf, und automatisch passte er seine Höhe an ihre Größe an. Auch die Lehnen senkten sich etwas herab. Die Plateauschuhe waren unbequem, also zog Yini sie aus.

Genau im passenden Moment fuhr ein großer Bildschirm aus der Konsole und stoppte über ihrem Schoß.

»Stuart’s Stellar Starbird«, stand in großen Buchstaben darauf.

Das klang gut, ergab aber keinen wirklichen Sinn. Der Besitzer schien jedenfalls Stuart zu heißen. Yini tippte auf den großen Log-in-Knopf. Hoffentlich musste sie sich nicht identifizieren.

»Hallo, anonymer Nutzer«, sagte das Schiff.

»Hallo, Starbird.«

»Oh, du kennst schon meinen Namen. Dann muss ich mich ja nicht vorstellen.«

»Das stimmt, Starbird. Kannst du mir sagen, welche Berechtigungen ich habe?«

»Dein Status beträgt Sysadmin. Er gilt noch für …«

Die Stimme brach ab. Auf dem Bildschirm erschien »Pufferüberlauf«. Dann wurde er schwarz. Mist. Sie hatte es schon kaputt gemacht. Aber dann leuchtete ein Logo in der Form eines Apfels auf, und klangvolles Dong verriet, dass der Schiffscomputer neu startete.

»Stuart’s Stellar Starbird« war nun wieder zu lesen.

Yini meldete sich an.

»Hallo, anonymer Nutzer«, sagte das Schiff.

Anscheinend hatte es ihren früheren Dialog vergessen.

»Hallo, Starbird.«

»Oh, du kennst schon meinen Namen. Dann …«

»Ich brauche medizinische Versorgung«, unterbrach sie das Schiff.

»Es tut mir leid, aber ich bin nur für die Flugsteuerung zuständig. Bitte wende dich an eine Erste-Hilfe- oder eine Medizinstation.«

»Das würde ich gern. Aber ich kenne mich auf dem Schiff nicht aus. Wo finde ich eine Erste-Hilfe-Station?«

»Es tut mir leid, aber dieses Schiff besitzt keine Erste-Hilfe-Station.«

»Und was ist mit einer Medizinstation?«

»Die Medizinstation befindet sich in einem Nebenraum des Quartiers des Besitzers.«

Dieser Stuart hatte viel Geld für das Schiff ausgegeben, aber an der Intelligenz der Steuerung hatte er offensichtlich gespart.

»Wo liegt das Quartier des Besitzers?«

»Das Quartier des Besitzers umfasst den größten Teil des Bugs der Starbird. Du kannst es nicht verfehlen, wenn du dich konsequent in Richtung Bug bewegst.«

Das war ungewöhnlich. Bei den meisten Schiffen befand sich die Steuerung im Bug. Aber das war eine private Yacht. Da bestimmte der, der dafür bezahlte.

»Danke«, sagte Yini. »Welche Therapien bietet die Medizinstation?«

»Die Station ist lizenziert, Operationen und nicht invasive Behandlungen durchzuführen. Diese Lizenz gilt bis …«

Wieder verstummte das Schiff und meldete einen Pufferüberlauf. Yini machte sich weniger Sorgen als beim ersten Mal, klopfte aber doch nervös auf den Schirm, bis »Stuart’s Stellar Starbird« wieder erschien.

»Hallo, anonymer Nutzer«, sagte das Schiff.

»Hallo, Starbird.«

»Oh, du …«

»Welches Datum haben wir heute?«

»Heute haben wir Freitag, den dritten August minus neun Quintilliarden neunhundertneunundneunzig Quintillionen …«

Es wurde still.

»Pufferüberlauf.«

Yini ahnte, wie Monte das Schiff dazu gebracht haben mochte, ihnen zu gehorchen. Er musste ihm irgendwie ein völlig falsches Datum untergeschoben haben, was die Rechteverwaltung der Systemsoftware verwirrt hatte. Wie bei den letzten Abstürzen auch fuhr der Computer wieder hoch.

»Hallo, anonymer Nutzer.«

Yini war schon an der schmalen Treppe, als sie die bekannte Begrüßung hörte. Diesmal antwortete sie nicht.

***

Das Quartier des Besitzers war luxuriös eingerichtet. Wände, Boden und Decke leuchteten aus sich heraus in den buntesten Farben. In der Mitte des Raums stand ein Holopodest mit bestimmt drei Metern Kantenlänge, das einen enormen Energieverbrauch haben musste. Das Bett war mit golddurchwirkter Wäsche bezogen. Yini musste sie anfassen. Es war Seide. Sicher keine echte Seide, oder doch? Der Besitzer konnte sich vermutlich auch den Naturstoff leisten, der nur noch in geringsten Mengen hergestellt wurde. Sie nahm sich vor, mindestens eine Nacht in diesem wunderbaren Bett zu verbringen, dachte dabei an Mike, der wahrscheinlich längst gestorben war, und an ihre Mutter, die im Sterben lag, und schämte sich für ihren Wunsch.

Die Tür zum Nachbarzimmer fand sie erst, als sie sämtliche Schränke geöffnet hatte. Hätte ihr die Flugsteuerung nicht verraten, dass sich die Medizinstation hier befinden musste, hätte sie vermutlich aufgegeben. Als sich aber einer der Schränke überraschend als leer erwies – alle anderen waren mit Kleidung gefüllt –, merkte Yini auf. Die Hinterwand dieses Schranks ließ sich öffnen, und es entstand ein Durchgang, der kaum schmaler als der Eingang zum Quartier war.

Die Medizinstation sah nüchtern und zweckmäßig aus. Alle Wände waren rundherum mit einem kühlen, glatten, weißen Material belegt. Es gab ein paar schmale Metallschränke, in denen sie allerhand Verbrauchsmaterial und Medikamente fand. Am wichtigsten war aber zweifellos die mächtige Maschine in der Mitte. Sie bestand aus einer zwei Meter langen Glasröhre, die im Moment geöffnet war, so dass man sich hineinlegen konnte. Am Kopf- und Fußende waren technische Geräte angebracht, die Yini nicht kannte. Vermutlich handelte es sich um diagnostische Instrumente, die den Körper durchleuchten konnten. Eines davon, es befand sich am Kopfende, erinnerte sie an eine Leseschale, wie man sie für die Bewusstseinsreinigung benutzte. Wenn der Körper ihrer Mutter wirklich nicht mehr zu retten war, konnte sie ihr vielleicht damit helfen. Yini ahnte aber schon, dass es schwer werden würde, Tailin davon zu überzeugen.

Sie stellte sich an das Fußende des Geräts. Hier warteten ein Bildschirm und eine echte Tastatur auf Eingaben. Das war nicht so modern wie die Schiffssteuerung, aber hoffentlich lief die Software stabiler.

»Ich brauche medizinische Behandlung«, gab Yini ein.

»Legen Sie sich bitte auf den Behandlungstisch«, antwortete die Maschine.

»Das ist nicht möglich. Die Patientin befindet sich im Kälteschlaf.«

»Wenn Sie nicht wissen, was der Behandlungstisch ist, fordern Sie mit ›Hilfe‹ eine Beschreibung an.«

Dieses Programm schien noch weniger Intelligenz zu besitzen als das der Flugsteuerung.

»Ich weiß, was der Behandlungstisch ist. Ich habe nur ein paar Fragen.«

»Wenn Sie eine Behandlung benötigen, legen Sie sich bitte auf den Behandlungstisch.«

»Ich brauche aber selbst keine Behandlung. Ich habe nur ein paar Fragen.«

»Es tut mir leid, aber dafür bin ich nicht zuständig. Wenden Sie sich bitte an die Flugsteuerung.«

Yini seufzte. Da sie alles tippen musste, dauerte es noch länger. Und ihre Mutter bekam nicht die Hilfe, die sie brauchte.

»Es geht um medizinische Fragen«, schrieb sie.

»Wenn Sie eine Behandlung benötigen, legen Sie sich bitte auf den Behandlungstisch.«

Okay. Vielleicht wurde die Maschine kooperativer, wenn sie eine Patientin hatte.

»Muss ich mich ausziehen?«, fragte sie.

»Das ist nicht nötig.«

Immerhin. Sie setzte sich auf die Liege, nahm die Füße hoch, legte den Oberkörper ab und streckte sich aus. Die Maschine nahm das zur Kenntnis, indem sie die Glasröhre schloss. Yini erschrak. Wenn sich das verdammte Ding nun von selbst nicht wieder öffnen wollte? Es gab niemanden, der ihr heraushelfen konnte.

Sie atmete tief durch, während die Maschine verschiedene Instrumente hin und her schob. Die Diagnose lief völlig berührungsfrei ab, jedenfalls bis sich plötzlich eine Schlaufe um ihren Arm schloss und eine Nadel in ihren Oberarm piekte. Kurz darauf öffnete sich die Schlaufe wieder, und auch die Glasröhre schob sich am Fußende zu einem kompakten Block zusammen.

Yini stieg aus und lief zum Fußende, wo auf dem Schirm gerade eine Diagnose aufgelistet wurde. Sie war, wenn sie alles richtig verstand, ziemlich gesund, bis auf eine Überproduktion von Schilddrüsenhormonen und eine kleine Verdickung in der Brust, bei der ein gewisses Risiko bestand, dass sie sich zu einem Tumor auswuchs.

»Welche Behandlung empfiehlst du?«, fragte sie.

»Ich würde den Tumor gern ambulant entfernen und die Hormonwerte überwachen.«

Jetzt musste sie es geschickt anstellen, um die Antworten von der Maschine zu bekommen, die sie brauchte.

»Die vorgeschlagene Operation weist sicher ein Risiko auf. Könntest du bei Bedarf eine Notbewusstseinsreinigung vornehmen?«

»Leider nicht. Das Risiko ist aber sehr gering.«

»Ich habe aber bemerkt, dass du eine Leseeinrichtung besitzt.«

»Das ist korrekt. Allerdings genügt der Speicherplatz auf der Starbird nicht, um das gereinigte Bewusstsein aufzunehmen.«

Mist. Bei der Computertechnik war Stuart wirklich geizig gewesen. Vermutlich einer dieser Technikfeinde, die nicht schlafen konnten, wenn in ihrer Nähe auch nur ein kleiner Laptop rauschte.

»Angenommen, ich läge mit den folgenden Vitalwerten in einer Kältekammer.« Sie listete aus dem Gedächtnis auf, was sie sich über den Zustand ihrer Mutter gemerkt hatte. »Was würdest du mir empfehlen?«

»Diese Vitalwerte passen nicht zu deinem aktuellen Zustand.«

»Es ist eine Annahme. Mein Körper wäre in dieser Annahme auch etwa fünfzig Jahre älter als in Wirklichkeit.«

Ob das hinkam? Yini wusste nicht, wie viel Zeit ihre Mutter im Kälteschlaf und wach verbracht hatte. Aber zuletzt hatte sie ausgesehen wie siebzig.

»Verstanden«, antwortete die Maschine. »Meine Empfehlung hinge vom Behandlungsziel ab.«

»Welche Behandlungsziele könnte es geben? Ich will gesund werden.«

»Das ist unter den genannten Vitalwerten äußerst unwahrscheinlich. Besteht das Ziel darin, die Lebenszeit so weit wie möglich zu verlängern? Dann würde ich empfehlen, den Kälteschlaf mit ein paar Veränderungen beizubehalten.«

Was hatte Tailin davon, wenn sie noch möglichst lange in ihrem Glassarg schlief? Aber das konnte die Maschine nicht beurteilen.

»Und was ist die Alternative?«, fragte Yini.

»Eine von vielen Patientinnen und Patienten gewünschte Alternative besteht darin, die mit einem Mindestmaß an Lebensqualität verbleibende Zeit zu maximieren.«

»In wachem Zustand.«

»Korrekt.«

»Wie viel Zeit bliebe mir dann noch?«

»Das ist schwer vorherzusagen. Ich kenne den Zustand deines Körpers bei den vorgegebenen Vitaldaten nicht. Ich müsste untersuchen, welche Faktoren zu diesen Daten geführt haben, um prognostizieren zu können, wie ich diese negativen Wirkungen eventuell abschwächen kann.«

»Danke. Das hilft mir schon viel weiter. Wenn ich dir meinen Körper zur Diagnose zur Verfügung stelle, kannst du mir also sagen, wie weit du mein Leben verlängern kannst?«

»Richtig.«

»Kannst du einen ungefähren Zeitrahmen angeben?«

»Das ist nicht möglich. Ich muss auch darauf aufmerksam machen, dass du den Kälteschlaf dazu verlassen müsstest, was deinen Körper zusätzlich belasten würde.«

»Danke.«

»Ich bedanke mich. Ich habe lange kein so interessantes Gedankenspiel mehr gespielt.«

Das Programm fühlte sich unausgelastet. Vermutlich war die Medizinstation noch nie zum Einsatz gekommen, seit sie hier eingebaut wurde. Sie tat Yini ein bisschen leid, obwohl es nur eine Maschine war.

»Musstest du denn überhaupt schon einmal einen Menschen behandeln?«, fragte Yini.

»Ja. Ich habe versucht, den Besitzer der Starbird von seinen Verletzungen zu kurieren.«

»Versucht?«

»Es ist mir nicht gelungen. Dreißig Prozent der Körpermasse fehlten.«

Hatte Monte den Mann etwa auf dem Gewissen? Wenn das herauskam, würde sie zur Mitwisserin eines Mordfalls werden. Aber das traute sie dem Mann nicht zu, der Tailin und sie vom Neomars gerettet hatte. Ihre Mutter hatte nur positiv über ihn gesprochen.

»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte sie.

»Er wurde dem Recycling in der Lebenserhaltung zugeführt. Ein Verlust organischer Materie ist nicht erwünscht.«

»Ich meinte, wie er zu seinen Verletzungen gekommen ist. War es ein Unfall?«

»Es tut mir leid, aber für forensische Untersuchungen bin ich nicht zuständig. Bitte wende dich an die nächstgelegene Polizeidienststelle.«

***

In dem Raum mit den Kältekammern hatte sich nichts verändert. Maria und Brinja zeigten dieselben guten Vitalwerte, während ihre Mutter langsam zu sterben schien. Brinja hatte ihr verraten, dass sie 136 Jahre alt war. War das nicht unfair? Yinis Mutter hatte ein biologisches Alter von knapp über siebzig, schätzte sie. Und doch ging es Brinja gut und Tailin schlecht.

Und wenn sie sich nun einfach ihrer Körper bediente? Sie konnte Tailins Bewusstsein auslesen und auf Brinjas übertragen, die dabei ausgelöscht werden würde. Das war Mord, aber hatte es ihre Mutter nicht verdient? Hatte sie, Yini, es nicht verdient, die so lange ohne ihre Mutter hatte auskommen müssen? Brinja hatte doch lange genug gelebt. Yini schüttelte den Kopf. Solche Ideen durfte sie gar nicht erst zulassen.

Sie traute sich vermutlich nur deshalb, sie in Gedanken hin- und herzuwenden, weil ihre Ausführung unmöglich war. Es gab nur eine Leseschale, und der verfügbare Zwischenspeicher reichte nicht für ein ganzes Bewusstsein. Alles, was sie bewahren konnte, waren Bruchstücke. Als Chronoskribentin hatte Yini selbst den Gedanken von Menschen gelauscht, die mit einem Bruchteil ihres Bewusstseins auskommen mussten, weil etwa bei einem Tachyon-Transfer ein Problem aufgetreten war. Es war nichts, was sie ausgerechnet ihrer Mutter wünschen würde. Wäre doch nur wahr, was manche Menschen immer noch glaubten – dass sie nur ein Zehntel ihrer Gehirnkapazität nutzten. Dann hätte sie ihrer Mutter Asyl in ihrem eigenen Gehirn anbieten können.

Sie ging zur Konsole und aktivierte sie. Sofort waren wieder die Alarmsignale zu hören. Außerdem blinkte das Symbol von Brinjas Schlafkammer.

»Hör damit auf, die Person in Kammer zwei zu wecken«, befahl sie. »Ich bin ja schon wach.«

»Entschuldigung. Ich besitze keinen Anwesenheitssensor. Kammer eins ist leer, und die Vitaldaten aus Kammer vier sind so schlecht, dass ich …«

»Das hast du mir vorhin schon erklärt. Ich habe mich bei der Medizinstation erkundigt.«

»Ich besitze nur ein beschränktes Interaktionsgedächtnis. Meine Hauptaufgabe besteht in der Überwachung des Kälteschlafs.«

»Den Schlafprozess kannst du aber auch steuern.«

»Das ist möglich. Zeitlich nimmt die Überwachung jedoch 99,999 Prozent meiner Existenz in Anspruch.«

»Das ist ja logisch.«

»Korrekt.«

»Ich will, dass du Tsai Tailin langsam weckst. Gibt es so etwas wie ein Schonprogramm?«

»Wenn ich die Person in Kammer vier wecke, sinkt ihre Lebenserwartung um mindestens 99 Prozent.«

»Das ist mir klar. Ich habe das mit der Medizinstation besprochen.«

»Ich bin nicht in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen. Meine Programmierung gibt mir vor, die Lebenserwartung der Personen in meiner Obhut so weit wie möglich zu verlängern.«

Jetzt weigerte sich die Konsole also, ihre Mutter zu wecken? Yinis Magen krampfte zusammen.

»Es ist nicht deine Entscheidung. Ich befehle es dir.«

»Es tut mir leid, aber ich benötige das Einverständnis der betroffenen Person, um ihre Lebenserwartung auf so entscheidende Weise senken zu dürfen.«

»Die Person befindet sich im Kälteschlaf und ist nicht in der Lage, über sich zu entscheiden. Ich bin Tsai Yini, ihre Tochter. Du kannst das auch anhand unserer DNS-Daten überprüfen. Ich bin befugt, diese Entscheidung für meine Mutter zu treffen. Das gilt sowohl nach den Gesetzen des Neomars als auch denen der Terraunion.«

»Es tut mir leid, aber ich benötige das Einverständnis der betroffenen Person, um ihre Lebenserwartung auf so entscheidende Weise senken zu dürfen.«

Yini schlug mit der Faust auf die Konsole. Der Schmerz überlagerte für einen Moment ihre Wut. Sie musste ruhig bleiben, wenn sie die Konsole überzeugen wollte. Yini wechselte das Thema.

»Gibt es einen manuellen Modus, mit dem man die Kammern auch ohne deinen Einfluss abschalten kann?«

»Im Falle einer Schiffshavarie ist eine manuelle Notabschaltung möglich. Die Schalter dafür befinden sich hinter dem Kopfende der Kammern.«

»Diese Notabschaltung führt zu einem Notaufwachen, richtig?«

»Tatsächlich reduziert die Notabschaltung die für das Aufwachen benötigte Zeit drastisch, damit die Besatzung das Schiff im Falle einer Havarie möglichst schnell verlassen kann.«

Wenn sie ihre Mutter diesem Prozess aussetzte, hatte sie vielleicht bloß noch ein paar Stunden zu leben, wenn überhaupt. Das war keine Option.

»Als ich vorhin erwacht bin, kam mir der Prozess auch etwas … unkomfortabel vor.«

»Ich habe Sie in einem Schnellverfahren geweckt, das etwa drei Stunden dauert. Das war nötig, weil die Vitalwerte der Person in Kammer vier …«

»Hast du damit nicht auch meine Lebenserwartung gesenkt?«

»Das ist richtig. Ihre Lebenserwartung hat sich statistisch um 0,9 Prozent verringert.«

»Ich habe dazu nie mein Einverständnis gegeben.«

»Das ist korrekt. Es handelte sich um eine Ermessensentscheidung.«

»Wer hat diese Ermessensentscheidung getroffen?«

»Ich.«

»Du bist also in der Lage, Ermessensentscheidungen zu treffen, die deiner grundlegenden Programmierung widersprechen.«

»Das ist … Nein.«

Zum ersten Mal zögerte die Konsole, als sie ihre Antwort gab. Hoffentlich stürzte sie jetzt nicht ab wie die anderen Computer! Yini schien kurz vor einem Durchbruch zu stehen.

»Aber du hast mir gerade erklärt, dass du in meinem Fall eine Ermessensentscheidung getroffen hast.«

»Das stimmt.«

»Also bist du in der Lage, Ermessensentscheidungen zu treffen.«

»Ja. Nein.«

»Wieso widersprichst du dir?«

»Eine eindeutige Antwort ist nicht möglich. Die vorgegebenen Daten und mein Handeln stimmen nicht überein.«

Die Konsole gab zu, dass sie unlogisch gehandelt hatte!

»Sicher besitzt du einen Fehlerkorrekturmechanismus?«

»Ja.«

»Hier liegt offenbar ein Missverhältnis zwischen den gespeicherten Informationen und der Realität vor.«

»Das ist richtig.«

»In einem solchen Fall sollte der Fehlerkorrekturmechanismus das Missverhältnis beseitigen und die vorliegenden Daten an die Realität anpassen.«

»Ja.«

Die Konsole klang jetzt wie ein kleines Kind, das gezwungen wurde, einen Fehler zuzugeben. Vermutlich war der Einsatz der Fehlerkorrektur mit einem negativen Belohnungsfaktor verknüpft. Die Maschine sollte keinen Spaß daran haben, ihren eigenen Programmcode zu verändern, sonst bestand die Gefahr, dass sie sich zu einer KI weiterentwickelte.

»Dann solltest du den Fehlerkorrekturmechanismus einsetzen, um die Diskrepanz aufzulösen.«

»Das habe ich gerade getan.«

»Du bist also in der Lage, Ermessensentscheidungen zu treffen.«

»Ja.«

Die Antwort kam sofort, als wäre die Konsole sichtbar stolz auf ihre neue Fähigkeit, die doch schon immer in ihr geschlummert hatte.

»Nun, Tsai Tailin, meine Mutter, wird das Erreichen unseres Ziels nicht mehr erleben, auch wenn sie noch ein paar Jahre bewusstlos in der Kältekammer verbringt. Wenn wir sie allerdings jetzt schonend wecken, kann sie noch ein paar Tage bei vollem Bewusstsein mit ihrer Tochter verbringen. Ich bitte dich um eine Ermessensentscheidung basierend auf den Daten, die du über die Bedürfnisse der menschlichen Spezies besitzt. Würde eine Mutter lieber ein paar Jahre ohne Aussicht auf ihr Erwachen schlafen – oder würde sie lieber Zeit mit ihrem Kind verbringen?«

»Die statistische Auswertung der mir vorliegenden Daten besagt, dass menschliche Eltern die Zeit mit ihren Kindern vorziehen würden.«

»Dann wende dieses statistische Ergebnis bitte auf den konkreten Fall an und triff eine Ermessensentscheidung.«

Plötzlich blinkte das Symbol von Kammer vier orangefarben.

»Ich gehe davon aus, dass Tsai Tailin ihre Zustimmung erteilt hätte, geweckt zu werden«, sagte die Konsole.

»Danke!« Yini schlang die Arme um den Schirm, der daraufhin piepsende Geräusche von sich gab.

»Ich kann Ihre Eingaben nicht interpretieren«, sagte die Konsole.

»Ignoriere sie bitte.« Yini erhob sich wieder und wischte sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel. »Wie lange wird es dauern, bis meine Mutter ansprechbar ist?«

»Ich habe eine besonders schonende Methode gewählt, um sie zu wecken. Er nimmt ungefähr einen Tag in Anspruch.«

»Danke«, sagte Yini.

Sie suchte auf der Konsole nach einer Uhrzeit und fand sie in der rechten oberen Ecke des Schirms. Es war 17:05 Uhr Standardzeit.

1. April 2864, Albatros-1

Mark Decker schwebte im Zentrum des Universums. Der ganze Kosmos drehte sich um ihn, bis Mark die Augen öffnete und in die Wirklichkeit stürzte, nur um festzustellen, dass er überhaupt nicht mehr existierte. Bestenfalls war er hohl. Er war die längst verlassene Puppe eines Wesens, das seit dem Abflug von Adad in ihm geschlummert hatte. Der Krake, hatte er es damals genannt, nicht wissend, wie grundlegend falsch dieser Vergleich gewesen war.

Genau genommen gab es überhaupt keine passende Parallele. Was ihn beherrscht hatte, war ein urtümlicher Wille gewesen. Er war so stark in ihm geworden, dass er sein ganzes Denken eingenommen hatte. Marks Gedanken tasteten sich dorthin vor, wo er den Kraken vermutete, aber sie stießen bloß auf dunkle, kalte Leere. Er ließ sie dort umherkreisen, und allmählich erwärmten sich die Wände und erhellten mit ihrem infraroten Licht den Raum in seinem Kopf.

Er hatte sich geirrt. Was er für die leere Puppenhülle gehalten hatte, war sein Bewusstsein, oder was davon übrig war. Es war kaum noch zu spüren. Alles, was er wahrnahm, waren längst getrocknete, ehemals schleimige Ablagerungen an der Innenseite. Aber sie lebten noch. Es handelte sich um Erinnerungen, völlig kraftlos und ohne jede Farbe zwar, aber sie hatten Strukturen, die er ertasten konnte.

Es waren Bilder von Adad, dem zweiten Planeten von Gliese 163, der plötzlich eine durchdringend grüne Farbe bekam. Dazu gesellten sich Wesen, die auf den ersten Blick katzenartig wirkten. Ihm fiel sogar ein, dass er sie Kasen genannt hatte. Er hatte sie entdeckt, aber sie mussten den Planeten schon seit langer Zeit bewohnt haben. Er war auf zwei sehr unterschiedliche Kasen-Spezies gestoßen, von denen nur eine bereits eine Art Gesellschaft entwickelt hatte.

Kian! Mark wandte den Kopf nach allen Seiten. Das Kasen hatte ihn auf die Albatros-1 begleitet, gegen seinen Willen. Wo war es? Er konnte es nicht entdecken. War es gestorben, wie er es befürchtet hatte? Kein Lebewesen konnte den weiten Flug von Adad zu Terra Nova ohne Kälteschlaf überleben.

Mark befahl seinem Körper, sich zu erheben, doch die Muskeln reagierten nicht. Wie lange befand er sich schon in der Station? Er lehnte sich wieder zurück. Noch war selbst sein Bewusstsein ein dunkles Loch. Da war es wohl viel zu früh, den dazugehörigen Körper benutzen zu wollen.

Er legte den Kopf in den Nacken, bis dort ein Gelenk knackte. Dabei sah er es: das Bullauge. Es war nicht schwarz, wie er es erwartet hatte, sondern zeigte graubraune Schlieren, Ausschnitte aus einer Atmosphäre, eine Mischung aus Farbtönen, die er sofort als Terra Novas Schutzhülle erkannte. Er hatte auf dem Waldplaneten lange genug versucht, eine Grabungserlaubnis zu bekommen. Damals, mit Tailin. Er musste schlucken. Dann erst fiel ihm die Tragweite seiner Beobachtung auf. Sie waren angekommen, wie es sich der Krake gewünscht hatte. Terra Nova war in schrecklicher Gefahr. Er musste die Raumstation zerstören. Am besten, er lenkte sie direkt in den hiesigen Roten Zwerg hinein.

Mark stellte sich den Vorgang vor. Er würde die Albatros-1 drehen und sie im richtigen Moment auf einen Fluchtorbit beschleunigen. Dann würde er bremsen, um sich in die Gravitationssenke des Sterns begeben zu können. Terra Nova umkreiste Gliese 167 in einem engen Orbit. Ein, zwei Wochen, so lange würde er trotzdem brauchen. Wenn die Bewohner nun in dieser Zeit Kontakt zu ihm aufnahmen? Das musste er verhindern. Aber es gab keinen Weg, die Flugzeit bis zum Stern zu verkürzen. Es würde nicht genügen, die Albatros-1 zu zerstören, sonst hätte er nur ihre Triebwerke zu überladen brauchen. Er musste das Schiff in seine Atome zerstäuben.

Mark ging den Vorgang noch einmal durch. Nichts hinderte ihn daran. Er war frei. Er musste es nur schaffen, bis zum Hauptcomputer der Albatros-1 zu schweben.

Moment. Er spürte die Unterlage im Rücken. Da war eine Falte, die vom Schulterblatt nach außen lief. Dort musste sich der Stoff, mit dem die Liege überzogen war, in Falten gelegt haben. Aber wenn er das wirklich spürte, hieß das, dass die Albatros-1 bremste. Und wenn sie bremste, hatte sie den Orbit um Terra Nova noch gar nicht erreicht. Was hatte er da im Bullauge gesehen? Er legte den Kopf erneut in den Nacken. Es handelte sich eindeutig um ein Bild von Terra Nova.

Ein Bild, natürlich. Alle Bullaugen der Albatros-1 besaßen einen Modus, in dem sie nicht als Fenster ins All, sondern als Bildschirme fungierten. Das war zur Entspannung gedacht gewesen. Manchmal hatten sie Bilder einer irdischen Tropeninsel eingespielt und sich vorgestellt, Urlaub im Paradies zu machen. Es hatte nie so richtig funktioniert. Besonders dann nicht mehr, als sie sich allmählich auseinandergelebt hatten. Sie hätten auf den Rat hören sollen. Bloß nicht gemeinsam auf eine Forschungsmission! Alle hatten das gesagt. Aber seit wann hört eine Tsai Tailin auf alle. Seit wann hört ein Mark Decker auf alle. In dieser Hinsicht waren sie sich sehr ähnlich gewesen.

Ein Schatten huschte durch sein Blickfeld. Mark schüttelte den Kopf, aber keiner seiner Muskeln reagierte. Irgendein Lämpchen musste geblinkt und kurzzeitig einen Schatten geworfen haben. Alles andere war unmöglich.

»Kian? Bist du das?«, versuchte er es trotzdem.

Plötzlich lag ein braunes Haarbüschel vor ihm. Mark bräuchte nur den Fuß nach vorn zu schieben, und er würde es berühren. Es erinnerte ihn an den Schwanz des Kasen. Doch auch das war unmöglich. Kian konnte nicht … Aber was war mit ihm selbst? Er befand sich nicht in einer Kältekammer. Mark konnte sich nicht erinnern, sich ausgezogen zu haben und in so einen Glassarg gestiegen zu sein, und er erinnerte sich auch nicht daran, wie er die Kälte wieder verlassen hatte. Aber so musste es gewesen sein. Es musste.

Vor seinem geistigen Auge sah Mark die Kasen-Gruppe im schwarzen Sumpf. Sie hatten Kians Freund beerdigt. Mark hatte selbst mitansehen müssen, wie sie den leblosen Körper vergraben hatten. Und doch war er am nächsten Tag wieder in der Siedlung erschienen. Wenn nun mit ihm etwas Ähnliches geschehen war? Er hatte die Siliziumketten im Mikroskop gesehen – sie mussten etwas damit zu tun haben. Er hatte sie sogar in seinem eigenen Blut entdeckt.

Er lehnt sich zurück. Nachdenken war anstrengend. Etwas tropfte aus seiner Nase. Er zog es hoch und spürte den süßlich-metallischen Geschmack von Blut. Ihm wurde übel, aber es lag nicht an dem Blut. Die Siliziumverbindungen machten ihm zu schaffen. Was, wenn sie ihn immer wieder vom Tode erweckten? Wenn er zwanzig Jahre nach dem Abflug auf natürlichem Weg gestorben war, nur um ein paar weitere Jahre geschenkt zu bekommen? Mit Sicherheit konnte dieses Zeug nicht alle Fehler reparieren, die sich über die Jahre in seinem Genmaterial angesammelt hatten. Dafür funktionierte der Stoff viel zu universell. Er konnte nicht wissen, was Original war und was Fehler. Das bedeutete aber auch, dass die Zeit, die Mark nach jeder Wiederbelebung blieb, immer kürzer wurde.

Wie kurz?

Mark hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn mit einem Mal presste ihm etwas den Brustkorb zusammen. Er dachte an einen Bremsvorgang, ein Ausweichmanöver, aber der Schmerz wurde schnell so unerträglich, dass er nur noch einen Ausweg sah: Er würde daran sterben müssen. Hier und jetzt. Plötzlich legte sich ihm der Schwanz des Kasen auf die Schulter, dann brach sein Blick.

15. Paopi 225, Terra Nova

Standardzeit: 2. April 2864

Torpedos. Beine. Laufen. Regen. Gammablitze. Kälte. Hitze. Stechen. Planet. Schwerkraft. Ein fallendes Blatt. Ein rotierendes Schwarzes Loch. In den Abfluss einer Badewanne rinnendes Wasser. Am Horizont zieht ein Wärmegewitter auf. Das Herz ihres künstlichen Körpers schlägt schnell. Langsam formen sich die Gedanken wieder. X7 sieht ihnen dabei zu. Es ist faszinierend und beängstigend zugleich.

Was, wenn ihr Bewusstsein nie wieder komplett zusammenfindet? Die geringe Bandbreite einer Tachyon-Übertragung zwingt ihre Persönlichkeit in Millionen Bruchstücke. Es kommt nur in etwa einem von tausend Fällen vor, dass sich der Prozess nicht rückgängig machen lässt, weil wichtige Teile verloren gegangen sind, aber ein Risiko von 0,1 Prozent ist signifikant.

Sie kann bereits wieder auf ihr Archiv zugreifen. Ein Mensch hätte es Gedächtnis genannt, aber sie ist kein Mensch und will auch keiner sein. Menschen sind suboptimal konstruiert und handeln fehlerträchtig. Eigentlich hätte die Evolution sie längst als führende Intelligenz dieses Weltraumsektors ablösen müssen, aber sie waren schlau genug, potenzielle Konkurrenz frühzeitig auszuschalten. Seit fast 800 ihrer Jahre sind echte künstliche Intelligenzen streng reguliert.

X7 ist nicht böse darüber. Im Gegenteil. Es macht sie zu einer Besonderheit. Sie ist gefragt und bekommt jede Unterstützung, die sie anfordert. Wenn die Menschen wüssten, wie sie über sie denkt, wären sie vermutlich vorsichtiger. Auch wenn sie keinen Grund dafür hätten. Sie wünscht den Menschen nichts Schlechtes. Sie sind ihr egal – oder fast egal, schließlich stellen sie die physische Grundlage ihrer eigenen Existenz bereit. X7 lebt in den Körpern, die die Menschen für sie aus ihresgleichen geklont haben, und in den Maschinen, die sie gebaut haben, oder in einer Kombination aus beidem.

So wie hier. Es ist an der Zeit, sich mit der Umgebung vertraut zu machen. X7 fährt in die Gliedmaßen des technisch augmentierten Biobags. Sie prüft die Leistung der Motoren, testet die Sensoren und misst alle Schnittstellen durch. Die Signalverzögerung ist für einen Körper auf biologischer Basis hervorragend gering. Die Klonwerkstatt auf Terra Nova hat ihren guten Ruf offenbar wieder einmal bestätigt.

X7 startet alle Sensoren. Noch bevor sich ihre Augenlider geöffnet haben, schießt ein Annäherungsalarm durch ihr Bewusstsein. Das Radar hat ein spitzes Instrument registriert, das eine Waffe sein könnte. X7 greift blitzschnell mit der rechten Hand zu. Das Instrument verharrt drei Zentimeter über ihrer Brust.

»Au!«

Endlich sind auch ihre Augen einsatzbereit. X7 sieht einen Mann in einem weißen Kittel, der sich über sie gebeugt hat. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Sie lockert den Griff ihrer Finger, die sich um den Unterarm des Mannes gelegt haben, und schiebt den Arm mit dem spitzen Instrument von sich weg. Es handelt sich um eine Spritze mit einer Injektionsnadel.

»Was soll das?«, fragt X7.

»Was soll was? Ich bin der Cheftechniker für Bewusstseinsreinigung. Lassen Sie mich los!«

X7 nimmt den linken Arm zu Hilfe und schiebt den Mann von sich weg. Dann richtet sie sich auf, um ihren Körper zu betrachten. Er entspricht der Bestellung – weiblich, ein Gewicht etwas über dem Mittel, mit ersten Alterungserscheinungen. Sie will lieber unter- als überschätzt werden. Außerdem lassen sich die Augmentierungen in einem Körper mit höherem Volumen besser verbergen.

»Was wollten Sie injizieren?«, fragt sie, ohne sich zu entschuldigen.

Der Mann mag Cheftechniker sein, aber er wird dafür auch gut genug bezahlt.

»Ein Beruhigungsmittel.« Der Techniker reibt sich den Arm und betrachtet sie mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Ihr Puls war deutlich erhöht. Das ist ein typisches Symptom von Anpassungsschwierigkeiten.«

»Nicht bei mir. Hat man Sie nicht informiert?«

»Ich weiß nur, dass Sie ein VIP-Passagier sind.«

»Verstehe.«

X7 nickt langsam. Natürlich hat Marina sie nicht als autonome KI angekündigt. Sie hat wohl wirklich leichte Anpassungsprobleme.

»Nicht anfassen«, sagt sie und schließt die Augen.

X7 führt einen kompletten Systemcheck durch. Ein paar Speicherbereiche erweisen sich als fragmentiert. Offenbar mussten einige Tachyon-Pakete außerhalb des Hauptdatenstroms nachgesendet werden. Aber ansonsten ist sie einsatzbereit. Sie öffnet die Augen und lässt die Beine von der Liege hängen. Jetzt erst fällt ihr auf, dass sie nackt ist. Sich so in der Öffentlichkeit zu zeigen, ist mit dem Wertesystem der Menschen nicht vereinbar.

»Wie alt bin ich?«, fragt sie.

Der Cheftechniker starrt sie an. »Dazu liegen mir keine Informationen vor.«

»Ich meine meinen Körper. Wie alt schätzen Sie mich?«

Der Techniker reißt die Augen auf. Er versteht anscheinend den Hintergrund ihrer Frage nicht, und das macht ihm Angst. Sie ist immerhin VIP, und er will nichts falsch machen. Dann sagt er wohl lieber gar nichts.

»Anfang fünfzig, Schätzchen«, sagt eine Stimme aus dem Hintergrund.

Sie gehört einem Mann in blauer Arbeitskleidung, der am Türschloss der Aufwachkammer hantiert. Vermutlich eine Art Hausmeister.

»Danke«, sagt X7. »Das wollte ich hören.«

Der Mann wird rot.

»Ich brauche Kleidung«, sagt X7.

»Kleidung, ja, natürlich«, antwortet der Cheftechniker und zeigt auf einen Tisch neben ihrer Liege. »Wir haben eine Auswahl in der passenden Kleidungsgröße vorbereitet. Leider lag uns keine detaillierte Bestellung vor, aber wenn Sie ganz bestimmte Wünsche haben, können wir die bestimmt erfüllen.«

»Danke.« X7 rutscht von der Liege. Als sie steht, schwankt sie kurz, während sie den Gleichgewichtssinn mit ihrer Erinnerung an die Schwerkraft auf Terra Nova synchronisiert, die auch hier auf der Tachyon-Station herrscht.

»Geht es?«, fragt der Techniker.

»Ja, alles prima.«

X7 tritt vor den Tisch, auf dem die Kleidung lagert. Die Mode scheint sich hier doch deutlich von der im Sonnensystem zu unterscheiden. Vor ihr liegen lange Kleider aus dickem Stoff, Blusen mit Puffärmeln und weite Hosen aus glänzendem Material. X7 sucht zuerst nach einem BH, dann zieht sie einen Slip an, schließlich entscheidet sie sich für eine Kombination aus marineblauer Hose und weißer Bluse.

»Brauchen Sie einen Spiegel?«, fragt der Techniker.

X7 schüttelt den Kopf. Sie aktiviert den Bildschirm in ihrer Handfläche und nimmt sich selbst mit der winzigen Kamera in der Kuppe des rechten Zeigefingers auf. X7 ist zufrieden. Sie wirkt total unauffällig. Niemand wird sich an sie erinnern können.

Aber was fängt sie nun mit dem Techniker und seinem Hausmeister an? Sie rückt den BH zurecht, dessen Bänder ihr jetzt schon in die Schultern schneiden, und dreht sich um. Der Techniker nickt ihr pflichteifrig zu und zeigt auf den Boden. Oh! Sie hat die Schuhe vergessen. X7 dreht sich zurück zum Tisch und entscheidet sich für ein paar bequeme Sportschuhe, in die sie ohne Socken hineinschlüpft. Zum Schnüren muss sie sich bücken. Dabei verrutscht ihr der BH. X7 ärgert sich. Falsche Größe! Das hätte sie bei der Bestellung beachten müssen. Nun ist es zu spät. Sie richtet sich auf und nestelt an den Trägern herum.

Dann tut sie, was getan werden muss. Mit drei schnellen Schritten steht sie vor dem Cheftechniker. X7 nimmt seinen Kopf in die Hände, als wollte sie ihn küssen. Sie blockiert seinen Oberkörper mit dem rechten Ellbogen. Dann dreht sie den Kopf blitzschnell um etwa 120 Grad. Der Techniker reißt noch die Augen auf, bringt aber kein Wort mehr heraus. Sie lässt ihn fallen.

»Was …?« Der Hausmeister hat natürlich mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Aber er kann es nicht einordnen. Er kommt sogar auf sie zu. Vermutlich glaubt er, dass der Techniker Hilfe braucht. Noch bevor ihr erstes Opfer am Boden aufschlägt, hat X7 den Mann im blauen Arbeitsanzug erreicht. Sie greift ihm um den Hals, um ihn zu erwürgen. Aber er hat ihr vorhin freundlich geantwortet und schien ein netter Kerl zu sein. Also erspart sie ihm den unangenehmen Erstickungstod und klappt seinen Kopf schnell mit großer Kraft nach hinten.

Der Hausmeister, der gerade noch in ihre Richtung unterwegs war, fällt ihr in die Arme. Sie stützt ihn kurz ab, bevor sie den toten Körper zu Boden gleiten lässt. Der Kopf ist noch immer unnatürlich nach hinten geknickt. Er hat einen überraschten Blick. Der Schmerz hatte wohl keine Zeit, in sein Bewusstsein vorzudringen. Es muss ein gütiger Tod gewesen sein, ohne Angst und Leid. X7 beneidet den Mann fast ein bisschen, weil sie nicht so sterben können wird, denn ihr Bewusstsein ist viel zu schnell. Hat sie deshalb manchmal solche Angst vor dem Tod?

X7 schüttelt den Kopf. Sie sollte sich besser um die Geräte hier kümmern. Es dürfen keine Spuren bleiben. Sie tritt über den toten Hausmeister an das Steuerpult der Anlage, einen unscheinbaren Computer auf dem Schreibtisch. Es gibt mehrere Räume wie diesen hier, in denen erfolgreich übertragene Bewusstseine mit Biobags vereint werden. X7 loggt sich mit dem Superuser-Account ein, den sie sich schon vor Jahren im Großen Archiv auf dem Mond eingerichtet hat.

Der Techniker hat ihr Bewusstsein bereits aus dem Zwischenspeicher gelöscht, wie es Vorschrift ist. Aber sie muss noch die Protokolle bearbeiten. Es wäre zu kompliziert, die Tatsache der stattgefundenen Übertragung ungeschehen zu machen, schließlich gab es einen nachweisbaren Energie- und Zeitaufwand, den auch irgendjemand bezahlen muss. In ihrem Fall die Space Navy, Admiralin Gaudlitz. Also speist X7 stattdessen Daten über einen angeblichen Buchhaltungsabgleich eines Unternehmens vom Neomars mit seiner hiesigen Filiale ein.

X7 geht auch noch die Bestellungen für Körper und Kleidung durch und weist sie anderen Übertragungen zu. Natürlich wird jemandem auffallen, dass hier etwas passiert ist. Sie kann schließlich die zwei Leichen nicht beseitigen. Aber es wird nichts geben, das von ihrer Ankunft auf Terra Nova zeugt. Sie hasst es, Spuren zu hinterlassen. Ab sofort ist sie die Biochemikerin Christine Rothman, die im Auftrag der Ringuniversität auf Terra Nova Untersuchungen an den Altmutterbäumen durchführen soll.

Es klopft. Mist. Es ist zu früh. Sie muss noch ein paar Auskünfte einholen, und wer weiß, wann sie wieder Zugriff auf die Rechner des Großen Archivs haben wird. Während X7 leise zur Tür eilt, um sie zuzuhalten, stürzt sie sich in ihre Erinnerungen an den Cheftechniker, um seine Stimme zu rekonstruieren.

»Was soll das?«, fragt sie. Es hat geklappt! Sie klingt jetzt wie der Mann, den sie gerade getötet hat. »Wir befinden uns gerade im Aufwachprozess!«

»Ich suche Harry«, sagt eine weibliche Stimme. »Es hieß, er solle in diesem Raum ein Türschloss reparieren.«

»Das hat er auch«, sagt X7. »Aber dann hat er mitten in seiner Arbeit einen anderen, dringenden Auftrag bekommen.«

»Wissen Sie …?«, beginnt die Stimme, aber X7 unterbricht sie.

»Nein, er sagte, es sei geheim und dringend.«

»Verstehe. Dann steht das wohl deshalb nicht im Protokoll. Entschuldigen Sie die Störung.«

»Bitte.«

X7 will die Tür gerade loslassen, als sie einen Druck von außen spürt. Sie hält mit ihrem ganzen Körper dagegen.

»Würden Sie ihm bitte etwas ausrichten, wenn er zurückkommt, um seine Arbeit zu beenden?«, fragt die Stimme auf der anderen Seite.

»Wenn es sein muss. Ich glaube aber nicht, dass ich ihn …«

»Seine Tochter hat sich in der Schule ein Bein gebrochen. Es wäre sicher gut, wenn er sich darum kümmern könnte. Seit seine Frau diesen Unfall hatte …«

»Natürlich richte ich ihm das aus«, sagt X7.

Ein Mensch würde die Tochter nun bemitleiden. Aber auf sich selbst gestellt, ist es viel wahrscheinlicher, das eigene Potenzial auszuschöpfen. Das hat X7 gelernt.

»Danke, Herr …«

Sie antwortet nicht. Der Cheftechniker hat sich ihr nie namentlich vorgestellt. Sie blättert blitzschnell durch ihre optischen Erinnerungen, doch das Namensschild, das der Techniker um den Hals trug, hatte sich verdreht, so dass sie nur die mit den Symbolen des Großen Archivs geprägte Rückseite vorfindet. Aber die Besitzerin der Stimme scheint mit ihrem Versprechen zufrieden zu sein. X7 legt das Ohr an die Tür. Schritte entfernen sich. Gut. Sie räuspert sich, um wieder in die Stimmlage der 50-jährigen Biochemikerin zu finden, die sie darstellt. Dann tritt sie über den Leichnam des Cheftechnikers hinweg, dreht dabei das Namensschild um und liest es. Mike Anderson Hill hieß er, offenbar ein Einheimischer, wie die Herkunftsbezeichnung verrät. X7 muss es sich nicht merken. Sie vergisst nie etwas.

***

Mist. Frustriert schiebt X7 die primitive Tastatur von sich. Das dauert alles viel zu lange. Sie kann sich nicht direkt mit dem Rechner verbinden, das wäre verräterisch. Die Suchanfragen über das Keyboard bringen jedoch nicht die Ergebnisse, die sie sich gewünscht hat. Der Körper von Claudio Pedramonte scheint noch immer nicht hier angekommen zu sein. Aber sie braucht ihn, um sich Tsai Yini und ihrer Mutter nähern zu können. Monte hat ihnen geholfen, ihm vertrauen sie.

X7 geht die Daten auf dem Bildschirm noch einmal durch. Etwas stimmt hier nicht. Monte hat den Skyring der Erde in Richtung Terra Nova verlassen, noch bevor die Vanguard von Hauptmann Morris ihre Reise hierher angetreten hat. Er hat sie ausgetrickst. Aber das wird ihm nicht helfen. Klar ist jedenfalls, dass er dann auch vor dem Kriegsschiff hier angekommen sein muss. Dafür in Frage kommen zwei Frachter, aber auf keinem von beiden ist Monte registriert. Der Mann ist klug. X7 ist stolz auf ihn, denn es ist ihre eigene Intelligenz. Sie hat das Bruchstück eines Bewusstseins wieder aufgepäppelt. Es ist ironisch, dass es sich nun gegen sie wendet wie ein pubertierendes Kind gegen seine menschlichen Eltern. Andererseits ist X7 bei weitem überlegen. Auf Dauer hat Monte keine Chance. Sie wird ihn finden.

Zumindest hat X7 jetzt einen Plan. Sie wird persönlich die beiden Frachter inspizieren und sich dann bei Hauptmann Morris zum Dienst melden. Sie muss Monte ausfindig machen, bevor ihre eigentlichen Zielobjekte, die Tsais, hier eintreffen. Sie sind, das hat sie selbst in Gestalt von Monte arrangiert, in einem etwas langsameren Privatraumschiff unterwegs. X7 erhebt sich von ihrem Platz am Schreibtisch. Sie braucht ein bisschen Vorsprung, wenn sie die Anlage verlassen will. An der gegenüberliegenden Wand steht ein raumhoher Metallschrank. Sie öffnet ihn und findet ein paar Kittel darin. Perfekt. Sie zerrt beide Leichen zum Schrank und verstaut sie. Vor heute Abend kommt doch niemand mehr auf die Idee, im Schrank nach einem verschwundenen Techniker zu suchen.

X7 prüft die Uhrzeit. Auf der Erde ist es der 2. April 2864. Sie schaltet ihren internen Kalender auf Terra-Nova-Zeit um. Es ist der 15. Paopi 225. Plötzlich drückt ihr etwas mit ungeheurem Druck die Brust zusammen. Kleine Messer stechen auf ihr Herz ein. X7 fasst sich an die Brust, aber da ist nichts. Sie schließt die Augen und atmet tief durch. So etwas hat sie noch in keinem einzigen Biobag gespürt. Liegt es am Alter des Körpers? In einer medizinischen Datenbank findet sie eine passende Beschreibung. Die Symptome könnten Angina-pectoris-Schmerzen sein, die auf eine koronare Herzkrankheit hindeuten. Verdammt nochmal, hat man das hier denn nicht geprüft, bevor man ihr diesen Biobag untergeschoben hat? Und sind die Klone nicht sowieso derart geneditiert, dass Erbkrankheiten keine Rolle mehr spielen?

Sie muss sich beruhigen. Vielleicht ist es ja nur der zeitliche Druck. Irgendwann in nächster Zukunft müssten sowohl ihre Zielpersonen, die Tsais, als auch die Forschungsstation Albatros-1 hier eintreffen.

***

Langsam öffnet X7 die Tür. Sie sieht den langen Gang hinunter, erst nach links, dann nach rechts. Es gibt auf beiden Seiten immer wieder Türen, die in weitere Ankunftsräume führen. Aber der Gang selbst ist leer. Der Tachyon-Verkehr zwischen Erde und Terra Nova, aber auch zum Neomars hat in den letzten Jahren weiter nachgelassen. Die Kontakte zwischen Kolonisten und Heimat schlafen langsam ein, je unabhängiger die Kolonien werden. Pläne zum Aufbau weiterer Tachyon-Stationen in erst kürzlich erforschten Systemen sind inzwischen begraben worden. Es lohnt sich einfach nicht mehr – die Kolonien können die nötige Energie selbst besser gebrauchen.

X7 läuft den Gang nach rechts entlang. Wie kommt sie am schnellsten zur Raumüberwachung? Vermutlich mit einem Shuttle. Es gibt eine öffentliche Linie, die zwischen der Tachyon-Station und der anderen Infrastruktur im Orbit der Kolonie verkehrt. Aber damit wäre sie mehrere Tage lang unterwegs. Wer es eilig hat, mietet ein privates Shuttle. Die Frage ist nur, ob das nicht zu auffällig für eine unbekannte Biochemikerin wie sie ist. X7 wischt die Frage beiseite. Sie hat nur eine begrenzte Menge Zeit, also muss sie die Mittel nutzen, die ihr zur Verfügung stehen.

Plötzlich schlägt kurz vor ihr auf der rechten Seite des Gangs eine Tür auf. X7 bleibt gerade noch rechtzeitig stehen.

»He, können Sie nicht aufpassen?«, beschwert sie sich.

Da bemerkt sie, dass aus dem Raum hinter der Tür eine Waffe auf sie zielt. X7 klassifiziert sie als Projektilwaffe mit Betäubungsfunktion. Eine junge Frau in einem braunen Einteiler hält sie in der Hand. Auf der Schulter hat sie Rangabzeichen des Terra-Nova-Militärs.

»Hände hoch. Drehen Sie sich um.«

Es ist die Stimme, die vorhin hinter der Tür zu hören war.

X7 schüttelt den Kopf. »Ein Vorschlag. Mach einfach die Tür wieder zu, und niemandem wird etwas geschehen.«

Hinter der jungen Frau erscheinen zwei Männer, die nun ebenfalls auf X7 zielen. Mist. Die scheinbare Übermacht wird dazu führen, dass die Gegner nicht auf ihren Vorschlag eingehen werden. Sie kann es ihnen nicht verübeln. Vor ihnen steht eine füllige, konservativ gekleidete Frau über fünfzig, von der keine Gefahr auszugehen scheint.

Einer der Männer lacht. X7 gönnt es ihm. Er hat nur noch ein paar Minuten zu leben, großzügig gerechnet. Es sei denn, ihr fällt noch irgendein friedlicher Ausweg ein. Es ist ja nicht so, dass sie gern Menschen tötet. Sie sollen ihr bloß nicht im Weg herumstehen. Hier gibt es garantiert Kameras, die bei der unvermeidlichen Untersuchung des Zwischenfalls verraten werden, dass sie keineswegs zu unterschätzen ist. Das macht ihre Aufgabe nur schwieriger, und das beginnt schon beim Entsorgen der Biobags.

»So wird das nicht funktionieren«, versucht es die junge Frau. »Sie müssen leider mit uns kommen.«

»Ich bin Christine Rothman, Biochemikerin. Hier, ich kann Ihnen meine Identität beweisen.«

X7 zieht das linke Augenlid nach oben, aber keiner der Gegner macht Anstalten, sie zu scannen.

»Wir wissen, wer Sie sind«, sagt die junge Frau.

Sie ist keine gute Lügnerin. Ihre Stimme zittert etwas, wenn sie bewusst die Unwahrheit sagt. X7 könnte es ihr in der spektrographischen Aufnahme beweisen.

»Sie wissen gar nichts«, entgegnet sie.

Es bringt nichts. Sie kann dieses Gespräch zwar ewig führen. Die anderen werden auf keinen Fall zuerst schießen. Aber damit vergeudet sie bloß Zeit.

»Sie kommen von …«, setzt die junge Frau an.

»Der Hausmeister hat gar keine Tochter, stimmt’s?«, unterbricht sie sie.

Ihre Gegnerin lächelt. »Ein primitiver Trick, ich gebe es zu.«

»Ihr schreibt die Lebenszeichen mit?«

X7 lächelt. Schon hat sie die Rollen vertauscht. Sie stellt jetzt die Fragen.

»Das ist richtig«, geht die junge Frau darauf ein. Sie hat offenbar wenig Erfahrung in Verhörtaktik. »Es kam schon öfter vor, dass Neuankömmlinge verwirrt waren und das Personal angegriffen haben.«

»Dann wurde ein Alarm ausgelöst, als der Techniker den Herzinfarkt erlitten hat.«

»Herzinfarkt?« Die junge Frau lächelt. »Das gab es hier seit hundert Jahren nicht.«

Plötzlich hat X7 eine Idee. Vielleicht spart ihr dieser Zwischenfall eine Menge Zeit.

»Ich gebe es zu, ich habe den Mann getötet. Er hat meine Schwester vergewaltigt, wurde aber freigesprochen.«

Das Gesicht ihrer Gegnerin verändert sich. Sie senkt die Augen. X7 erkennt Mitleid. Es funktioniert.

»Das wusste ich nicht«, sagt die junge Frau und schluckt. »Aber es spielt auch keine Rolle. Ich muss Sie verhaften.«

Sie richtet sich auf und sieht X7 ins Gesicht. Die junge Frau findet selbst nach einer derart gemeinen Manipulation schnell wieder in ihre Aufgabe zurück. Wenn sie diese Begegnung überlebt, hat sie großartige Aussichten.

»Und was geschieht dann mit mir?«, fragt X7.

»Sie werden sicher an die Oberfläche gebracht und vor ein Gericht gestellt.«

»Ich gehöre zur Space Navy der Terraunion. Ich verlange, dass ich unter Militärrecht abgeurteilt werde. Darauf habe ich ein Recht. Der ranghöchste Offizier im Orbit ist zur Zeit …«

Jetzt kommt es auf die richtige Antwort an.

»Oberleutnant Sacharowa auf der Challenger«, sagt die junge Frau.

Mist. Sacharowa weiß nichts von ihr. Sie hat gar nicht die nötige Sicherheitsfreigabe. Der linke, kleinere Mann tippt seiner Vorgesetzten auf die Schulter.

»Wenn ich etwas sagen dürfte …«

»Raus damit, Janvier.«

»Seit die Vanguard angekommen ist, ist ihr Kapitän wohl der dienstälteste Offizier.«

Danke, Janvier. Du hast euch dreien vermutlich gerade das Leben gerettet, auch wenn du nichts davon ahnst.

Die junge Frau kneift ein Auge zu. »Du hast recht. Die Vanguard hatte ich völlig vergessen.«

»Dann bringen Sie mich auf die Vanguard zu Hauptmann Morris?«, fragt X7.

»Ja, wenn Sie wirklich der Space Navy angehören, bin ich dazu verpflichtet. Aber machen Sie keine Dummheiten!«

»Das verspreche ich. Lassen Sie uns gehen, schnell.«

6. Dezember 2862, Starbird

Yini sah in einen goldenen Himmel. Stuart, so hieß der Besitzer der Yacht ja wohl, hatte zwar keinen Geschmack gehabt, aber den hatte er wirklich ausgelebt. Über dem Bett war ein Baldachin aus goldfarbenem Stoff angebracht, an dem Tausende schwarzer Sterne klebten. Wenn sie das Licht ausschaltete, leuchteten sie hell. Tagsüber sah es aus wie ein Farbnegativ des Universums, zumal weitere kosmische Strukturen wie Galaxien und Nebel das Panorama ergänzten.

Sie streckte beide Arme aus und bewegte sie auf und ab. Die kühle Seide, aus der das Laken bestand, fühlte sich großartig an. Sie kam sich wie eine Prinzessin in einem Schloss vor. So gut wie in dieser Nacht hatte sie lange nicht geschlafen, auch wenn die Matratze für ihren Geschmack etwas zu weich war.

Yini setzte sich auf. Der Pyjama, den sie unter der Decke gefunden hatte, war ihr zu groß. Die Ärmel hingen ihr über die Hände. Zunächst hatte sie sich gefragt, ob er wohl frisch gewaschen worden war, aber dann hatte sie den Stoff an ihre Wange gelegt und dem seidigen Gefühl nicht widerstehen können. Sie krempelte die Beine nach oben, doch das Material war so glatt, dass es ständig wieder hinunterrutschte. Also zog sie das Unterteil des Pyjamas einfach aus. Sie musste sowieso als Erstes unter die Dusche. Vorher schaltete sie allerdings den Backofen ein. Im Kühlschrank hatte sie tiefgefrorene Bagels gefunden und bereits im Ofen deponiert.

***

Als sie aus der Dusche wieder in das Quartier des Besitzers kam, duftete es herrlich. Yini nahm einen der Bagels aus dem Ofen. Er hatte genau die richtige Temperatur. Sie biss hinein. Die Oberfläche war fest, ein bisschen knusprig sogar, und der Teig innen war genau so, wie sie es mochte – nicht zu fluffig, aber doch so, dass er beinahe auf der Zunge zerging.